21 Aug
Bukumatula 2/2021
von
Peter Bolen:
Lieber Wilhelm Reich!
Zu Deiner Zeit hätte ich sicher Dr. Reich zu Dir sagen müssen – ich verwende gerne das alte, nicht mehr gebräuchliche große „D“ am Anfang des Du. Aber wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert und ein toter Guru ist ein guter Guru, weil er nicht mehr widersprechen kann. Apropos Wilhelm, ich habe sogar meinen Lieblingshund Willi nach Dir benannt. Aber beginnen wir mit dem Anfang, wie ich auf Dein Werk gekommen bin.
Der erste Kontakt mit Dir war das Lesen eines Deiner Bücher, ich kann mich nicht mehr erinnern, welches es war. Es hat mich als achtundzwanzigjährigen, ehrgeizigen und damals sehr konservativen Assistenten an der psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik Wien fasziniert. Ich ging zu meinem damaligen Mentor, dem stationsführenden Dozenten Gustav Hoffmann und fragte ihn nach seiner Einschätzung von Reich.„Ach, der war ja verrückt!“ meinte Hofmann. Als autoritätsgläubiger junger Psychiater zu der Zeit der „heroischen Psychiatrie“, wie ich sie heute nenne, legte ich das Buch zu Seite.
Damals, 1977, existierte an der Klinik die Psychotherapie irgendwo geheimnisvoll in der Peripherie, etwa wie das ungenaue Wissen über die Freimaurer oder über die Kabbala.
Ein Oberarzt war Psychoanalytiker, ein gewisser Dozent Solms-Rödelheim. Die Psychoanalyse wurde vom Klinikleiter Hans Hoff geduldet. Sozusagen als Schutzschild gegen eine Kritik am Fortschritt durfte Solms ein Psychotherapieseminar für Klinikärzte (in dieser Gruppe gab es keine Frau) halten. Einmal die Woche, eine Stunde lang. Es war Magermilch, die ich schlürfte.- Wohin sollte ich mich wenden?
Es gab damals in Wien, zum Ende der 60er Jahre nur zwei Psychotherapieformen. Die Psychoanalyse nach Freud und die Individualpsychologie nach Adler. Die eine wurde neben dem theoretischen Wissen durch eine hochfrequente Eigenanalyse – vier Stunden pro Woche – erlernt und dauerte viele Jahre. Die Individualpsychologische Analyse erforderte lediglich eine Sitzung pro Woche. Beides konnte ich mir damals nicht leisten.
Ich hatte schon als Werkstudent geheiratet und wir hatten noch während meines Studiums zwei Kinder. Die Arbeit als Fremdenführer während meiner Studentenzeit war einträglicher gewesen als die Arbeit an der Klinik. Außerdem wusste ich damals zu wenig über die Unterschiede zwischen diesen psychotherapeutischen Verfahren. Sehr viel später, mit 50 Jahren, nachdem ich bereits zwei psychotherapeutische Ausbildungen absolviert hatte und dabei war, eine körperpsychotherapeutische Schule zu gründen, machte ich aus Neugierde eine klassische Psychoanalyse.
Es gab an der Klinik einen einzigen Adlerianer, das war Erwin Ringel. Ich hatte das Vergnügen, während meiner Zeit an der Station für Schädel-Hirn Rehabilitation nur ein Zimmer von Ringel entfernt zu arbeiten. In der Früh nahmen wir gemeinsam das Frühstück in einer kleinen, dazwischen liegenden Teeküche ein. Für mich war es eine sehr bereichernde Begegnung, da ich so viele Anekdoten aus erster Hand erfuhr, die er später als Arzt der österreichischen Seele publiziert hat. Eine möchte ich hier bringen….
Ringel erzählte mir über die Begegnung mit einem Schweizer Psychiater namens Blum. Der hatte noch seine Analyse direkt bei Freud gemacht. Ringel fragte Blum neugierig: Erzählen sie doch, wie war Freud persönlich in der Analyse? Blum antwortete: Freud ist erregt während der Stunde auf und ab gegangen, hat an seiner Zigarre gezogen und hat doziert. Ich bin kaum zu Wort gekommen.
Das war für mich eine herrliche Geschichte, hat aber mein Wissen über die Psychoanalyse nicht vermehrt. Ein einziger Arzt an der Klinik, Otto Presslich, ein EEG-Fachmann, hat damals eine Psychoanalyse gemacht. Ein oder zwei Jahre später las ich ein Buch von einem gewissen George Bach aus den USA, der die sogenannte Aggressionstherapie entwickelt hatte. Ich lud ihn, damals schrieb man noch Briefe, zu einem Workshop nach Wien ein.
Am Flughafen, wo ich ihn gemeinsam mit meiner damaligen Frau Inge abholte, schockierte er mich zweifach. Auf dem Foto, welches ich von ihm besaß, trug er keine Brille. In natura trug er eine starke Starbrille, so dick wie wir sie im Wienerischen Glas-Aschenbecher nennen. Und zur Begrüßung griff er vor meinen Augen mit beiden Händen an die Brust meiner Frau.
Ich war zu schockiert, um zu reagieren. Im Workshop lernten wir mit Batakaschlägern auf uns einzuhauen, um unsere Aggressionen abzureagieren. Auch der Wiener Bioenergetiker Waldefried Pechtl war damals von Bach fasziniert. Der etwaige Wert dieser Therapie war schnell verblasst. Bach war wohl ein finanzielles Genie. Er hat sich in den USA einige ausrangierte Schlafwagenwagons gekauft, um dort die Teilnehmer seiner Workshops unterzubringen.
Das nächste Hineinspüren in die Welt der Psychotherapie war der Auftrag von Hoff an mich, eine Schizophrenie-Gruppe einzurichten. Ich hatte zur damaligen Zeit zwar einige Erfahrung mit schizophrenen Patienten, aber keine Ahnung von Gruppenarbeit. So bin ich zuletzt mit dem Oberarzt Bruck in den Schizophrenie-Gruppen gesessen und jedes Mal fast eingeschlafen. Chronisch Schizophrene haben eine Antriebsstörung und äußern sich daher spärlich.
Ich habe diese Idee der Therapie aufgegeben. Typisch für die damalige Zeit war der nächste Auftrag von Hoff, ich möge eine Psychodramagruppe an der Klink einführen. Eine Burgtheaterschauspielerin, eine Patientin von Hoff, sollte mir dabei helfen. Ich hatte keine Ahnung von Psychodrama und nach zwei Gruppensitzungen beendeten wir das Experiment.
Dann kam Raoul Schindler vom Steinhof und bot ausschließlich für Psychiater die Teilnahme an einer Gruppentherapie an. Die Sensation war, dass es gratis war, da Schindler noch experimentierte.
Die Gruppe lief ein Jahr und war in meinen Augen ein Fehlschlag. Schindler war sehr passiv-analytisch, später hat er allerdings gute Interventionen für Gruppen erarbeitet. Die damals teilnehmenden Ärzte waren, so wie ich, sehr zurückhaltend und keiner wollte etwas von sich preisgeben. Wir wollten vor allem andern zuhören.
Meine erste wirkliche Ausbildung in der Psychotherapie begann in den gruppendynamischen Seminaren von Alpbach, wo Schindler die einmal jährlich stattfindenden Wochenseminare initiiert hat. So kam ich zu meiner ersten Graduierung als dynamischer Gruppenpsychotherapeut.
In Alpbach erlebte ich unter der Leitung von Richard Picker meine erste Gestaltgruppe. Picker war in Deutschland von Hilarion Petzold, der ebenso wie Picker früher Priester war, ausgebildet worden. Kurz darauf begann in Österreich die erste Gestalt Ausbildungsgruppe, die vom IGW-Würzburg angeboten wurde. Der Begründer dieses Institutes, Hans Jürgen Walter, hatte sich im Streit mit Petzold von ihm abgespalten.
Ein klassisches Thema in der Psychotherapiegeschichte. Dort sind Schulen entweder Biografien oder Autobiografien. Die stärksten Schüler spalten sich im ödipalen Streit von ihrem Lehrer ab und gründen eine eigene Schule. So war es auch bei Freud. Er hat sowohl
Natürlich bin ich heute froh, Dich, lieber Wilhelm Reich, nicht persönlich gekannt zu haben. Wir hätten uns bald zerstritten, weil Du, so wie auch Freud, ein patriarchalischer, autoritärer Lehrer gewesen bist – Kinder eurer Zeit – und zweitens, weil ich bis heute ein ewiger Rebell geblieben bin.
An der Gestalt-Ausbildung wollte ich unbedingt teilnehmen. Mich faszinierte Fritz Perls, und mir schien sein Ansatz sehr interessant zu sein. In diese Gruppe hineinzukommen, die bereits ein Ausbildungswochenende hinter sich hatte, war jedoch für mich nicht so einfach. Um das zu verstehen, muss ich die Vorgeschichte erzählen….
Ich war mittlerweile von der Klink weggegangen und leitender Chefarzt der Wiener Gebietskrankenkasse geworden. Zu meiner Verantwortung gehörten neben anderen Aufgaben die Leitung aller Ambulatorien der Kasse in Wien. Dazu gehörten vier Großambulatorien und einige kleine, wie das von Strotzka ursprünglich als Ambulanz in der Strohgasse gegründete psychotherapeutische Ambulatorium in der Myrthengasse.
Dort waren Kämpfe gegen den neu nominierten Primarius Till Tesarek ausgebrochen.- Shaked, ein dort arbeitender Gruppenanalytiker hatte sich auch für diesen Posten beworben – und die Wahl von Tesarek war für ihn ein Affront. Tesarek war Psychiater und Neurologe, aber wie fast alle Psychiater damals, hatte er keine psychotherapeutische Ausbildung. Eine von Shaked geleitete Gruppe solidarisierte sich mit ihm und begann über die Presse ihrem Protest gegen die Fehlbesetzung Ausdruck zu geben.
Der damalige Obmann der WGKK, der „Metaller“ Sekanina, der später als Bautenminister gehen musste, sagte zu mir: Peter, was sollen wir machen? Was ist in dem Ambulatorium los? Ist das ein Debattierklub? Wir sind ja als Kasse nicht gezwungen, so ein Ambulatorium überhaupt zu betreiben. Schließen wir es einfach.
Das war meine Chance: Karl, lass mich das machen. Ich bin Psychiater und Psychotherapeut und ich würde neben meiner rein administrativen Tätigkeit auch gerne direkt mit Patienten arbeiten. Mach mich dort zum Primarius.- Und so kam es auch.
Tesarek bekam zum Trost das Primariat im Jugendambulatorium und ich im Psychotherapie-Ambulatorium. Für die Kasse ein Gewinn, da ich beide Funktionen mit dem gleichen Monatsbezug erfüllte.
Neben meinen persönlichen Ambitionen habe ich natürlich daran gedacht, dass es damals keine Psychotherapie auf Krankenschein gab und diese Einrichtung der Kasse zumindest der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein war.
Tatsächlich gab es damals für Psychiater und Neurologen mit einem Kassenvertrag eine Abrechnungsposition für Psychotherapie, ohne dass diese Fachärzte irgendeine Ausbildung in Psychotherapie gehabt hätten. Psychologen oder andere Berufe wie Pädagogen oder Sozialarbeiter, die eine Psychotherapieausbildung vorweisen konnten, hatten keine Chance, mit der Kasse abrechnen zu dürfen.
Die Aufgabe, um die ich mich so gerissen hatte, war aber eine gigantische. Es stellte sich heraus, dass von den angestellten Psychiatern außer Shaked, niemand eine Psychotherapieausbildung besaß. Dem Zeitgeist entsprechend nahm man an, dass die Psychiater die Fähigkeit zum psychotherapeutischen Handeln quasi mit der Muttermilch eingesogen hätten und keine Ausbildung dafür benötigten.
So versetze ich eine Psychiaterin in ein anderes Ambulatorium und schickte eine Testpsychologin in Pension. Eine andere Psychiaterin wechselte in das psychiatrische Krankenhaus am Steinhof. Shaked ging gekränkt von selbst, wobei ich ihn persönlich gerne als Fachmann behalten hätte.- Ich wollte mit einem neuen Team beginnen.
Das Ambulatorium in der Myrthengasse war viel zu klein, und ich suchte größere Räume. Es gelang mir das ganze oberste Stockwerk des Großambulatoriums in der Mariahilfer Straße 86 als Räumlichkeit zu bekommen. Aber ich hatte noch nicht das geeignete Personal.
Nachdem ich die Stellen ausgeschrieben hatte, meldete sich ein junger Mann aus Salzburg, der Psychologie studiert hatte. Er kam in einem grünen Lodenmantel und stellte sich vor: Mein Name ist Dr. Pritz und ich bin Spezialist für die Therapie mit alten Menschen.
Meine Antwort war: Lieber Alfred, ich kenne dich von Alpbach her. Du bist herzlich willkommen. Mein Plan war zunächst einen geeigneten Kandidaten zu finden und dann gemeinsam mit diesem die nächsten Kandidaten auszuwählen. Damit wollte ich eine homogene Gruppe schaffen, die gut miteinander auskommen würde.
Das zweite Ziel war, möglichst viele Vertreter von Psychotherapieschulen in meinem Ambulatorium zu haben, da ich der Meinung war und bin, dass sich für verschiedene Patienten, verschiedene Psychotherapieansätze eignen. Die zweite Angestellte war folgerichtig die Verhaltenstherapeutin Maderthaner. Wir haben dann gemeinsam auch Vertreter der Psychoanalyse, des Psychodramas, der Gestalttherapie und zuletzt noch einen Körperpsychotherapeuten, einen ehemaligen Schüler von mir, Wolfram Ratz, angestellt. Bei meiner Pensionierung hatte das Ambulatorium sechzehn Mitarbeiter. Soweit die Vorgeschichte.
Nun bestand die Gestalt-Ausbildungsgruppe vorwiegend aus Mitgliedern der ehemaligen Gruppe von Shaked, die dafür gekämpft hatten, dass er das Primariat bekommen sollte. Ich war sozusagen der etablierte Konservative und der politisch gut vernetzte Klassenfeind. Etwa zwanzig Jahre älter als die meisten Teilnehmer. Noch dazu war auch Alfred Pritz mit in der Ausbildung. Es war eine wahre Schlacht in der Gruppe. Ich habe es letztendlich geschafft, aufgenommen zu werden.
Lieber Wilhelm Reich, jetzt kommen wir zu der zweiten Begegnung mit Deiner Arbeit. In der Gestaltausbildung hatten wir verschiedene Trainer. Einer, der für mich eine besondere Bedeutung bekommen sollte, war Michael, Mike Smith. Das Seminar begann mit einem Schock für die Teilnehmer. Ein Gruppenmitglied, später ein Analytiker namens Martin Hoffmann, meldete sich als erster Kandidat für die Demonstration.
Mike sagte: Zieh dich aus! Ich spürte die Aufregung unter den Gruppenmitgliedern. We are all brothers and sisters sagte Mike. Er forderte Martin auf, sich auf die Matte zu legen und begann mit seiner Körperarbeit. Ich war fasziniert. Durch die Körperarbeit einen Zugang zu seelischem Traumen zu bekommen, war für mich sehr eindrucksvoll.
Am Ende der Demonstration gab es einen Aufruhr in der Gruppe. Etwa die Hälfte fand den therapeutischen Ansatz von Mike als zu autoritär und Grenzen überschreitend. Die halbe Gruppe reiste unter Protest ab. Ich selbst blieb und bin seither dem Körperansatz treu geblieben. Ich folgte Mike nach Kalifornien.
Bei einem von mehreren Aufenthalten an der Lomi School in der Bay Area von San Franzisco, wo ich Körperarbeit lernte, begann Mike einen Workshop mit den pathetischen Worten: Was ich euch jetzt zeige, ist nicht irgendeine Körperarbeit, sondern Reichianische Arbeit!
Mike hatte von dem Pianisten und späteren Begründer des streaming theater, Al Bauman, Reich´sche Körperansätze in der Therapie gelernt. Nun war Al Bauman keineswegs ein Reich-Schüler, sondern ein ehemaliger Klient von Simeon Tropp, der seinerseits Schüler Wilhelm Reichs war. Dennoch war es für mich spannend und wohltuend wieder mit Dir, lieber Wilhelm Reich, über große Umwege in Kontakt zu kommen.
Ich habe viele Seminare für Mike in Österreich organisiert und von ihm gelernt. Natürlich auch, wie man manches nicht machen sollte. Mike war weder Psychologe noch Psychotherapeut, hatte aber Charisma und eine glühende, aus meiner Sicht auch unkritische Verehrung für Reich.
Doch die Begeisterung kommt als Erstes, später die Infragestellung. Nicht nur ein ödipaler Konflikt, sondern eine Verarbeitung und eine Durchleuchtung des Gelernten durch den Verstand und die eigene Erfahrung.
Ich habe alle Deine Werke, die politischen, die vegetotherapeutischen und die orgonomischen gelesen und das Wilhelm Reich Institut in Wien gegründet.
Die Kritik an Dir, lieber Wilhelm Reich, kam leise, aber konsequent. In den 70er Jahren nannte wir uns absichtlich Körpertherapeuten und nicht Körperpsychotherapeuten. Wir stellten uns bewusst gegen Freud und gegen die Psychoanalyse. Gegen das verstaube Alte, das Überholte. Gegen bürgerliche Zwangsmoral, die im Faschismus mündete. Wir waren für eine revolutionäre, dynamische Therapie. Dann kam es in den meisten Schulen, nicht in allen, zu einem Paradigmenwechsel.
Als langjähriger Präsident der europäischen Vereinigung der Körperpsychotherapeuten (EABP), die in den 80er Jahren bereits sechsunddreißig Schulen umfasste, hatte ich eine gute Übersicht über die Entwicklung der Methode.
Gerda Boyesen in England, David Boadella in der Schweiz und ich in Österreich suchten sensiblere Ansätze in der Körperarbeit. Der Patient sollte nicht in Stresssituationen gebracht werden, um zu entladen. Neuere Erkenntnisse über Charaktere, z.B. über die Borderlinestruktur zeigten, dass die Anwendung der Reich´schen Vegetotherapie aus den 40er Jahren nicht bei allen Patienten angewendet werden konnte, ohne sie zu schädigen.
Ich habe meinen Ansatz „Emotionale Reintegration – der sanfte Weg“ genannt. Neu war die Gelenksarbeit und der Instroke, ein Begriff, der von Will Davis geprägt wurde. Es geht je nach Befinden des Patienten nicht um das Ausagieren (Outstroke), sondern es gilt ihn zu unterstützen, wenn er sich sammelt und das Bedürfnis hat nach Innen zu gehen.
Lieber Wilhelm Reich, was wurde nicht alles unter Deinem Namen verbrochen. Du wurdest aus dem Zusammenhang zitiert, falsch ausgelegt und Deine Methoden von unqualifizierten Verkäufern vermarktet.
Ich persönlich konnte Dir bei Deinen orgonomischen Forschungen nicht folgen. Meiner kritischen Sicht hielten Deine Forschungsergebnisse nicht stand. Ja, ich weiß, dass die wissenschaftlichen Standards Deiner und auch meiner Hochschulzeit mit der heutigen Forschung nicht mehr mithalten können. Das trifft nicht nur auf Dich, sondern auch auf Freud zu. Die erste Publikation Freuds über die Hysterie umfasste gerade 16 (!) Fälle. Auch ich habe in meinen ersten wissenschaftlichen Publikationen eine geringe Fallzahl für auseichend gehalten.
Aber wie Freud, hast auch Du ein Gespür dafür gehabt, was „Kern der Sache“ ist. Zur Wiederkehr Deines einhundertsten Geburtstags habe ich in Wien einen Kongress veranstaltet, zu dem ich eine Rede im Rahmen der sogenannten Wiener Vorlesungen im Rathaus gehalten habe. Dort kam aus dem Publikum wieder einmal die rhetorische Keule: Er war ja verrückt!
Dieses Verrücktsein bezieht sich historisch auf Deine paranoiden Vorstellungen am Ende Deines Lebens. Wessen Bücher zweimal verbrannt worden sind – in Deutschland und in den USA, wer von den Nazis und von McCarthy verfolgt wurde, einmal als Jude, das andere Mal als Marxist, obwohl Du Dich vom Stalinismus als roten Faschismus distanziert hast – der darf ein wenig paranoid sein.
Natürlich kann man Shakespeare als Trunkenbold bezeichnen. Dies tut jedoch der Genialität seines Werkes nichts an. Tragisch Dein Tod im Gefängnis, wohin man Dich wegen Missachtung des Gerichtes eingesperrt hatte. Du hast Dich geweigert, Dich mit einem Richter in eine wissenschaftliche Diskussion einzulassen.
Lieber Wilhelm Reich! Tieferes Wissen über Mathematik, welches auch ich nicht besitze, hätte Dein Lebenswerk auf festere Füße gestellt. Ilya Prigogine hat für seine Forschungen über Selbstorganisation und dissipative Strukturen zwanzig Jahre nach Deinem Tod den Nobelpreis erhalten. Eine Ironie des Schicksals. Du bist im Gefängnis gestorben.
In diesem Sinne, weiterhin sehr begeistert,
Dein
Peter Bolen