1 Jun
Bukumatula 1/1995
Beatrix Teichmann-Wirth:
Für BUKUMATULA hat Beatrix Teichmann-Wirth Wilhelm Reichs kürzlich auf Deutsch erschienene Autobiographie „Leidenschaft der Jugend“ gelesen.
Das Vorhaben, Wilhelm Reichs Buch zu rezensieren, will nicht gelingen. Beim Versuch schleicht sich ein Gefühl des Unbehagens, der Scham (?) ein. Einzugreifen in die Intimsphäre, etwas preiszugeben, zu veröffentlichen, über zutiefst Persönliches zu schreiben erscheint nicht angemessen. So will ich mich auf weniges beschränken. Eher aufmerksam machen als zu re-zensieren, mehr einladen zum Selbstlesen als vorwegzunehmen.
„Ich will ehrlich sein: Auch mir kam oft der Gedanke, das soll und will gelesen sein – und doch ist mir der Gedanke, irgendeiner sollte dies lesen, unheimlich!“ schreibt Wilhelm Reich.
Auch mir ist bei der Lektüre dieses Buches bisweilen „unheimlich“ geworden. Unheimlich vor allem wegen der radikalen Offenheit, mit welcher Reich über sich und seine Geschichte schreibt. Er schont sich nicht. Wie er sich in seiner Sentimentalität zeigt so auch in der ans Brutale grenzenden Nüchternheit, mit welcher er sich und andere analysiert und beurteilt.
Und immer ist er ein Zerrissener, ein Ringender, der verzweifelt Antwort sucht.
Reich zeigt sich als ein Zerrissener in seiner Beziehung zu Frauen, welche er in Dirnen und Mütter aufspaltet, sie teilweise „seziert“, mit Eigenschaften belegt und verurteilt. Er, der damals 22-jährige – das Alter gilt es bei der Lektüre zu bedenken – ist hin- und hergerissen zwischen Idealisierung und Abwertung, zwischen Sehnsucht nach Mütterlichkeit und befriedigender Sexualität, welche er nicht vereint findet. Und man gewinnt den Eindruck seiner immerwährenden Suche nach der verlorenen Mutter. Verloren aufgrund des eigenen Verrats -hat er sie doch an den Vater ausgeliefert, indem er ihren Seitensprung verriet. Das darauf folgende Martyrium beendete seine Mutter schließlich mit Selbstmord. Der Vater überlebte sie nur kurz. Und Reich schreibt: „Mag mein Lebenswerk meine Missetat wieder gut machen.“
Noch einmal findet sich die Verbindung von (verbotener) Sexualität und Tod in Reichs Biographie. Dort, wo er mit Lore ein Verhältnis eingeht, welches in einem kalten Zimmer stattfindet und aufgrund einer Lungenentzündung ihren Tod zur Folge hat und des weiteren den Selbstmord ihrer Mutter.
Auch was seine Sehnsucht nach Familie betrifft, ist Reich ein Zerrissener. Beneidet er auf der einen Seite die gutbürgerlichen Töchter und Söhne, deren Mütter sonntags mit dem Essen auf sie warten, so findet er auf der anderen Seite die Lügen und Konventionen unerträglich.
Er zeigt sich in seiner Zerrissenheit zwischen ehrgeizigem Angetriebensein und der Sehnsucht nach „einem Augenblick Nichtschaffens, Nichtleistens, nach einer Sekunde trägen Nichtstuns!“ In seinem Schwanken zwischen Sentimentalität und Eitelkeit auf der einen Seite und bis an die Selbstzerfleischung gehender trockener Analyse auf der anderen.
Reich zeigt sich in seinen Anflügen von Selbstüberhöhung, seiner Depression, seiner Trostlosigkeit und Minderwertigkeitsgefühlen und vor allem in seiner Verzweiflung.
Er zeigt sich in seinem seit Kindheit währenden Außenseitertum und in seiner Einsamkeit.
Reich zeigt sich.
Ist zu hoffen, daß das Buch liebevolle Augen erreicht und nicht an solche gerät, welche einmal mehr Ansatzpunkte für Angriff und Diffamierung suchen. Davon würden sie in diesem Buch nämlich genügend finden.
Wilhelm Reich: Leidenschaft der Jugend. Eine Autobiographie.
1897-1922. Erschienen bei Kiepenheuer und Witsch: Köln, 1994.