29 Mai
Bukumatula 2/1989
Eine Fallgeschichte
Dr.Myron Sharaf übersetzt von Johanna Setzer:
Im März 1985 rief mich eine 50iährige Frau an, die ich Edna nennen will. Sie sagte, sie komme von Midland, Texas, und sei für einige Tage nach Boston gekommen, um in der Massachusetts Augen- und Ohrenklinik ihre Augen untersuchen zu lassen. Sie erzählte weiter, daß sie vor einiger Zeit eine Augenverletzung erlitten hätte. Die Sache wäre zwar erfolgreich behandelt worden, eine „Erosion der Oberfläche beider Augen“ bestünde jedoch weiterhin. Als Folge dieser Verletzung seien ihre Augen sehr empfindlich gegenüber Kälte und Wind, und – was noch schlimmer sei – sie habe Schwierigkeiten beim Lesen. Als Fachautorin müsse sie jedoch viel lesen, so daß dieses letztere Symptom ihr beträchtliche Sorgen bereite.
An diesem Punkt unterbrach ich sie, um ihr zu sagen, daß hier ein Missverständnis vorliegen müsse. Ich sei ein Psychologe, kein Ophthalmologe. Sie solle lieber ihre Behandlung in der Augen- und Ohrenklinik fortsetzen. Sie erwiderte, daß man in der Klinik alles, was möglich sei, für sie getan habe. Sie sei einfach nur beunruhigt jetzt. Mehr aus Verzweiflung, nicht weil sie an „alternative Therapieformen“ glaube, habe sie erfolglos Akupunktur und eine Vitaminbehandlung versucht. Irgendwie sei sie aber kürzlich auf die Idee gekommen, daß die Gefühle mit ihrem Problem zu tun haben könnten, daher ihr Wunsch, mich zu sehen.
Ich sagte, ich würde bezweifeln, daß ich ihr viel helfen könne, da ich nichts von den medizinischen Aspekten ihres Zustands verstünde. Außerdem hätten wir vor ihrer Rückkehr nach Texas nur für eine Sitzung Zeit. Sie bestand jedoch darauf und ich stimmte einem, wie ich erwartete kurzen Treffen zu.
Als Edna meine Praxis betrat, erschien sie lebhaft und freundlich, eine kräftige große Frau. Sie trug große Brillen, die sie gemeinsam mit ihrem Mantel und ihren Schuhen ablegte. Auf den ersten Blick wirkten ihre Augen „normal“ für mich. Sie waren hell und lebendig, aber eher aufmerksam auf die Umgebung gerichtet. Sie ließen das „Außen“ weniger herein und zeigten kaum eine warme Reaktion darauf.
Kurz nach ihrer Ankunft stellte sie eine Frage, die – aus Gründen, die mir zum damaligen Zeitpunkt keineswegs klar waren – mich mit der vagen Hoffnung erfüllten, daß wir etwas Sinnvolles miteinander tun könnten. Sie fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, die elektrische Heizung abzuschalten. Als ich erwiderte, daß ich das gerne tun würde und sie nach dem Grund dieser Bitte fragte, antwortete sie: „Meine Augen sind ohnehin schon zu trocken und trockene Luft macht sie noch trockener.“
Der Ausdruck „trockene Augen“ ließ mich an Tränen, oder vielmehr an deren Abwesenheit denken und ich fragte sie, ob sie oft weine. „Nicht so oft wie ich wollte. Weinen tut meinen Augen gut“, antwortete sie wehmütig. Tatsächlich hatte sie vor, sich nach der Stunde mit mir gemeinsam mit einem Freund eine „soap opera“ anzusehen, in der Hoffnung, daß dieser Film, so wie früher manchmal, Tränen hervorrufen würde. Ich möchte hervorheben, daß Edna dem emotionalen Ausdruck keineswegs eine besondere Bedeutung zumaß. In ihrer erdverbundenen Art hatte sie – gewarnt durch ihre Augenprobleme – zwei empirische Beobachtungen gemacht, nämlich, daß trockene Luft ihren Augen nicht gut tut und den Tränen ihnen helfen.
An diesem Punkt sagte ich ihr, ich wüßte nicht, ob ich ihre Augen heilen könne, ich könnte ihr aber helfen zu weinen. Unsere Arbeit könnte in gewisser Weise ihre Fähigkeit zu Weinen fördern, so daß sie auch zuhause in Texas dazu fähig wäre. Sie schien ziemlich aufgeschlossen gegenüber dieser Vorstellung. Ich wußte, daß ich schnell, direktiv und mit beträchtlichem Fokus arbeiten musste. Ich fragte sie, ob ihre Eltern noch lebten. Sie antwortete, ihr Vater lebe noch, ihre Mutter sei tot, sie sei vor fünf Jahren gestorben. Sie hätte kurz vor und nach dem Tod ihrer Mutter um sie geweint, seither jedoch kaum.
Während wir über ihre Mutter sprachen begannen Ednas Tränen zu fließen. Ich bat sie, sich mit dem Bauch nach unten auf die Matratze zu legen. Nahe bei ihr sitzend legte ich meine Hand fest aber auch sanft auf ihren Rücken und ermutigte sie, tief zu atmen, auch während sie leise weinte und meine Fragen beantwortete. Ihre nahen Angehörigen, erzählte sie, hätten ihr nicht helfen können, um ihre Mutter zu trauern. Ihr Mann, ein Buchhalter, und ihr Vater, ein pensionierter Geologe, könnten nicht mit Gefühlen umgehen. Ihre Tochter, die kleine Kinder aufziehen müsse, habe sie nicht „belasten“ wollen.
Während des Spitalsaufenthalts ihrer Mutter habe sie sich jedenfalls mit Margaret, einer Krankenschwester, die ihre Mutter pflegte, angefreundet und mit ihr konnte sie über das Sterben ihrer Mutter weinen. Ich fragte Edna, ob sie auch jetzt mit Margaret weinen könne. Diese Frage rief plötzlich ein heftiges Schluchzen und ein Würgen in Ednas Hals hervor. Tief berührt stieß sie hervor, daß auch Margaret vor zwei Jahren gestorben sei. Ich ermutigte sie, ihre Tränen und ihr Seufzen nicht zurückzuhalten, ihren Hals zu öffnen und voll auszuatmen. Ich unterstützte ihr Ausatmen durch kräftigen Druck am Rücken, massierte ihr Genick und – eher sanft – ihren Hals. Ich forderte sie auf dranzubleiben, aber ich tröstete sie auch, indem ich Gesicht und Haar sanft streichelte und ihre Hand hielt. Auch meine Worte waren abwechselnd eindringlich und sanft. Zusätzlich ermutigte ich sie, Margarets Namen zu rufen und ihrer Liebe und Sehnsucht Ausdruck zu geben.
In rhythmischem Zusammenspiel mit meinen Anstrengungen begannen ihre Tränen frei zu fließen, ihre Schluchzer brachen hervor und ihr Körper krümmte sich. Sie weinte aus ganzem Herzen. Diese Art des Weinens hat, eine spezifische Qualität – es ist kein Weinen aus Selbstmitleid, kein ärgerliches Weinen, keine manipulativen Tränen mit erstickten oder kraftlosen Tönen, sondern ein authentischer Ausdruck von Herzenskummer. Ich nenne das „orgastisches Weinen“. Ich habe dieses Weinen hundert, wenn nicht tausend Mal gehört, und doch bin ich jedes Mal verwundert und berührt, als ob ich es noch nie vorher gehört hätte. Der Ausdruck von Herzensleid öffnet mein Herz und lässt mich an einen Satz von Thoreau denken: „Die Erfahrung steckt im Kopf und in den Händen. Das Herz ist immer unerfahren.“
Während einer Ruhepause in diesem Gefühlssturm, dreht sie sich um und sah mich an. Mit dankbaren und leuchtenden Augen sagte sie leise: „Mein rechtes Auge fühlt sich jetzt viel besser an.“ Ich war beeindruckt von der Genauigkeit ihrer Rückmeldung. Hätte sie gesagt, beide Augen hätten sich gebessert, wäre ich misstrauisch gewesen wie bei einer allzu glatten Kurve in Forschungsberichten. Dann hätte ich angenommen, sie wolle nur das Publikum beeindrucken.
Da die Zeit schnell verging, beschloss ich, meinen therapeutischen Ehrgeiz zu zügeln und versuchte nicht, auch ihr zweites Auge zu „heilen“. Stattdessen hielt ich es für klüger und wertvoller, mit ihr über die Zukunft zu sprechen. Wir setzten uns und ich fragte sie, welche Möglichkeiten für diese Art von Arbeit bei ihr zu Hause bestünden. Sie sagte, es gebe kaum welche. Midland sei zwar eine mittelgroße Stadt, aber kulturell ziemlich unterentwickelt (unsophisticated); sie bezweifelte, daß Emotions-orientierte Therapien dort angeboten würden. Ich fragte weiter, ob es nicht doch irgendjemanden in Midland gebe, mit dem sie weinen könne. Ironisch lächelnd antwortete sie: „Sie verstehen nicht. Texaner weinen nicht.“
Ich wies darauf hin, daß sie auch Margaret in Midland gefunden hätte. Vielleicht gebe es noch andere Margarets in Ednas ignorantem Staat, vielleicht sogar in ihrer Stadt. Ich erklärte weiter, daß es auch unter besten Bedingungen für die meisten Leute schwierig sei zu weinen, auch für mich selbst. Körperliche Techniken wie z.B. tieferes Atmen könnten dabei helfen. Sentimentale Filme hatten ihr geholfen, bestimmte Erinnerungen, z.B. die Erinnerung an Margarets Tod, könnten starke Auslöser sein. Trotzdem sei es schwer. Leid alleine zu tragen: die meisten Leute brauchen die Anwesenheit einer Person, der sie vertrauen, so wie sie Margaret vertraut hätte.
Ich erklärte ihr weiters, daß dieses emotionale Sich-Einlassen zwar sehr schwierig sei, aber auch große Belohnungen verspreche. Das Weinen mit Margaret hätte ihr geholfen, mit dem Tod ihrer Mutter besser umzugehen; das Weinen mit mir hätte ihren Augen geholfen, auch wenn diese Besserung nur vorübergehend sein könnte. (Es scheint mir sehr wichtig, das Offensichtliche hervorzuheben, nämlich den Nutzen des emotionalen Loslassens. Ich habe sowohl bei mir als auch bei anderen eine seltsame Verzerrung des emotionalen Gedächtnisses beobachtet: Wir erinnern uns lebhaft an den Schmerz, den wir tief empfanden, aber wir vergessen das Belohnende und die Freuden, die mit der emotionalen Entladung verbunden sind.)
Es blieb keine Zeit mehr, Ednas Reaktionen auf meine Vertraulichkeiten zu erforschen. Ich hatte den Eindruck, daß sie, als sie sich vorbereitete zu gehen, mit dem Mantel, den Schuhen und den Brillen auch ihren „Panzer“ wieder anlegte. Ich bat sie, mit mir in Kontakt zu bleiben. Ich hörte nie wieder von ihr. Aber immer wenn ich an sie denke – und das ist gar nicht so selten, muss ich auch an einige Zeilen von Rilke denken:
„Die Arbeit des Auges ist getan:
Tu die Herzensarbeit nun.“
Und ich stelle mir auch gerne vor, daß nun wenigstens eine Texanerin weint!