21 Aug
Bukumatula 1/2021
Grundlagen und Anwendungen in der Körperpsychotherapie
Buchrezension von
Matthias Wenke:
Will Davis ist Psychologe und Körperpsychotherapeut und hat seit den 1980er Jahren ausgehend vom Werk Wilhelm Reichs, der Gestalttherapie, Rogers klientenzentrierter Psychotherapie sowie deren Nachfolger eine ganz eigene Methodik und später auch Methodologie entwickelt, die er selbst als Funktionale Analyse bezeichnet und deren integraler Bestandteil eine spezielle Art der unmittelbaren Berührung des Bindegewebes ist.
Das Werk hat fünf große Hauptkapitel; die ersten drei behandeln wesentliche theoretische Grundlagen von Instroke, Charakterpanzer und Endoselbst, die letzten zwei befassen sich mit therapeutischen, praxeologischen und methodologischen Fragen.
Die Einzelartikel beruhen auf bereits publizierten Texten oder Vorträgen unterschiedlichen Datums, sind folgerichtig angeordnet und ergeben insgesamt einen flüssigen Leseeindruck. Es ist die Zusammenführung eines Lebenswerkes vieler Jahrzehnte. Gelegentliche Redundanzen über verschiedene Kapitel sind eher das Verständnis unterstützend als störend.
Davis´ Ansatz der Funktionalen Analyse ist weder Körperpsychotherapie im Sinne einer Psyche, die auch einen Körper hat, noch psychosomatische Arbeit an der Wechselwirkung zwischen psychischen und somatischen Symptomen. Der Terminus funktional zielt auf eine tiefere organische Ebene, auf die Ebene der primären vegetativen Energie, dort wo (nach dem Modell von Reich) Psyche und Soma entspringen. Davis geht wie Reich und Adler vom somatopsychischen Wesen des Menschen als einer unteilbaren Ganzheit aus.
Davis berichtet aus seiner praktischen Erfahrung, dass sich die funktionale Körperarbeit am Bindegewebe vor allem auf früh traumatisierte Charaktere günstig auswirken kann, die sonst kaum therapeutisch ansprechbar sind, etwa schizoide, narzisstische, orale oder Borderline-Strukturen.
Er nimmt an, dass hier noch keine muskuläre Abwehr vorhanden war, so dass es zu einer chronischen Gesamtkontraktion des frühen Bindegewebes, einer plasmatischen Abwehr – wie bei einer Amöbe – gekommen ist.
Davis Methode hilft den Klienten in einen ruhigen, empfänglichen Zustand der tiefen Sammlung zu gelangen, wo sie sich trotz ihrer traumatischen Kontraktion der einströmenden Phase der Lebensenergie hingeben können, dem sogenannten Instroke. „Der Instroke ist eine konzentrierende, organisierende Kraft, die den Organismus reguliert“ (S. 198).
Derartige Zustände absichtsloser Ruhe scheinen mit einer erhöhten Aktivität des sogenannten Default Mode Network (DFN) im Gehirn zu korrelieren, welche wiederum mit einer Reorganisation bestimmter psychischer Erfahrungen einher geht.
Ein zentrales Merkmal funktionaler Arbeit ist die Betonung intrapsychischer Prozesse der Selbstbeziehung anstelle interpersoneller Beziehungsarbeit. Denn „…während des prä- und perinatalen Stadiums kennt das Kind nur sich selbst. Alle Ereignisse und Erfahrungen werden als Selbst-Erfahrungen erlebt.“. (S. 80) Davis nimmt an, dass die Selbstbeziehung allen späteren Objektbeziehungen vorausgeht und ihnen zugrunde liegt.
Im Kern findet er ein unverletztes Selbst, welches er als Endoselbst bezeichnet, ein unversehrter und unveränderlicher Bewusstseinsraum vor jeder Fremderfahrung, eine primordiale Bewusstseinsschicht. Winnicott (1988) beschreibt sie als incommunicado core und Eigen (2008) als predependent aloneness.
Hier erkennt man das Verständnis von Bewusstsein und Unbewusstem der Funktionalen Analyse. Das Unbewusste ist das tiefe körperliche Selbsterleben, das auftaucht, wenn Kognitionen und Emotionen zur Ruhe kommen. Davis sieht die Freud’sche Metapher vom Eisberg mit winzigem bewussten Ich über Wasser und riesigem Unbewussten unter Wasser, geradezu auf den Kopf gestellt.
Er macht darauf aufmerksam, dass die jüngere Arbeit der Neuropsychologen Solms & Panksett (2012) – mit dem aufschlussreichen Titel The Id knows more than the Ego admits – plausibel zeigt, dass das subjektive Selbstgewahrsein unabhängig von der Großhirnrinde ist und mit den Primärprozessen des Hirnstammes korreliert, die sich auch bei Tieren finden.
Nach Auffassung der Funktionalen Analyse sucht das Kind nicht ein Objekt, sondern eine bestimmte Selbsterfahrung mit dem Objekt, nicht einen Vater, sondern sich bevatert zu fühlen. Diese inneren Objektbeziehungen reorganisieren die Klienten ganz für sich allein. So wird es unter anderem bei der Arbeit am Bindegewebe mittels Points & Positions beobachtet.
Die Klienten erfahren sich selbst auf ein neue Art und Weise und finden manchmal unmittelbar Zugang zu Selbstgewahrsein und implizitem Wissen. Schlüssel für alles ist in der Funktionalen Analyse die Ermöglichung einer sicheren Verbindung mit dem „Kern“, in dem alles Potential zu Reorganisation und Selbstheilung bereits vorliegt.
Es hatte sich nämlich in Davis´ früheren Therapiesitzungen – zunächst ungeplant und unverstanden, immer wieder gezeigt, dass es über die Anregung des Instrokes möglich ist, auch solche Charakterstrukturen positiv anzusprechen, die unzugänglich für kathartische, konfrontative Arbeit sind, weil es ihre Abwehr mobilisiert. Nun hatte Davis einen Zugang „unterhalb“ der Abwehr gefunden, der effektive energetische Veränderungen erlaubte, jedoch ohne die Grenzen – intensives Erleben, oft aber nicht nachhaltig – und Gefahren – Dekompensation, Psychose – von kathartischen Entladungsmethoden.
Stattdessen wird in der Funktionalen Analyse auf kathartische, expressive Arbeit ganz verzichtet, ebenso wie auf das gezielte Durcharbeiten der Vergangenheit oder von Problemen.
Es geht in der Funktionalen Analyse bei der unmittelbaren Begegnung zweier Organismen in der Gegenwart eher um Resonanz, spontane Mitbewegung (Heisterkamp 1993) und unmittelbare Einfühlung in den Körperzustand des Klienten, als um das Verstehen einer Erzählung; um Emotion, Energie und Intention. „Don´t get lost in the content”, sagt Davis.
Und obwohl der Fokus auf intrapsychische Prozesse gelegt wird, widmet er ein ganzes Kapitel den Fragen von Übertragung und Gegenübertragung, um die förderliche aufrichtige echte, von falscher positiver oder negativer Übertragung unterscheiden zu lernen. Auch in der Funktionalen Analyse benötigt man eine tiefe Vertrauensbeziehung zweier gleichwertiger Menschen als Fundament der Arbeit.
Die Tatsache, dass Klienten innere Objekte ohne dialogischen Austausch tief reorganisieren – etwa die Beziehung zu den Eltern – oder spontan neue Grenzen setzen, mag dem einen oder anderen relational geprägten Leser fast unwahrscheinlich vorkommen.
Hier mag man sich an Adlers Feststellung erinnern, dass die Änderung allein das Werk des Patienten sein kann. Davis zitiert immer wieder konkrete Aussagen seiner Patienten, in einem Fall zeigt er Fotografien von Körperhaltung und Ausdruck eines Patienten bei Beginn und nach einigen Monaten Funktionaler Analyse.
Wegen der Identität von Psyche und Soma führt die unmittelbare Arbeit am Bindegewebe zu starken Veränderungen im psychischen Raum der Klienten. Diese reproduzierbare Erfahrung fasst Davis so zusammen: „Die Arbeit auf der plasmatischen Ebene ist die unmittelbare Arbeit am Leben selbst“ (S. 112). Er skizziert detailliert ein biologisches Modell, welches diese Veränderungen schlüssig erklärt.
Form folgt Funktion sagt die Biologie und Davis erklärt: „Es ist schwer, sich eine Kuh vorzustellen, die sich wie eine Katze verhält und umgekehrt. Das energetische Funktionieren des jeweiligen Tieres bestimmt seine Körper- und Bewusstseinsform, die sich dann im Verhalten zeigt. Dasselbe gilt für uns Menschen.“ (S. 120). Und „Form“ ist Bindegewebe.
Verschiedenste Arten von Bindegewebe (connective tissue, CT) umhüllen und formen menschliche und tierische Körper, es gibt ihm sein äußeres Erscheinungsbild. Ebenso schafft es alle Formen und Räume im Inneren, so dass jedes Organ, buchstäblich jede Zelle, ihren Platz hat. Zusätzlich verbindet, verkapselt und trennt das Bindegewebe verschiedene Teile und Organe des Körpers. Auch das Nervensystem besteht zu einem großen Teil aus Bindegewebe. Damit ergibt sich ein dreidimensionales, alles durchdringendes und alles verbindendes Bindegewebenetz im menschlichen und tierischen Organismus – und über das Cytoskelett bis hinein in jeden Zellkern.
Ein wichtiger Punkt ist die schützende Reaktion des Bindegewebes auf physische und psychische Verletzungen und Belastungen und seine bedarfsabhängige Plastizität. So wie es aufgebaut werden kann, kann es sich auch abbauen, also unter bestimmten Bedingungen in seinen ursprünglich gesunden Zustand vor der Belastung zurückkehren (Thixotropie). Die Points & Positions-Berührungstechnik der Funktionalen Analyse wurde genau dazu entwickelt, diese Plastizität zu nutzen sowie die ursprüngliche bioenergetische Koordination des Organismus wiederherzustellen.
Davis zeigt sehr überzeugend, dass Reichs ursprüngliches Konzept des Charakterpanzers nicht als Muskelapparat zu denken ist, sondern als historische Struktur des plastischen Bindegewebes, welche Adler als geronnene Bewegung erkannt hatte (Adler 1932 h). Unter normalen Bedingungen entspannen sich die Muskeln nach Ende einer Belastung und kehren in den Zustand vor dem Ereignis zurück. Falls die Anspannung aber nicht gelöst wird oder immer wieder erfolgt, kommt das Bindegewebe der gestressten Muskulatur zu Hilfe.
Es bilden sich Bindegewebsfasern in der belasteten Region und bauen ein Stützungssystem für die Muskeln auf. Bindegewebe ist also eher historisch. Viele neurotische Mechanismen, der Charakterpanzer oder ein auf Dauer gestellter Alarmzustand des Nervensystems, sind somit chronische vegetative Bereitschaften, muskuläre und vor allem fasziale Haltemuster aus der präverbalen Zeit.
Davis weist zusätzlich auf die Halbleiterqualität aller Arten von Bindegewebe dieser lebendigen Matrix hin, durch die ein stetiger Gleichstrom fließt und jeden beliebigen Punkt mit jedem beliebigen anderen instantan verbindet. Zusätzlich dazu besteht auch der größte Teil des Zentralnervensystems aus Bindegewebe.
Auch das Gehirn und die Neuronen sind gefüllt mit grauer Substanz bzw. umhüllt von Myelinscheiden, die ein eigenes Netzwerk bilden, das Perineurium, welches ohne Nervenzellen auch elektrische Impulse aus Gleichstrom übermittelt. So stellt der plasmatische Körper etwa fest, ob und wo er verletzt wurde, ganz ohne Gehirn. Ein Verletzungsstrom hin zur Wunde ist messbar.
Somit ergibt sich neben dem neuronalen, ein, den gesamten Körper durchdringendes plasmatisches Kommunikationssystem. Davis erkennt hier ein duales Nervensystem und zitiert einschlägige Untersuchungen verschiedener Biologen, die sich seit den 1990er Jahren zu diesem Modell ergänzt haben. Das plasmatische System wird von allen Lebewesen ohne Gehirn und Nervensystem genutzt (z.B. Amöben, Oktopusse).
Außerdem spielt der Gleichstrom eine Rolle bei der Gesamtregulation von Bewusstsein, Schmerzempfinden und Schlaf. Davis vermutet hier einen Zusammenhang zum hypnagogischen oder tranceähnlichen Zustand (Instroke), den viele Menschen erleben, die mit der Points & Positions-Berührungstechnik behandelt werden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass in diesem Werk viele Fäden aus Psychologie, Tiefenpsychologie, Körperpsychotherapie, Energietheorie, Neurowissenschaft und Biologie schlüssig zu einem ganzheitlichen Ansatz zusammengeführt werden, der auch bislang unverstandene Phänomene von Selbstheilung und Interaktion erklären kann.
Davis hat mit seiner Forschung über die Zusammenhänge von Charakterstruktur und Strukturen des Bindegewebes einen wichtigen Beitrag zu Adlers großer Aufgabe geleistet, den Organdialekt verstehen zu lernen.- Das Werk kann ohne Übertreibung als ein Meilenstein der Humanistischen Psychologie bezeichnet werden.
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Will Davis „Funktionale Analyse – Grundlagen und Anwendungen in der Körperpsychotherapie“ (Wissenschaft vom Lebendigen). € 39,90.
Psychosozial-Verlag, Gießen, 2020. ISBN 978-3837929706