15 Aug.
Bukumatula 2/03
Christian Rieder über zwei verwandte Denker
Wir schreiben das Jahr 1936, als sich der österreichische Psychoanalytiker W. Reich und der englische Pädagoge A.S. Neill in Oslo das erste Mal begegnen. Es folgt eine zwanzigjährige Freundschaft, während derer Neill sowohl Schüler als auch Patient Reichs wird.
Es ist kein Zufall, dass beide später zu Leitfiguren der rebellischen 68er Generation avancieren werden. Vertreten sie doch die gesellschaftskritische Überzeugung, dass die Ursache emotionaler Deformation soziale Konditionierung sei. Im Grunde seines Wesens wäre der Mensch gut und eine liberale Erziehung sei der beste Garant zur Verhinderung asozial-destruktiven Verhaltens.
Obwohl sich beide in wesentlichen Dingen wie Herkunft, Ausbildung, Alter und Temperament unterscheiden, kämpfen sie im Grunde für die gleiche Sache, nämlich das Leiden der Menschen zu mildern. Neill findet in Reich’s Schriften die Untermauerung seiner Grundüberzeugungen und wird damit in seiner pädagogischen Praxis bestätigt. So schreibt Reich etwa in der klassischen Studie Charakteranalyse „dass es die Hemmung der Sexualität durch die autoritäre Erziehung ist, die die Aggressivität zu einem nicht bewältigbaren Anspruch macht, indem sich gehemmte Sexualenergie in Destruktivität umsetzt.“ (Reich 1973, 287)
Wie kann nun antiautoritäre Erziehung aussehen? Im Jahre 1921 gründet A.S. Neill die Schulgemeinschaft „Summerhill“ in der Nähe Londons. Es handelt sich dabei um eine Internatsschule, in der auf autoritäre Einschüchterung und sexuelle Repression verzichtet wird. „Selbstregulation statt Zwangsbeglückung“ lautet hier das Rezept für ein erfülltes Leben. Aufrichtigkeit und Achtung vor dem Mitmenschen werden in Summerhill von allen Mitgliedern der Gemeinschaft gefordert und die Lehrer versuchen auf den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes Rücksicht zu nehmen.
Neben der Schulung kognitiver Fähigkeiten wird auch auf die Herzensbildung geachtet. Es besteht kein Leistungsdruck und sämtliche Entscheidungen bezüglich Sicherheit, Gesundheit und Ordnung werden demokratisch in Schulversammlungen entschieden. Interessanterweise findet in Summerhill kein Religionsunterricht statt. Reich kommt in seinem Buch Die Massenpsychologie des Faschismus zum Schluß, „dass also die natürliche Geschlechtlichkeit der Todfeind der Religion ist.“ (Reich 1974, 238)
Neill steht genau wie Reich der Religion sehr kritisch gegenüber, da sie häufig Angst und Schuldgefühle erzeugt. Stattdessen setzt er auf die Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen. So schreibt der Schulleiter in einem Brief an Reich: „Ich habe mit der Analyse eines 17jährigen Mädchens begonnen, natürlich mit der vegetherapeutischen Technik.“ (Placzek 1989, 175)
Wie aus dem Briefmaterial hervorgeht hat der Freudianer Neill also in Summerhill Reich`sche Therapietechniken bei mindestens acht Kindern bzw. Jugendlichen selbst angewendet. In einem Brief vom 18. Juni 1944 schreibt er sogar, dass er statt zu unterrichten nur mehr vegetotherapeutisch arbeite. Ungefähr einenhalb Jahre später berichtet er vom Ende seiner Behandlungen: „Als wir jeweils den vitalen Verdrängungen näher kamen, sind sie alle nicht mehr gekommen.“(Placzek 1989, 220)
Im selben Brief fasst er auch den Einfluss seines Freundes zusammen:
„Kurz gesagt, ich habe Deine Botschaft nicht voll und ganz verstanden, wahrscheinlich deshalb, weil ich sie erst zu spät im Leben empfangen habe. Oder anders ausgedrückt: Ich habe zu S`hill ein wenig Reich hinzugefügt, ….“ (Placzek 1989, 219-220)
Ich glaube, dass man den gegenseitigen Einfluss nicht überschätzen sollte. Wichtiger als der intellektuelle Austausch war wohl die gegenseitige psychische Unterstützung. In einem seiner letzten Briefe schreibt Neill etwa ein Jahr vor Reichs Tod die folgenden Zeilen: „Ich glaube, Du hast zeitlebens nur wenige Freunde gehabt…“ und „Ich war ein Freund, der Dich geliebt hat, der Dein Genie, aber auch den Kleinen Mann in Dir anerkannt hat, aber ich bin niemals ein `Reichianer´ gewesen…“. (Placzek 1989, 585-586)
________________________
Literatur:
Neill, Alexander Sutherland: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1969.
Placzek, Beverley (Hg.): Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und A.S. Neill 1936-1957. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1989.
Rattner, Josef: Klassiker der Psychoanalyse. Weinheim: Beltz Psychologie Verlagsunion 2. Auflage 1995.
Reich, Wilhelm: Charakteranalyse. Frankfurt: Fischer Vlg., 3. Aufl. 1973.
Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt:
Fischer Verlag 1974.