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Bukumatula 1/2020

Massenpsychologie des Faschismus

Nach 87 Jahren wurde der Originaltext von 1933 erstmals wieder aufgelegt.
von
Andreas Peglau:

Persönliches

Die Veröffentlichung dieses Buches hat für mich eine besondere Bedeutung. Es ist mit Sicherheit der Höhe-, vielleicht auch der Endpunkt meiner Forschungen zur Psychoanalysegeschichte und zu Wilhelm Reich. Zugleich ist es ein Punkt, auf den ich mich – nicht etwa immer bewusst – im Grunde seit über 40 Jahren zubewegt habe.

Ich bin 1957 geboren in Berlin, Hauptstadt der DDR. Mit Anfang 20 war ich zum einen Student der Klinischen Psychologie an der Berliner Humboldt Universität, zum anderen ein recht überzeugtes Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, kurz SED. Und ich war zutiefst enttäuscht davon zu erkennen, dass der Marxismus – also auch die marxistische Psychologie – zum Wesen und zu Motiven des Menschen nur äußerst dürftige Aussagen zu machen hatte.

Aber wir lernten ja im Studium auch die Psychoanalyse kennen – und ich sagte mir: Genau das fehlt! Erst später erfuhr ich, dass sich das auch schon Wilhelm Reich gesagt hatte, 50 Jahre zuvor. Auf Reich stieß ich aber so richtig erst Anfang 1989. Da begannen meine Lebenshilfesendungen im DDR-Sender Jugendradio DT 64 mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz aus Halle an der Saale. Und Reich spielte dabei eine wichtige Rolle.

Bald darauf halfen mir Reichs Bücher, insbesondere die „Massenpsychologie“, die psychosozialen Hintergründe des DDR-Zusammenbruchs sowie meine eigene Rolle in diesem Staat zu begreifen.
Eine mehrjährige Reichianische Körpertherapie folgte.

2007 – ich stand kurz vor Abschluss meiner Analytikerausbildung – begegnete ich in Berlin Lore Reich Rubin. Mein Interesse an Reich und an der Psychoanalysegeschichte, vor allem an Reichs Zeit in Berlin 1930 bis 1933 intensivierte sich. Nach fast sieben Jahren Recherche erschien dann 2013 mein Buch „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ (Peglau 2017a).

Die „Massenpsychologie“ nahm darin einen wesentlichen Platz ein, wollte ich doch unter anderem zeigen, dass es 1933 eine fundierte sozialkritische Psychoanalyse gegen den Faschismus gab, an die schon die damaligen aber auch die heutigen psychoanalytischen Verbände hätten anknüpfen können.

Nur ein Jahr später, 2014, setzte der politische Rechtsruck in Europa ein. Es lag für mich nahe, Reich Erkenntnisse zu dessen Verständnis zu nutzen. 2017 erschien mein zweites Buch: „Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz“ (Peglau 2017b). Parallel bemühte ich mich seit 2009, die „Massenpsychologie“ in ihrer 1933 vollendeten Ursprungsfassung wieder zu veröffentlichen. 2019 kam vom Reich-Infant-Trust aus den USA das OK dafür.

Vor der naheliegenden Frage „Warum halte ich die Originalfassung dieses Buchs für so wichtig?“, will ich eine andere beantworten:

Wer war Wilhelm Reich bzw.: Wer war er nicht?

Er war nicht die querulatorisch-psychotische Randfigur, zu der ihn viele seiner psychoanalytischen Berufskollegen ab 1933 abzustempeln versuchten. Er war nicht – was man noch immer von manchen „Linken“ zu hören bekommt –, ein Antikommunist, der mit Psychologisierung und Sexualisierung vom Klassenkampf ablenkte.

Er war aber ebenfalls nicht der lebenslange Lebens- oder Lebensenergieforscher, der sich in seiner Jugendzeit vorübergehend ein wenig mit dem Marxismus und der Psychoanalyse einließ, als den ihn manche Reichianer sehen möchten.

Die Frage, was Leben sei, taucht in keinem einzigen der Werke auf, die Reich bis 1933 schrieb, auch nicht in der „Massenpsychologie“. Dort fragte er sich: Was ist Faschismus? Vorher wollte er zum Beispiel wissen: Wie funktioniert Heilung durch Psychoanalyse, was ist sinnvolle Psychotherapie, wie entsteht Charakterwiderstand – alles zutiefst psychoanalytische Fragen.

Ab 1929 begriff er zunehmend, dass sich seelische Konflikte auch „physiologisch verankern“ (Reich 1987, S. 194). Daher richtete er sein Augenmerk nun zusätzlich auf körpersprachliche Mitteilungen. Seine Berliner Wohnung wurde somit um 1932 zur Geburtsstätte der Körperpsychotherapie – die zu diesem Zeitpunkt freilich noch korrekter als Psychokörpertherapie zu benennen wäre (Reich 1933a).

Was Leben ist, das wurde frühestens 1936 für ihn zum Thema, mit seinen Bion-Forschungen. Da hatte Reich aber bereits fast 40 Lebensjahre und damit zwei Drittel seines Lebens hinter sich.

Erstmals findet sich in einem Brief, den er am 17. März 1939 schrieb, ein „Etwas (wir wollen es vorläufig ‚Orgonität‘ nennen)“ (Reich 1997, S. 292). Die eigentliche Orgonforschung begann nach seiner Übersiedlung in die USA. Wann immer in der 1946er Massenpsychologie das Wort `Orgon´ auftaucht, ist es erst in der dritten Auflage in den Text gekommen.

Aber wer war Reich nun tatsächlich?
Er war einer der wichtigsten, bekanntesten, erfolgreichsten Schüler und Mitstreiter Sigmund Freuds, ein Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler, der sich ab 1935 auch der Biologie, später der Lebensenergieforschung, der Physik, der Ökologie, der Geburtskunde, der Pädagogik, der Psychiatrie zuwandte.

Legt man Freuds Definition zugrunde, dass Psychoanalyse die Wissenschaft ist, die sich darum bemüht, Unbewusstes bewusst zu machen – in sämtlichen Lebenssphären – blieb Reich Zeit seines Lebens Psychoanalytiker.
Antikommunist wurde er niemals, Antistalinist allerdings sehr wohl – aus nachvollziehbaren Gründen.

Reich hat die Psychoanalyse wie auch den Marxismus in hohem Maße bereichert. Zumindest solange Psychoanalyse und Marxismus dies zuließen: nämlich nur bis 1933.

Denn da wurde Reich – damals gerade 36 Jahre alt – zum einen aus den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen, nicht zuletzt, weil er als prominenter Antifaschist und Kommunist deren Anpassungskurs an das NS-Regime im Wege stand (Peglau 2019).

Und er wurde nahezu gleichzeitig aus den kommunistischen Organisationen hinausgeworfen. Nicht zuletzt wegen seiner hochgradig psychoanalytisch geprägten Sichtweisen – und wegen seiner „Massenpsychologie“.

Womit ich zu der Frage komme, was an diesem Werk von 1933 so wichtig ist.

In keinem anderen psychoanalytischen Buch – mit Ausnahme der 1973 erschienenen „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ von Erich Fromm (Fromm 1989) – wurde die psychosoziale Basis „rechter“ Bewegungen auch nur annährend so tiefgründig erforscht und beschrieben.

In keinem anderen Buch wurde dem Parteimarxismus so detailliert ins Stammbuch geschrieben, dass ihm ein ganzheitliches, wissenschaftliches Menschenbild, eine psychologische, vor allem tiefenpsychologische Fundierung fehlt.
Ohne Erklärungsansätze, wie sie von niemandem genauer als von Reich beschrieben wurden, lässt sich zudem überhaupt nicht ausreichend erklären, wie es zu Krieg, Massenmord oder Holocaust kommen konnte.

Von der Auseinandersetzung mit Reich könnten deshalb zahlreiche Forschungsarbeiten zum Faschismus profitieren, bieten sie doch in aller Regel keine befriedigenden Antworten auf zwei entscheidende Fragen: Welcher psychische Zustand versetzte Menschen in die Lage, sich aktiv an so destruktiven Bewegungen wie der nationalsozialistischen oder gar am Holocaust zu beteiligen – und wie wurde dieser Zustand herbeigeführt?

So weist beispielsweise der Soziologe Stefan Kühl (2018, S. 54–73) zwar zu Recht darauf hin, dass Indoktrination, Sadismus, Judenhass, Fanatismus nicht genügen, um Holocaustverbrechen zu begründen. Bei Reich hätte er jedoch lesen können, dass hinter diesen Symptomen Persönlichkeitsstrukturen stehen, die in der Tat einen hohen Erklärungswert besitzen. Da Kühl dies ausblendet, ist seine Vorstellung, wie Organisationen Mordimpulse provozieren – nämlich unter anderem durch „Zwang“, „Kameradschaft“ und „Geld“ –, nicht überzeugend.

Wie er selbst (ebd., S. 121–123, 143, 147) belegt, war niemand gezwungen, sich an diesen Gemetzeln zu beteiligen. Er bleibt auch die Antwort schuldig, wie gemeinsames Morden zu „Kameradschaft“ verdreht und die Bedeutung von Geld so überhöht werden konnte, dass sich damit das zehntausendfache Abschlachten hilfloser Frauen, Kinder und Greise motivieren ließ.

Aber die „Massenpsychologie“ kann auch helfen, zu verstehen, wodurch es erneut zu faschistoiden Entwicklungen kommt, was dem aktuellen politischen Rechtsruck in Europa zugrunde liegt.
Doch weshalb ist dafür die Wiederveröffentlichung der Erstauflage nötig?

Zwei verbundene aber verschiedene Bücher

1933 hatte Reich noch als „linker“ Psychoanalytiker und kritischer Mitstreiter Freuds geschrieben. Sein erklärtes Ziel war es, Elemente aus Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem zu verschmelzen, das er „Sexualökonomie“ nannte.
Da er seit 1930 in Berlin lebte, war sein Buch in unmittelbarer Konfrontation mit dem damaligen politischen „Rechtsruck“ entstanden. Als Mitglied der Kommunistischen Partei und Sexualreformer war Reich in dessen Abwehr auf vielfältige Weise involviert.

Was er dabei erfuhr und begriff, hielt er fest für die „Massenpsychologie“. Dieses Buch ist also auch ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus.

Als Reich sich dann 1942, seit drei Jahren in den USA lebend, der Überarbeitung der „Massenpsychologie“ zuwandte, hatte sich nicht nur seine Lebenssituation gründlich geändert, sondern auch sein wissenschaftliches und politisches Selbstverständnis.

Er hatte seiner Tätigkeit mit der Orgonforschung einen neuen Schwerpunkt gegeben. Zu Freud und Marx hatte er nun ein distanzierteres Verhältnis, mit Parteipolitik wollte er überhaupt nichts mehr zu tun haben.

Ende 1941 – bei Kriegseintritt der USA gegen Deutschland – wurde der zu diesem Zeitpunkt noch staatenlose Reich zudem vom FBI für mehrere Wochen als „gefährlicher feindlicher Ausländer“ arretiert und im Hinblick auf seine „linken“ Aktivitäten verhört. Reich musste befürchten, aus den USA abgeschoben zu werden, vielleicht sogar nach Deutschland.
Sieben Monate nach seiner Freilassung nahm Reich die Arbeit an der englischsprachigen Neuausgabe der „Massenpsychologie“ auf. Am 6. August 1942 schrieb er dazu an Alexander Neill:

„Ich habe die zweite deutsche Auflage […] durchgesehen und bin zu dem Schluß gekommen, daß es falsch wäre, sie so zu veröffentlichen, wie sie jetzt ist. Das Buch ist durch und durch voller marxistischer Schlagworte, die ihre Bedeutung inzwischen gänzlich verloren haben. […] Ich werde mit der Überarbeitung des Buches fortfahren.“ (Neill/Reich 1981, S. 121)

Mit der Veröffentlichung wartete Reich bis 1946. Im neuen Vorwort teilte er dann mit, dass er weitreichende „Veränderungen in der Terminologie“ vorgenommen habe: „Die Begriffe ‚kommunistisch’, ‚sozialistisch’, ‚klassenbewußt’, etc. wurden durch soziologisch und psychologisch eindeutige Worte wie ‚revolutionär’ und ‚wissenschaftlich’ ersetzt“ (Reich 1986, S. 22).

1933 sollten die „seelischen Energien einer durchschnittlichen Masse, die ein Fußballspiel erregt verfolgt oder eine kitschige Operette miterlebt“, noch zu den „rationalen Zielen der Arbeiterbewegung“ umgelenkt werden (Reich 1933b, S. 55), nun zu den Zielen „der Freiheitsbewegung“ (Reich 1986, S. 51).

Dass die Umformulierungen auch sonst nicht immer zu größerer Klarheit führten, lassen folgende Beispiele ahnen: „Das Marxsche Wort ‚Bewußtsein’ wurde durch ‚dynamische Struktur’, die ‚Bedürfnisse’ wurden durch ‚orgonotische Triebprozesse’ ersetzt, ‚Tradition’ durch ‚biologische und charakterliche Versteifung’, etc., etc.“ (ebd., S. 24).

Reich strebte jetzt an, noch grundsätzlichere Aussagen zu treffen: über alle autoritären, lebensfeindlichen, patriarchalischen Systeme – zu denen er inzwischen den Stalinismus rechnete. Dazu benötigte er allgemeinere Formulierungen. So traten anstelle des Wortes „Kapitalismus“ vielfach Vokabeln wie „ökonomische Ausbeutung“; statt „bürgerlich“ hieß es nun meist „reaktionär“ oder „konservativ“.

Die spezifischen Vorgänge, die am Ende der Weimarer Republik den Faschismus vorbereitet hatten, ließen sich auf diese Weise freilich nicht mehr so exakt beschreiben wie zuvor. Auch dass er als KPD-Mitglied und Sexualreformer diese Vorgänge hautnah miterlebt, sich auf Seite der Kommunisten prominent an den Versuchen beteiligt hatte, das Abdriften Deutschlands nach „rechts“ zu verhindern, war dem Text nicht mehr zu entnehmen.

1933 hatte Reich beispielsweise über eine „Massenversammlung“ in Berlin berichtet: „Als Hauptreferent fasste ich die kommunistische Stellung zum Abtreibungsparagraphen in einigen Fragen zusammen“ (Reich 1933b, S. 186). 1946 hieß es: „I presented the sex-economic viewpoint in the form of a few questions” (Reich 1986, S. 108). Aber auch, dass der Untertitel der ersten beiden Auflagen „Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik“, das ursprüngliche Vorwort und das 1934er Nachwort gestrichen wurden, trug zu dieser Verschleierung bei.

Der Umfang des Buches wuchs zudem durch das Einfügen von sechs zwischen 1935 und 1945 verfassten Texten auf mehr als das Doppelte. So wertvoll diese Ergänzungen auch waren: Von einem kohärenten Inhalt konnte nicht mehr die Rede sein.

Zweifellos stellt die dritte Auflage der „Massenpsychologie“ von 1946 eine auf ihre Art erneut bemerkenswerte Weiterführung dar. Die Lektüre des Originals ersetzt sie nicht.

Dieses Original war allerdings bereits seit 1934 vergriffen und konnte nur noch in nach 1968 kursierenden Raubdrucken gelesen werden. Oder man konnte man es sich eventuell für viel Geld antiquarisch beschaffen. Das Buch so in Händen zu halten, wie es 1933 erschienen ist, ist natürlich sehr beeindruckend.
Aber, in aller Bescheidenheit:

Die jetzt erschienene Neuauflage hat einen klaren Mehrwert:

Reich weist im Vorwort selbst darauf hin, dass die „Massenpsychologie“ unter schwierigen Bedingungen entstand. Angetrieben von dem Wunsch, zeitnah eine Einordnung der dramatischen Umbrüche in Deutschland vorzulegen, stellte er sein Buch in kürzester Zeit fertig, während er zugleich versuchen musste, sich im dänischen Exil zurechtzufinden.

Erst am 1. Mai 1933 war er in Kopenhagen angekommen. Im August oder September erschien hier bereits die „Massenpsychologie des Faschismus“. Diese Rahmenbedingungen sowie der Verlust von Teilen seines Materials dürften die Hauptgründe dafür gewesen sein, dass sich im Text eine Reihe von Fehlern einschlichen, sowohl in der Rechtschreibung – insbesondere bei Personennamen –, wie auch in der Textgestaltung.

Da der Text für die Neuausgabe noch einmal gesetzt wurde, war es möglich, eine in dieser Hinsicht präzisere und zugleich besser lesbare Textvariante vorzulegen. Zudem habe ich eine ganze Reihe mittlerweile wenig gebräuchlicher Begriffe, Mitteilungen, Zitate und Formulierungen mit erklärenden Zusatzinformationen verknüpft. Für fast alle Personen, die Reich erwähnte – und von denen ebenfalls viele heute völlig unbekannt sind – konnte ich biographische Informationen finden. Eine ausführliche biographische und zeitgeschichtliche Einordnung schließt den insgesamt 80-seitigen Anhang ab.

Selbst wer das Original von 1933 schon gelesen hat, wird also in der Neuausgabe eine Vielzahl von erhellenden Zusatzinformationen und Querverbindungen entdecken. Ich halte es daher nicht für übertrieben, zu sagen: Die Originalversion von Reichs „Massenpsychologie“ ist im 21. Jahrhundert angekommen.

Dieses Original möchte ich jetzt ein wenig genauer vorstellen.

Reichs „Vorrede“ – die wie erwähnt, in der 1946er Auflage komplett verschwunden ist – beginnt mit der Feststellung: „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten.“ Bereits mit diesem Satz lag Reich über Kreuz mit der immer mehr von Josef Stalin dominierten Komintern, dem internationalen Zusammenschluss kommunistischer Parteien.

Denn laut deren Direktive war die Hitler-Diktatur nur die „Vorstufe“ einer „großen Umwälzung“; dass viele Genossen die Partei verließen, sogar zur NSDAP wechselten, sei eine „Härtung“ der KPD.

Auch sonst argumentierte Reich bereits in der Vorrede fernab irgendwelcher Kominternvorgaben:

„Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgründendem, den alten Freiheitszielen der arbeitenden Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus.

Aber der Kampf gegen das neuerstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, für die natürlichen Rechte der arbeitenden und schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeutung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer betroffenen Menschen, für die Beseitigung dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung wird weitergehen.
(…)
Die Formen, unter denen sich die Machtergreifung des Nationalsozialismus vollzog, erteilten dem internationalen Sozialismus eine unauslöschliche Lehre: dass die politische Reaktion sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirklichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern nur durch Weckung echter revolutionärer Begeisterung, nicht mit bürokratisierten Parteiapparaten, sondern nur mit innerlich demokratischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbeiterorganisationen und überzeugten Kampftruppen schlagen lassen wird.

Sie belehrten uns, dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Entmutigung der Massen führt, wenn die eiserne Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirklichkeit enthüllt.
(…)
Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden gedrückt, enttäuscht, duldend sich verhalten, ja sogar, wenn auch in guter Überzeugung, dem Faschismus folgen, so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhänger von der sozialistischen Mission des Nationalsozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie auch über Deutschland gebracht hat, ein mächtiger Aktivposten für die sozialistische Zukunft.

Man behindert die Entfaltung dieser geschichtlichen Kraft, wenn man die nationalsozialistische Bewegung als ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Großkapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt.

Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und mit grossem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen.
(…)
Wer die Überzeugung von der wirklichen sozialistischen Schlagkraft der werktätigen Massen nicht hat und wer die positiv revolutionären Kräfte, die im Nationalsozialismus gebunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird auch keine neue Praxis der Revolution entwickeln können.“ (Reich 2020, S. 11-13)

Vulgärmarxismus

Im Weiteren machte Reich deutlich, dass zu den erwähnten Stärken der Nationalsozialisten insbesondere gehöre, die Menschen in ihren durch autoritäre, gefühlsunterdrückende Sozialisierung erzeugten Charakterdeformierungen abzuholen.

Doch genau das war eben die Dimension, die der – in den kommunistischen Parteien vorherrschende – „Vulgärmarxismus“ ausblendete. Vulgärmarxismus ist, so lässt sich der „Massenpsychologie“ entnehmen, nicht zuletzt Psychologiefeindlichkeit.

Dazu eine zweiter, etwas längerer Ausschnitt:

„Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenannten ‚subjektiven Faktor‘ der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte, noch erfasste; sie unterließ es vor allem, die Methode des dialektischen Materialismus immer neu anzuwenden, immer lebendig zu erhalten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung mit dieser Methode neu zu erfassen.
(…)
Radikal sein, heißt ‚die Dinge an der Wurzel fassen‘, sagte Karl Marx; fasst man die Dinge an der Wurzel, begreift man ihren widerspruchsvollen Prozess, dann ist die revolutionäre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so landet man, ob man will oder nicht, ob man sich dialektischer Materialist nennt oder nicht, im Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise eine falsche Praxis.

Wenn die Arbeiterbewegung versagte, so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärtsentwicklung aufhalten, nicht restlos, wahrscheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht erkannt sein.
(…)
Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlichstes Kennzeichen ist, die dialektisch-materialistische Methode praktisch durch Nichtanwendung zu negieren, musste daher zur Auffassung gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen Ausmaßes wie die 1929–1933 notwendigerweise zu einer ideologischen Linksentwicklung der betroffenen Massen führen müsse.

Während sogar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von einem „revolutionären Aufschwung“ in Deutschland gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwartung nach eine Linksentwicklung der Ideologie der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu ei¬ner extremen Rechtsentwicklung in der Ideologie der proletarisierten Schichten und derjenigen, die in tieferes Elend als bisher versanken, geführt hatte.

Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage nicht gestellt werden, wie ein Nationalistisch-Werden der breiten Masse in der Pauperisierung möglich ist.

Mit Worten wie ‚Chauvinismus‘, ‚Psychose‘, ‚Folgen von Versailles‘, lässt sich etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Verelendung rechtsradikal zu werden nicht praktisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht wirklich erfasst. Zudem waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten.
(…)
Der Vulgärmarxismus trennt schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet, dass die Ideologie und das ‚Bewusstsein‘ der Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt werden.

So gelangt er zu einer mechanischen Gegenüberstellung von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und Überbau; er macht die Ideologie schematisch und einseitig abhängig von der Wirtschaft und übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem Grunde ist ihm das Problem der sogenannten ‚Rückwirkung der Ideologie‘ verschlossen.
(…)
In der Tat sträubt er sich gegen die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie, indem er sie als ‚Psychologie‘, die unmarxistisch sei, abtut, und überlässt die Hand¬habung des subjektiven Faktors, des sogenannten ‚Seelenlebens‘ in der Geschichte, dem metaphysischen Idealismus der politischen Reaktion. Dem Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein von vornherein metaphysisches System und er denkt nicht daran, den metaphysischen Charakter der bürgerlichen Psychologie von ihren materialistischen Grundelementen, die die bürgerliche psychologische Forschung erbringt und die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen.

Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben, und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsachen wie ‚Trieb‘, ‚Bedürfnis‘ oder ‚seelischer Prozess‘ als ‚idealistisch‘ verwirft. Er gerät dadurch in größte Schwierigkeiten und erntet nur Misserfolge, weil er gezwungen ist, in der politischen Praxis unausgesetzt praktische Psychologie zu betreiben, von den Bedürfnissen der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, vom Streikwillen etc. zu sprechen.

Je mehr er nun die Psychologie leugnet, desto mehr betreibt er selbst metaphysischen Psychologismus und Schlimmeres, etwa indem er eine historische Situation aus der ‚Hitlerpsychose‘ erklärt oder die Massen tröstet, sie sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht niederringen und so fort.“ (ebd., S. 15-25)

„Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in Bewusstsein)“ umsetze, lasse, so Reich, zwei Fragen offen:

„Erstens, wie das geschieht, was dabei ‚im Menschenkopfe‘ vorgeht, zweitens wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst.

Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe. Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klassengesellschaft oder die kapitalistische Produktionsweise erklären (sofern sie solches versucht, kommt regelmäßig reaktionärer Unsinn heraus, z. B. der Kapitalismus sei eine Erscheinung der Habgier der Menschen), wohl aber ist allein sie befähigt – und nicht die Sozialökonomie – zu erforschen, wie der Mensch einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit diesem Dasein fertig zu werden versucht etc.

Sie untersucht zwar nur den einzelnen Menschen, wenn sie sich aber zur Erforschung der einer Schichte, Klasse, Berufsgruppe etc. gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse spezialisiert und das Unterschiedliche ausschaltet, wird sie zur Massenpsychologie.“ (ebd., S. 25-26).

Sexualökonomie

Über die Psychoanalyse urteilte Reich anschließend, sie sei

„in ihrem klinischen Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch-materialistischen Psychologie. Durch Einbeziehung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie auf ein höheres Niveau, vermag sie die Wirklichkeit viel besser zu bewältigen, weil endlich der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist.

Dass sie nicht sofort billige praktische Ratschläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissenschaft anzuhängen pflegt, behaftet ist, wird nur ein politischer Schreier zum Anlass nehmen, sie als Ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexualität erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrechnen.“ (ebd., S. 36)

Die eigene Wissenschaftsrichtung, die Reich inzwischen kreiert hatte, die „Sexualökonomie“, basiere daher „auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud“.

Sie beginne dort, „wo, nach Ablehnung der idealistischen Soziologie und Kulturphilosophie Freuds, die klinisch-psychologische Fragestellung der Psychoanalyse endet.“

Die Psychoanalyse enthülle „die Wirkungen und Mechanismen der Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen“. Doch die Sexualökonomie frage weiter:

„Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zur Verdrängung gebracht? Die Kirche sagt, um des Seelenheils im Jenseits willen, die mystische Moralphilosophie sagt, aus der ewigen ethisch-sittlichen Natur des Menschen heraus; die Freud’sche Kulturphilosophie behauptet, dies geschehe um der ‚Kultur‘ willen; man wird skeptisch und fragt sich, warum denn die Onanie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr der Puberilen die Errichtung von Tankstellen und die Erzeugung von Flugschiffen stören sollte.

Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätigkeit an sich, sondern nur die gegenwärtigen Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist gern bereit die Formen zu opfern, wenn dadurch das maßlose Kinder- und Jugendelend beseitigt werden könnte.

Die Frage ist dann nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der Gesellschaftsordnung.“ (ebd., S. 37)

Die anerzogene moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, so Reich weiter, mache

„ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Staatsbürgers. Als Vorstufe dazu durchläuft das Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst anpassen muss, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein.“ (ebd., S. 38)

Sexualfeindlichkeit, Rassismus, Faschismus

Die Sexualverdrängung stärke die politische Reaktion aber nicht nur durch diesen Vorgang. Sie schaffe zugleich

„in der Struktur des bürgerlichen Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die herrschende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen inszeniert wird.“ (ebd., S. 40)

Und sie werde zur Grundlage des Rassismus.
„Die theoretische Achse des deutschen Faschismus“, schreibt Reich dazu, ist „seine Rassetheorie“. Diese Theorie werde

„gegenwärtig in Deutschland in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis umgesetzt und wirkt sich solcherweise geschichtlich aus.

Die Rassetheoretiker, die so alt sind wie der Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen bei Völkerschaften, wo die Vermischung infolge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung gewinnt.

Wir werden auch keinem Faschisten, der von der überragenden Wertigkeit seines Germanentums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumenten beikommen, schon deshalb nicht, weil er nicht mit Argumenten sondern mit gefühlsmäßigen Wertungen operiert. Es ist also für die politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu wollen, dass die Neger und Italiener nicht weniger ‚rassisch‘ sind als die Germanen. Er fühlt sich als der ‚Höhere‘, und damit ist Schluss.

Es ist nur möglich, die Rassetheorie dadurch zu entkräften, dass man über die sachliche Widerlegung hinaus ihre verschleierten Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im We¬sentlichen zwei: die objektive Funktion, den imperialistischen Tendenzen einen biologischen Mantel umzuhängen, und die subjektive Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver, unbewusster Strömungen im Fühlen des nationalistischen Menschen zu sein und bestimmte psychische Haltungen zu verdecken.“ (ebd., S. 81-84)

Die faschistische Ideologie sei eine

„Weltanschauung der Asexualität, der »sexuellen Reinheit«, also im Grunde eine Erscheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu.
(…)
Die faschistische Ideologie trennt (…) die erotisch-sinnlichen Bedürfnisse von den abwehrenden moralischen Gefühlen der im Patriarchat erzeugten menschlichen Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiedenen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend mit licht, hehr, himmelhaft, rein; dagegen ‚vorderasiatisch‘ gleich triebhaft, dämonisch, geschlechtlich, extatisch.
(…)
Leugnet die Religion das sexualökonomische Prinzip überhaupt, verurteilt sie das Sexuelle als eine internationale Erscheinung des Menschentums, von dem nur das Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationalistische Faschismus das Sexuellsinnliche in die ‚fremde Rasse‘, sie so gleichzeitig erniedrigend.“ (ebd., S.89-92)

Der Nationalsozialist bekämpfe also im Feindbild des Juden auch seine eigene verleugnete Sexualität. Nicht nur die ebenso von Judenhass wie von pervertierter Geilheit gekennzeichneten Karikaturen im von Julius Streicher herausgegebenen Wochenblatt „Der Stürmer“ belegten, dass Reich hier richtig lag.

Da sich diese Sexualitätsverleugnung wiederum nicht auf NSDAP-Mitglieder beschränke, sei Faschismus
„das Aufbäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich todkranken Gesellschaft gegen die […] Tendenzen des Bolschewismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen Freiheit, einer Freiheit, bei deren bloßen Vorstellung den bürgerlichen Menschen Todesangst überkommt.“ (ebd., S. 67)

Reich beschrieb damit den Faschismus als psychisches, soziales, ökonomisches sowie politisches Phänomen und ordnete ihn zugleich in umfassendere geschichtliche Zusammenhänge ein.

Auswege

Ein dauerhafter Schutz vor faschistoiden Entgleisungen war für ihn deshalb ohne psychologisch-psychoanalytisches Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, ohne gravierende Veränderungen in Erziehung, Bildung, Sexualität, ohne Überwindung patriarchaler Normen, nicht mehr denkbar.
Daraus zog er im März 1934 im Nachwort zur zweiten Auflage der „Massenpsychologie“ den Schluss:

„Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“ (ebd., S.195)

Politische und ökonomische Umwälzungen sind dringend nötig, um jeder Art von „Rechtsruck“, Autoritarismus oder Staatsterror die Grundlage zu entziehen, genügen aber nicht: Eine psychosoziale Revolution muss hinzukommen.
Als wesentliche Punkte, von denen aus die „Struktur der Menschen“ konstruktiv beeinflusst werden kann, arbeitete Reich die Lebensumstände von Schwangeren heraus, die Art des Geborenwerdens (natürlichere statt medizinalisierter Geburt), nichtautoritäre Erziehung und Bildung, erfüllende Sexualität und Partnerschaft, Psycho- bzw. Körperpsychotherapie.

In den 1980er Jahren entwickelte Hans-Joachim Maaz diese Ansätze zum Konzept einer „therapeutischen Kultur“ weiter, das er in DDR-„Wende“ und „Wiedervereinigung“ einbrachte. Erwachsene sollten, so die die dahinterstehende Idee, an ihren seelischen Störungen arbeiten und dafür sorgen, dass ihren Kindern und Enkeln diese Störungen erspart bleiben.

Zwar genügt es in Zeiten der Globalisierung einerseits nicht einmal, auf die Verhältnisse im eigenen Staat einzuwirken. Wesentliche Veränderungen beginnen jedoch andererseits nicht erst, wo „Massen“ beeinflusst werden. Sie fangen an bei ganz individuellen Bemühungen, sich eigene autoritäre Prägungen, eigene aufgestaute Gefühle bewusst zu machen und daran zu arbeiten. Der „gute Kern“, von dem Reich sprach, wird durch Sozialisation nur verschüttet. Vernichtet werden kann er nicht. Deshalb ist es lebenslang möglich, ihn wieder „freizulegen“.

Bereits wenn wir anfangen, uns bewusster mit der uns umgebenden Realität auseinanderzusetzen, wenn wir Zusammenhänge, wie die von Wilhelm Reich benannten, in diese Auseinandersetzung einbeziehen – obwohl das zunächst Verunsicherung, Angst und Zorn auslösen dürfte – sind wir ein Stück weiter. Es mag kitschig klingen, aber es ist auch rein rational betrachtet zutreffend: Da wir Bestandteil der Welt sind, wird auch diese ein wenig besser, wenn wir besser werden.

Und das strahlt aus auf unsere Kinder oder Enkel, eröffnet Partnerschaften und Freundschaften neue Perspektiven, lässt uns Arbeitsverhältnisse und Freizeitbetätigungen kritisch hinterfragen, schärft unser politisches Denken, erleichtert konstruktives soziales Handeln, wirkt in vielleicht homöopathischer Weise auf die Gesellschaft ein. Dass dies kein Wunschdenken ist, bestätigt mir jeden Tag meine Arbeit als Psychotherapeut.

Kinder liebevoll ins Leben zu begleiten, aktiv nach guten und gleichberechtigten Partnerschaften, erfüllter Sexualität und psychischer Gesundheit zu streben, privat und öffentlich autoritär-lebensfeindliche Normen in Familie, Schule, Beruf, Medien, Kirche, Politik und Staat anzuprangern und nach Gleichgesinnten zu suchen, mit denen sich dagegen Widerstand leisten lässt – auch das sind wirksame Mittel, zerstörerischer Gewalt und Krieg die psychosoziale Basis zu entziehen. Nicht von heute auf morgen, doch immerhin: spätestens innerhalb der nächsten Generation.- Und das heißt ja: sehr bald.

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Quellen:

Fromm, Erich (1989): Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, München: dtv.
Kühl, Stefan (2018) [2014]: Ganz normale Organisationen: Zur Soziologie des Holocaust, Berlin: Suhrkamp.
Neill, Alexander S./ Reich, Wilhelm (1989) [1986]: Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und A.S. Neill 1936–1957, hg. von Plazek, B. R., Frankfurt a. M.: Fischer.
Peglau, Andreas (2017a) [2013]: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich u. die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial.
Peglau, Andreas (2017b): Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ als Erklärungsansatz, Berlin: NORA.
Peglau, Andreas (2019): Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Eine Kurzfassung, https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2019/06/Andreas-Peglau-Psychoanalyse-im-Nationalsozialismus.-Eine-Kurzfassung-2019.pdf.
Reich, Wilhelm (1933a): Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, o.O.: Selbstverlag des Verfassers.
Reich, Wilhelm (1933b): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, 1. Auflage, Kopenhagen/ Prag/ Zürich: Verlag für Sexualpolitik.
Reich, Wilhelm (1934): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, 2. Auflage, Kopenhagen/ Prag/ Zürich: Verlag für Sexualpolitik.
Reich, W. (1946). The mass psychology of fascism (3rd ed.), (Übersetzung T. P. Wolfe), New York: Orgone Institute Press.
Reich, W. (1970). The mass psychology of fascism (3rd ed.) (Übersetzung V. R. Carfagno), New York: Farrar, Straus & Giroux.
Reich, Wilhelm (1986) [1971]: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer und Witsch
Reich, Wilhelm (1987) [1969]: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus, Köln: Kiepenheuer und Witsch.
Reich, Wilhelm (1997) [1996]: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934–1939, Köln: Kiepenheuer u. Witsch.
Reich, Wilhelm (2020): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, Der Originaltext von 1933, Gießen: Psychosozial-Verlag.
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Zum Buch:
Reich, Wilhelm (2020): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik. Der Originaltext von 1933. Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau.
Gießen: Psychosozial-Verlag, 280 Seiten, Broschur, 32,90 Euro.
Erschienen im Januar 2020
ISBN-13: 978-3-8379-2940-9, Bestell-Nr. 2940 DOI: https://doi.org/10.30820/9783837929409
Auch als e-book erhältlich.

Zum Autor:
Andreas Peglau, Jahrgang 1957, Dr. rer. medic., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin. Von 1985 bis 1991 war er als Redakteur im DDR-Rundfunksender DT 64 unter anderem für Lebenshilfesendungen zuständig. 1990 gründete er mit anderen die Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e.V. Diverse Publikationen zur Psychoanalysegeschichte, insbesondere zu Wilhelm Reich. Weitere Informationen unter http://andreas-peglau-psychoanalyse.de

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