20 Aug
Bukumatula 1/2015
Berufserfahrungen eines Sozialpädagogen
Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich,
zusammengestellt von
Beatrix Teichmann-Wirth:
Alexander Trinkl im Gespräch mit Alfred Zopf, der nach Jahren als Heimerzieher Pädagogik studiert hat. Alfred Zopf ist Psychoanalytiker und hat Ausbildungen in Vegetound Orgontherapie nach Wilhelm Reich. Auf beruflicher Ebene hat er sich hin zur psychoanalytischen Pädagogik orientiert. Nachfolgend beschreibt er seine Berufserfahrungen, seine Forderungen für seinen Berufsstand und seinen Bezug zu Wilhelm Reich.
Alexander: Kannst du uns etwas über deinen beruflichen Werdegang erzählen?
Alfred: Nach einigen Stationen in meiner sozialpädagogischen Arbeit bin ich 1979 in Steyr-Gleink gelandet. Das war eine Einrichtung für 180 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche aus ganz Österreich, die in einem riesigen Klostergebäude untergebracht waren. Ich bin dort in einer `Hölle´ gelandet, in einem Gewaltsystem mit kompensatorisch betrunkenen, etwa vierzigjährigen Heimerziehern, die diese Situation nicht anders verkraften hatten können.
Mein größtes Anliegen dort war für mich zu verhindern, dass die kleinen Kinder nicht von den älteren sadistisch misshandelt wurden. In meiner Verzweiflung habe ich die Heimpsychologin aufgesucht und ihr mitgeteilt, dass ich so nicht weiter arbeiten möchte. Über mein Anliegen zeigte sie sich ganz entgeistert. Sie hatte überhaupt kein Gespür dafür, was sich dort abspielte; die Dynamiken waren wirklich extrem. In der Folge wollte ich meinen Beruf aufgeben, bekam aber ein Angebot als Erzieher in Vorarlberg, das ich gerne angenommen habe.
Dort gab es nämlich die erste Burschenwohngemeinschaft, in der Jugendliche direkt vor Ort Betreuung fanden. Das war ein Pionierprojekt und für mich eine sehr spannende Geschichte.
Der Sozialarbeiter, der das initiiert hatte, ist in die Entwicklungshilfe gegangen, woraufhin sich die Frage nach einem neuen Leiter stellte. Wir haben uns für eine Teamleitung entschieden, die auch genehmigt wurde. Zurückblickend auf meine über vierzig Jahre sozialpädagogischer Arbeit, war das das Projekt mit der höchsten Mitbestimmung auch ganz im Sinne von Selbstorganisation und von „Wie geht es uns gut?“. Es muss uns gut gehen, damit es auch den Jugendlichen gut gehen kann! Das ist ein alter sozialpädagogischer Grundsatz, „Geht’s den SozialpädagogInnen gut, geht’s auch den KlientInnen gut“.
Es gab Einzelsupervision, Teamsupervision, Konzeptarbeit auf einer Almhütte am Wochenende, etc. Insgesamt tolle Rahmenbedingungen mit Lehrern der Sozialakademie, die die Konzeptarbeit unterstützt haben. Wir haben hochdynamisch mit den Jugendlichen gearbeitet, auch mit dem Setzen persönlicher Grenzen ohne Strafsanktionen, was einerseits außerordentlich anstrengend, andererseits aber sehr fruchtbringend war. Diese Erfahrung und dieses Wissen ist für mich heute noch ein `Highlight´ in meiner sozialpädagogischen Arbeit.
Ich hatte dann aber das Gefühl, dass ich mehr an Theorie benötigte und übersiedelte Richtung Universitätsausbildung nach Wien. Bei der Verabschiedung haben wir vereinbart, dass wir uns in fünf Jahren bei einem Fass Bier wiedersehen werden. Tatsächlich, das war 1987, habe ich mich dann mit den Burschen wieder getroffen und mit fünfzehn von ihnen ein Wiedersehen gefeiert.
Und das war für mich eine sehr erfreuliche Geschichte, denn diese Jugendlichen hatten es alle geschafft, für sich einen eigenen Weg im Leben zu finden, um nicht mehr kriminell sein zu müssen. Dagegen habe ich in meiner Steyr-Gleink-Zeit das Phänomen miterleben müssen, dass die bravsten und angepasstesten Jugendlichen ein halbes Jahr später wegen Bankoder Raubüberfällen in der Zeitung zu finden waren. Alles was in ihnen angestaut war, ist dann aufgebrochen.
Alexander: Hat dir die Theorie gefehlt, oder warst du der Meinung, dass die Theorie auf der Universität zu wenig Praxisbezug hat?
Alfred: Für mich gab es universitär zu wenig Praxisbezug. In meinem Spezialfach „Verwahrlosung“ habe ich eine Seminararbeit über eine Wohngemeinschaft geschrieben und habe wegen „Nicht-Wissenschaftlichkeit“ ein „Genügend“ dafür bekommen.
Das war für mich insofern spannend, weil es dazu gar keine Literatur gab. Ich habe einfach versucht, meine persönlichen Erlebnisse einzubringen, blieb aber auf universitärer Ebene komplett unverstanden, d.h. für mich hatte etwas Neues hat dort keinen Platz.
Ich denke schon, dass die hermeneutische Spirale der richtige Ansatz wäre: Arbeiten, theoretischen Input bekommen und dann weiter gehen. Der Theorie fehlt die Verbindung zur Praxis und umgekehrt, und dann geschieht Unrecht, wie das zum Beispiel in der Wilhelminenberg-Geschichte herausgekommen ist, wo viele Kinder und Jugendliche gewalttätig misshandelt wurden. Ende der 60er Jahren hat es in den Heim-Institutionen eine klare Verordnung gegeben: Es darf keine Gewalt mehr geben.
Alexander: Du arbeitest mit schwererziehbaren und auch kriminellen, gewalttätigen Jugendlichen?
Alfred: Sicher mit unterschiedlichen Facetten. Zum Beispiel ist damals in Vorarlberg zu Beginn der 80er Jahre ein Jugendlicher zu uns gekommen, der trotz Muskelschwunds einen Taxifahrer mit einem Messer überfallen hat. Es sind also Jugendliche darunter, die so einiges am Kerbholz haben.
In der jüngeren Vergangenheit, ab dem Jahr 2000, hatten wir immer mehr gewalttätige Mädchen zu betreuen. Ein Mädchen ist einmal komplett ausgezuckt und hat behauptet, dass ich sie geschlagen hätte. Ich habe sie aber nur gehalten. Offenbar ist sie in ein dramatisches FlashBack hineingekommen und hat eine Gewaltsituation wiedererlebt.
Ich hatte aber das Glück, dass Zeuginnen anwesend waren. Ein anderes Mal, das war 2006, bin ich in eine ganz heikle Situation geraten. Da gab es drei Mädchen die extrem agiert haben. Ich habe versucht Grenzen zu setzen, indem ich auf sie zugegangen bin, einfach um einen Stopp zu erzeugen. Sie waren aber derart extrem in ihren Machtspielen, dass sie die Polizei gerufen haben und behauptet haben, dass ich sie geschlagen hätte. Gott sei Dank hat die Polizistin gleich mitbekommen, was da rennt.
Eine der Mädchen war daraufhin extrem wütend sie ist von ihrem Stiefvater schwer misshandelt worden und wollte endlich Rache üben hat es aber nicht geschafft, dass ich von der Polizei abgeführt wurde. Das sind schon Grenzerfahrungen, und ich hatte wirklich Glück, weil ich in diesem Fall keine objektiven Zeugen hatte. In solchen Übertragungs-Situationen ist man nicht geschützt und kann größte Probleme bekommen, wenn man angezeigt wird.
Eine weitere Problematik, die bis heute nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist, sind die Körperattacken auf uns SozialpädagogInnen. Das wird unter den Tisch gekehrt. In meiner Diplomarbeit habe ich thematisiert, dass sich das Blatt der Gewalt gewendet hat. Heute sind größtenteils wir die Gewaltopfer. Natürlich spielt alles irgendwie zusammen, aber da bin ich jetzt bei einem für mich ganz wichtigen Thema: Die unbewusste Identifikation mit dem Aggressor.
Und dieses Phänomen scheint sehr, sehr tief zu wirken. Wenn Kinder frühkindlich und oft weiterhin traumatisiert werden, dann ist eine psychische Verarbeitung nur mehr möglich, wenn ich mich mit dem Täter identifiziere. Das kommt dann später als gewalttätiges Agieren heraus. Wir wissen ja, dass bei sexuellem Missbrauch die meisten Täter auch Opfer waren.
Mir schwebt ja ein Projekt vor, das es aber leider nicht spielt: Ein Krisenzentrum für Missbrauchstäter. Das hieße raus aus dem System.Nicht das Kind kommt in ein Krisenzentrum, sondern der Täter. Mit dem Wegweisungsrecht wäre das sehr wohl machbar. Leider bin ich da realistisch gesehen der Zeit um 20 Jahre voraus. Eine weitere für mich spannende Geschichte, wo ich auch auf Unverständnis stoße, ist der Umgang mit Pflegekindern. Manche unsere Jugendlichen werden auch schwanger, werden Mütter und kommen dann in eine Mutter-Kind-Einrichtung, wo ihnen leider oft das Kind aufgrund gewalttätiger Handlungen abgenommen wird.
Dann entsteht folgende Situation: Dieses Kind meistens ist es ein halbes Jahr alt kommen in eine Krisenpflegefamilie, und wenn es nicht mehr zur Mutter zurück kommt, kommt es nach einigen Monaten in eine Pflegefamilie Jetzt muss man sich bitte das Befinden eines Babys vorstellen, das in kurzer Zeit gleich mehrere Bezugspersonen verliert. Was mutet man da einem kleinen Menschen heute, im 21. Jahrhundert zu? Warum mutet man den Pflegeeltern nicht zu, dass ihr Pflegekind eventuell zur leiblichen Mutter zurückkommen kann? Dieser Vorgang ist doch verrückt; es muss zu einer Traumatisierungsschleife kommen, ein Wahnsinn.
Alexander: Das ist heute Praxis in Österreich, in Wien?
Alfred: Ja, das ist zumindest in Wien Praxis. In einem Fortbildungsgremium habe ich dazu meine Bedenken thematisiert, aber der zuständige Psychologe konnte kein Problem darin erkennen. Das sind aber Entwicklungspsychologen. Es gibt ja von der psychoanalytischen Säuglingsforschung her das Wissen, dass Kinder als sozial hochkompetente Wesen auf die Welt kommen.
Das ist etwas, was Freud leider nicht so gesehen hat einer seiner schweren Fehler. Er meinte, dass das Kind als Triebwesen auf die Welt kommt und man versuchen muss, diese Triebe in den Griff zu bekommen. Die heutige Säuglingsforschung der Psychoanalyse deckt sich für mich im Großen und Ganzen mit der Reichianischen Theorie und Praxis.
Alexander: Du hast schon erwähnt, dass Pädagogen auch Opfer von Gewalt werden können ….
Alfred: Ich betreue weibliche Jugendliche seit 1988, auch extrem Schwierige. Ab dem Jahr 2000 ist es eindeutig zu einer Welle an körperlichen Übergriffen gekommen. Ich war damals schon Personalvertreter und habe versucht, das zu thematisieren, was aber bis heute nicht ernst genommen wird.
In meiner Diplomarbeit habe ich diese Entwicklung beschrieben: Von 1995 bis 2005 kam es zu einer Steigerung bei schweren Traumatisierungen von 12 auf 42 Prozent, das ist eine Vervierfachung innerhalb von 10 Jahren. Diese Entwicklung wurde aus meiner Sicht komplett ignoriert bzw. verschlafen.
Alexander: Hast du eine Erklärung dafür?
Alfred: Ich habe keine Erklärung dafür, aber diese Entwicklung war plötzlich da. Wie gesagt, es handelt sich um Mädchen, nicht um Burschen. Es wird oft die Meinung vertreten, dass Mädchen die destruktive Energie nach innen lenken und sich „nur“ ritzen. Das stimmt aber überhaupt nicht.
Wir haben immer wieder Mädchen, die extrem gewalttätig sind. Ich habe zum Beispiel ein Mädchen ambulant betreut, die nach einem Rapid-Match einen Kriminalbeamten zusammengeschlagen hat. Wir hatten auch immer wieder Polizeieinsätze, wo Verstärkung angefordert werden musste. Solche Vorfälle kommen aber nicht in die Medien, die Bevölkerung weiß überhaupt nichts davon.
Alexander: Da stellt sich auch die Frage nach sexuellem Missbrauch ….
Alfred: Ich habe vor kurzem ein Mädchen betreut, das nicht zu 100 Prozent beweisen konnte, dass ihr Vater sie sexuell missbraucht hat, sondern nur zu 98 Prozent, und der Vater wurde freigesprochen. Für mich ist das Mädchen suizidgefährdet, weil es den Mut hatte Anzeige zu erstatten und dann erleben musste, dass ihm nicht Recht gegeben wurde.
Die Realität heute ist, dass in 8 von 10 Anzeigen die Angeklagten freikommen. Es hat natürlich auch Fälle gegeben, wo Jugendliche ihre Stiefväter „hineingeritten“ haben, indem sie behaupteten, sexuell missbraucht worden zu sein. Das ist leider ein Thema, wo auch Richter und Staatsanwälte viel mehr an Bildung bräuchten, um sich besser hineinfühlen zu können.
Nach einigen Fortbildungen anfangs der 90er Jahre zu sexuellem Missbrauch bin ich zu dem Schluss gekommen: Wenn ich sexuell missbraucht worden wäre, würde ich es für mich behalten, weil die Professionisten damit nicht umgehen können. Da gibt es nur ein Schwarz-Weiss-Denken. Auf eine differenzierte, feine emotionale Ebene wird überhaupt nicht eingegangen. Es war ja auch absurd, was sich Anfang der 90er Jahre an Verdrehungen abgespielt haben. Wenn ein Kind irgendwelche Zeichnungen angefertigt hat, hat es gleich geheißen, das ist ein sexuell missbrauchtes Kind, das müssen wir sofort aufklären.
Diese Extreme sind passiert, und für mich gehört das sogar zusammen. Wenn man nicht fein wahrnehmen und gut spüren kann, ist man entweder dafür oder dagegen anstatt das Thema ein Stück weit wachsen zu lassen. Ich bin einmal von einem Mädchen als erster über sexuellen Missbrauch informiert worden, weil die Mutter sie mit dem Umbringen bedroht hatte, wenn sie darüber erzählen sollte. Das Mädchen konnte sich dann von der Familie absetzen und ihren eigenen Weg gehen. Das war aber nur möglich, weil ich bereit war, sie mit wohlwollender Aufmerksamkeit einfach ein Stück auf ihrem Lebensweg zu begleiten und sie „sein“ lassen konnte.
Alexander: Einerseits sollen Jugendliche die Möglichkeit haben, ihre Emotionen auszuleben, andererseits muss man ihnen Grenzen setzen. Wie geht man mit diesem Widerspruch um?
Alfred: Im sozialpädagogischen Kontext muss man klare Grenzen setzen, zum Beispiel mit Hausordnungen und auch zur Durchsetzung von äußerer Sicherheit. Mir geht es aber um den zwischenmenschlichen Bereich, und da bin ich sehr offen. Deswegen liebe ich ja die Psychoanalyse, die keine Struktur vorgibt, sondern assoziieren lässt. Wilhelm Reich hat aus seinem psychoanalytischen Selbstverständnis heraus ja auch gefordert,
das Chaos zuzulassen und die Dinge sich in Selbstorganisation entwickeln zu lassen. Das „Nicht Struktur Geben“ ist für mich auch politisch gesehen ein spannender Punkt.
Alexander: Ist es in einer Demokratie nicht verwirklicht, dass man eine staatliche Ordnung hat und es andererseits Raum für Diskurs, Erneuerung und machtpolitische Umbrüche gibt?
Alfred: Das sehe ich nicht so, eher umgekehrt. Dazu meine Erfahrungen in der Gewerkschaft: Dort gilt, was sich Freunderlpartien ausmachen. Störungen werden einfach eliminiert. Allein die Tatsache, dass wir eine eigene, kleine Gruppierung geschaffen haben, erzeugte große Ängste. Ich war davor in der FSG und sogar deren Vorsitzender. Aber als es darum ging, bei Organisationsverschlechterungen mitspielen zu müssen, habe ich mich mit anderen KollegInnen gewehrt und bin dann „abgeschossen“ worden.
Wenn man nicht so funktioniert, wie es sich das Establishment bzw. der Machtapparat wünscht, wird man kalt gestellt. Da kommen Dynamiken hinein, die antidemokratisch sind. Was ich in der Gewerkschaft erlebt habe, ist eigentlich eine Diktatur der Machthabenden.
Alexander: Kennst du Zahlen, wie viele Jugendliche früher in Heimen waren und heute in Wohngemeinschaften und Pflegefamilien leben?
Alfred: Dazu gibt es Statistiken. In den 50er und 60er Jahren wurden in Wien mehrere tausend Jugendliche in Heimen betreut; heute sind es etwa eintausendfünfhundert. Etwa 70 Prozent aller Gefängnisinsassen kommen aus Heimen und waren KlientInnen der Jugendwohlfahrt.
Wenn man sich dazu entschließen könnte, eine wirklich gute ambulante Betreuungshilfe für Familien aufzubauen, könnte man sich 50 Prozent der Fremdunterbringungen ersparen; die anderen 50 Prozent bräuchten traumapädagogische Betreuung, die auch äußeren Schutz gewährleistet. Das gibt es aber oft nicht. In unseren Einrichtungen geschieht es immer wieder, dass Kinder andere Kinder misshandeln auch sexuell.
Alexander: Aber es gibt ermutigende sozialpädagogische Entwicklungen, z.B. von Heimen hin zu Wohngemeinschaften ….
Alfred: Das stimmt, aber da kommt eine andere Seite ins Spiel: Die Burnout-Rate überforderter Sozialpädagogen ist extrem gestiegen. Die Fachhochschulen bieten kaum Selbsterfahrung an. Die Absolventen werden in ein Arbeitsfeld hineingestoßen und haben von ihrer eigenen Befindlichkeit keine Ahnung.
Sie engagieren sich oft mit einem Helfersyndrom, mit dem man überhaupt nichts weiter bringt. Wenn du nicht selbstreflektiert bist, kommst du sehr schnell an deine eigenen Grenzen. Und da sind wir bei Freud, der gemeint hat, dass man Psychoanalyse nicht kognitiv verstehen kann, sondern sie selbst erfahren muss.
Alexander: Mich freut es, dass du Reichianer & Freudianer bist, eine Seltenheit ….
Alfred: Der Klassiker „Verwahrloste Jugend“ von August Aichhorn hat mich damals zu Freud geführt, weil er im Vorwort die Analyse der ErzieherInnen forderte, um Übertragung und Gegenübertragung der verwahrlosten Jugend verstehen zu können.
Reich ging es um den Befreiungsaspekt um die Befreiung von der patriarchalischen Kleinfamilie und um die Neurosenprophylaxe. Gemeint ist die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Strukturen in der Gesellschaft prägen auch das individuelle Leid, und darin sind wir alle gefangen. Da kann man auch Freud zitieren, der meinte, dass Neurosen kulturbedingt sind. Wir leben jetzt in einer anderen Zeit. Die 68er Jahre haben uns aber einen Freiraum eröffnet, uns individuell und gesellschaftlich weiterzuentwickeln.
Alexander: Die Utopie einer Gesellschaft ohne Kleinfamilie ist heute vielleicht gar nicht mehr gewünscht. Was aber erreicht worden ist, ist eine Vielfalt, die es einem ermöglicht sich zu entscheiden: Möchte ich eine Kleinfamilie, oder möchte ich eine Patch-Work-Familie, habe ich eine hetero-. homobioder transsexuelle Orientierung. All das ist heute in unserer Gesellschaft möglich. Mehr ist politisch auch nicht drinnen. Jeder Zwang zu Kollektivismus ist ja im Nachhinein oft auch als Fehlentwicklung erkannt worden.
Alfred: Otto Mühls Projekt war zum Beispiel so eine Fehlentwicklung. Mühl hat Reichs Ideen missbraucht und eine Diktatur in anderer Form erschaffen.
Alexander: Ich finde es spannend, dass in Systeme, die antiautoritär aufgebaut sind, oft über die Hintertüre intransparente Ordnungsstrukturen hineingebracht werden, die viel schwerer anzugreifen und zu kritisieren sind.
Alfred: Das meine ich mit der Angst vor dem Chaos. Otto Mühl hat diese Freiheit zwar zugelassen, aber gleichzeitig hat er auch bestimmt. Wenn Otto Mühl Demokrat gewesen wäre, hätte er sich zurück nehmen und sagen müssen: Ich bin ein Teil von vielen. Dagegen bewundere ich Alexander Sutherland Neill, der ein Teil der Summerhill-Schule war und genauso ein Stimmrecht hatte wie alle anderen auch.
Neill hat viel mehr an Demokratie probiert und hat ein Stück weit aufgezeigt, dass man sehr wohl alternativ, auch ohne körperliche Bestrafung, arbeiten kann. Neill ist aus meiner Sicht großteils missverstanden worden. Seine Erziehungsmethode ist ja nicht antiautoritär, sondern: nicht autoritär das ist ein Unterschied.
Alexander: Du bist Psychotherapeut und auch politischer Akteur. Wie psychopathologisch ist der politische Alltag in dem du dich bewegst?
Alfred: Sozialpädagogische Arbeit ist immer auch politisch. Anfang der 90er Jahre gab es für uns noch viel Freiheit und Freiraum. Mit der Heimreform im Jahr 2000 hat man systemische Strukturen geschaffen, in denen ich als Vertreter der Psychoanalyse nicht mehr willkommen war. Damit hat mir gegenüber das `Bossing´ begonnen. Meine Antwort darauf war, dass ich als Personalvertreter in der MA 11 und bei der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter eingestiegen bin. Seither bin ich geschützt und weisungsungebunden und kann meine Meinung äußern, was ich auch mache.
2006 wurde eine Organisationsänderung beschlossen, die eine Verschlechterung auf vielen Ebenen bedeutete. Wir als Dienststellenausschuss haben uns dagegen gestellt, und so kam von der gewerkschaftlichen Hierarchie die Mitteilung: Entweder spielt ihr mit, oder ihr seid „tot“.Und wir sind für „tot“ erklärt worden. Daraufhin sind wir bei der Wahl als eigene Gruppierung angetreten, als `Sozialdemokratische Alternative´, und haben ein Mandat geholt. Ich bin jetzt Personalvertreter und Gewerkschafter in der Hauptgruppe 1.
Alexander: Ermöglicht dir Demokratie ein Chaos, eine Rebellion?
Alfred: Ja, aber zu welchem Preis! Nur ein Beispiel: Nach der Wahl wurde mir ein Päckchen mit einem zerknüllten Werbezettel unserer Fraktion zugeschickt. Das war die Botschaft der Hauptgruppe 1 an mich als Gewerkschafter. Heftig und symbolisch.
Nach einer Absenz von sieben Jahren habe ich heuer wieder an einer Hauptausschuss-Sitzung teilgenommen. Der Niveau-Unterschied war für mich gigantisch. Ich war der einzige, der versucht hat, seine Meinung zu artikulieren. Alle anderen blieben still. Im Hauptausschuss wird, so meine derzeitige Wahrnehmung ein totes Pferd geritten. Das ist aber das einzige gemeinsame Gremium, wo man sich äußern kann.
Alexander: Das heißt, dass es keinen konstruktiven Meinungsaustausch gibt ….
Alfred: Für mich ist das Diktatur, und ich bin gespannt, wie es weitergeht. Ich bin für meine Exkollegen und für die gewerkschaftliche Hierarchie ein absolutes Feindbild. Die meiden mich wie der Teufel das Weihwasser. Ich habe jetzt noch fünf Jahre vor mir, in denen ich politisch einiges bewegen kann und mit meinen begrenzten Möglichkeiten bewegen werde. Es soll ja ein neues Berufsgesetz für Sozialarbeiter kommen, das ich äußerst kritisch sehe, weil es keine Verbesserung bringen wird. Die eigentliche Problematik liegt in der Betriebswirtschaft und ihren Konsequenzen.
Alexander: Die Ebenen, in denen du engagiert bist, scheinen nicht gerade von demokratischem Geist durchflutet zu sein. Wie erklärst du dir diese Kultur bzw. Unkultur?
Alfred: Ich kann es mir momentan nur so erklären, dass Strategien außerhalb von Strukturen gesetzt werden.
Alexander: Dein Reformgeist scheint aber ungebrochen ….
Alfred: Ja, klar. Meine Energie setze ich dafür ein, dass ich das so nicht mittragen will. Und ich werde auch weiterhin ein „Stachel“ bleiben; das ist auch reichianisch. Ich könnte mich ja schon bequem zurück lehnen, habe aber auch väterliche Gefühle für meinen Beruf. Ich bin zutiefst überzeugt, dass man durch eine andere Struktur zwei Drittel der BurnOut-Fälle der Sozialpädagogen verhindern könnte.
Alexander: Ich finde es seltsam, dass auf Kritik so sensibel reagiert wird ….
Alfred: Für mich ist das schon klar, weil der Magistrat sich dem New Public Management verschrieben hat. Das ist ein neoliberales Konzept, das knallhart nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichtet ist. Es gibt Controlling, Contract Management, etc. Mein Leitsatz ist: `Wo Betriebswirtschaft drauf steht, ist Burnout drinnen´. Und die Gewerkschaft geht Hand in Hand mit dem Magistrat. Bürgermeister Häupl wettert zwar gegen den Neoliberalismus, hat ihn sich aber selbst einverleibt.
Alexander: Was sind deine Forderungen?
Alfred: Im zwischenmenschlichen Bereich sind ganz andere Qualitäten gefragt. Wenn ich Kindern und Jugendlichen Partizipation vermitteln möchte, muss ich diese natürlich zuerst den Sozialpädagogen zukommen lassen. Wir sind ja die `Eltern´, wir sind die Vorbilder.
Dort, wo wir größtmögliche Mitbestimmung gehabt haben das war für mich einerseits in Vorarlberg und teilweise in Krisenzentren in Wien -, sind wir von den Kindern und Jugendlichen ernst genommen worden. Sie haben gemerkt, dass wir Kompetenz haben: Wir bestimmen und das hat eine ganz andere Wirkung auf Jugendliche.Und dazu ein Gegenbeispiel: 2009 ist im Krisenzentrum Augarten die Gewalt explodiert. Da sagte ein Jugendlicher zu den Sozialpädagogen: Ihr seid ja selber die „Gfickten“ im System.
Das war sehr treffend. Die Gewalt dort ist genau deshalb so eskaliert, weil sie mitbekommen haben, dass wir SozialpädagogInnen an der Basis selber keine Unterstützung und keine Macht hatten. Wenn man solche autoritäre Strukturen und solche `Hilfskräfte´ hat, treibt das die Gewalt an. Für Gewaltprävention braucht man Kompetenz, und man braucht einen sicheren äußeren Rahmen.
Alexander: Zum Schluss noch ein paar Fragen zu deinem Reich-Verständnis: Worin siehst du die Rivalität von Freud und Reich in den Therapierichtungen begründet?
Alfred: Es war für mich interessant, dass Reich sogar im „Entwurf einer Psychologie“, die Freud 1896 geschrieben hat, die ganzen Verästelungen der Neurosen für sein Konzept der Charakterpanzerungen übernommen hat. Es ist reiner Zufall, dass Freud vom Entwurf einer Psychologie her kein Körpertherapeut geworden ist. Er hat sich auf die Sprache als therapeutisches Mittel bezogen. Das war halt seines. Darum gibt es jetzt auch so unzählig viele therapeutische Schulen. Körperliche Phänomene wie in der Körpertherapie spielen sich ja auch in Psychoanalyse auf der Couch ab. Nur wird nicht damit gearbeitet.
Alexander: Was ist für dich der politische Mensch Reich?
Alfred: Er hat meine Bewunderung dafür, dass er in seiner Zeit versucht hat Psychoanalyse und Marxismus zu verbinden. Von beiden Gruppierungen wurde er ausgeschlossen. Die Marxisten haben ihn abgelehnt, weil er Psychoanalytiker war, die Psychoanalytiker haben ihn abgelehnt, weil er Marxist war. Er ist ja auch geopfert worden, um die Nationalsozialisten zu beruhigen. Von der Neurosenprophylaxe hat er auf die politische Ebene gewechselt. Ich würde sagen, dass er dann später `Antipolitiker´, eigentlich `Anarchist´ geworden ist.
Anarchie kann auch ein Weg der Befreiung sein. Für sein Projekt „Kinder der Zukunft“ mahnte Reich einen besonderen Schutz für Babys und Kinder ein, um eine neue, möglicherweise bessere Gesellschaft entwickeln zu können. Vielleicht ist das auch für mich eine Sehnsucht und ein Motiv für meine Verrücktheit, mit Jugendlichen zu arbeiten. Ich glaube schon, dass jede junge Generation einen Erneuerungsansatz ausprobiert, und dass man sie darin unterstützten sollte. Das wäre mir jedenfalls ein wichtiges Anliegen.
Alexander: Arbeitsdemokratie?
Alfred: Ich verstehe Arbeitsdemokratie als soziale Selbstregulierung, in der die `Sache´ führt und die keiner Hierarchie unterworfen ist. Vielleicht wird es mitunter drunter und drüber gehen, man kann aber darauf vertrauen, dass sich aus dem Chaos etwas Positives entwickelt. Würde ich mich noch einmal für eine Bewegung engagieren, würde ich zuerst die Strukturierer stoppen und sagen: „Lasst den Prozess zu, glaubt nicht, das Strukturen Verbesserungen bringen lassen wir das Chaos zu!“ Das ist übrigens in der Gruppendynamik das Ziel gewesen in den 70er Jahren. Das Alpha soll sich entwickeln aufgrund der Situation und nicht aufgrund der Personen. Ich glaube das Rotationsprinzp, das wäre eine Möglichkeit Richtung Arbeitsdemokratie zu gehen. Damals als die ALÖ davon weggegangen ist, sind hunderte Personen weggegangen.