24 Mai
Bukumatula 3/1988
Fortbildungsseminar mit Psychotherapeut Al Bauman
Beatrix Wirth und Wolfram Ratz:
Anfang Juni dieses Jahres war auf Einladung unseres Institutes der amerikanische Psychotherapeut Al Bauman zu einem mehrtägigen Fortbildungsseminar in Wien»- Beatrix Wirth und Wolfram Ratz führten mit ihm nachfolgendes Gespräch:
B: Wie sind Sie mit Wilhelm Reich und seiner Vegetotherapie in Verbindung gekommen?
Al: Auf solche Fragen antworte ich im allgemeinen nicht gerne: Also – vielleicht das Unwichtige zuerst: zum ersten Mal habe ich Reich 1948 getroffen, nachdem ich sein Buch „Die Funktion des Orgasmus“ gelesen habe. Er lebte damals in New York, Forest Hills. Eines Tages, als ich ihn brauchte, habe ich ihn angerufen und ein Erstgespräch mit ihm vereinbart.- Er gab mir eine Liste von etwa zehn Ärzten, die er ausgebildet hatte, und die seine Therapie praktizierten. Er sagte, daß ich einen davon aussuchen sollte.
Ich wählte Simeon Tropp, einen Arzt aus dem heutigen Rußland, der in Wien studierte und bis 1939 dort praktizierte. Im Laufe der Therapie wurden wir sehr gute Freunde. Ich nehme an, er war auch Reichs bester Freund. Tropp hatte ein Haus in Rangeley, Maine, wohin auch Reich später gezogen ist. Wir fuhren fast jeden Monat für ein paar Tage dorthin. Ich gab Reich Musikstunden und. vertonte einige seiner Gedichte.- Zu dieser Zeit war ich ein sehr engagierter Musiker. Ich gab Konzerte und unterrichtete Musik an der Columbia-Universität.
B: Und dann haben Sie mit dem Therapieren begonnen?
Al: Nein, an Therapie war ich überhaupt nicht interessiert. Ich war lediglich daran interessiert, das, was ich von Reich gelernt hatte, auch praktisch umzusetzen; in Bezug auf die Funktion meines eigenen Körpers, meines eigenen Selbst beim Musizieren und beim Malen. 1952 rief mich eine Tänzerin an und sagte, daß sie bei mir Unterricht nehmen wollte. Sie war gerade von einer Welttournee mit der Martha
Graham-Company zurückgekehrt. Sie war eine großartige Tänzerin. Sie meinte: „Wenn Sie Klavier spielen, dann wissen Sie etwas über „Bewegung“, was Martha nicht weiß“» Das war für mich eine interessante Herausforderung. Und wir begannen zu arbeiten; sie lernte sehr viel. Daraufhin kamen andere Künstler zu mir» Sänger, Bildhauer, Maler, etc. Ich sah meine Aufgabe darin, das freie Fließen der Energie in ihrem Körper zu ermöglichen und zu fördern.
Ich gehe immer dorthin, wohin mich meine Nase führt- Ich verließ New York 1954 und ging nach Long Island. Dort gründete ich ein größeres Zentrum für Kunst. Manche nannten es damals das „Reichsche Kunstzentrum“.
In dieser Zeit lernte ich George Ohsawa, den Begründer der Makrobiotik kennen. Wir wurden sehr gute Freunde.- So wie Reich in seinem Denken und Arbeiten den dialektischen Prozeß im Sinne der Gegensätzlichkeit bei gleichzeitiger funktioneller Einheit verwendete, so nahm auch Ohsawa in seinem orientalischen Verständnis die Frage der Dialektik auf.
1960 zog ich nach Kalifornien. Das stand auch in einer gewissen Weise im Zusammenhang mit dem Bau der Berliner Mauer und der Kuba-Krise. Es schien wieder Krieg zu geben. Dreißig Leute – Musiker, Schauspieler, etc. – machten sich gemeinsam auf den Weg nach Kalifornien. Das erregte einiges Aufsehen; sogar in den Zeitungen wurde darüber berichtet. Wir blieben auch später noch in engem Kontakt. Ich gründete dann dort unter anderem ein kleines Wandertheater.
Als meine Theatertruppe einmal eine Vorstellung in einem Gefängnis in Kalifornien gab, hörte ich von Synanon. Das war in den frühen sechziger Jahren ein großes Resozialisierungsprojekt. Ich informierte mich über diese Einrichtung und zog dorthin. Es war wirklich eine trostloser Haufen von Drogenabhängigen und Kriminellen. Entweder würden sie ihr Leben ändern, zurück ins Gefängnis gehen, oder auf der Straße sterben. Mit diesen Leuten zusammen den Alltag zu verbringen, erschien mir sinnvoller, als sie nach einwöchentlichen Therapiesitzungen wieder in die gepanzerte Welt hinauszuschicken.
Viele Leute bei uns in Amerika haben beruflich Erfolg in- ihrem Leben, großen Erfolg, und irgendwann fragen sie sich, wozu das alles gut sein soll. Sie empfinden sich in einem existentiellen Vakuum, was sich nicht selten in Depression, Aggression und Drogenabhängigkeit ausdrückt. Diese Leute rennen dann den Therapeuten die Türen ein. Diese wiederum sind aber oft selbst das, was man „burned out“ nennt, das heißt, sie sind ausgebrannt durch die ewige Konfrontation mit derartigen Problematiken.- Die höchste Selbstmordrate in den USA ist ja bekanntlich unter den Psychotherapeuten zu verzeichnen.
1976 – ich war damals siebenundfünfzig Jahre alt – verließ ich Synanon und ging nach Los Angeles. Ich wußte noch nicht, was ich machen würde. Eines Tages erkundigte sich bei mir ein Arzt nach Wilhelm Reich und seiner Arbeit. Vor mehreren Psychiatern demonstrierte ich eine Sitzung in Vegetotherapie. Daraufhin verschafften sie mir eine kleine Praxis und schickten mir ihre Patienten. Wenn man eine Pflanze regelmäßig gießt, dann wächst sie.
B: In seinem Buch „Charakteranalyse“ hat Reich verschiedene Persönlichkeitsstrukturen beschrieben ….
Al: Mich interessiert lediglich, wie die Energie im menschlichen Körper funktioniert. Wenn die Einteilung in Charakterstrukturen auf einer dynamischen Grundlage beruht, finde ich es auch angebracht, sie zu verwenden. Mit einem statischen Verständnis aber werden Menschen nur in unsinnige Muster gedrängt. Therapeuten, die solche Begriffe verwenden, fordere ich auf, das sehr klar in eine Verbindung mit dem Energiefluß zu bringen. Wenn das hilft, etwas zu erkennen und zu bewegen, ist es schon gut. Diesbezüglich höre ich aber Leute meist Substantive verwenden, anstatt Verben.- Ich plädiere für Verben.
B: Und der analytische Teil in der Körperarbeit?
Al: Ich halte nicht viel von analytischer Aufarbeitung. Ich bin hauptsächlich daran interessiert, Veränderungen herbeizuführen; daß Leute ihre Fähigkeit wiederfinden, ein volles Leben und eine erfüllte Sexualität zu leben. Ich möchte wissen, „how they change the world“. Ich beginne auch jede Therapiestunde mit dieser Frage.- Therapie in jeder Form ist ein Setting in einem Labor. Und dann müssen wir das in die Welt, in den Alltag, mithinausnehmen; die größte Schwierigkeit dabei ist sicher das Umsetzen in die Praxis.
B: Was ist eigentlich hilfreich in der Therapie? Ist es die Methode, der Kontakt zwischen zwei Menschen, die Dauer der Therapie, etc?
Al: Ich denke, das entscheidende ist der Kontakt zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. An erster Stelle steht für mich, daß der Therapeut auch selbst dazu fähig ist, das zu leben, wovon er spricht. Wenn er lediglich Werkzeuge verwendet, dann ist er ein Mechaniker. Als solcher kann er vielleicht Autos reparieren, aber nicht mit Menschen umgehen. Ich glaube, daß jeder Therapeut diese Art von Verantwortung trägt. Und das mag ihm selbst nicht leicht fallen.
Wenn er seine eigene Persönlichkeit und seinen eigenen Entwicklungsprozeß nicht zu zeigen bereit ist, dann glaube ich, kommt es zu einer symptomorientierten Behandlung; wie eine Behandlung mit Medikamenten. Medikamente heilen ja auch keine Krankheiten, sondern beseitigen Symptome, und greifen noch dazu das Immunsystem an. Die Hauptaufgabe des Therapeuten sehe ich darin, daß er dem Energiefluß, der Lebendigkeit, dem Instinkt des Patienten zu folgen fähig, und diese Kräfte zu unterstützen bereit ist.
B: Können Sie etwas über Ihr Leben sagen? Wie leben Sie?
Al: Nun, ich glaube, daß die „Kleinfamilie“ („nuclear family“) eine sehr unnütze, destruktive Einrichtung ist.- Mutter, Vater, zwei Kinder und ein Einfamilienhaus, mit einem Zaun rundherum. Das ist das Modell der kapitalistischen Familie („we four and no more“). Das führt sehr schnell auf den Weg der Entfremdung und Isolation. Es ist an der Zeit, derartige Vorstellungen fallen zu lassen.
Ich lebte mehr als zwanzig Jahre zusammen mit anderen Leuten in verschiedenen Kommunen. Es gibt dort zumindest die Möglichkeit – das ist aber sicher nicht immer so – zu tieferen Begegnungen, zu mehr Kontakt – was mir erlaubt, auch selbst offener zu sein. Ich bin vorsichtig Leuten gegenüber, bei denen ich spüre, daß sie gepanzert sind und keinen Kontakt zu sich selber haben. Reich nannte das „emotionale Pest“. Ich meide sie. Manchmal muß man gegen sie ankämpfen.
Derzeit lebe ich in New Mexico, in der Nähe von Santa Fe, in einer über zweitausend Meter hochgelegenen Wüstengegend. Dort arbeite ich auch an der Revitalisierung von Land. Zur Entstehung der Wüste haben die Menschen viel beigetragen. In dieser Gegend etwa durch rücksichtslose Weidewirtschaft; der Wind konnte dann das fruchtbare Erdreich abtragen. Ich möchte mithelfen, die Wüste wieder fruchtbar zu machen.
Sowohl das Land als auch die Leute. Ich bin sehr glücklich, daß Michael Smith dort mit mir lebt. Er ist wie ein Bruder für mich, und wir können sehr gut zusammenarbeiten. Wir versuchen ein neues Lebensmodell für unser Zusammenleben zu entwickeln. Ich weiß nicht, wie das funktionieren wird, aber das ist o. k.
B: Wie kam es, daß Sie vom Künstler zum Therapeuten wechselten, oder haben Sie das gar nicht getan?
Al: Ich glaube, daß wir viele Stufen, viele gewundene Pfade gehen. Nichts in der Natur ist geradlinig.- Ich glaube ganz einfach nicht, daß Therapie wirklich Arbeit ist. Ich kann Reich nicht als Therapeuten sehen. Ich sehe ihn als Wissenschaftler, der als Therapeut zu arbeiten begann, und der dann den Versuch unternahm, die Gesetze und die Funktionen des Lebens zu erforschen.
Ich glaube nicht, daß Therapieren einen Menschen voll in Anspruch nimmt. Ich höre so oft Therapeuten sagen: „Jetzt nehme ich mir endlich einmal Zeit, nur für mich selbst“. Nun, wenn das Therapieren nicht für ihn selbst ist, dann ist es auch nicht seine Arbeit. Es ist nützlich und hilfreich, und er bekommt dafür etwas Geld, aber ich glaube nicht, daß es eine ausschließliche Arbeit ist. Es ist das Nebenprodukt einer gesamten „Lebensarbeit“.
Wenn ich etwas gelernt habe, dann trage ich auch die Verantwortung dafür, daß ich mein Wissen weitergebe. Das gilt auch für die therapeutische Arbeit. Aber es ist die Arbeit der ganzen Persönlichkeit; mit Hingabe, mit Erfahrung, mit Erfülltsein. Ich habe in den letzten Jahren sehr viel therapeutisch gearbeitet und ich habe die Möglichkeit, das auch weiterhin zu tun. Ich glaube aber, dass meine Arbeit immer die eines Künstlers war. Jetzt ist es an der Zeit, meine Erfahrungen auch in meine Arbeit einfließen zu lassen.
B: Glauben Sie, dass die vielen neoreichianischen Methoden wirklich unterschiedlich und etwas Neues zu dem sind, was Reich herausgefunden hat?
Al: Mein Verständnis für diese Methoden beziehe ich hauptsächlich von meinem Zusammentreffen mit Therapeuten dieser Richtungen; Lowen, Boyesen, etc. Diese Leute waren bei mir in Therapie. Ich zögere, das zu verallgemeinern – aber mein Eindruck ist, daß sie Reichs Arbeit, die ausschließlich als etwas Dynamisches verstanden werden kann, hernehmen und sie mechanisch anwenden. Sie nehmen einen Teil seiner Arbeit heraus und entwickeln dann etwas Neues daraus.
Leute, die verzweifelt sind, gehen zu jedem, der ihnen vielleicht helfen kann. Aber Hilfe hängt nicht wirklich von der Methode ab. Ich glaube, daß es etliche hervorragende Therapeuten gibt, die alles verwenden von Kochen und Stricken bis Bioenergetik, Rolfing und sonst alles mögliche. Der Therapieerfolg hängt meiner Meinung nach in erster Linie von der Persönlichkeit des Therapeuten ab.
B: Warum gibt es Ihrer Meinung nach so viele unterschiedliche Therapiemethoden?
Al: Es gibt immer wieder neue Krankheiten. Das sind ja auch alles Möglichkeiten, lebendiges Leben zu vermeiden; die Natur aber ist unbesiegbar.- Es wird also auch immer wieder neue Therapiemethoden geben.
B: Welche Hoffnungen haben Sie?
Al: Darüber mache ich mir nicht viele Gedanken. Emily Dickinson sagt „Hoffnung ist ein Ding mit Federn“. Ich tue einfach meine Arbeit. In meiner Jugend war ich in den verschiedensten Bewegungen aktiv. Heute weiß ich, daß Menschen am meisten durch Modelle lernen. Ich habe überall, wo ich in den letzten dreißig Jahren gewohnt habe, versucht – mit meiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung einhergehend – neue Lebensmodelle zu entwickeln, die andere, so es ihnen gefiel, übernehmen konnten.
B: Und welche Befürchtungen?
Al: Irgendein Wahnsinniger könnte einmal das Leben auf dieser Welt auslöschen. Das kann ich mir vorstellen.- Aber ich lebe nicht mit solchen Gedanken. Ich wuchs als Kind von Einwanderern unter ärmlichsten Bedingungen in den Straßen von New York auf. Ich habe da gelernt auf mich aufzupassen und mich durchzusetzen. Sehr vieles hat sich seit damals geändert. Ich lebe jetzt ein sehr reiches und erfülltes Leben. Mein ganzes Leben sehe ich als ein andauerndes Abenteuer. Ständig entdecke ich Neues. Natürlich verursacht das auch eine Menge Schwierigkeiten; aber ich mag es, mit Schwierigkeiten zu leben, das ist ja auch der einzige Weg. Es gibt Leute, die sich durch meine Lebensweise herausgefordert fühlen. Eines Tages könnte ich durchaus auch einmal Pech haben – wer weiß?
B: Gibt es politische Aspekte in Ihrem Leben?
Al: Ich fühle mich einer Gruppe, den United Farmworkers, sehr verbunden. Ich schicke ihnen Geld. Und ich unterstütze auch Umweltschutzgruppen. Ich schätze ihre Arbeit. – Als junger Mann war ich Mitglied der Kommunistischen Partei in New York. Es gab da eine Menge politischer Aktivitäten, aber das ist jetzt die Arbeit anderer.
B: Wollen Sie noch irgendetwas über Wilhelm Reich sagen?
Al: Reich war eigentlich ein einfacher Mann. Einmal, als wir in Orgonon zusammensaßen, fragte er mich: „Glaubst du, daß ich irgendetwas Wesentliches geschaffen habe?“- Ich war über diese Frage sehr erstaunt und meinte: „Natürlich, die Bücher, die du geschrieben hast, deine Entdeckungen, etc“. Er sagte: „Nein, in Wirklichkeit habe ich damit gar nichts ausgerichtet“. Er schaute vom Balkon auf die gegenüberliegenden Berge und sagte: „Ich habe die Fähigkeit zu sehen, was auf der Spitze des dahinterliegenden Berges ist. Aber die ganze Arbeit muß erst getan werden. Diese Arbeit besteht darin, den Weg hinunter ins Tal zu nehmen, und auf der anderen Seite wieder hinaufzugehen.“
B: Arbeit im Sinne von Umsetzen in die Praxis, etwa in der Kindererziehung, etc?
Al: Ja, zum Beispiel. Eva Reich, seine Tochter, reist ja in dieser Angelegenheit um die ganze Welt und hält Vorträge und Workshops. Wilhelm Reich hat auch sein ganzes Vermächtnis den Kindern, den „Kindern der Zukunft“ gewidmet. Kinder sind der am meisten unterprivilegierte Teil unserer Gesellschaft. Erst jetzt wird langsam an der Erstellung von Gesetzen, die die körperliche Züchtigung und die Zufügung psychischen Leides verhindern sollen, gearbeitet.
Wer weiß schon, was für eine fundamentale Bedeutung der Körperkontakt eines Säuglings zur Mutter tatsächlich bedeutet? Es ist der „plastischste“ Lebensabschnitt eines jeden Menschen. Wir begehen ständig Todsünden an unseren Kindern. Jede Ohrfeige ist für ein kleines Kind eine Todesdrohung, aber wir Erwachsene haben das verdrängt, weil wir selbst in einer Atmosphäre der Gewalt aufgewachsen sind. Solange Anordungen der Eltern über Züchtigung und Zufügung psychischen Leides durchgesetzt werden, brauchen wir uns über die
Abschaffung der Armeen dieser Welt gar kein Kopfzerbrechen machen.- Kinder, die geschlagen werden, sind triebgehemmt, sie müssen Kommunikation, also Umgang mit anderern lernen. Und was ist Sexualität anderes, als die schönste, aber auch komplizierteste Form des mitmenschlichen Umgangs? Das Problem dazu ist ein falsches Bewußtsein der Erwachsenen. Die Erziehung der Erzieher steht an. Bei einem Kind gibt es nichts zu erziehen.
Kinder sind initiativ, begabt, schöpferisch. In den Schulen bräuchten wir den Gegenstand „Einübung menschlicher Kommunikationsformen“. Die Lehrer aber sind selbst Kinder eines falschen Bewußtseins. Sie sind selbst triebgehemmt und sich selbst entfremdet. Noch ein Wort zur „antiautoritären Erziehung“, weil es da meiner Meinung nach ganz grobe Mißverständnisse gibt: Das Prinzip davon beruht auf Freiheit und nicht auf Zügellosigkeit.
Ich glaube, daß A.S. Neill, der ja auch mit Reich in engem Kontakt stand, vollkommen falsch verstanden wird. Wir sollen Autoritäten sein, so wie die Kinder auch Autoritäten für uns Erwachsene sein sollen. Es gibt keine „schlimmen“ Kinder, das ist eine Propagandalüge der Erwachsenen. Viele von ihnen rächen sich nur für die furchtbare Erziehung, die man ihnen angetan hat.
B: Haben wir etwas Wesentliches vergessen?
Al: Ich glaube, daß ich gar nichts wirklich Wesentliches gesagt habe oder zu sagen habe. Interviews sind lediglich ein Spiegel der Persönlichkeit.
Ich habe von Wilhelm Reich sehr viel gelernt; aber auch von anderen Menschen. Nicht alle meiner Lehrer waren große Persönlichkeiten. Meine besten Lehrer waren mein russischer Onkel Sicha, der eine gute, laute Stimme hatte; oder Tante Becky, die mich in ihrem Schaukelstuhl so oft in ihren Armen gehalten hat.- Die Gelegenheiten, zu lernen und das Leben zu
verändern sind zahllos. Ich glaube, das, was viele Menschen als großes Problem ansehen, ist einfach ihre Unfähigkeit, mit ihrer eigenen Panzerung umzugehen. Die Lösung ist aber immer einfach.
Theoretische Diskussionen mögen unterhaltend sein, aber sie bringen keine Veränderungen. Ich glaube, daß es einfach viel zu tun gibt. Jeder macht das auf seine eigene Art. Hoffentlich läßt sich ein Weg finden, dies einmal gemeinsam zu tun. Aber das geht nicht über die Sozialistische Partei, den Amerikanischen Kongreß oder die UNO. Das sind schon alles sehr fixierte Formen der Panzerung.
Ich möchte lediglich die Nischen zur Menschlichkeit ein wenig größer machen. Ich glaube, wenn Menschen lernen, besser miteinander auszukommen, können sie ein sehr reiches Leben führen. Sie können sehr reich sein, ohne viel Geld zu haben.- Ganz sicher können wir in gänzlich andersartigen Formen leben, als es uns die derzeitigen Ideale unserer gepanzerten Gesellschaft vorgeben.