25 Dez
Bukumatula 1/2001
Heiko Lassek über seinen Weg von Laotse über Wilhelm Reich zu Lu Jinchuan
Interview mit dem Arzt und Leiter des Berliner Wilhelm Reich-Instituts
Wolfram Ratz:
„Wir stehen immer noch am Anfang und werden weitergehen“
Wolfram: Wie bist Du zur Chinesischen Medizin gekommen?
Heiko: Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, fiel mir in einer Buchhandlung in Hannover – der nächstgrößeren Stadt von meinem Heimatort Barsinghausen, wo jetzt oft die Wilhelm-Reich-Gesellschaft im Zukunftsinstitut von Prof. Dr. Arnim Bechmann tagt – das Buch Taoteking von Laotse in die Hände. Diese Schrift, die in ihren rätselhaften Aussagen, Allegorien und Parabeln die letzte Hinterlassenschaft einer ca. 7000 Jahre alten, nicht-religiösen Naturerkenntnis und -beschreibung pflegenden Kultur darstellt, begleitet in all ihren verschiedenen Übersetzungen mich bis heute durch mein Leben. Der Begriff einer Lebensenergie „chi“, ihre Widerspiegelung in polaren Funktionen wie „yin“ und „yang“, ihre Wandlungsphasen, prägte mein Weltempfinden und Erkenntnisinteresse.
W: Hast Du damals auch schon Wilhelm Reich gelesen?
H: Da mir schon in diesen Jahren in einem ziemlich elitären Gymnasium Sigmund Freud, Erich Fromm und Carl Gustav Jung bekannt gemacht wurde, war mein Erstaunen umso größer, als ich mit vierzehn Jahren das Buch „Wilhelm Reich und die Orgonomie“ des norwegischen Philosophen Ola Raknes in die Hände bekam; hier sollte ich all das angesprochen finden, was ich im Westen vergeblich suchte: die Beschreibung und Erforschung einer alles durchdringenden Lebensenergie, die Wilhelm Reich „Orgon“ nannte. Dies, das war mir unmittelbar klar, wollte ich verfolgen, nachvollziehen und der weiteren Erforschung meinen Lebensweg widmen.
W: Gibt es außer der Idee einer alles verbindenden Energie noch andere Gemeinsamkeiten?
H: Interessanterweise führte bei beiden Richtungen der Weg nicht weiter: In der Stadtbibliothek gab es nur wenig an weiterführender Literatur über den Taoismus – die Tradition war, wie andere – unter Mao Tse Tung fast vollständig vernichtet worden, die Schriften verbrannt, die Großmeister oder besser „Stammhalter“ inhaftiert worden, viele der Meister der verschiedenen großen Schulen des Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus unter Folter gestorben. Und ähnlich bei Reich: die Schriften verbrannt, er inhaftiert, im Gefängnis gestorben, nur ein kleiner Bruchteil seiner Werke über Fernleihe in der Bibliothek erhältlich.
W: Welche Wege hast Du dann weiterverfolgt?
H: Den weiteren Weg kennst Du, lieber Wolfram, und durch meine Veröffentlichungen seit 1979 sicher auch mancher der Leser: politische Arbeit, Beginn des Studiums von Physik und Psychologie in Göttingen, dann Wechsel zur Humanmedizin in Mainz und Berlin; seit 1979 Aufbau von Arbeitsgruppen, Forschung, Vorträge und Therapieerfahrungen in deutschsprachigen Ländern, Skandinavien und in den USA. Nachvollzug der Bionforschung und Blutdiagnostik, Akkumulatorbehandlung von an Krebs erkrankten Menschen, Weiterentwicklung der Orgontherapie, atmosphärische Studien zum „cloudbusting“, Arbeit mit fast allen damals noch lebenden Schülern Reichs, Vorlesungsreihen, Kongresse und zuletzt die Mitbetreuung der Herausgabe des Spätwerks Reichs durch die auch sehr kritischen Begleitbände, die im Verlag „Zweitausendeins“ erschienen sind … eigentlich ist damit das gesamte Werk Wilhelm Reichs in den letzten zwei Jahr-zehnten veröffentlicht worden.
W: Was ist es, was für Dich Reichs Gedanken und das Chi vereint oder auch voneinander trennt?
H: Wenn Du mein Hauptwerk „Orgontherapie“ sorgfältig liest, wirst Du in manchen Kapiteln über Reich etwas finden, das auf den unbekannten, mir nur durch die Erzählungen seiner letzten Schüler Vertrautes hinweist: die spirituelle und geistige Dimension, der sich Reich in den letzten Jahren der Erforschung der kosmischen Funktionsgesetze des „Orgon“ näherte: z.B. auch in den Zitaten meiner Veröffentlichung „Den Prozess der Schöpfung offen halten“ in Bukumatula vor einigen Jahren. Diese Dimension hatte mich ebenfalls seit meiner Jugend begleitet und tauchte – wie in „Orgontherapie“ an einigen Stellen erwähnt – auch in der therapeutischen Arbeit immer wieder überraschend auf.
Auf der anderen Seite hatte ich durch meine Erfahrungen mit sogenannten Meistern der Kampfkunst, des Qi Gong und taoistischen Lehrern, deren Ursprung aber nicht in der ursprünglichen Tradition Laotses lagen, die Gewissheit erlangt, dass es Energieformen und -arten gibt, die nicht so direkt mit physiologischen Regelungsvorgängen einhergehen wie das nahe am biologischen Organismus angelagerte Orgon.
Wie Du weißt, gibt es unterschiedlichste Namen für etwas, was wir im Westen als „Lebensenergie“ bezeichnen, um nur die bekanntesten zu nennen: Prana, Od, animalischer Magnetismus, Chi, Orgon etc., etc. Nur: die Differenzierung wurde mir erst über die Jahre klarer und dass die Orgonenergie wirklich die letzte klar zu beschreibende – und zu erforschende Schnittstelle zwischen dem nicht eindeutig materiellen und hochkomplex organisierten Bereich der Existenz darstellt; und deshalb sind Wilhelm Reichs Forschungen, auch mit den manchmal festzustellenden Überinterpretationen so herausragend in der westlichen und östlichen Welt.
W: Kann man also Orgon mit Chi vergleichen?
H: Um es klarer zu machen: das, was der Taoismus in seinen höchsten philosophischen Schulen als „Chi“ bezeichnet, bildet die Brücke zwischen dem Bereich der Nicht-Existenz („Wuji“) und dem Bereich der Existenz („Youji“); je näher das Chi der Welt der Formen, der Existenz, kommt, umso verdichteter, „härter“, wird es. In dieser Sichtweise ist „Orgon“ ein schon mit dem Bereich der Existenz wechselwirkendes, dichtes „Chi“, das damit aber auch teilweise physikalisch und biologisch messbare Wirkungen entfaltet.
W: Hast Du selbst auch praktische Erfahrungen mit Taoismus, mit der Chinesischen Energiemedizin gemacht?
H: Die direkte, vom jetzigen Stammhalter der höchsten Schule des Taoismus, Prof. Lu Jinchuan praktizierte Chi-Medizin, ist überwältigend wirksam, aber nur in philosophischen Begriffen beschreibbar und nur durch Verständnis dieser Grundlagen erlernbar. Ich habe mich vor drei Jahren in diese Praxis begeben und inzwischen sind mehr die Hälfte der Mitglieder der Berliner Wilhelm-Reich-Gesellschaft in der Grunderfahrung dieser Schule unter Einweihung durch Lu Jinchuan befindlich.
W: Da entsteht offenbar eine Zusammenarbeit?
H: Ja, es ist sogar sein ausdrücklicher Wunsch, die Erkenntnisse des Taoismus im Westen mit der Lebensenergieforschung Reichs zusammenzubringen – ein Traum, der auch meiner seit der Jugend war und ist. Auch Dr. Eva Reich hat mich sehr bestärkt, diesen Weg zu gehen. Vieles, fast zu vieles wäre darüber in der Einfachheit und Komplexität dieses Ansatzes zu sagen; wir stehen immer noch am Anfang und werden weitergehen.
W: Heiko, danke für dieses Interview. – Deinen Vorschlag aufnehmend, einen „ersten, ganz persönlichen Erfahrungsbericht von der Begegnung mit dem Stammhalter einer unbekannten Tradition“ werden wir gerne unserem Gespräch folgen lassen.