20 Aug
Bukumatula 2/2016
Herausgeber: Thomas Harms, Psychosozial-Verlag; Gießen, 2016
Buchrezension von
Beatrix Teichmann-Wirth:
„Alles ist nutzlos bis auf die Säuglinge. Sie müssen zum unverdorbenen Protoplasma zurück.“ (Wilhelm Reich)
„Die Schädigung erfolgt genau da, gleich am Anfang, gleich nach der Geburt. Da erfolgt die Disponierung für alles Weitere. Das `Nein´, der Trotz, die Wunschlosigkeit, die Meinungslosigkeit, die Unfähigkeit, irgendetwas zu entwickeln. Die Leute sind stumpf. Sie sind stumpf, tot, uninteressiert. Und dann entwickeln sie ihre Pseudokontakte, Ersatzfreuden, Ersatzintelligenz, oberflächliche Sachen, die Kriege, usw. Das geht sehr weit….“ meinte Wilhelm Reich zu Eissler, 1952. (Teichmann-Wirth in Bukumatula 2/94)
Diese Not am Lebensanfang greift Thomas Harms als Herausgeber im vorliegenden Buch auf. Die von namhaften Experten verfassten Artikel zeigen verschiedenste Wege auf, wie diese Not zu lindern, beziehungsweise zu verhindern ist. Es ist ein wissenschaftliches und sehr umfangreiches Buch. Und es ist ein auf die Arbeit mit Säuglingen und Eltern fokussiertes Buch.
Und es ist viel mehr als das, weshalb ich es auch TherapeutInnen, ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen und Großeltern ans Herz legen mag. Zeigt es doch auf, wie wesentlich ein gelingender Start ins Leben – von Anbeginn an – ist. Und es beschreibt wie Leben funktioniert, in seiner Essenz und wie es in seinem Funktionieren gestört werden kann. All diese Feinheiten der Beziehung von Leben zu Leben werden in berührender Weise in den Beispielen aus der Praxis beschrieben.
Für TherapeutInnen ist es deshalb so wesentlich, weil es die kleinen, zarten körperlichen Regulations- und Austauschprozesse in den Mittelpunkt rückt, welche sich ja immer auch in der Arbeit mit erwachsenen KlientInnen ereignen und welchen gegenüber den Inhalten, den verbalen Mitteilungen, allzu oft zu wenig Beachtung geschenkt wird.
Das Buch hat aber auch das eigene innere Kind in mir berührt, jenes Kind, das ganz und gar nicht sanft geboren wurde, im Gegenteil – in ein gleißendes Licht gewaltsam herausgeholt und gleich mal an den Füßen gepackt, Kopf unter hängend, mit einem kräftigen Klaps auf den Hintern zum Schreien gebracht wurde. Welch eine Begrüßung!
So kann ich mit meinem ganzen Organismus nachempfinden, was Wilhelm Reich in seinem Gespräch mit Eissler 1952 über die Folgen einer derartigen Geburt in eindrücklicher Weise beschreibt: „Und was geschieht mit ihnen? Sehen Sie sie sich an. Sie können nicht sprechen. Sei weinen nur. Was sie tun ist, daß sie zurückschrecken. Sie ziehen sich zusammen, gehen in sich, fort von der hässlichen Welt. …. Es weint nur. Und endlich gibt es auf. Es gibt auf und sagt `Nein´!“ (Reich, zit. in Bukumatula 2/94, S.15)
Seitdem hat sich viel verändert, Frauen werden in ihrer Schwangerschaft von Hebammen begleitet, sie können für gute Bedingungen sorgen, wo und mit wem die Geburt stattfinden soll. Sie können ihren Mann mitnehmen, müssen die Geburt nicht mehr flach auf dem Rücken liegend, also in einer entkräftigenden Position ertragen – es gibt Sprossenwände, Gummibälle, Gebärstühle und damit mehr Selbstwirksamkeit und Einflussnahme auf den Geburtsprozess.
Dennoch – trotz der wertvollen Arbeit, welche durch Eva Reich, Leboyer und andere in Bezug auf eine wirklich Sanfte Geburt auch in Europa geleistet wurde, fehlt es meiner Ansicht nach oftmals nach wie vor am Wesentlichen – an einem wirklich kontaktvollen, ungetrennten, resonierenden “In Empfang nehmen“ des kleinen Menschenkindes.
So handelt es sich auch in den vielen Beispielen aus der Praxis im vorliegenden Buch oftmals um engagierte, auf der Ebene des Bewusstseins sehr gut vorbereitete Eltern, welche jedoch durch Stress in der Schwangerschaft, durch Traumatisierungen rund um die Geburt oder ein Überwältigtsein von dem nicht zu beeinflussendem Schreien des Säuglings, bzw. durch eigene Geburts- und frühkindliche Erfahrungen, welche teilweise gar nicht bewusst sind, aus dem vegetativen organismischen Kontakt gehen und damit keinen Halt mehr geben können, womit die Spirale der Not seinen Ausgang nimmt. Diese Verletzungen zu überwinden, die Selbstregulationsfähigkeit wieder herzustellen und damit wieder einen strömenden, haltgebenden Kontakt zu ermöglichen ist Ziel all der Ansätze, welche im Buch vorgestellt werden.
In allen Ansätzen spielt – wie schon im Titel angesprochen – der Körper eine entscheidende Rolle, in allen wird auf die Triangulierung geachtet, und es findet eine Pendelbewegung der Aufmerksamkeit vom Baby zu den Eltern statt. Alle beziehen Erkenntnisse aus der modernen Bindungs-, Trauma- und Gehirnforschung mit ein.
In einem einführenden Beitrag zu den theoretischen Grundlagen, der Praxis und den Anwendungen in der Eltern-Kind-Psychotherapie stellt Harms folgende Kernpunkte der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Eltern und Babys vor, welche in allen Ansätzen – mit unterschiedlicher Gewichtung, zum Tragen kommen:
Punkt 1: Der Körper als Referenzpunkt der Eltern-Säuglings-Psychotherapie:
Gelingende und nicht gelingende Interaktionen spiegeln sich in spezifischen Körperfunktionen und -qualitäten wider. Die Feinfühligkeit zeigt sich im Körperlichen beispielsweise in einem seufzenden Atemzug der Mutter, im Klang der Stimme ebenso wie in der Zartheit der Berührung.
Bindungs- und Regulationsprozesse sind im Körper verwurzelt. In der Körperpsychotherapie wird in einem „bottom-up“-Vorgehen z.B. auf die Stress- und Spannungszustände, welche die Beziehungs- und Resonanzfähigkeit einschränken direkt über Interventionen wie Berührung, Ateminterventionen und Imagination eingewirkt. Im Gegensatz zu Ansätzen, welche durch Verhaltensbeobachtung das Beziehungsgeschehen erkunden, ist es in der Körperpsychotherapie das subjektiv-verkörperte Erleben der frühen Beziehung zum Kind, das erkundet wird.
Basis ist hier das theoretische Fundament Wilhelm Reichs: die muskuläre, bzw. in den neoreichianischen Ansätzen, die Gewebepanzerung und deren emotionale Funktion. Diese Körperinformationen sind leitend für das therapeutische Handeln; auch die Atmung ist sowohl diagnostisch als auch therapeutisch zentral. Die Körperberührung ist ein anderes Instrument, um der Mutter zu ermöglichen, wieder Halt in sich selbst zu finden und damit auch dem Baby Sicherheit zu vermitteln.
Punkt 2: Therapeutische Unterstützung des Babyschreiens:
Durch Körperberührung und achtsame Beobachtung von Körperprozessen ermöglicht man es den Eltern z.B. in der Emotionalen Ersten Hilfe nach Harms auch bei andauerndem Schreien des Kindes in einem haltenden Modus zu verbleiben.
Punkt 3: Einbezug der prä- und perinatalen Dimensionen menschlicher Entwicklung:
Prä- und perinatale Traumatisierungen finden in der heutigen Säuglings- und Köperpsychotherapie übereinstimmend als wesentliche ätiologische Faktoren für Regulationsstörungen zwischen der Geburt und dem dritten Lebensjahr große Beachtung.
Punkt 4: Körperpsychotherapeutische Arbeit mit dem Baby:
Im Gegensatz zu analytischen bzw. verhaltenstherapeutischen Ansätzen, wo sich die therapeutischen Interventionen an die Eltern richten, wird in den Körperpsychotherapien direkt mit den Säuglingen gearbeitet. Die klinische Erfahrung zeigt, dass das Baby durch seine Bewegungen und Körperpositionen seine Geburtsgeschichte und die Geschichte der Schwangerschaft ausdrückt. Der Therapeut kann hier unterstützend sein, indem er beispielsweise durch Widerstand auf die Fußsohlen eine Möglichkeit gibt, dass das Baby in einer Art Neuinszenierung den Weg durch den Geburtskanal „schafft“.
Grundlegende Werkzeuge in der Säuglings-Körperpsychotherapie sind zu allererst die achtsame Körperwahrnehmung zur Erkundung von elterlichem Körper- und Affekterleben während des Stresserlebens. Durch die konsequente Hinwendung zum Körpererleben erfolgt der Aufbau von verstärkter Selbstanbindung der Eltern – und ist damit die Basis, um auch in stressreichen Situationen bei sich zu bleiben und damit Halt und Sicherheit zu geben.
Der Atem wird auch zur Stärkung der Entspannungsfähigkeit genutzt.
Dies geschieht durch eine Betonung der Ausatmung, wodurch eine Anregung des parasympathischen Nervensystems erfolgt. Zum anderen unterstützt die Hinwendung der Aufmerksamkeit zur Atmung die Innenwahrnehmung der Eltern und dient auch als Frühwarnsystem, um festzustellen, wann durch den Verlust des Kontaktfadens zur Atmung auch die Selbstanbindung und damit die haltgebende Präsenz verloren geht. Die Aufmerksamkeit auf die Bauchatmung hat bei Harms einen besonderen Stellenwert.
Körperberührung als Sicherheitsaufbau: In traumatriggernden Situationen, wie das z.B. das Schreien eines Kindes ist, wirkt eine gemeinsam von Eltern und Therapeut gewählte Stelle am Körper, an dem eine Berührung erfolgt wie eine Sicherheitsstation, von welcher ausgehend der Kontakt zu sich und zum Kind bekräftigt wird. Auch kann der Therapeut über den körperlichen Kontakt feststellen, wenn der Bindungsfaden dünner wird oder sogar abreißt. Über die Rückmeldungen der Klienten kann sukzessive selbst wahrgenommen werden, wenn der Nabelschnurkontakt zum Kind verloren geht.
Bindungsstärkung durch Imagination: Durch die Imagination von gelingenden Beziehungsmomenten ist es möglich, dieses Erleben zur Ressource zu machen und diese sodann über die Bauchatmung in die belastende Situation, z.B. abends beim Schlafengehen „hineinzunehmen“.
Harms unterteilt die im Buch vorgestellten Ansätze in 6 Subgruppen:
Ich werde im Folgenden auf die einzelnen Artikel ausführlicher eingehen, da die Unterschiede aber auch die Besonderheiten und auch die Atmosphäre des jeweiligen Ansatzes sich erst durch eine genauere Beschreibung zeigen.
1) Pränatal-psychologische Konzepte:
In der Einführung in die Geschichte der pränatal-psychologischen Sichtweise auf die Eltern-Säuglings-Psychotherapie durch Ludwig Janus wird deutlich, dass hier das Erleben vor die Deutung und das (kognitive) Verstehen gestellt wird. Dazu gehört vor allem die Beachtung von Körperempfindungen und Befindlichkeiten. Durch die empathische Begleitung kann ein, wie Janus sagt „Nach- und zu Ende-Erleben“ von überfordernder Belastung stattfinden. Diese Einfühlung ist körpernah, weshalb eine körperpsychotherapeutische Kompetenz der Therapeuten unbedingt erforderlich ist. Konkrete Ansatzweisen, um die prä- und perinatalen Verletzungen zu überwinden und zu integrieren, werden im Anschluss in den Beiträgen von Appleton, Bücher, Käppeli, Stulz-Koller und Renggli vorgestellt.
Appleton bringt bereits im Titel seines Beitrags „Jedes Baby hat eine Geschichte zu erzählen“ zum Ausdruck, dass entgegen früherer Anschauung, wonach Babys sich an nichts erinnern können und auch keinen Schmerz empfinden, sehr wohl über die Körpererinnerungen das Geburtsgeschehen und sogar pränatale belastende Ereignisse repräsentiert sind. Der Geburtsverlauf wird von Appleton mit psychischen Themen verknüpft. So ist z.B. der Abstieg des Babys in den Beckeneingang bei noch geschlossenem Muttermund mit den Themen „Anfänge“ und „Ausweglosigkeit“ verbunden, während im letzten Geburtsabschnitt, der mit der Geburt des Kopfes beginnt, die Themen „Exponierung“, „Trennung“ und „Invasion“ angestimmt werden.
Als Psychotherapeutin finde ich es sehr interessant, dieses Wissen um die prägenden frühen Erfahrungen zur Verfügung zu haben, um verstehen zu können, wo die tieferen Ursachen für ein andauerndes Gefühl der Ausweglosigkeit liegen können. In Bezugnahme auf Terry Larimore und Graham Farrant gehen diese prägenden Erfahrungen sogar bis zur Einnistung zurück – das ist ein Hinweis darauf, dass das Bewusstsein nicht bloß ein Phänomen des Gehirns ist, sondern auch Zellen, Gewebe und sogar Feldern innewohnt. (Chamberlain, 2013, zit. aus Appleton, S.56)
Babys erzählen diese Geschichten in „nicht willkürlichen, nicht zufälligen Bewegungen“, in der sogenannten Babykörpersprache. In Videos von Thomas Harms kann man beispielsweise eindrucksvoll sehen, wie die Babys durch wiederholte Bewegungen versuchen, aus einem Feststecken heraus zu kommen. Die Babykörpersprache ist oft mit einem Schreien verbunden, dem Erinnerungsweinen – im Unterschied zum Bedürfnisweinen, einem Weinen aufgrund eines unerfüllten Bedürfnisses (Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Müdigkeit, Überstimulation, etc.). Das Baby erzählt hier seine (traumatische) Geschichte. Diese Unterscheidung finde ich sehr wertvoll, werden Babys doch oftmals bei jedem Schreien ruhig gestellt, z.B. durch Füttern.
Mit diesem Wissen könnten Stresszyklen und Frustrationserlebnisse verhindert werden, und es könnte mit Gelassenheit ermöglicht werden, das Baby sich ausdrücken zu lassen und ihm zuzuhören, welche Geschichte es zu erzählen hat. „Emotionaler und physischer Schmerz kann nur für eine bestimmte Zeit ertragen werden. Wenn die Qualen nicht nachlassen, kann das zu Resignation und Dissoziation führen. Wenn dem Weinen der Babys nicht angemessen begegnet wird (d.h., das Erinnerungsweinen z.B. mit einem Hunger-Weinen verwechselt wird) oder wenn man es alleine weinen lässt, wird nicht nur das ursprüngliche Trauma nicht anerkannt, es wird auch noch überlagert von der Frustration, nicht verstanden zu werden.“ (Appleton, S.61)
In der Integrativen Babytherapie wird versucht, einen „Möglichkeitsraum“ zu schaffen, wo beide – Eltern und Baby – ihre Erfahrungen einbringen können. Oftmals geschieht es, dass das Baby mit einem Erinnerungsweinen beginnt, wenn die Eltern über die traumatische Geburt oder die belastende Schwangerschaft erzählen. Die empathische verbale Spiegelung und der respektvolle Umgang mit dem Baby – die Eltern werden z.B. vor einer Intervention um Erlaubnis gefragt – gehört ebenso dazu, wie die Steigerung der Stresstoleranzschwelle der Eltern durch Atem- und Achtsamkeitstechniken.
In der abschließenden Fallgeschichte wird in beeindruckender Weise geschildert, wie ein Baby durch seine Körpersprache zeigt, was es während des Geburtsprozesses erlebt hat. Der Therapeut folgt dem Ausdruck des Babys, er selbst gibt nichts vor.
Auch im folgenden Artikel von Regina Bücher „Die Integration prä- und perinataler Erfahrungen nach Ray Castellino“ wird deutlich, wie stärkend es ist, sich dem pränatalen Geschehen zu- und nicht abzuwenden. In diesem Ansatz geschieht dies in einem Setting, in dem das Familiensystem und die Verbindungen zueinander im Mittelpunkt stehen. Die Arbeit orientiert sich an den Ressourcen und der Gesundheit. In sich selbst als Therapeutin zur Ruhe zu kommen, nichts zu wollen und sich mit dem Geschehen einzulassen sind wesentliche Voraussetzungen, um zu folgen.
Beim nächsten Beitrag „Die Kaiserschnittgeburt“ von Klaus Käppeli wird zunächst auf die verschiedenen Arten von Kaiserschnittgeburten eingegangen.
Aus der darauffolgenden Beschreibung und einer für mich äußerst berührenden `Begegnung mit Sandro´ will ich, um die Zärtlichkeit und den Respekt – welche im Übrigen in fast allen Artikeln durchklingen – spüren zu lassen, einige Zeilen zitieren: „Deine Mama erzählt gerade, wie sie die Zeit erlebt hat, als du geboren wurdest. Ich sehe, du bist ganz aufmerksam dabei. Ich bin offen und du kannst mir zeigen, wie diese Zeit für dich war.“ Ich habe den Impuls auf Sandro zuzugehen und sage: „Ich werde jetzt näher kommen und dich an deinen Füßchen berühren. Du zeigst mir, ob das für dich geht oder nicht.“ (Käppeli, S.94)
Käppeli beschreibt sodann minutiös die Phasen einer Kaiserschnittentbindung im Hinblick auf das Erleben des Kindes und die weitreichende Bedeutung dieses Erlebens für das weitere Leben. Die Plötzlichkeit des Geschehens im Aufschneiden des Uterus, im Herausheben, im frühzeitigen Durchtrennen der Nabelschnur, hat weitreichende Implikationen für alle Ebenen des Seins. Besonders wenn ein Kaiserschnitt ohne bereits einsetzende Wehen erfolgt, ist es für ein Kind wie ein Überfall, ein unangekündigter, übermächtiger Einbruch in seine Welt.
Hier geht es in der therapeutischen Arbeit z.B. darum, den Impuls ohne Druck zu reaktivieren und zum anderen darum, die Sicherheit des inneren Raumes wiederherzustellen, bzw. einen Umgang mit Angst vor Überfällen durch Rituale zu erlernen. Es wäre viel Bewusstseinsarbeit im medizinischen System zu leisten, um aus einer Operation eine Begrüßung eines neuen Menschen zu machen. Gerade bei diesem Artikel kam mir deutlich zu Bewusstsein, wie notwendig es ist, in jeder Therapie nach den genauen Umständen der Schwangerschaft und der Geburt zu fragen, ist es doch die Basis unseres Lebens, die alles Weitere grundlegender bestimmt, als dies beispielsweise meine Geschwisterrivalitäten sind.
Im Beitrag von Antonia Stulz-Koller mit dem Titel „Kleinkinder als Taktgeber für die Eltern“ wird in eindrücklicher Weise gezeigt, wie sich der nachgeburtliche Tod eines Zwillings auf das Verhalten der eineinhalbjährigen Marina auswirkt – das Kind schreckte bei Berührung der schlaffen Beine einer Stoffpuppe jeweils heftig zusammen. Die Therapeutin spiegelt das, was sie wahrnimmt, benennt, dass die Beine von Tom – der Puppe – schlaff und ihre eigenen lebendig sind, und so gelingt eine Integration des Erlebten. Marina konnte damit zu einem sicheren Gang und einem `auf eigenen Beinen stehen´ verholfen werden. Die Begleitung erfolgt wahrnehmend, frei von Absichten, offen und ohne etwas hinzuzufügen.
Auf die Krisen am Lebensanfang als Ausdruck eines Mehrgenerationen-Traumas geht Franz Renggli in seinem Beitrag „Ein Baby weint die Tränen seiner Eltern“ ein. Anhand eines Beispiels aus der Praxis mit der einjährigen Julia, welche mehrmals pro Nacht aufwacht und nicht zu beruhigen ist, geht der Autor der Familiengeschichte nach und zeigt auf, wie bis zur Generation der Großmutter höchst belastende Ereignisse die Geschichte prägen.
Zwei Sätze, welche mich in diesem Artikel sehr berührt haben, möchte ich hier wortwörtlich zitieren: „Es gibt keine `schlechten´ Eltern oder `böse´ Großeltern, sondern es gibt nur traumatisierte Menschen – in mehr oder minder hohem Ausmaß“. (S.134) Das sich zu vergegenwärtigen, verhindert eine Parteinahme, die die Eltern verteufelt und sie damit in ein selbstunwirksames Eck stellt. Und zweitens: „So kann eine `Erschütterung´ am Lebensanfang nicht nur zu einer Quelle von Heilung für die Eltern werden, sondern auch für mehrere Generationen davor – und danach. Das `Weinen´ des Babys am Lebensanfang als Quelle von Heilung für die gesamte Familie.“ (S.137)
Durch die Ermutigung, sich dem Kind aufmerksam zuzuwenden, ihm Gehör zu schenken, es nicht abzulenken und es vorschnell zu beruhigen geschieht eine Heilung des ganzen Systems, zurückreichend bis in Generationen davor – es ist dies ein Einverstandensein mit dem was ist und war. So liegt ein Schatz, ein Reichtum in jeder Krise verborgen, den es zu entdecken gilt. Das zu zeigen gelingt dem Autor sehr eindrücklich anhand eines sehr berührenden Beispiels aus der Praxis.
2) Neoreichianische Ansätze:
Sie basieren auf den Arbeiten und theoretischen Grundlagen Wilhelm Reichs, der bereits in den 40er bis 50er Jahren ein theoretisches Fundament für körperorientierte Eltern-Baby-Psychotherapie gelegt hat.
In einem ersten Artikel führt Thomas Harms sein Konzept der Emotionellen Ersten Hilfe und die Grundlagen und Praxis bindungsbasierter Eltern-Säuglings-Körperpsychotherapie aus. Zentral ist in diesem Ansatz die Beachtung des Beziehungsfadens, der das Kind mit der Mutter bzw. den Eltern verbindet.
Die Emotionale Erste Hilfe ist, wie schon der Name sagt, ein Kompendium aus verschiedenen (körperorientierten) Interventionsmöglichkeiten, um akute Brüche zu heilen. Der Ansatz geht auf Wilhelm Reichs Arbeiten zurück, der in diesem Zusammenhang auch von „emotional first aid“ gesprochen hat. Eva Reich hat ab Mitte der 80er Jahre diesen Ansatz in Europa verbreitet. Thomas Harms hat Anfang der 90er Jahre Schreiambulanzen ins Leben gerufen und in der konkreten Arbeit gesehen, dass die Reichsche Arbeit mit der Betonung auf Aufladung und Entladung einer Adaption bedarf.
Unter Einbeziehung von Wissen aus der Traumatherapie (Levine und Van der Kolk), der Bindungsforschung (Brisch, Bowlby) und der Neurobiologie nach Porges, hat er einen Ansatz entwickelt, in welchem psychosomatische Resonanzinformationen (bei Reich als `vegetative Identifikation´ bezeichnet) in der Arbeit zentral sind. Auch der Fokus auf die prä- und perinatale Babykörpersprache, wie sie von den Pionieren Terry und Emerson erforscht wurden, wird berücksichtigt. Indikationsbereiche sind zum einen Hilfestellungen bei emotionalen Bindungsstörungen, wie auch die akute Krisenintervention bei unstillbarem Schreien, bei Schlaf- und Fütterungsproblemen und letztlich die Behandlung von prä-, peri- und postnatalen Traumatisierungen.
Ziel ist eine Stärkung der elterlichen Feinfühligkeit und damit die Stärkung der Bindungsfähigkeit. Bindung wird nach Bowlby als „unsichtbares emotionales Band“ verstanden. Im Verständnis von Harms hat dies zuallererst ein körperliches Korrelat. Bindung in diesem Sinne ist wesentlich, um Halt, Sicherheit und Entspannung zu finden. Er unterscheidet einerseits zwischen einem Zustand der Bindungsstärkung, in der eine Pendelbewegung der Aufmerksamkeit vom Kind zu sich selbst und Selbstanbindung hergestellt werden kann – „eine achtsame Verbindung mit dem inneren Strom der Körper-Innenempfindung“ – die die Wirkung von Wohlbefinden, Sicherheit und Geborgenheit zur Folge hat.
Andererseits ist im Zustand der Bindungsschwächung die Aufmerksamkeit auf dasschreiende Kind fixiert – es wird anstelle von „ansteckender Gesundheit“ ein Prozess der „negativen Gegenseitigkeit“ in Gang gesetzt. Im Zustand des Beziehungsabbruchs ist das Erregungsaufkommen derart groß, dass es nicht bewältigbar ist. Sukzessive ergreift die Eltern und den Säugling ein Zustand der Taubheit, der Lähmung und Aktionsunfähigkeit. Die Bindungsfähigkeit hängt mit der Aktivierung des Autonomen Nervensystems zusammen – von einer Aktivierung des ventralen Vagus im Zustand der Bindungsstärkung über eine des Sympathikus im Zustand der Bindungsschwächung und schließlich des dorsalen Vagus beim Bindungsabbruch.
In der konkreten Arbeit geht es immer darum, die Eltern darin zu unterstützen, dass sie als haltgebendes Gegenüber, als „Leuchtturm“, zur Verfügung stehen. Dabei ist die Selbstanbindungsfähigkeit zentral, dass die Eltern sich immer wieder sich selbst im körperlichen Sinne gewahr werden. So ist die Wiederherstellung des Selbstbezugs das wesentliche Agens. Die Bauchatmung ist ein unspektakuläres Instrument dazu, bremst es doch die dorsale Vagus-Aktivität.
Weitere Körperinterventionen sind Berührungsangebote (bei Eltern und Kindern) – Berührung als Sicherheitsstation – und der Einsatz von Imaginationen. Der Therapeut wechselt von einer babyzentrierten Aufmerksamkeit zu den Eltern und zurück. In der Behandlung des Babys erfahren die Eltern auch modellhaft, welcher Umgang beruhigend sein kann. Die Emotionale Erste Hilfe erlaubt es den Eltern sukzessive, auch in den stressreichsten Momenten da zu bleiben und damit Sicherheit und Halt soweit zu verkörpern, dass das Baby die belastenden Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart integrieren kann.
Die körperbezogene Bindungsförderung ist auch im Beitrag von Mechthild Deyringer das Thema, wo sie unter dem Titel „Bindung durch Berührung“ die Anwendung der Schmetterlings-Babymassage nach Eva Reich als bindungsfördernde Berührung beschreibt. Nach einer historischen Replik der orgonomischen Säuglingsforschung, wo deutlich wird, dass im Gegensatz zu den vom massiven Einsatz von Schmerzmitteln und Opiaten während der Geburten in den 50er Jahren in Amerika, wo die Babys mit Hypotonie, Zurückgezogenheit und Schwächung reagiert haben, nun oftmals die Kinder übererregt und sympathikoton sind.
Deyringer weist darauf hin, dass es nicht so sehr um die Technik, sondern um die innere Präsenz und eine behutsame Kontaktaufnahme geht. Auch hier ist die Selbstanbindung, die Erdung und die Fähigkeit zur dualen Aufmerksamkeit zentral. Sehr detailliert wird dann auf Positionierung, Rhythmus und Ablauf sowie auf Indikationen eingegangen, wann mehr ein einhüllendes, schmetterlingszartes Abstreichen oder flächigere Kreisbewegungen mit mehr Druck angezeigt sind.
Die Anwendung dient einerseits als Anleitung für die Eltern im Sinne eines Feinfühligkeitstrainings, und wenn es von diesen angewandt wird auch als Bindungsstärkung zum Kind nach einer traumatischen Geburt beispielsweise. Es kann aber auch als stressabbauende Massage bei den Eltern selbst eingesetzt werden. Die Atmosphäre die sich durch diese Art der Behandlung ausbreitet ist von Stille und Verinnerlichung gekennzeichnet und berührt damit das Herz. Die Fallvignetten lassen diese Atmosphäre spürbar werden.
Im Kapitel „Traumatische Geburtserleben und Auswirkungen auf die Mutter-Kind Interaktionen“ beschreiben die Autorinnen Paula Diederichs, Sabrina Mathea und Anja Weiffen anhand eines Fallbeispiels, wie heilsam eine körperorientierte Krisenbegleitung für Mutter und Kind sein kann.
Eine Mutter hatte eine extrem überwältigende Geburtserfahrung mit Kaiserschnitt, weshalb sie keine Verbindung zu ihrem Sohn aufbauen konnte. In der sehr deutlichen Beschreibung zeigt sich, wie sich das auf beide – Mutter und Sohn auswirkte: z.B. im dauernden Einsprechen auf den Sohn und einer Perfektion hinsichtlich Pflege und Fürsorge, die den Sohn in seinem Aktionsradius sehr einschränkte. Durch ein engagiertes Mitarbeiten der Mutter und der Möglichkeit im therapeutischen Setting den Sohn seine Aggressionen ausdrücken zu lassen, konnte eine neue Basis geschaffen werden.
Ich finde es sehr erfreulich, dass der Rolle der Väter in der Eltern-Säuglings-Körperpsychotherapie ein eigenes Kapitel von Gerd Poerschke gewidmet wird. Es zeigt sich, wie wesentlich der väterliche Halt während Schwangerschaft, Geburt und den ersten Lebensmonaten sowohl für das Kind als auch für die Mutter ist. In der körperpsychotherapeutischen Arbeit erfahren zunächst die Männer eine Unterstützung, um eine gute Bindung zu sich und ihrem Körper zu haben, so dass sie haltgebend für ihre Frauen und Babys zur Verfügung stehen können.
Die „Anlehntechnik“ – der Mann stützt den Rücken der Frau – ist ein wesentliches Instrument, um das ganze System zu beruhigen. Der Autor geht sodann auf Spezialthemen wie Väter mit Aggressionen, mit wenig Empathie, mit solchen, welche nicht erwachsen werden wollen, Männer, die zu ihren Frauen in Konkurrenz sind, Schwiegermütter, etc., ein.
3) Die tanz- und bewegungstherapeutischen Ansätze fokussieren im Besonderen auf den Körper- und Bewegungsausdruck in der Interaktion von Eltern und ihren Kindern.
Sabine Trautmann-Voigt stellt das Bonner Modell der Interaktionsanalyse (BMIA) vor, welches tanz- und bewegungstherapeutische Konzepte mit neueren psychoanalytischen und interaktionellen Ansätzen und der modernen Eltern-Säuglingspsychotherapie verbindet. In ihren Fallbeschreibungen wird deutlich, dass sie ihre Gegenübertragungsreaktionen als Verstehenshintergrund für das Geschehen fokussiert.
In der praktischen Anwendung des BMIA wird auf die verschiedenen Interaktionsmodi zwischen Eltern und Kind, aber auch zum Therapeuten geachtet; zentral ist dabei das Erleben der Therapeutin in der Situation, ihre Gegenübertragungsreaktionen. Diagnostische Instrumentarien sind neben einer fundierten Anamnese videogestützte Interaktionsbeobachtungen, hier insbesondere die Beobachtung der intersubjektiven Passung, die Feinfühligkeit, die Fähigkeit zum `affect attunement´.
Anhand einer Fallvignette zeigt Trautmann-Voigt, wie deutlich unbewusste Absichten, die Passung und Orientierung, bzw. nicht verbal kommunizierte Entscheidungen durch Beobachtung der nonverbalen Interaktionen zu Tage treten.
Die Videoaufzeichnungen werden schließlich gemeinsam mit der Mutter betrachtet und berühren diese in ihren eigenen alten Wunden. Darüber hinaus kann sie erleben, wie viel Veränderung im therapeutischen Verlauf durch ihren Beitrag bereits möglich war.
Die Bewegungsentwicklung aus der Sicht des Body-Mind-Centering beschreibt Thomas Greil in seinem Artikel „Freiräume schaffen, Potenziale fördern“. Er geht den Entwicklungsverlauf über den ersten Atemzug bis zum aufrechten Gang mit zahlreichen Praxisbeispielen ab.
Auch im Body-Mind-Centering ist das `Attunement´ zentral. Unter besonderer Bedachtnahme auf die verschiedensten Schichten der Reflexe, der Stell- und Gleichgewichtsreaktionen werden durch Stimulation, bisweilen Widerstand, durch Initiierung von Bewegungen oder dem Unterstützen des Bewegungsflusses Lernprozesse intendiert. Dies läuft sehr spielerisch ab, dient es doch der „Erweckung der Lust, die Welt zu entdecken und zu erforschen“.
4) Christine Hausch beschreibt in ihrem Beitrag den psychomotorischen Ansatz Aucouturier, der von Bernard Aucouturier entwickelt wurde; er geht vom frühen tonisch-emotionalen Erleben des Kindes aus und versucht zu verstehen, was das Kind über sein Bewegungsverhalten von seiner inneren Welt zum Ausdruck bringen will.
Der psychomotorische Raum beinhaltet Möglichkeiten, um alle in der frühkindlichen Entwicklung relevanten Basisbewegungen zu erproben – springen, sich fallen lassen, rutschen, rollen, krabbeln, mit Schlüsseln und Bällen, Körben, Seilen und Tüchern spielen.
In sechs Fallbeispielen stellt Christine Hausch sehr differenziert die Arbeitsweise vor. Auf der Basis einer genauen Beobachtung kann sich das Kind ungestört im Raum bewegen, wobei die Therapeutin immer wieder spiegelt, was sie wahrnimmt und Unterstützung gibt, wo es gebraucht wird. In einem wertungsfreien Raum leistet die Therapeutin für die Eltern eine Art Übersetzungsarbeit, um die wechselseitigen Signale verstehen zu lernen und einander mit Achtung, Respekt und mehr Verständnis begegnen zu können. I
n einem ausführlichen Beispiel aus der Praxis, welches sich lohnt ganz zu lesen, beschreibt die Autorin, wie über das „Sich fallen lassen können“ eines 18 Monate alten Jungen nach einem längeren intensiven Therapieprozess auch dessen Schlafstörungen eine Verbesserung zeigten. Auch hier, wie in den bereits vorgestellten Ansätzen, ist die Basis der Arbeit eine tiefe Einstimmung in die Impulse, Reaktionsweisen und den emotionalen Ausdruck, welche ermöglicht, dass das Kind sich begrüßt, verstanden und beantwortet fühlt.
5) interaktionale und videogestützte Konzepte:
Peter Geißler beschreibt im nachfolgenden Beitrag „Das interaktioelle Feld am Beispiel einer Videomikroanalyse der frühen Interaktion“.
Auf der Grundlage der Analytischen Körperpsychotherapie mit dem Fokus auf körperliche und nonverbale Ausdrucksformen des Beziehungsgeschehens untersucht Geißler die Mikroebene der Interaktion mithilfe von Videoaufzeichnungen. Ich finde es sehr beeindruckend, wie viel Information im Hinblick auf das Interaktionsgeschehen zwischen einer Mutter und ihrem 13 Monate alten Sohn in einer 6-Sekunden Videoaufnahme steckt. Beispielsweise zeigt sich, dass die Mutter keinen „joint focus“, also eine Aufmerksamkeitsrichtung auf ein vom Sohn interessiert betrachtetes Objekt (die Kamera) halten kann. Das wäre jedoch ihrerseits ein Beitrag, um die Affektregulation des Sohnes zu fördern.
In einer abschließenden Interpretation zeigt Geißler die Schwächen (in der körperlich-stimmlichen Interaktion) und Stärken (im konkreten Spiel und in der Sprache) im Kontakt auf und wagt eine Prognose: Dass Daniel im Laufe seines Lebens Selbstberuhigung in einer konkreten Beschäftigung und Ablenkung finden wird, während es ihm wahrscheinlich schwer fallen wird, sich auf sich und seinen Körper zu zentrieren und damit zur Ruhe zu kommen. Dieses Spürbewusstsein wäre auch im Hinblick auf weitere Generationen eine Notwendigkeit für Veränderung.
Für mich wäre es von Interesse, inwiefern man die Videoanalysen bereits im Kleinkindalter nützen kann, um etwaige Defizite in der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern auszugleichen, auf dass sich Interaktionsstile, die in ihrer Wirksamkeit bis in die Körperlichkeit reichen, sich nicht verfestigen und lebenslänglich bestehen bleiben.
6) Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich körpertherapeutischen Methoden im engeren Sinne, welche in einem „bottom-up“-Vorgehen auf die basalen organismischen Steuerungsvorgänge bei Eltern, Säuglingen und Kindern einwirken.
Aus dem breiten Spektrum dieser Ansätze finden sich Artikel zur funktionellen Entspannung nach Fuchs, zur craniosacralen Osteopathie und zur Tomatis-Methode. Doris Lange streicht in ihrem Beitrag über die „Psychosomatische Selbstregulation“ die Bedeutung der Selbstachtsamkeit und Selbstfürsorge des Therapeuten heraus.
Diese Bedachtnahme verhindert, dass man traumatisierenden Übertragungsprozessen erliegt und damit Gefahr läuft, erschöpft und ausgebrannt zu werden. Marianne Fuchs, die Begründerin der Funktionellen Entspannung, spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der „Parallelspur“, um sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren.
Nach einer Einführung in die Methode, in welcher es sehr viel um die Wahrnehmung der Innenräume, aber auch der Grenzen und des Halts im Außen und im Innen geht, zeigt die erste Fallvignette, wie geschmeidig die Therapeutin zwischen der Selbstwahrnehmung und der Fürsorge zu Baby und Mutter wechselt. Die Selbstfürsorge, das Erkunden, was wohl tut, scheint mir im Mittelpunkt zu stehen – als Basis für ein kontaktvolles Sein mit dem Baby.
In einem zweiten Beitrag zur Funktionellen Entspannung von Petra Saltuari mit dem Titel „Funktionelle Entspannung und Kunsttherapie mit Risikoschwangeren“, wird diese in Kombination mit Kunsttherapie in der Begleitung einer Risikoschwangerschaft beschrieben. Das ist der einzige Beitrag, welcher sich explizit der therapeutischen Begleitung in der Schwangerschaft widmet. Es wurde mir beim Lesen deutlich, wie lohnenswert es wäre – wie dies ja auch Wilhelm und Eva Reich taten – in jeder Schwangerschaft ein Feinfühligkeitstraining und eine bindungsfördernde Begleitung anzubieten – als eine Art Prävention.
Im Zentrum des Beitrags steht die Arbeit mit einer Mutter ab der 35. Schwangerschaftswoche, bei der ein Kaiserschnitt in der 38. Woche geplant war und welche bereits zwei Totgeburten erleben musste.
Die Therapeutin arbeitet viel mit einer Fokussierung auf Halt im Außen, der Gestaltung von Wohlfühlorten und der Wahrnehmung der Innenräume und es Inneren Halts. Abwechselnd zu dieser körperorientierten Arbeit lädt sie die Klientin immer wieder ein, mit Ölwachskreiden die Körperwahrnehmungen und die emotionalen Befindlichkeiten zu Papier zu bringen. Das Pendeln zwischen Wahrnehmung und Ausdruck scheint mir eine gute Möglichkeit zu sein, verschiedene Ebenen anzusprechen; das feine, einfache Arbeiten hat mich sehr angesprochen.
7) Sonstige Ansätze:
Die Craniosacrale Therapie wird oftmals von Eltern genutzt, wenn sich beim Baby Regulations- und Befindlichkeitsstörungen zeigen. Der Autor Rudolf Merkel zeigt in seinem Beitrag „Craniosacrale Osteopathie für Säuglinge“ nach einem historischen Überblick und einer Beschreibung der therapeutischen Ansätze nach Sutherland verschiedenste Möglichkeiten der Behandlung auf.
In Behandlungsbeispielen wird dargestellt, wie effektiv diese Methode sich im Hinblick auf die Verbesserung von psychomotorischen Entwicklungsrückständen erweist.
Wie eng Hören und Bindung zusammenhängen, erschließt sich im letzten Artikel, in welchem „Die Systemische Hörtherapie nach Dr. A. Tomatis“ durch Dirk Beckedorf vorgestellt wird.
Diese Methode stimuliert frühe Hör- und Bindungserfahrungen, indem Musik von Mozart und eine Aufnahme der Stimme der eigenen Mutter durch einen Klangwandler im Tonspektrum moduliert und über Spezialkopfhörer sowohl vom Säugling als auch von der Mutter gehört werden.
Der Zusammenhang von Hören und Neurobiologie von drei Tonbereichen und drei Reaktionsmustern greift auf die Polyvagaltheorie von Porges zurück. So sind hohe Töne wie einem Schreien des Kindes mit dem Verhaltensprogramm von Gefahr und Stress verbunden, während der mittlere Frequenzbereich zwischen 500 und 4000 Hertz mit einem Empfinden von Sicherheit, Entspannung und guter Bindung verknüpft werden.
In einem „bottom-up“-Vorgehen kann die Hörtherapie einerseits zum Training der Mittelohrmuskeln, zum anderen über sehr hohe Frequenzen eingesetzt werden, um auf Bindungsmuster Einfluss zu nehmen. Der Autor Dirk Beckedorf macht anhand eines Therapiebeispiels deutlich, wie die auditive Stimulation in Kombination mit einer haltgebenden therapeutischen Resonanzbeziehung die Wahrnehmungskompetenzen des Kindes verbessert und auch zu einer Veränderung im Kontaktverhalten im Sinne einer gelingenden Beziehungsgestaltung führt, welche sich ihrerseits wieder auf die sensorische Entwicklung auswirkt.
Last but not least, das vielleicht wichtigste Kapitel: Inga Wagenknecht und Uta Meier-Gräwe erstellen in ihrem Beitrag „Auf- und Ausbau Früher Hilfen in Zeiten knapper öffentlicher Kassen“ Kosten-Nutzen Rechnungen, welche beweisen, weshalb es sich lohnt, in frühe Hilfen zu investieren. Vernachlässigungen und Misshandlungen haben weitreichende Folgen, die bis ins Körperliche hineinwirken und dem Staat hohe Kosten verursachen – im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Justiz, der Gesundheit und der Erwerbs-Beteiligung.
Traumatisierte Menschen zeigen, besonders wenn sich die Traumatisierung früh und anhaltend ereignet hat, ein höheres Erkrankungsrisiko, eine geringere Lernfähigkeit, eine höhere Delinquenzrate, usw. Darüber hinaus wird Traumatisierung transgenerational weitergegeben; das heißt, die Folgen betreffen nicht nur den Lebenslauf der unmittelbar Betroffenen, sondern auch die nachfolgenden Generationen.
Die Kosten früher Hilfe gegenüber Kindeswohlgefährdung stehen in einem moderaten Szenarium, das heißt mit einem Hilfebeginn bei Eintritt im 3. Lebensjahr in einem Verhältnis von 1:13, in einem pessimistischen Szenarium mit einem Hilfebeginn bei Eintritt in die Schule beträgt das Kostenverhältnis bereits 1:34. Frühe Hilfen dienen der Risikoerkennung, bevor Entwicklungsverzögerungen und Schädigungen eingetreten sind und helfen Eltern den teilweise überfordernd empfundenen Übergang zur Elternschaft zu meistern.
Im Sinne Reichs, der meinte, dass man „Freiheit nicht auf dem zerstörten bio-energetischen System der Kinder errichten kann“ (aus dem Interview mit Eissler; Bukumatula 2/94), wäre eine radikale Priorität zu setzen, damit Kinder zu selbstbewussten, freien, empathiefähigen, autonomen und zärtlich-kräftigen Menschen heranwachsen.
Das Buch gibt hierzu eine fundierte Grundlage. Darüber hinaus gibt es einen Einblick in das Wesen des Lebendigen.
„Nirgends ist die Selbstregulation des Lebendigen so eindrücklich und unmittelbar erfahrbar, ist das `Gesunde´ mit den Händen so zu greifen wie in der Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern. Babys sind Lehrmeister des Gegenwartsmoments, der Langsamkeit und der essenziellen Begegnung.“
Die Ärztin Eva Reich forderte zu Lebzeiten, dass jeder angehende (Körper-)Psychotherapeut im Rahmen seiner Ausbildung eine Weile lang mit Babys arbeiten sollte, um sich von der Ausdruckssprache des Säuglings beeindrucken zu lassen. „Die Erfahrungen in der Begleitung von Babys schaffen einen veränderten Blick auf die Menschen, denen wir in der Psychotherapie begegnen: einen Blick für die Verletzungen, die in den frühesten Stadien der menschlichen Entwicklung ihren Anfang nehmen – aber auch den Blick für das Gesunde, das Echte, das in jedem von uns erhalten ist“, meint dazu Thomas Harms.
In diesem Sinne hat mich das vorliegende Buch neben einem umfangreichen Wissen über die Säuglingstherapie mit Vielem beschenkt: Wie wesentlich die Präsenz, die Wachheit und das „Bei sich sein“, die Selbstanbindung – in jeder therapeutischen und auch jeglicher Lebenssituation ist; das „Körperlich in mir anwesend sein“, sodass nicht Denken und Konzepte mein Handeln leiten.
Dass es darum geht, mich einzulassen mit einer Situation, dass es um den „Mut, mich beeindrucken zu lassen“ geht, wie das Ola Raknes einmal als ein Kriterium für genitale Gesundheit genannt hat, wahr-zu-nehmen was ist, zu folgen, damit das Leben sich fortsetzen kann. Ich war beeindruckt davon, wie Babys immer wieder an den Ort des Schmerzes zurückgehen und uns damit die Geschichte ihres Leides erzählen; und wie unverdorben und ungepanzert sie sind, sodass sich alles im Nu wandeln kann.
Und wie notwendig es ist, hin- und nicht wegzuschauen, anzuerkennen, was ist, und welch ein großes Geschenk uns die Babys mit ihrem Schreien machen, weil sie uns zu diesem Hinschauen zwingen und uns damit erlauben auch unseren Schmerz zu fühlen, unsere Kränkungen, die Belastungen aus unserer Kindheit, unser Getrenntsein und unsere Haltlosigkeit, unsere Angst und Hilflosigkeit. Dann kann Heilung stattfinden.Welch ein Geschenk!
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Thomas Harms (Hg.)
„Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern – Grundlagen und Praxis“
Psychosozial-Verlag (D-35390 Gießen, Walltorstraße 10);
350 Seiten, Broschur; 2016
ISBN 978-3-8379-2389-6; EUR 39,90