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Bukumatula 4/1991

Selbst, Meditation und erotisches Erfassen der Wirklichkeit, Teil 2

Wilhelm Reich und die Sinnlichkeit der Erkenntnis
Fortsetzung von Bukumatula 3/91
Bernd Bocian:

Theoretisch weiß die Gestalttherapie, die als eine frühe Form der Systemtheorien (Portele) gesehen werden kann, um die Verbundenheit des Menschen mit der Evolution auf allen Ebenen. Sie ist ein Teil östlicher und westlicher Prozeßphilosophien, die das Leben als Zusammenhang und als Wachstum sehen. Als eine Art Grundformel für Entwicklungsprozesse kristallisiert sich die Dialektik von Einheit und Wachstum, Autonomie und Selbsttranszendenz auf den jeweiligen Wachstumsstufen heraus.

Jede erreichte Entwicklungsstufe setzt eine Grenzerweiterung und somit ein überschreiten der bisher gesicherten Identität voraus; es bedeutet das Finden einer neuen, erweiterten Einheit. Diese Einheit, die zugleich Individuum und Teil des umgebenden Natur- und Sozialkörpers ist, sucht wieder nach neuen Wachstumsmöglichkeiten.- Meine Ansicht ist nun, daß die Gestalttherapie diesen Prozeß der Ausweitung der eigenen Identitätsgrenzen bis zum Kentauren hin gut unterstützen kann_ Sie bringt den Kentauren sozusagen mit allen vier Beinen auf die Erde und auch noch in Bewegung, aber zum Fliegen bringt sie ihn nicht.

Ich bezweifle nicht die Möglichkeit entsprechende Erfahrungen über das dialogische Prinzip Martin Bubers machen zu können – und Fuhr/Gremmler-Fuhr (1988) sehen zwischenmenschliche Kontakterfahrungen auch als die grundlegensten transpersonalen Erfahrungen – aber ich bezweifle, daß die Gestalttherapie als Methode die Erfahrung einer wirklichen Einheit vermitteln kann.

Die Gestalttherapie bleibt der Trennung von Figur und Grund verhaftet; die spirituelle Erfahrung hingegen geht über diesen Dualismus hinaus und beinhaltet das Erleben des gesamten absoluten Feldes, das die universelle Grundlage und Umfassung aller individuellen Erscheinungen bildet. Die buddhistische Formel „Form ist Leere und Leere ist Form“ übersetzt Joslyn (1983) in „Figur ist Grund und Grund ist Figur“.

Theoretische Einsichten zu haben, nicht aber auch gleichzeitig die Mittel sie leibhaftig erfahren lassen zu können, teilt die Gestalttherapie mit anderen Systemtheorien. Watts hat das bereits 1961 an der Gestalttherapie bemängelt, und Berman kritisiert das am Ansatz Batesons und fragt, wie jemand zu diesen Erfahrungen („Lernen III“) kommen soll, wenn nicht über „traditionelle Praktiken“ (1985, S. 329). Traditionelle Praktiken, also die östlichen Befreiungswege, beinhalten grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die zur Erfahrung der Einheit führen können.

Der eine Weg führt über das Erleben des offenen grenzenlosen Raums, der andere über das Erleben einer umfassenden, alles durchdringenden Energie. Der Weg über den Raum, über die grenzenlose Offenheit, ist eher der Weg der geistigen Kontemplation, wie er im Zen und Vipassana eingeschlagen wird. Der Weg über die Energie findet sich am stärksten in den indischen und chinesischen Tantra-Praktiken, die Erleuchtung und Sexualität (auch bei der geschlechtlichen Vereinigung mit einem Partner) aufs engste verbinden. Im hinduistischen Kundalini-Yoga geht es darum, die universelle Urenergie (Frana), die im Menschen als sexuelle Energie existiert, bewusst über den Weg der sieben Energiezentren zu verfeinern und zu transformieren.

In einem bestimmten Stadium fallen Bewußtseinserweiterung und sexuelle Erregung/Ausdehnung zusammen. „Erleuchtung“ ist auf dieser Ebene ein orgastisches Erlebnis.

Ein westliches System, das theoretisch und praktisch Nähe zu diesem Energieweg hat, ist das Werk von Wilhelm Reich, der in seinen späteren Arbeiten und Forschungen davon ausging, daß im Menschen wie im ganzen Universum eine lebendige energetische Kraft (Orgon) strömt, die gewissermaßen die produktive Ursubstanz aller materiellen und mentalen Prozesse bildet. Diese „primordiale kosmische Orgonenergie“ wird im Menschen, der ein individualisierter Teil dieses Energieozeans ist, durch Charakterstrukturen und gepanzerte Körpersegmente an ihrem ganzheitlichen Fluß gehindert.

Ich will hiermit Reichs Theorie bzw. Methode nicht zur spirituellen Disziplin erklären. Ich möchte aber dennoch behaupten, daß sie in dieser Hinsicht weitreichendere Erfahrungen als die Gestalttherapie ermöglicht. Man kann Reich mit seinem „energetischen Funktionalismus“ ebenfalls als einen Systemtheoretiker sehen. Und wie die modernen Physiker ist Reich, der sich in seinen späteren Jahren nicht mehr als Psychotherapeut, sondern als Naturforscher verstand, tief in die lebendige Materie eingedrungen und plötzlich zu geradezu kosmischen Einsichten gelangte).

Als Natur- und damit als Lebenswissenschaftler hat er jenseits von Psychologie und Medizin an der Basis des Lebensprozesses gearbeitet, so daß viele seiner späteren Schriften erst ins Therapeutische übersetzt werden müssen. Daß seine, mit energetischen Prozessen arbeitende Orgontherapie in der Tradition der „Energie-Medizin“ steht (vgl. Akupunktur, Kirlian-Fotographie, etc.), sei hier nur angedeutet. Auf Reichs Werk, das die unterschiedlichstenen Forschungsgebiete umfaßt, kann ich hier nicht ausführlich(auch kritisch) eingehen; ich möchte aber andeuten, welche Konsequenzen seine Auffassungen für mich haben.

Für mich steht an zentraler Stelle, daß Reichs Forschungsergebnisse die Rückkehr des Eros bedeuten. Nicht nur als ein Prinzip das auf Synthese, Vereinigung und Einheit drängt, sondern als eine tatsächlich fühlbare Kraft, die mich sinnlich-erotisch an der Welt teilhaben läßt, mich mit ihr verbindet und mir die Erfahrung, daß ‚Welt“ und ‚Ich“ vom gleichen Stoff sind, ermöglicht. Das steht in europäisch alchimistischer Tradition und in einer philosophischen Tradition in der Goethe eine zentrale Stellung zukommt und die Konitzer vage das „Naturprogramm der deutschen Aufklärung“ nennt. Es finden sich überhaupt in der pantheistischen Richtung der Aufklärung und der klassischen deutschen Philosophie (Schmidt 1984/87) die grundlegendsten Auffassungen der heutigen Systemtheorien zum Verhältnis von Mensch und Natur wieder.

Reichs Ansatz der Entwicklung des Körpers zu einem gänzlich sinnlichen Organ, führt zur Erotisierung der Wirklichkeit. Ein sinnlich offener Organismus hat umfassendere Wahrnehmungen als ein zurückgezogener. Körper und Organismus sind hier nicht ‚kopflos‘ gemeint; es geht um die Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit. Denken hat nicht nur Sinnlichkeit zur Grundlage, sondern ist selbst ein sinnlicher Akt.

Feuerbach spricht von „sehendem, hörendem, fühlendem “ und von „leiblicher Vernunft“. Für Reich geht gutes Denken stets mit starken Gefühlen einher.- Erkenntnistheoretisch heißt das: wenn die lebendige Wirklichkeit (total, ungebrochen und ungeteilt) sich in uns allen befindet und wir uns in ihr befinden, dann hat jeder Teil Zugang zum Ganzen. Separation ist Illusion; und in der Diktion Reichs „ein Produkt der Charakterpanzerung“. Ein hingewandtes und osmotisches Verhältnis zur Welt – und Welt meint immer auch den anderen Menschen – führt zu elementarer Berührung und zum Erkennen.

In „Äther, Gott und Teufel“ schreibt Reich: „Um die Natur zu erforschen, müssen wir den Gegenstand der Forschung, wörtlich genommen, lieben“ (1983, S. 65). Das liegt auch in der Tradition Goethes: „Man lernt nichts kennen, als das was man liebt; und je tiefer und vollständiger die Erkenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger muß Liebe, ja Leidenschaft sein“. Und Feuerbach bringt es auf den Punkt: „Um den Menschen zu erkennen, muß man ihn lieben“.

Reich hat nicht alles auf das Sexuelle reduziert. Er betrachtete Sexualität als den zentralen Moment des Lebensprozesses auf allen seinen Ebenen: als Gegenbewegung zur Angst, als ein tief empfundenes Ja, als Hinwendung, Hingabe an das Leben, als Sehnsucht nach Vereinigung; eine Art „Objektbeziehungstrieb“, der aus dem frühkindlichen „ozeanischen Gefühl“ (Freud) auftaucht, Entwicklungsstadien durchläuft und sich nach -vorwärts- sehnt, nach der kosmischen Heimat. Daß Wilhelm Reich Freuds Libidotheorie auf seine Weise konsequent weiterentwickelt hat, ist hier wohl offensichtlich.

In der Natur existiert Anziehung und Überlagerung als grundlegendes Prinzip, das Reich in der Zellteilung, in der geschlechtlichen Umarmung und in den galaktischen Spiralnebeln zugleich sah. Das Leben ist ein unendliches Feld von Beziehungen, selbstreguliert_ und regulierend, wachsend und schöpferisch. Wenn Reich naturwissenschaftlich von der Anziehung und Überlagerung zweier Energieströme spricht, so meint er auch das, was sich im Moment der Zuneigung zwischen zwei Menschen ereignen kann. Er meint Menschen, die in Liebe erstrahlen, aufeinander zuströmen, sich berühren und vereinigen. Ich fülle, entäußere und vereine mich energetisch im Moment des intensivsten Kontaktes und komme dann zu mir zurück.

Geschlechtliche Umarmung als „archetypischer Augenblick des Kontaktes“ (Goodman) weist Reichs Vorstellungen als Quell des Kontakt-Zyklus-Modells aus. Hier wird auch Reichs Nähe zur tantrischen Sicht deutlich. Wenn ich mich vom Orgasmus ergreifen lasse, fließt durch mich eine Kraft, die mich zu einem Teil des biologisch-kosmischen Stromes werden läßt. Es ermöglicht mir eine ungeteilte Hingabe ohne Grenzen zwischen – Ich und Du -, ohne neurotisch angstvollem Innehalten. Für den „späten“ Reich („Christusmord“) ist die Erfahrung der strömenden Lebendigkeit im eigenen Körper und die Erfahrung, eine Welle des großen „Liebesozeans“ zu sein, gleichbedeutend mit dem „Erkennen Gottes“.

Meine folgenden Schlußbemerkungen sehe ich in Zusammenhang mit dem derzeitigen Zustand der Gestalttherapie, der durch Bewegung, Sich-Umschauen, durch Auseinandersetzung und Austausch gekennzeichnet ist. So gibt es den Versuch, den Beitrag Goodmans voller auszuschöpfen, die Arbeit durch Buber, die Objektbeziehungstheorien oder die Systemtheorien zu erweitern und auch den Rahmen der Gestalttherapie durch eigene integrative Neuansätze zu überschreiten. Ich persönlich lerne von all diesen Bemühungen und rufe zusammen mit einer meiner alten Quellen, dem Vorsitzenden Mao aus: „Laßt hundert Blumen blühn!“

Die Gestalttherapie betont das körperlich sinnliche Wesen des Menschen und die Bedeutung von Kontakt und Begegnung. Diese beiden für meine therapeutische Praxis wichtigsten Elemente werden angeregt, fundiert und erweitert durch die Beschäftigung mit der Tradition der „aktiven Psychoanalyse“ (hier Ferenczi und Reich), aus der die Gestalttherapie ja über Fritz Perls hervorgegangen ist, ohne deren spätere Entwicklung genügend berücksichtigt zu haben.

Reichs frühe charakteranalytische und vegetotherapeutische Arbeiten sind über Goodman und insbesondere Fritz Perls rudimentär oder, wenn man so will, als Hintergrund in die Gestalt- therapie eingeflossen. Die Charakteranalyse, die danach fragt, wie der jeweilige Mensch seine Erfahrungen verkörpert hat, hilft beim Erkennen von „Wahrscheinlichkeiten von Verhalten und Erleben“ (Bessel); sie degradiert dadurch den Klienten noch lange nicht zum Objekt. Der diesbezügliche systematische Hintergrund, der Perls zur Verfügung stand und der der heutigen Gestalttherapie fehlt, läßt sich aus vielen Passagen in seinen Büchern ersehen. Besonders interessant ist die im ersten Band von „Gestalt-Therapie“ (1987) beschriebene Körperarbeit in quasi klassisch reichianischem Setting (S. 175ff).

Aus Reichs Arbeiten ergibt sich für mich eine Fülle persönlicher und therapeutischer Konsequenzen, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen will. Ich möchte nur eine allgemeine Bemerkung zur Arbeit mit frühen und frühesten Störungen machen, die ja wesentlich durch einen Mangel an liebevoller körperlicher Zuwendung und Bestätigung gekennzeichnet .sind. Der Kontakt zwischen Therapeut und Klient braucht hier eine energetische Dimension, die (wörtlich genommen) warm und nährend ist. Diese Dimension erwächst aus dem „wahrnehmungsfähigen“ Energiefeld, das sich über die Hautgrenze hinaus in die Mitwelt hinein auszudehnen vermag. Reich nannte das den „ersten orgonotischen Sinn“.

Der Kontakt mit dem Kind/Baby im Klienten braucht entsprechende Berührungen. Blicke und wirkliches körperliches Halten, Zusammenhalten, weil die Fragmentierungen und das Auseinanderfallen physisch real, als wortlose Angst, als Panik und Schmerz, erlebt werden. Es gibt weitere präverbale Erlebnisse, die die Gestalttherapie als klassische Neurosentherapie nicht so ohne weiteres erreicht, weil sie keine psychologisch symbolisierte Wort-Bedeutung haben, sondern einfach körperlich/energetisches Erleben sind. Hierzu gehören beispielsweise Traumen in Zusammenhang mit der Geburt und die

Fallangst (M. Smith, 1988).

Die prinzipielle therapeutische Bedeutung Reichs liegt für mich darin, daß er die Liebe als biologische Kraft sah, die tatsächlich als 2Wärmestrom“ in und zwischen Menschen wirkt; und daß er damit die basale Bedeutung von energetischem Kontakt, oder (mit Feuerbach), die Bedeutung des leiblich-sinnlichen Dialoges erkannt hat.

Das Anliegen Reichs, das letzlich den Rahmen der Psychotherapie verläßt und Brücken zu den spirituellen Disziplinen schlägt, wird auf der therapeutischen Ebene am klarsten von Balint, einem Schüler Ferenczis, formuliert. Balint betont die Wichtigkeit der Wiederaufnahme von gescheiterten primären Objektbeziehungen in der Therapie; und er weiß, daß es dabei um nichts weniger als um den Versuch geht, „das Lieben wahrlich neu zu beginnen“.

Das ist ein mutiger und großer Satz. Und Lieben hat damit zu tun,daß ich jemand‘ bin, daß ich bereit bin, „mehr“zu werden und manchmal sogar „niemand“.

ANMERKUNG

6) Die „neuen Paradigmen“ der modernen Physik sind theoretische Einsichten und keine spirituellen Erfahrungen. Zur Auseinandersetzung darüber, ob dies lediglich „Pop-Mystik“ ist vergl. auch: Wilber und Bohm/Capra, „Das holographische Weltbild“; Bern-München 1988.

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