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Bukumatula 3/1991

Selbst, Meditation und erotisches Erfassen der Wirklichkeit, Teil 1

Das Selbst und die drei Formen des Leidens
Bernd Bocian:

Um diesen Artikel zu schreiben habe ich darüber nachgedacht, was mir die westliche Psychotherapie und die östlichen Befreiungswege (insbesondere der Buddhismus) in den letzten Jahren über individuelle menschliche Probleme zu sagen hatten). Es haben sich dabei drei Formen des Leidens herauskristallisiert, die sich alle auf die Frage nach der persönlichen Identität beziehen bzw. auf die Erfahrung, was ich als mich, bzw. mein Selbst bezeichne.

Die erste dieser drei Formen des Leidens betrifft das Fehlen bzw. das ungenügende Vorhandensein eines kontinuierlichen und zusammenhängenden Selbst-Gefühls. Hier geht es neben den Psychosen um all das, was wir zur Zeit über sogenannte Frühstörungen, über schizoide, borderline und narzißtische Prozesse etc. wissen. Gemeint ist hier das Fehlen einer fundamentalen Existenzsicherheit in Konflikt- und Streßsituationen, Auseinanderfallen der Ganzheit, Fragmentierung des Erfahrungsflusses (Beaumont 1987), ein nicht wirklich in der Welt und unter den Menschen Fuß-gefaßt-Haben. Therapeutisch geht es um „strukturbildende Maßnahmen“; für den betroffenen Menschen geht es in einem gewissen Sinne darum, „jemand zu werden“.

Die zweite Form betrifft die Neurosen, die Wachstumsstörungen, den verdrängten „Schatten“, die unabgeschlossenen Gestalten und die eingezwängten Affekte. Es geht hier darum, eine eher rigide Identität aufzugeben, das eigene Selbst zu erweitern und mehr zu werden, als ich zu sein glaube.

Die dritte Form des Leidens, mit der sich die mystischen Wissenschaften seit Hunderten von Jahren beschäftigen, betrifft gerade den menschlichen Zustand, der im Westen als gelungene Entwicklung von „Identität und Objektkonstanz“ bezeichnet wird. Das Anklammern an diese persönliche, einmalige, individuelle Existenz an ein Ego, das sich dem immerwährenden Fluß der Ereignisse, dem Prozeß des Entstehens und Vergehens entgegenstellt, indem es an bestimmten Vorstellungen und Bildern von sich und anderen festhält, wird als Entwicklungsstillstand betrachtet, der Leiden mit sich bringt. Es geht darum, die Illusion der Separation aufzugeben, die Verbundenheit mit den anderen Menschen, der Welt und dem Kosmos zu erleben und in gewisser Weise ’niemand zu werden‘.

Der Buddhismus definiert Identität nicht als ein Ich im Gegensatz zur Welt, sondern als ‚Bezogenheit‘, in der es durchaus ein Integrationsprinzip, einen momentanen Brennpunkt, aber keine andauernde, unabhängig bestehende Einheit gibt. Kein separates Selbst, keine Substanz, sondern Zusammenhang und Prozeß. Das ist der Auffassung der Gestalttherapie vorn Selbst und seinen Ich-Funktionen, wie sie insbesondere von Goodman formuliert wurden, sehr ähnlich. Für die Gestalttherapie beinhaltet der konkrete Gegenstand jeder biologischen und soziopsychologischen Forschung immer ein Organismus/ Umweltfeld. Und „es gibt keine Funktion eines Lebewesens, die anders denn als Funktion eines solchen Feldes zu definieren wäre“ (Perls et al. 1979, S. 161).

Ist das ‚Selbst‘ der Prozeß ständig wechselnder Kontakte, die sich im Feld da ereignen, wo der Organismus sich auf assimilierbares Neues zubewegt und Unverdauliches abwehrt, so meint der Begriff ‚Ich“ die Momente der Identifikation und der Abgrenzung. In diesen Momenten absichtsvollen Handelns ist die Umwelt nicht mehr als „der eine Pol der eigenen Existenz“ im Kontakt; die Trennung hingegen wird als real empfunden. Diese zeitweilige unnotwendige Abstraktion kann zur ausschließlichen Identität werden, denn wenn die „Person neurotisch ist, so existiert nichts anderes mehr im Bewußtsein als das absichtsvolle Ich“ (ebd. S. 169). Hiermit hat Goodman das beschrieben, was im Buddhismus als ‚Ich-Wahn‘ bezeichnet wird.

In ähnlicher Weise und Sprache beschreibt der buddhistische Gelehrte Lama Anagarika Govinda die Tendenz des Organismus, einen gemeinsamen, regulierenden Bezugspunkt zu schaffen, um die beiden grundlegenden Lebenstendenzen „Wachstum und Einheit“ integrieren zu können. Der Organismus findet einen Weg zwischen der drohenden Auflösung bei „chaotischem Wachstum“ und der Gefahr, sich durch ein abgrenzendes, „hypertrophisches Ich-Bewußtsein“ zu isolieren und zu verhärten (Govinda 1961, S. 65ff). Der Ansatz der Gestalttherapie, das menschliche Selbst als einen Prozeß und als den „Akt der Integration“ (Lore Perls) zu definieren, stimmt mit der Sicht des Buddhismus in den Grundzügen überein.

Daraus ergeben sich hier zwei Probleme für mich. Erstens: seitens der Gestalttherapie ist das erst einmal ein theoretisches Konzept, das nicht so ohne weiteres als erlebbare, spirituelle Dimension gewertet werden kann. Zweitens: im Prozeßansatz Goodmans kommt wenig von einem „stabilen“ Selbst vor; das Selbst fühlt nicht so sehr „die eigene Existenz als vielmehr die Einheit der Kontakte“ im Feld (Perls et al. 1979, S. 176).- Ich bin letztlich nur ein „immerwährendes Fließen von Vorgängen“ (Perls et al. 1979, S. 49).

Ein Selbst mit einer so hochentwickelten, flüchtigen Dynamik scheint mir nicht auszureichen, um die gestörten Identitätserfahrungen mancher Klienten zu verstehen. Hunter Beaumonts Ansatz in bezug auf frühe Störungen, einem prozeßhaften Selbstbegriff, der sich auf ein Phänomen – im Feld“ bezieht, auf Kontaktprozesse – innerhalb des Organismus‘ zu beziehen, die ihn „vom Kontext seiner Umgebung abheben“ (Beaumont 1987a) und somit Zusammenhalt und Identität vermitteln, halte ich für einen guten und wichtigen Schritte). Ich möchte betonen, daß das Schaffen von „inneren Verbindungen“ sich für mich auf die Reintegration psychischer Identitätsteilstücke und insbesondere auf die entwicklungspsychologisch früher beginnenden Desensibilisierungen, Abspaltungen und Zerteilungen des Körper-Selbst bezieht. (Das sich „Fragmentiert“-Fühlen hat hier eine reale physische Grundlage. )

GESTALTTHERAPEUTISCHES GEWAHRSEIN UND BUDDHISTISCHE ACHTSAMKEIT

Kraftvolle Identifikation und schöpferische Distanz

Gewahrseins- und Achtsamkeitsübungen sind sowohl der Gestalttherapie als auch dem Buddhismus zentrale Anliegen – und allzuoft auch Anlaß für ungenaue Verknüpfungen. Wenn Anderson (1983, S. 42) behauptet, daß die buddhistische Übung der „rechten Achtsamkeit“ längst auch bei uns bekannt ist und ihre westliche Version halt Gestalttherapie heißt, so ist dies ein Beispiel von vielen). Mit dieser Art von Verbindung

geschieht sowohl der Gestalttherapie als auch dem Buddhismus unrecht. Natürlich ist zum Beispiel das, was Simkin (GT 1988) so schön als die Fähigkeit eines guten Phänomenologen beschreibt, das einfache Beobachten und Wahrnehmen von sich verändernden Tatsachen, genau das, was in der Achtsamkeitsmeditation geübt wird. Vergessen wird hierbei jedoch, daß die Achtsamkeitsmeditation eine erste Stufe meditativer Einsicht bildet, der weitere aufbauende Stufen, mit dem Ziel in umfassendere Dimensionen der Wirklichkeit Einblick zu erhalten, folgen.

Die Gestalttherapie wiederum hat es nicht nötig, jeden „sitzenden Phänomenologen“, der sich auf innere Vorgänge hin sammelt, gleich als buddhistischen Meditationspraktiker zu bezeichnen, da sie eine eigene Tradition der Achtsamkeit hat, wie das Fritz Peris in seinem erstem Buch 1946 beschreibt. Die Übung des „inneren Schweigens“ (Perls 1978, S. 254ff) die durch das geistige Geplapper dringt und Kontakt zum überlagerten „biologischen Selbst“ bekommt, oder seine Empfehlung, dem eigenen Denken zuzuhören und zu merken, wer da eigentlich spricht – Ich oder Introjekte – mögen neben dem bekannten Awareness-Kontinuum als Beispiel genügen.

Um den Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Achtsamkeitsübung deutlicher zu machen, will ich zunächst auf das Konzept des ‚beobachtenden Selbst‘ in den mystischen Traditionen zu sprechen kommen_ Das beobachtende Selbst ist eine Art Urgrund der Selbsterfahrung, eine eigenständige Bewußtseinskategorie, wobei die Inhalte (Gedanken, Empfindungen, Emotionen, etc. ) sekundär sind. Sie sind Objekte des Bewußtseins, nicht das Bewußtsein selbst. In den östlichen Traditionen taucht diese Wahrnehmungserfahrung als „Beobachter“, als „innerer Zeuge“ oder als „leerer Spiegel“ auf, der alle Bilder nur reflektiert, selbst aber unverändert bleibt. Ich identifiziere mich nicht mehr ausschließlich mit meinen persönlichen

Dramen und kann meine inneren Nöte und Sorgen mit schöpferischer Distanz betrachten. Das klingt ein wenig nach klassisch psychoanalytischer „Abstinenz“. In der Tat ist zum Beispiel die eher analytisch trockene Vipassana-Meditation bei Psychoanalytikern sehr beliebt, da sie nicht „Befriedigung, Katharsis, Agieren“ etc. fördert, sondern neutrales Beobachten. Der Analytiker Engler bemerkt dann auch: „Beide Praktiken sind abhängig von der Fähigkeit zum Befriedigungsaufschub zugunsten schließlicher Einsicht und tieferen Verständnisses“ (Engler 1988, S. 50).

Die davon unterschiedliche Intention der Gestalttherapie, und auf die kommt es mir hier an, will ich mit einem Zitat deutlich machen: „Unsere Technik des Gewahrseins erscheint vielleicht als Variante der Yogatechnik. Das ist sie auch, aber das Ziel ist ein anderes“ (Perls et al. 1987, S. 86).- Nach einem unglücklichen Hinweis darauf, daß „der Inder“ sich lediglich zu betäuben sucht, der nur mit der Unkenntnis lebendiger spiritueller Traditionen zu erklären ist, heißt es weiter: „Wir hingegen wollen uns nicht scheuen, das Empfinden und die Reaktionen auf äußere Reize zu beleben und Konflikte zu schüren, wo sie nötig sind, um am Ende ‚zur einheitlichen Lebenstätigkeit des ganzen Menschen‘ zu gelangen“.

Es geht um Bewegung, um jeden Kontakt, es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und bisher Ausgeblendetes zu erleben und sich damit zu identifizieren. Ich bin es, der dies und jenes tut! Den inneren Beobachter, das transpersonale Selbst zu stärken, wie es in den östlichen Traditionen gehandhabt wird, hat gerade zum Ziel, die Identifikation aufzuheben. Der übende wird angehalten, sich nicht mit den Projektionen des Geistes (z.B. sich etwa projizierte Aggressionen wieder anzueignen) sondern sich mit dem Geist, dem Projektor selbst zu beschäftigen. Es geht nicht darum, mit dem Strom der sich verändernden Figur-/Hintergrundkonstellation zu schwimmen und die wache, unblockierte Selbstregulation durchzusetzen.

Vielmehr geht es um eine Ablösung von der Figurfixierung und um Kontakt zum Grund selbst, der vielleicht auf einer umfassenderen Erfahrungsebene (in der Sprache der Gestalttherapie) dem von Koffka vorgeschlagenen (nicht nur visuellen) „übersinnlichen Grund“ entspricht, der alle empirischen Figuren durchdringt (Joslin 1984, S. 174).- In der Meditation tauchen aus dem Grund (Raum, Geist) Gedanken, Bilder und Emotionen auf und kehren in ihn zurück wie Wolken am Himmel, die sich zusammenballen und sich wieder in den Hintergrund hinein auflösen.

Es findet ein entspanntes, nicht eingreifendes Wahrnehmen von Figurbildungen und Auflösungen im inneren Raum statt. Ein kleines Beispiel mag die von mir hier betonte Unterscheidung der beiden Praktiken unterstreichen: Höre ich in der Meditation plötzlich und unerwartet eine Tür zuschlagen, projiziere ich sofort das Bild der Tür oder einer Person, wobei dann noch ein Gefühl, zum Beispiel ärger, hinzukommt. Ohne Frage ist dies eine Fähigkeit, innerlich aus einem einzigen Sinneseindruck eine komplette Gestalt zu formen. Der Buddhismus aber lehrt uns, daß es sich dabei um einen zwanghaften Reflex handelt.

Wir nehmen eine Erscheinung im Feld (hier ein Klang) eigentlich nicht in der „Soheit“ wahr, sondern verbinden das sofort mit einem Gefühl oder einer Erinnerung. Unbeteiligtes Beobachten soll Zugänge in andere Wahrnehmungsdimensionen ermöglichen, die auch das beobachtende Selbst transformieren. Tarthang Tulku drückt das folgendermaßen aus: „Unsere Gedanken zu beobachten, unsere Gefühle zu untersuchen und unsere Wahrnehmung bewußt zu verfeinern, kann uns für eine Zeit glücklich und zufrieden machen; wollen wir jedoch meditatives Gewahrsein entwickeln, müssen wir die Grenzen sinnlicher und intellektueller Wahrnehmung überschreiten -wir müssen jenseits unseres Bewußtseins gelangen“ (Tulku 1979, S.150).

DIE SUBVERSIVITAET UND DIE TRANSFORMATION VON
EMOTIONEN

Als den bedeutendsten Unterschied zwischen der Gestalttherapie und der buddhistischen Praxis habe ich immer den jeweiligen Umgang mit Emotionen erlebt. Wenn ich hier von buddhistischer Praxis spreche, meine ich die im Verhältnis zur burmanesischen Vipassana-Meditation körper- und sinnesfreudigere Version des tibetanischen Buddhismus). Der tibetanische Buddhismus, der Vajrajhana, benutzt (aus meiner Erfahrung) als Einstieg in den meditativen Weg weniger die Übung des Sich-Entleerens und des Relativierens jeglicher fester Zustände, sondern beginnt den Einstieg über die Übung des Sichverbundenfühlens und Aufgehenlassens isolierter Phänomene in einen größeren fließenden Zusammenhang.

Dieses zusammenhängende Gewebe (Tantra) wird unter anderem sinnlich und körperlich vermittelt, indem scheinbar kompakte Einheiten und Ereignisse (Gedanken, Gefühle, etc.) in ihre alles durchdringende energetische Ursubstanz hinein aufgelöst werden. Der Meditierende nähert sich allen auftauchenden Emotionen freundlich und interessiert, wobei er sich jedoch nicht weiter mit dem Inhalt und dem Objekt der Emotion beschäftigt bzw. identifiziert. Die Übung besteht darin, sich mit der Energie zu verbinden, die die eigentliche Substanz von Emotionen und Gedanken bildet.

Tief in sie einzudringen und die dabei entstehenden Empfindungen auszudehnen, lassen Wahrnehmungen von Enge und Dunkelheit in Offenheit und Licht verwandeln. Alle Erscheinungen sind Manifestationen einer universellen, Körper und Geist durchdringenden Energie. „Negative“ Gedanken und Emotionen bedeuten Zusammenballung und Separation und können durch eine Art alchemistischen Prozeß wieder in den heilsamen Fluß des Ganzen integriert werden.

Aus diesem Blickwinkel heraus erscheinen Emotionen als durchaus wertvoll, da sie spirituelle Erfahrungen ermöglichen; irgendwie aber sind sie unökonomisch. Herbert von Guenther, bekannter buddhistischer Theoretiker, spricht zum Beispiel davon, daß das Auftauchen von Emotionen als eine „mangelhafte Anpassung an eine gegebene Objektsituation“ gesehen werden kann.- Die Gestalttherapie betrachtet Emotionen als sinnvolle Äußerungen des „Organismus“ Mensch, die mit seiner kreativen Anpassung im Umweltfeld zusammenhängen und zur Orientierung, zur „spontanen Lagebeurteilung des Körpers zur jeweiligen Situation“ dienen (Dreitzel 1985).

Der Buddhismus sieht das, was wir als freien Fluß der Figur/Hintergrundbildung, als organische Selbstregulierung sehen, als eine Art Reiz-Reaktions-Konditionierung, über die der Mensch hinauswachsen kann. Hierbei wird nicht genug berücksichtigt, daß die Industrialisierung und der „Prozeß der Zivilisation“ (Elias) gerade zur Störung dieser Selbstregulationsfähigkeit – und damit zu chronischer Kontaktunterbrechung, Selbstvergewaltigung und massenhafter Produktion von Charakterpanzerung – geführt haben.

Wilhelm Reich nannte dies den „erstarrten soziologischen Prozeß“. Tiefe, primäre, unverstellte Emotionen mit ihren bioanarchistisch, selbstregulativen Funktionen unterlaufen das Gefüge von entsinnlichter gesellschaftlicher Ordnung und persönlichem Über-Ich und sind daher subversiv. Mit „tief“ und „unverstellt“ meine ich aus dem privaten und politischen Alltag weitgehend verschwundene Emotionen wie heiße biologische Wut (eine Selbstverteidigung der durch Zerstörung, Ersticken oder Zurechtweisung bedrohten Lebendigkeit), den ganzen Körper ergreifende Trauer, sowie überströmende Lust und Liebe.

Durch gesellschaftlich-familiär vermittelte charakterliche Abwehr gebrochen, werden sie zu „sekundären Emotionen“ (W. Reich), die dann in Form von Dampf ablassenden Explosionen, sadistischer Eltern-Mordlust, trotzigem Dreinschlagen, Jammern etc. in der Therapie als endlos reproduzierbar gelten und den Schluß nahelegen, daß Ausdrucksarbeit Sisyphusarbeit sei. Es geht mir nicht darum, den buddhistischen Ansatz als für unsere Verhältnisse unbrauchbar darzustellen; vielmehr möchte ich den Unterschied zwischen spirituellen und therapeutischen Aufgaben aufzeigen, der, wie bereits angedeutet, von einigen Autoren in kurzschlüssiger Euphorie zu stark verwischt wird, wenn einzelne Menschen auch sicher in der Lage sein mögen, beides miteinander zu verbinden.

DIE ERFAHRUNG DER UMFASSENDEN LEERE UND
NARZISSTISCHES LEERSEIN

„Ehe wir daher in Verbindung mit dem Himmel treten, müssen wir eine Beziehung zur Erde herstellen und an unseren grundlegenden Neurosen arbeiten“ (Tschögyam Trungpa).

Spirituelles Wissen wird oft pur von Ost nach West importiert, ohne daß Kulturunterschiede entsprechend berücksichtigt werden; und meist ohne der Kenntnis, daß die östlichen Traditionen in der Regel jahrelange Vorbereitungszeiten kennen. Dies gilt sowohl für den Klosterschüler, der eine Art Reifungs- und Reinigungszeit zu durchlaufen hat, als auch für den traditionellen indischen Hindu, der die Lebensphase des erwachsenen Familienvaters hinter sich hat, bevor er sich dem spirituellen Pfad zuwendet. Große spirituelle Persönlichkeiten erscheinen mir in den Biographien, die über sie geschrieben wurden, als äußerst „ichstark“. Ich muß erst entwickelt haben – und das gilt gleichermaßen für Ich-Stärke, Denkfähigkeit und emotionale Ausdrucksfähigkeit – was ich transformieren will. Stufen der Persönlichkeitsreifung lassen sich nur in Ausnahmefällen überspringen.

Buddhistische Lehrer wie zum Beispiel Tarthang Tulku, die ihr Wissen um die Möglichkeiten der menschlichen Entwicklungsfähigkeit, unabhängig von kulturbedingten Ritualen, dem Westen zugänglich machen wollen, haben dementsprechend vorbereitende und hinführende Übungssysteme entwickelt, die unseren Bedingungen direkter entsprechen und die durchaus sinnvoll mit Therapie kombiniert werden können (Machemer 1988).

Mir persönlich sind Entspannungs- und Meditationsübungen aus östlicher Tradition auch im therapeutischen Alltag wichtig. Sie geben mir die Möglichkeit, mich immer wieder für die Klienten „leer“ zu machen und ihnen offen begegnen zu können.- Gleichzeitig glaube ich, daß die westliche psychotherapeutische Tradition kostbares Wissen über Entwicklungszustände und Störungen erworben hat, mit denen sich östliche Traditionen nicht eingehend genug befaßt haben, da sie bei relativ stabilen Selbststrukturen ansetzen. „Die eine Tradition hat die Wichtigkeit betont ‚jemand‘ zu werden; die andere die Wichtigkeit, ’niemand‘ zu werden.“ (Engler)

Weiß der Buddhismus zum Beispiel viel darüber, daß der Meditationspraktiker im „Pseudonirvana“ (spektakuläre Erlebnisse ungewohnter Farben, Klänge und Bewußtseinszustände) steckenbleiben kann, so weiß er meines Erachtens wenig darüber, daß Meditation auf Menschen mit frühen Störungen eine besondere Anziehungskraft ausüben kann; ihm fehlt eine Entwicklungspsychologie (Engler 1988). Die „Kein-Selbst“-Lehre kann zur Rationalisierung der mangelhaften Selbstintegration verwandt werden oder als Bestätigung, im eigenen Gefühl der inneren Leere, die „große Leere“ (Shunjata) zu erleben, die jedoch die Erfahrung des Absoluten, also auch eines vollkommenen Nicht-Getrenntseins meint. Die Möglichkeit der spiegelnden, idealisierten Übertragung auf den spirituellen Lehrer mag nicht größer sein als

beim „Durchschnittsneurotiker“; ebenso die Verwendung der „Lehre der Bindungslosigkeit“ zur Erklärung der eigenen Schwierigkeiten, z.B. befriedigende und dauerhafte Beziehungen einzugehen (eine Art positiver Umdeutung, „Refraiming“).

Als ich im Alter von sechzehn Jahren begann buddhistische Texte zu lesen und Yoga zu praktizieren, waren mir die entspannenden und beruhigenden Übungen wirklich eine große Hilfe, Lebenskraft und ein Zentrum inmitten meiner nervösen und ängstlichen Zerrissenheit zu finden. Meine Beziehungs- und Bindungsängste habe ich damals zu ideologisieren begonnen, indem ich am Buddhismus einen Aspekt hervorhob, der sich in meinem damaligen Lieblingsvers ausdrückt:

„Wie Bambus buschig eng am Boden aufwächst,

An Weib und Kind ist eng der Wunsch erwachsen: Wie Bambusblüte hoch am Halm entflattert, Allein nur wie das Nashorn mag man wandern.“

DAS SPEKTRUN DES SELBSTBEWUSSTSEINS
Gestalttherapie und die Kentaurenebene

Die im ersten Kapitel angesprochenen drei Formen des Leidens verweisen auf menschliche Wachstumsmöglichkeiten und ihr Scheitern. Die Spannbreite der Entwicklung reicht vom fragmentierten Selbst bis zu einem höchsten kosmischen Selbst. Für Lore Perls geht die „Skala des Wahrnehmungskontinuums von der Nicht-Wahrnehmung bis zur Erleuchtung“. Einen guten überblick über die Entwicklungsebenen des Bewußtseins und der mit ihnen zusammenhängenden Probleme gibt der Psychologe Ken Wilber (Wilber 1986). In Wilbers Modell geht es um die Erweiterung der

Grenzen der persönlichen Identität, die sich aus der Frage „wer bist du?“ ableitet. In dieses Modell hat Wilber noch nicht die Problematik der frühen Selbststörungen einbezogen, so daß sein Bewußtseinsspektrum an der Basis, auf der Ebene der „Persona“ beginnt. Auf dieser Ebene ist die Identität der Person auf eine Facette ihrer Psyche beschränkt, die den „Schatten“ außen vor läßt. Auf der nächsten, der „Ich-Ebene“, besteht die Spaltung zwischen einem, mit seinem Schatten vereinten Ich und dem Körper.

Die nächste Stufe ist die „Kentauren-Ebene“. Der Kentaur der griechischen Mythologie ist halb Mensch, halb Pferd, eine gelungene Synthese des Animalischen und des Humanen. Auf dieser Ebene fühlt sich der mittlerweile Körper und Geist umfassende Gesamtorganismus Mensch immer noch von der Umwelt getrennt, obwohl bereits ein hoher Grad von gegenseitiger Vermengung erreicht ist. Für mich wird hier deutlich, daß das abstrakte Bild vom Organismus im Feld eigentlich sinnliche Existenz meint – und diese steht immer in einem wechselseitigen Verhältnis zu ihrer Lebenswelt.

Der Organismus hat eine durchlässige Membran; im Akt des Sehens z.B. fallen Sinnesorgan und Sinnesobjekt zusammen. Ludwig Feuerbach mit seiner Philosophie der „Sinn- und Leiblichkeit“

für mich der „Hofgelehrte“ des Kentaurenreichs

beschreibt dieses dialektische Verhältnis mit dem Satz: „Im Leib sein, heißt in der Welt sein“. Die folgenden „transpersonalen Streifen“, welche Erfahrungen wie den transpersonalen Beobachter beinhalten, leiten über zum „Bewußtsein der Einheit“ mit dem Universum, das nicht mehr zu rastern und zu kategorisieren ist.

Damit, daß Wilber die Gestalttherapie auf der Kentaurenebene ansiedelt, ohne zu übersehen, daß sie auch auf den vorhergehenden Ebenen wirksam ist, bin ich einverstanden; und auch damit, daß er sie nicht wie etwa die Psychosynthese Assagnolis in den transpersonalen Streifen hineinnimmt, obwohl ja, wie wir bereits gesehen haben, das theoretische Selbst-Konzept dafür reichen würde.

Die „Esalen-Taoisten“ – Der Kentaur in Aktion:
Kein Baum ist häßlich
Jeder Felsen ist perfekt
Der Regenbogen ist wunderschön
Du bist der Regenbogen
(Gia Fu Feng)

Die kentaurische Ebene hat viel mit Lust an Leib und Leben, Vitalität, Spontaneität, Kraft und Zartheit zu tun. Sie drückt sich in der sinnlichen Orientierung der Gestalttherapie, in ihrer Wertschätzung für die Ethik des Augenblicks, in der Betonung der Selbstregulation durch vordringliche Bedürfnisse aus. Das erinnert an Taoismus und an Zen („Geh weiter“). Für die Esalen-Taoistens) der sechziger Jahre, zu denen ich hier Fritz Perle, Alan Watts und Gia Fu Feng zähle, war die Betonung einer kraftvollen und unkonventionellen Lebensweise typisch. Typisch ist auch eine gewisse Geringschätzung für formale und analytische Meditation, die Perle und Watts teilten. Perls“ Interesse für den Zen-Buddhismus galt der direkten Lebensweise und der „amoralischen“ Einstellung (Perls 1981, S. 120).

Fritz Perls hatte keine Erfahrung mit längeren Meditationsprozessen. Bei ihm heißt es: „Meditation – weder Scheißen noch vom Topf herunterkommen -erscheint mir als eine Erziehung zur Katatonie“ (ebd. S. 108). Er mag in einem gewissen Sinne recht haben, da in Japan Zen manchmal sehr ritualisiert ist und die Klöster Kadettenanstalten gleichen, in denen Söhne großer Familien eine disziplinierende Erziehung erfahren. Das ist aber etwas anderes als die alten chinesischen Chan-Meister meinten. Diese wilden, freien Kerle, die dem Taoismus sehr nahe standen, hielten vom stundenlangen Sitzen in der Tat nicht viel. Andererseits ist ein solch allgemeines Urteil über Meditation ohne weiterreichende Erfahrung anmaßend und borniert.

Die „Kentauren in Aktion“ machen einen Teil der Faszination aus, die die Gestalttherapie auf mich ausgeübt hat, zumal ich auch das Glück hatte, Gia Fu Feng persönlich kennenzulernen. Er bleibt mir als ein Mann voller Kraft und Liebe in Erinnerung, der sowohl zu harter Abgrenzung als auch zu liebevoller Zuwendung fähig war; er besaß eine tiefe Wertschätzung für alles Lebendige, mit dem er sich verbunden fühlte. Bei ihm habe ich das „Mit-den-Gefühlen-rollen“ (A. Watts) erlebt, bei dem Zorn und Trauer so natürlich auftreten und vergehen wie Donner und Regen und die Jahreszeiten.

Wie ich Gia Fu Feng erlebt habe und beschreibe, das hat für mich mit einem – vielleicht idealen – Menschenbild zu tun, das ich manchmal aus der Gestalttherapie herauslese und das ich im spontanen kindlichen Wesen des Taoismus, in einer freien anarchistischen Persönlichkeit und in Reichs Vorstellung vom -genitalen Charakter“ finde. Wenn man allerdings Gia Fu Feng zum Begründer einer „taoistischen Gestalttherapie“ machen will, wie das Gagarin tut, so ist das meiner Meinung und Erfahrung nach genauso unbegründet, wie der nicht ganz ausgesprochene Versuch Goldners, Fritz Perls posthum zum Zen-Meister zu machen (vgl. Anm. 3)

Das Programm der Esalen-Taoisten war Teil eines Aufbäumen gegen eine lebenserstickende, mechanistische Zivilisation und gegen eine Psychoanalyse, die rationalisierend und kontrollierend „wo Es war, soll Ich werden“ auf ihren Banner geschrieben hatte. In Esalen ging es hauptsächlich um den Versuch, den „brodelnden Kessel des Es“ in die Selbstwahrnehmung und den Selbstprozeß zu integrieren. Freuds dichotomisches Bild vom Reiter (Ich), der das Pferd (Es) zu lenken versucht, wurde abgelöst durch das Bild vom ganzheitlichen kentaurischen Selbst (wo Ich und Es waren, soll Selbst werden). Die starke Ausrichtung der Arbeit auf die Übernahme von

Verantwortung und die Ausweitung der eigenen Grenzen, verbunden mit der Notwendigkeit alte, bereits gesicherte Stützpunkte aufzugeben, war für Menschen, die sich dieser Stützpunkte noch gar nicht so sicher waren, überfordernd und damit (wie Buddhisten sagen würden) auch nicht heilsam. Wenn auch die Arbeit mit frühen Störungen theoretisch und praktisch an Konturen gewinnt, liegt die klassische Stärke der Gestalttherapie in der Integration des eigenen Schattens und in der Erweckung des sinnlichen Kentauren, also in der Arbeit mit der zweiten Form des Leidens, bei der es um das Mehr-Werden geht.

WILHELM REICH UND DIE SINNLICHKEIT DER ERKENNTNIS
Fortsetzung in BUKUMATULA 4/91

ANMERKUNGEN:

Ich muß hier einige wichtige Aspekte des Verhältnisses beider Systeme außer Acht lassen, wie z.B. die Frage nach der (erkennbaren) Wirklichkeit, die vom Buddhismus als auch vom radikalen Konstruktivismus auf einer ersten Ebene ähnlich – nämlich als rein subjektives Konstrukt – gesehen wird. Auf einer anderen Ebene hält der Buddhismus diese subjektive Konstruktion, deren Wahrheit für die therapeutische Ebene von eminenter Bedeutung ist, für „Täuschung und Illusion“ und die Erkenntnis der „Scheit“ und des „So-Seins“ der Dinge für möglich.

Diesen Ansatz direkt von Goodman ableiten zu wollen halte ich für nicht stimmig. Goodman ging es meiner Meinung nach um die sinnlich-soziale Existenz des Menschen, in der der Mensch und seine Mitwelt aneinander beteiligt sind; das ist letzlich auch eine Kritik an der Vorstellung vom bürgerlichen Subjekt als abgeschlossene Monade. Solche Ansätze, die letztlich der mitgebrachten „ersten Natur“ des Menschen nachspüren und die nie vollständig in ihrer sozialen Form aufgehen, findet man bei Fritz Perls. Perls spricht von „wirklichen Menschen“, vom „wahren Selbst“ und vom „verspürten Gewahrsein des Selbst“ als Körperwahrnehmung; und das liegt natürlich in der „biologistischen“ Tradition W. Reichs.

3)Beispiele: Anderson, „Der tibetischeBuddhismus“, Bern 1979; Goldner, C.G.: „Zen in der Kunst der Gestalttherapie“, Augsburg 1986; Deikman, A.: „Therapie und Erleuchtung“, Hamburg 1986.

4)Vergl. auch die harte Kritik von Govinda an den Grundlagen der burmanesischen Vipassana Meditation: Einheit und die spontane Koordinationsfähigkeit des Organismus würden durch analytisches Beobachten zerstört. („Schöpferische Meditation und multidimensionales Bewußtsein“, Freiburg 1982, S. 150ff.)

5)Den „Esalen-Taoisten“ gemeinsam ist eine die Spontaneität betonende Version des Taoismus, gemischt mit Elementen der humanistischen Psychologie. Vergleiche auch die „taoistische“ Vorprägung von Perls durch seinen „Guru“ Friedländer.

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