20 Aug
Bukumatula 2/2018
60 Jahre nach Wilhelm Reich. Ein Blick zurück ohne Zorn
von
Elmar Klink:
Im letzten Jahr wiederholte sich am 3. November der Todestag Wilhelm Reichs (1897-1957) zum 60. Mal.- 2007 gab es in Berlin zum 50. Todestag von der dortigen Wilhelm-Reich-Gesellschaft (WRG; Vorläufer: Wilhelm-Reich-Initiative) eine achtbare Gedenk- und Erinnerungsveranstaltung in den Räumen des Koch-Instituts an der Charité. Ein durchaus angemessener und würdiger Ort für die Veranstaltungen in Form von Vorträgen und Workshops. Wer wollte und kein Sonntagmorgenmuffel war, konnte sich sogar ältere Filme ansehen in Anwesenheit der Regisseurin von “Viva, kleiner Mann” (1985), Digne Meller Marcovicz (1934-2014).
Nach Reichs Tod hatte die erstgeborene Tochter Eva Reich (1924-2008) den Nachlass ihres Vaters zur Verwahrung an Mary Boyd Higgins als Treuhänderin übergeben. Bereits in den 1980er Jahren kam es zwischen Eva Reich und den in Berlin an der Wiederentdeckung von Wilhelm Reichs wissenschaftlichem Werk arbeitenden und beteiligten Personen zu einer aktiven Zusammenarbeit und einem regen Austausch. Sie begrüßte die Gründung der Wilhelm-Reich-Gesellschaft (1987) und wurde 1989 zu ihrer Ehrenvorsitzenden.
Teilweise heftige Auseinandersetzungen innerhalb des Berliner Aktiven-Kreises im Zuge einer kontroversen Debatte über den Umgang mit einer in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Studie zur Bestätigung der Existenz der Orgonenergie (s. u. `Die Harrer-Studie´), führten innerhalb der WRG zu einer schweren Belastungsprobe. Einer dieser Aktiven, John Joachim Trettin, von dem nachfolgend noch die Rede sein wird, berichtete dem Verfasser von einem Brief Eva Reichs, den sie im August 1997 an die Berliner Freunde gerichtet haben soll: “Es ist erforderlich, dass ich mich formell von allen Wilhelm Reich-Organisationen zurückziehe, denen ich zusammen mit euch 1986 beigetreten bin.Die gegenwärtige Aufsplitterung der deutschen Gruppen, die orgonomisch arbeiten, in Fraktionen, ist schmerzhaft für mich. Ich wünschte, ihr hättet eine Art Dachorganisation geschaffen, unter der verschiedene Personen, die orgonomisch arbeiten, sich freundschaftlich und in konstruktiver Kritik austauschen. Ich glaube nicht, dass irgendeine einzelne Person oder Gruppe der ausschließliche Nachfolger von Wilhelm Reich sein kann. Ich selbst arbeite für eine Welt, in der jeder Studierende, der interessiert ist, die grundlegenden Erkenntnisse der Entdeckungen Wilhelm Reichs lernen kann.” (Übers. vom Verf.) Bei der WRG weiß man allerdings von der Existenz eines Briefes dieses Inhalts nichts.
Reichs spätes Leben verfilmt. Einer der erfahrensten und besten Kenner des wissenschaftlichen Werks von Reich im deutschsprachigen Raum war der Arzt und Orgontherapeut Heiko Lassek (1957-2011). Neben Richard E. Blasband fungierte er dann auch als Berater für den österreichischen Spielfilm “Der Fall Wilhelm Reich” (2012) von Antonin Svoboda mit den Hauptdarstellern Klaus Maria Brandauer und Julia Jentsch.
Svoboda war bereits 2009 durch seine 1½-stündige Film-Dokumentation “Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?” hervorgetreten und schien dadurch wie prädestiniert für das gewagte Projekt. Eingeweihte Kenner des Lebenswerks von Reich muss die filmische Umsetzung jedoch eher enttäuschen. Nach der Kino-Premiere in Wien und Filmstarts in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten verschwand der Film bald aus den Programmen und harrt darauf, im Fernsehen ein größeres Publikum zu erreichen.
Der vorliegende Beitrag nimmt ganz bewusst die Zeit nach Reich in den Blick. Und zwar unter dem vordringlichen Aspekt der Wiederaufnahme seines Ertrags an wissenschaftlicher Forschung durch damals (Ende der 1960er Jahre) noch überwiegend wissenschaftliche Laien im deutschsprachigen Raum.
Er ist keine chronologische Werkdarstellung und auch keine Beschreibung der vielseitigen Anfeindungen gegen Reich, die ihn im 20. Jahrhundert quasi zu einem modernen Giordano Bruno machten, der am Ende im “freiesten Land” der Welt zu Gefängnis verurteilt, dessen wissenschaftliche Apparaturen auf staatliches Geheiß zerstört und Bücher und Schriften verbrannt wurden. Das alles kann an anderer Stelle detailliert und besser nachgelesen werden. Das Jahr 2007 war ein magisches Datum, dem viele mit großer Erwartung und Spannung entgegengefiebert hatten.
Neue alte Vorurteile? Reich hatte in seinem Testament genau 50 Jahre lang ab Todesdatum den Verschluss seines gesamten wissenschaftlichen Nachlasses verfügt. Wohlgemerkt: des nicht veröffentlichten Nachlasses und nicht dessen, was zu dem Zeitpunkt an Forschung allgemein bekannt war und schriftlich niedergelegt vorlag. Schon darum herum bestand lange Zeit eine Art Mantel der Verschwiegenheit. Reichs Ertrag sollte für eine neue, seinem Werk gegenüber unvoreingenommene Welt zum Studium aufbewahrt und konserviert werden. Und wohl auch aus Verantwortung und zum Schutz vieler Personen, die mit Reich damals zusammen lebten, forschten und litten.
Wie das meiste öffentliche Echo 2007 zeigte, waren noch viele der Reich-Vorurteile (antiautoritärer Guru der 68er-Studenten; Idol einer ungehemmten freien Sexualität; kommunistischer Sex-Papst) präsent und wirkten wie verstaubt aus einer Ecke hervorgeholt. Trotz angedeuteter Vermutung, es sei zum Ende seines Lebens – gelinde gesagt – etwas sehr Persönlichkeitveränderndes mit ihm geschehen (gemeint ist die Behauptung, Reich sei paranoid oder schlicht “verrückt” geworden), steht man ihm zwar durchaus wohlwollender gegenüber.
Man hat ihn dennoch in der Konsequenz so gut wie nicht begriffen (vgl. hierfür fast exemplarisch Harry Mulisch: Das sexuelle Bollwerk, s. Literatur), obwohl besonders in den 1990er Jahren ein bedeutender Schub an neuen Publikationen von und über Reich zu verzeichnen war, die den Zugang zu ihm wesentlich erleichterten und förderten.
Wie kaum ein anderer bedeutender Mensch, dem aufgrund seines Rüttelns an zivilisatorischen Grundfesten Gegner- und Feindschaft entgegenschlug, reagierte Reich auf wichtige Einschnitte in seinem Leben und Angriffe mit rationalen persönlichen Konsequenzen nach vorne. Sie führten sein Arbeiten und Forschen immer weiter in Neuland und beförderten und bereicherten es eher, als dass sie es bremsen oder hemmen konnten.
Gleichwohl bemühte sich eine wachsende Zahl von an Reich ernsthaft interessierten Menschen darum, den Abstand zwischen dem Reichschen Gedanken- und Arbeitskonzept und einer praktischen, angewandten Lebensenergie-Wissenschaft zu verringern. Vieles wurde aufgearbeitet und bestätigt, sogar Neues kam hinzu, zeitweilige Rückschläge blieben nicht aus. Der Sensibilität gegenüber Sexualität und Liebe zwischen den Geschlechtern hingegen, wofür der Name und das Werk Reichs unverbrüchlich stehen, sind wir heute trotz vermeintlicher oberflächlicher Lockerungen und promiskuer Freiheiten einer geschlechtsmultiplen “rave-culture” eher wieder auf einem Weg zurück hinter schon erreicht Geglaubtes.
Auch in der etablierten Sozialwissenschaft gibt es Beispiele, wie Reichs Werk noch immer ignoriert und verdrängt wird. Auf der Basis einer “Theorie der fraktalen Affektlogik“ des Schweizer Psychiaters Luc Ciompi analysierte die Soziologin Elke Endert in ihrer Dissertation 2006 die “emotionale Dimension sozialer Prozesse“ am Beispiel der Rechtsextremismus- und Faschismusforschung. (Vgl. die darauf gründende populäre Studie Ciompi/Endert: Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama; 2011.) Die Wissenschaftlerin greift zwar erkenntnistheoretisch bestimmte soziologische Ansätze und Bezüge (Durkheim, Elias) auf, erwähnt aber so nahe am Gegenstand von Reichs sexualökonomischer Theorie und Forschung seltsamerweise weder seinen Namen noch seine Beiträge zur Massenpsychologie.
Die Öffnung des Archivs 2007. Das magische Jahr hielt nicht das, was sich viele versprachen. Heiko Lassek dämpfte im Vorfeld bereits Erwartungen, sich davon allzu spektakuläre Eröffnungen und Erkenntnisse zu erhoffen. Dies zeichne sich nicht ab. Der Nachlass lagert heute in der Bibliothek der Harvard Medical School in Boston. Der Zugang wird streng reglementiert und ist an Vorgaben gebunden.
Man muss das eigene Forschungsinteresse auf Einsichtnahme genau begründen. Würde man endlich anhand von eindeutigen Unterlagen Aufklärung bekommen über den sagenhaften, dann auf mysteriöse Weise verschwundenen Orgonmotor? Wie auf einem kurzen Filmausschnitt zu sehen ist, kann dieser durch bloße Berührung per Handfläche auf eine metallene Kontaktfläche zum Laufen gebracht werden.
Vielleicht den verschwundenen Motor gar in den Archiv-Boxen noch vollständig erhalten und funktionsfähig auffinden? Was würden Reichs Aufzeichnungen dafür an verwertbaren Erkenntnissen noch liefern? Zum Beispiel für die Auffassung des menschlichen Organismus als wandelnder, lebendiger Orgonakkumulator? Komplexe, unverständliche orgonmathematische Formeln, wie im Text Creation, an dem Reich angeblich zuletzt in der Gefängniszelle schrieb, der dann unauffindbar blieb? Fragen um Fragen, bis heute, 60 Jahre später, ungeklärt und unbeantwortet. Mehr Licht ins Dunkel zu bringen wäre wünschenswert.
Auf der Jahrestagung der Berliner Wilhelm-Reich-Gesellschaft am 1./2. Juni 2013 wurde über die Ergebnisse erster Nachforschungen im Bostoner Nachlass-Archiv offiziell berichtet. Zwei Mitglieder der WRG, darunter der damalige Vorsitzende Thomas Harms, waren zuvor nach Boston gereist und hatten über Wochen eine Sichtung vorgenommen. Der Schlüssel zu Reich sind seine letzten Lebensjahre, die Inhalte der Späten Schriften und sonstigen Aufzeichnungen jener Zeit.
Es stellt sich die Frage, ob wir sie bis zum absoluten Kuriosum der in Kapitel VII von Contact with Space (ORANUR-Report II) beschriebenen “Ea-Schlacht von Tucson” (“Ea” ist Reichs Begriff für UFO) jemals mit unserem heutigen Begriffs- und Wahrnehmungshorizont ganz erfassen, geschweige denn vollständig verstehen können. Reich verstehen heißt sein Denken, Wahrnehmen und Fühlen selbständig nachvollziehen. Über dem Studium der Spätschriften trennt sich die Spreu vom Weizen, die Epigonen von den wahrhaft Interessierten.
Der einsame Reich. Der Umgang mit originärem Reichschem Forschungswissen ist fürwahr diffizil, ein sozusagen heißes Eisen. Wer ist berechtigt dazu, wem ist es erlaubt, darüber wie und wo zu sprechen? Wie viel darf zu welchen Zwecken offengelegt werden? Wer im Original jene erschütternde, etwa 10-minütige Tonaufnahme des offenbar völlig vereinsamten Reich am 3.4.1952 zu nächtlicher Stunde in seinem Labor einmal ganz mit Empathie angehört hat (bei YouTube unter dem Aufruf “Wilhelm Reich Alone“ abhörbar), kann sich eine leise Vorstellung davon machen, was in diesem Menschen an innerlich Explosivem vorgegangen sein muss, nachdem den Nazi-Verfolgten und jüdischen Emigranten sowohl seine politische Partei (Kommunistische Partei) als auch wissenschaftliche Organisation (Internationale Psychoanalytische Vereinigung) – beide Teil seiner intellektuellen Heimat – rigoros ausgeschlossen hatten.
Im Fall der IPV hatte die Freud-Tochter Anna offenbar maßgeblichen Anteil. Reich atmet auf der Aufnahme hörbar schwer und stockend, was wohl nicht nur durch seine Raucherlunge bedingt ist. Die Biografie Reichs als Verkörperung eines “heiligen Zorns des Lebendigen” (Myron Sharaf, 1926-1997) ist mithilfe von mehreren erstrangigen, authentischen Quellen, Erinnerungen und Zeugnissen (Ilse Ollendorff-Reich, A.S. Neill, Walter Hoppe, Peter Reich, Ola Raknes, David Boadella, James E. Strick) weitgehend erschlossen und ausgeleuchtet. Erweitert auch um Selbstauskünfte Reichs, zum Beispiel frühe Erinnerungen in Menschen im Staat (dt. 1995; über die Zeit zwischen 1927 und 1939), Leidenschaft der Jugend (1984; über die frühen Wiener Jahre) und drei Bände in der Edition der Treuhänderin Mary Boyd Higgins mit Briefen und Tagebuchnotizen (Letters & Journals) Reichs aus dem Zeitraum von 1934 bis 1957.
Ferner gibt Die Funktion des Orgasmus, Teil I: Die Entdeckung des Orgons als wissenschaftliche Autobiographie (revid. Fassung), das teils wie ein biblischer Offenbarungstext verschlüsselte Buch Der Christusmord und das bittere Anklagepamphlet Rede an den kleinen Mann (Listen, Little Man), Reichs tiefen, Nietzsche-haften Einblick in die Abgründe des menschlichen Wesens. Reich ist daher einigermaßen transparent, ohne irgendwas an seiner Person zu mystifizieren. Der Rest an Geheimnis mag besser von jenem Schnee bedeckt bleiben, der angeblich in der Nacht, als Reich starb, durch das geöffnete Fenster der Gefängniszelle gefallen sein soll.
Studentenrebellische Wiederentdeckung und „Antipolitik“. Weniger als zehn Jahre nach seinem Tod wurde Reich bereits zum Wiederentdeckten von einer Seite, mit der er vermutlich selbst am wenigsten gerechnet hätte: Der vor allem deutschen Studentenbewegung. Sie hat Reich von Beginn an repolitisiert. Ihn, der sich nach der deutschen “Katastrophe” von 1933, die ihn 1939/40 bis ins USA-Exil vertrieb und dem enttäuschenden Niedergang der Arbeiterbewegung, in die er so viel Hoffnung gesetzt hatte, von Politik völlig verabschiedet hatte.
Seine kleinen Schriften Was ist Klassenbewusstsein? Ein Beitrag zur Diskussion über die Neuformierung der Arbeiterbewegung (1934) und zur Arbeitsdemokratie (enth. in Massenpsychologie des Faschismus, revid.) waren sein politisches Vermächtnis als Alternative zu den ideologisch verbogenen Standpunkten der strammen orthodoxen Kommunisten. Natürliche Arbeitsorganisation vs. Politik. (Fach-)Wissen, Tatsachen und die speziellen natürlichen Merkmale und Erfordernisse eines Problems sollten den Umgang damit bestimmen, nicht mehr irgendeine politische Ideologie, in die stets Machtaspekte und Herrschaftsinteressen hineinspielen.
Ein Konzept, das durchaus Nähe und Bezüge zu “technokratischen” wie anarchistischen Vorstellungen aufweist. Auch wenn Reich in der Massenpsychologie die Anarchisten scharf kritisierte, sie würden das Problem der tief sitzenden Freiheitsangst und Freiheitsunfähigkeit des seelisch blockierten Menschen verkennen und könnten keinen Ausweg weisen. Erich Fromm knüpfte in diesem Punkt mit seinem analytischen Begriff der “Furcht vor der Freiheit” direkt an Reich an.
Eine Art „biologischer Humanismus“. Die genannten Quellen begründeten später in den 1980er/90er Jahren das, was man den “sexualökonomischen”, also soziologischen Neuansatz der Reichschen Gesellschaftskritik nennen könnte. Sexualökonomie = Soziologie auf biologischer Grundlage. Eine Art “biologischer Humanismus”. Reichs Kritik resultierte vorrangig nicht (mehr) aus der kommunistischen Ideologie, der Reich eine Zeitlang vor 1933 agitatorisch-propagandistisch anhing.
Sie entsprang seinem Versuch der dialektisch-materialistischen Kombination von Marxismus und Psychoanalyse und ihrer konsequenten Weiterentwicklung. Es ist die Erkenntnis Reichs, statt privilegierter Individualtherapie à la Freud Massenprophylaxe gegen die gesellschaftliche Neurose durch breite Sexualaufklärung und Sexualberatung zu betreiben. Ganz nach dem Motto Rudolph Virchows, Politik sei Medizin im Großen.
Das wurde zu Reichs revolutionärem Bruchpunkt mit der bürgerlichen Lehre Freudscher Analyse und ideeller Libido-Theorie. Reich dachte in der Kategorie der Natur, Freud in der der Idee. Es ging – das musste zuletzt auch Freud im Londoner Exil klar geworden sein – um nichts Geringeres als um die Frage, ob auf die Massen in sich selbst regulierender Weise so Einfluss genommen werden kann, dass Eroberungskriege und Völkermord, wie in Hitlers Mein Kampf programmatisch antizipiert, verhindert werden können.
Reichs Sexpol-Organisation. Reich rekrutierte und bildete im eigens hierfür gegründeten proletarischen Reichsverband für Sexualökonomie und Politik (kurz Sexpol) junge Kader wie Ernest Borneman (1915-1995) in Berlin aus. Diese sollten sich auf der Ebene von alltäglicher Agitation und sozialistischer Bewegung informierend und aufklärend vor allem unter der Jugend und Frauen betätigten und kostenlos Verhütungsmittel verteilten. (Borneman berichtete in einem Arbeitskreis bei einem kommunitären Sommercamp 1993 in Belzig/Brandenburg ausführlich davon.) Vorbild hierfür waren für Reich die in der jungen Sowjetunion gebildeten Jugendkommunen und eingeleiteten staatlichen Maßnahmen zur kollektiven Jugendbetreuung.
Von diesen berichtet er in seiner Schrift Die sexuelle Revolution, unterstützt durch Eindrücke von seinem Besuch in der Sowjetunion. Diese, wie auch eine fortschrittliche neue Sexual- und Ehegesetzgebung fielen der inneren bürokratischen Parteireaktion Stalinscher Prägung bald wieder zum Opfer. Borneman blieb auch später als Psychoanalytiker, Autor und Forscher dem Thema der Sexualität und Liebe eng verbunden und verfasste dazu eine Reihe von bedeutenden Büchern: Lexikon der Sexualität und Liebe (1968); Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen (1974; 2 Bde.); Sexuelle Marktwirtschaft. Vom Waren- und Geschlechtsverkehr in der bürgerlichen Gesellschaft (1992); in drei Bänden lieferte er Studien zur Befreiung des Kindes (1973-76).
Mit seiner umfassenden anthropologischen Studie Das Patriarchat (1979) stellte er kritische historische Untersuchungen an, die sich an Reichs Einbruch der sexuellen Zwangsmoral anschlossen und das Thema weiter ausführten und faktisch unterfütterten. Als eine Art Vermächtnis steht das letzte Werk des Wahl-Österreichers Die Zukunft der Liebe (posthum 1997) da. Ein heute vergessener, feministisch orientierter Autor, den es freilich nach wie vor noch zu entdecken und zu würdigen gilt. Vor drei Jahren verstrichen sein 20. Todestag und sein 100. Geburtstag ohne nennenswerte öffentliche Erinnerung.
Reich als politischer Revolutionär. Damals, in den bewegten Sechzigern, mochte sich zunächst so gut wie kein angesehener bürgerlicher Verlag zu einer Neuauflage von Reichs revolutionären Büchern und Schriften entschließen. Wenige, wie 1966 zuerst die EVA mit Die sexuelle Revolution und dann der Fischer Verlag bildeten die Ausnahme, Kiepenheuer & Witsch zog bald nach. So wurden die kleineren, darunter auch die Agitationsschriften Reichs wie Der sexuelle Kampf der Jugend oder Sexualerregung und Sexualbefriedigung einfach zu Tausenden raubgedruckt und billig auf den Markt gebracht. Dann erschienen nach und nach Die Funktion des Orgasmus (revid.),
Die sexuelle Revolution (davor Die Sexualität im Kulturkampf, urspr. Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral) und Die Massenpsychologie des Faschismus (erw. Fassung um die Kapitel zur Arbeitsdemokratie). Es folgten noch Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, eine an Bachofen, Engels, und besonders Malinowski angelehnte dialektische Studie darüber, wie es von frühgeschichtlicher Zeit an zu einer kulturellen Ablösung des Matriarchats durch das reaktionäre Patriarchat und damit zu gesellschaftlicher Repression und Unfreiheit kam.
Von nahezu allen gab es gleichlautende Vorläuferschriften aus den 1920er Jahren in dezidierter marxistischer Terminologie. Die Charakteranalyse (revid.) gilt noch immer als klassisches Lehrbuch in der psychoanalytischen Ausbildung. Was noch wenig interessierte und vielleicht verwunderte, war, dass Reich eine Reihe seiner Hauptwerke wie die genannten in den USA umgeschrieben (revidiert) und mit einer neuen Terminologie versehen hatte. Hier hat er den Bruch in der politischen Bewegung von 1933 auch sprachlich bereits eingearbeitet.
Als “Linksfreudianer”, der ähnlich wie Fenichel, Ferenczi, Gross oder Fromm und Marcuse fortschrittliche Psychoanalyse mit marxistischer soziologischer Analyse verband, wurde Reich zunächst zum wichtigsten Garanten derer, die für eine neue sexuelle Revolution eintraten, Kommunen gründeten und das Private zum Politischen machen wollten. Lebensgewohnheiten, Erziehung, Geschlechterbeziehungen, usw. sollten radikal verändert werden. Es war die Ära der Rebellion gegen alles und jeden. Gegen Autorität und Tradition. Gegen die Ehe, Familie und Religion. Gegen die Kriegsväter, die man sich nicht mehr zu Vorbildern machen konnte und wollte.
Umstrittene Aufarbeitung – der angewandte Reich. Danach kam es zu einer zweiten Phase der sorgfältigeren Rezeption und Aufarbeitung. Man begann, sich mit Reichs Lebensgeschichte, politischen Biographie, dem biophysikalischen Reich und dem Spätwerk auseinanderzusetzen. Es entstanden verschiedene Reich-Zirkel und Arten, ihn zu rezipieren und auszuwerten. Man unterschied den frühen (freudschen) vom mittleren (marxistischen) und späten (“mystischen” oder energetischen) Reich im amerikanischen Exil, trennte die Phasen voneinander, war mehr Anhänger der einen oder der anderen Phase, ja bekämpfte einander bisweilen.
Es war trotz der Aufspaltungen, Polarisierungen, Kontroversen und Trennungen die produktivste Zeit von ca. Anfang der 1970er bis zum Anfang der 1990er Jahre. Die 1990er Jahre bis zur Jahrtausendwende kann man publizistisch als Ergebnisernte der etwa 20 Pionierjahre davor betrachten. Ein gewisser Sättigungsgrad war erreicht. Einzelne Kooperationen zerbrachen.
Berliner Kreis, Bernd Senf und die Zeitschrift „emotion“. Die Berliner Aktiven um die Zeitschrift emotion begannen damit, nicht nur Reichs vegeto- und körpertherapeutische Praxis nachzuvollziehen, sondern auch seine naturwissenschaftlichen Forschungen bis hin zu den Wetterexperimenten wieder aufzugreifen und molekularbiologische Experimente zunächst verifizierend zu reproduzieren. Der Wirtschaftswissenschaftler und Dozent Bernd Senf (*1944) verstand es in didaktisch höchst ansprechenden Kursen anschauliche Einführungen in das Reichsche Denken und Forschen zu vermitteln. Fortlaufend dokumentiert unter der Überschrift „Die Forschungen Wilhelm Reichs I-IV“ in den ersten drei Ausgaben der emotion (seit 1/1980).
Senf arbeitete verständlich an der Tafel illustrierend und mit teils erheiternden körperlichen Demonstrationen. Erstmals sogar unter Einsatz von Videoaufzeichnungen (1980-84) des z.T. umstrittenen lichtmikroskopischen Beweisinstrumentariums für die Existenz einer massefreien biologischen Lebensenergie, der Reich den Namen Orgon gab. Die Lichtmikroskopie geht ab etwa 3000-facher Vergrößerung nach geltenden optischen Gesetzen von nur noch sog. leeren Vergrößerungen aus, die Reich mit zu seiner Zeit neuester Wiener Optik eines Reichert Z-Mikroskops sogar noch erweiterte.
Die Berliner Gruppe arbeitete mit einem Großfeldforschungsmikroskop Orthoplan Plus von Leitz auf vergleichbarem technischem Niveau und stieß bis in Bereiche um 4.500-fache Vergrößerung vor. D.h. man sieht die Dinge morphologisch nicht mehr viel schärfer und genauer, wobei es Reich statt um Strukturen primär um etwas anderes ging, nämlich um “Genese“ (Verlauf, Prozess), “Bewegung” und “Verhalten” (Form, Ausdehnung, Kontraktion, Pulsieren, Erstrahlen, Ladungspotenzial beim Reichschen Bluttest) der Objekte. Das war neu und bedeutete zugleich revolutionär eine Grenzüberschreitung.
Man war plötzlich und unumstößlich Zeuge der Pulsation des Lebendigen, der Entstehung unter autoklaven (sterilen) Bedingungen von neuem zellulärem Leben aus organischen Zerfallsprodukten und ihrer energetischen Neuorganisation (“Bione”). Ein Unding für die klassische Biologie und Biochemie, weil das an elektronenmikroskopisch untersuchten toten Objekten nicht festzustellen ist. Reich begründete die naturgemäße Forschungsmethode des “lebendigen Erkennens” und Beobachtens. Statt linearer Mechanik war verzweigte Dynamik angesagt, weshalb auch Elemente des Vitalismus (Bergson: élan vital, Driesch: Entelechie, Reichenbach: Od) mit hineinspielten.
Heiko Lassek gibt in Orgontherapie – ein Handbuch der Lebensenergie-Medizin im 1. Kapitel „Wilhelm Reich – Entdecker der Orgonenergie“ (S. 15-30) eine gedrängte Darstellung des biographischen Hintergrunds von Reich. Im 3. Kapitel „Die Wiederentdeckung des Gesamtwerks“ (S. 70-100) folgt eine mit vielen Fotos und Skizzen reichhaltig illustrierte Übersicht und Dokumentation der Anfänge der wissenschaftlichen Arbeit bis in die späten 1980er Jahre der Berliner Reich-Arbeitsgruppe, bestehend aus Hueck, Lorenz, Fürst, Gerlinger, Buhl, Dlouhy, Fromme und Nauschitz; mit Ausnahme der letzten (Lebensmitteltechnikerin) alles Ärzte.
Namen wie Fritjof Capra (Tao der Physik) oder Rupert Sheldrake (Das schöpferische Universum; morphogenetisches Feld) standen in der New Age-Szene für eine neue Verbindung von naturwissenschaftlichem Weltbild mit spirituellem, esoterischem Wissen, damit andeutend, dass dies im Kontext von Geist, Materie, Energie nur verschiedene Erkenntniswege sein könnten. Die Redaktion der emotion öffnete und widmete sich mit einem eigenen Schwerpunkt im bisher vorletzten Heft 16 (2004) dem allgemein aufgekommenen Thema der Spiritualität.
Dies musste zwangsläufig eine Kollision mit Reichs rationaler Anschauung und wissenschaftlicher Methodik des orgonomischen Funktionalismus bedeuten, in welchem Religion und religiöser Gott-/Götterglaube als Teil von irrationalem Mystizismus im Denken und Fühlen des Menschen bewertet werden. Aber auch Reich ging über die rein rationale Wissenschaft hinaus durch sein “fühlendes Erkennen” des Lebendigen (man könnte es auch schlicht Organempfinden oder Mitgefühl nennen) und vollzog gegen Ende seines Lebens selbst eine Wende im Sinne einer “Selbstöffnung”.
Er zeigte sich einer spirituellen, d.h. geistigen Sichtweise sowie dem Gebet und einem göttlichen kosmischen Prinzip gegenüber aufgeschlossen. Vor allem in den Abhandlungen Ether, God and Devil (Äther, Gott und Teufel; orig. 1949) und Der Christusmord tritt Reichs kritische Position bzw. ein verändertes Verständnis zutage. Dazu ein Zitat Reichs in der Rede an den kleinen Mann: “Ich weiß, dass das, was du ’Gott’ nennst, wirklich existiert, aber anders, als du denkst: als kosmische Urenergie im Weltenraum, als deine Liebe im Körper, als deine Ehrlichkeit und als dein Spüren der Natur, in dir und außer dir.”
Mit seinem Buch Die Wiederentdeckung des Lebendigen (Frankfurt 1996) hat Bernd Senf es weitsichtig unternommen, Reichs bioenergetische Grundlagenforschung im Kontext zu ähnlichen und verwandten Ansätzen und Methoden bis zum Wasser- und Wirbelforscher Viktor Schauberger zu verorten und mögliche interdependente Beziehungen zu beleuchten. Während der Arzt Heiko Lassek nachweisen konnte, dass es enge Verbindungen der Reichschen Energieauffassung zu spirituellen indisch-asiatischen Energielehren wie Prana, Chi und der chinesischen Dao-Lehre (Lao-tse) gibt.
Reich ist so gesehen auch wissenschaftlich der Wiederentdecker im Westen eines alten, religiösen (östlichen) Kulturwissens, ohne sich auf diesem Gebiet forschend betätigt zu haben. Die führenden Köpfe der europäischen Mystik (Meister Eckhart, Jakob Böhme, Johannes Seume u. a.) wussten darum.
Bezogen auf sein ökonomisches Fachgebiet untersuchte Senf analog die Wirkung von “Blockaden” in Wirtschaftskreisläufen durch künstliches Zurückhalten oder Einschnüren des Geldflusses (Zins- und Zinseszinsabschöpfung, bewusste Warenverknappung), einem Problem, dem sich im 18. Jahrhundert schon die französischen Physiokraten zugewandt hatten.
Interessant in diesem Zusammenhang ist der moderne Begriff der `Finanzblase´, die einem krebsartig wuchernden Geschehen ungehinderten Wachstums ähnelt. Der pathologische ökonomische Wachstumszwang und die zwanghafte finanzkapitalistische Verfremdung des Tauschmittels Geld in eine “Ware” auf die und mit der selbst real und virtuell spekuliert wird (Finanzmärkte, Hedgefonds), erzeugen, wie die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 zeigte, massive Störungen des Wirtschaftskreislaufs mit höchst antisozialen Effekten. (www.berndsenf.de)
Die Harrer-Studie. Die WRG beauftragte 1990 Bernhard Harrer, der zuvor an der TU Graz Architektur und an der TU Berlin Meteorologie studierte, im Rahmen der Projektgruppe “Orgonbiophysik” umfangreiche Studien zur Verifizierung von Reichs energetischen Forschungsergebnissen vorzunehmen. Nach dreijährigen biophysikalischen Untersuchungen und Temperaturmessungen kam dieser jedoch zu stark abweichenden Schlussfolgerungen von bisher gültigen Annahmen.
Er schlug deshalb auf der WRG-Konferenz 1994 vor, den Begriff “Orgon” für eine biologische Lebensenergie fallen zu lassen. Reich sei eher als Naturphilosoph, denn als Naturwissenschaftler zu sehen und sei quasi unwillentlich dem bekannten Experimentier-Effekt erlegen, seine Versuchsanordnungen so vorzunehmen, dass sie das “Wünschbare” an Ergebnis aus seiner Sicht erbrachten.
Im Grunde ein ungeheurer Verdacht auf unwissenschaftliche “Manipulation”, was faktisch einer Widerlegung der Arbeiten Reichs gleichgekommen wäre. Gesetzt den Fall, dies träfe sogar zu, spricht dagegen immer noch all das, was bei den Bionexperimenten unter dem Mikroskop unter sterilen Bedingungen beobachtet wurde und bei gewissenhaftestem Nachvollzug jederzeit wieder beobachtet werden kann: Die Entstehung der “Energiebläschen” (Bione) aus bionösem Zerfall und ihre Selbstorganisation zu neuem Leben (Einzeller), woran natürlich auch Funktionen des “genetischen Codes“ beteiligt sein können.
Harrer, der als Co-Autor immerhin die gesonderte Lesebegleitung zum Buch Über Wilhelm Reichs ORANUR-Experiment. Erster Bericht (Verlag Zweitausendeins, 1997) mit verfasste, scheint aber Die Funktion des Orgasmus, Teil I – Die Entdeckung des Orgons nicht richtig verstanden zu haben. Er hätte sonst feststellen können, mit welcher Folgerichtigkeit Reich sich über Freuds psychische Libido-Theorie hinausgehend auf seine Entdeckungen zu bewegte.
Sie führten ihn zur biologisch-energetischen wie auch sozialen Grundlage von Neurose, Psychose, Charakter- und Körperpanzer. Reich hatte nicht nur im Anschluss an Friedrich Kraus’ Theorie der “vegetativen Strömung” die im Körper frei bewegliche bzw. gestaute oder erstarrte Lebensenergie (Orgon) und ihren jeweiligen Ausdruck in Körperhaltung und Organerkrankung entdeckt, sondern als Grundfunktion allen Lebens auch die biologische Pulsation.
Die Wogen schlugen hoch, es hagelte schriftliche Proteste und Unverständnis und es kam zu Austritten aus der WRG. Auf der folgenden Jahrestagung 1995 einigte man sich in der WRG auf einen “Konsens”, der aber eher einer vorläufigen Komplementärformel glich, die die letzte Konsequenz offen hält. Dort heißt es: “Die Wilhelm-Reich-Gesellschaft maßt sich weder eine Allein- und Interpretationsherrschaft zu den Forschungen und Arbeiten Wilhelm Reichs an noch wird sie sich gegen wissenschaftlich notwendige Korrekturen stellen. Sie wird gleichzeitig dort, wo sie es kann, theoretisch wie praktisch eine klare und begründete Position zu den Arbeiten von Wilhelm Reich beziehen.” (s. Homepage der WRG, Abschnitt “Geschichte”).
Wilhelm-Reich-Institut (WRI) Wien. Das “Institut” existiert auf Vereinsbasis seit 1982 (Gründer ist der Psychiater Dr. Peter Bolen, Pionier der Körperpsychotherapie in Österreich) und versteht sich als “wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Erkenntnisse über die Lebensenergie und ihrer Funktionen”. Insofern verfolgt sie einen ähnlichen Arbeits- und Forschungsansatz wie die deutsche Wilhelm-Reich Gesellschaft Berlin im Unterschied nur vielleicht in etwas kleinerem Rahmen.
Sie stellte ursprünglich eine Eigeninitiative von Menschen dar, die eine körperpsychotherapeutische Ausbildung absolvierten und ein Interesse an Austausch und Vertiefung ihrer Erfahrungen und erworbenen Kenntnisse hatten. Weiter heißt es auf ihrer Website: “Das Wissen um den Wert des von Wilhelm Reich formulierten Menschenbildes stellt Ausgangsbasis und Nährboden für das Selbstverständnis des WRI dar.”
Inzwischen arbeitet das WRI unter den Aspekten Information, Vermittlung, Verknüpfung und Anwendung am Ausbau eines Netzwerks, Austausch von Erfahrungen, Grundlagenerforschung und an vergleichender Kooperation mit therapeutischen Verfahren anderer Herkünfte, z. B. der Komplementärmedizin. Als Kommunikationsplattform existiert seit 1988 – und mit mehr als 120 Ausgaben – eine eigene kleine Zeitschrift, die zur Zeit zweimal jährlich erscheint und den Namen ‘Bukumatula’ trägt.
Es ist ein Begriff aus der Sprache der Südseebewohner der Trobriand-Inseln, die von dem polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski in den frühen 1920er Jahren erforscht wurden (siehe seine Studie Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, 1928). Es bedeutet “Ledigenhaus”, als der geschützte Ort, wo Jugendliche ungestört ihre ersten sexuellen Erfahrungen sammeln können.
Die Ergebnisse flossen auch ein in Reichs Buch Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral (urspr. Der Einbruch der Sexualmoral, 1932; revid. u. erw. Köln 1972). Das WRI organisiert einschlägige Veranstaltungen und Workshops. Willkommen sind sowohl wissenschaftlich und therapeutisch Tätige als auch interessierte Laien. Gewählter Obmann ist zur Zeit der Psychotherapeut Wolfram Ratz. Kontakt: office@wilhelmreich.at
John Joachim Trettin. Eine durchaus schillernde und bis heute sehr aktive Gestalt und starker Pol aus der damaligen Berliner Reichschen Pionierzeit und Szene ist John Joachim Trettin (*1952). Er arbeitete mit dem orgonomischen Therapeuten, einstigen engen Reich-Mitarbeiter und Psychiater Dr. Walter Hoppe (1900-1981) zusammen. Dieser war 1974 aus Israel nach Westdeutschland übersiedelt, ließ sich als Orgontherapeut in München nieder und vermittelte Trettin aus erster Hand sein differenziertes Wissen um Funktion, Bau und Anwendung des Orgonakkumulators, so wie er darin selbst seit den 1940er Jahren von Reich persönlich instruiert wurde.
Trettin wiederum vermittelte Jürgen Fischer, von dem weiter unten noch die Rede ist, praktisches ORAC- und orgonomisches Wissen. Gemeinsam begannen sie um die Mitte der siebziger Jahre (Trettin nennt das Jahr 1974) systematisch mit der experimentellen Konstruktion und Erprobung des Reichschen Orgonakkumulators.
Trettin betätigt sich unter Bezug auf den „arbeitsdemokratischen“ Reich in der Revision nach 1933 maßgeblich und intensiv auf allen durch Reich sich eröffnenden relevanten orgonenergetischen und orgontherapeutischen Forschungsgebieten, vom Einsatz des eigens nachgebauten Orgonakkumulators über die mikroskopischen Bionversuche bis zum „Cloudbusting“.
Er besuchte das Wilhelm Reich-Museum in Rangeley/Maine und stand im Arbeitskontakt mit Dr. Eva Reich. Er repräsentiert in Deutschland eine vielfältige Reichforschung in Form einer eigenen orgonenergetischen Denk-, Praxis- und Therapiewerkstatt. Dazu gründete er nach seinem Rückzug aus dem Berliner Umfeld um 1994 sein eigenes „OrgonInstitut“ in Nürmbrecht, einem Ort nahe von Köln (www.orgoninstitut.de).
Trettin bietet eine Orgonomie-Ausbildung an, baut und vertreibt Orgonakkumulatoren nebst Zubehör und Zusatzgeräten (Decken, Shooter, Kissen, usw.), stellt orgonphysikalische Forschungen und wichtige Langzeitmessungen an und berichtet fortlaufend über seine Arbeit. Zum Kennenlernen seiner Sichtweise Reichs und der teils harschen und kritischen Position zur Behandlung von dessen Werk durch den von ihm sogenannten „Neoreichianismus“ sei besonders auf zwei Aufsätze von ihm verwiesen: “Orgonomie – das Ende einer Freiheitsbewegung“ aus dem Jahr 1997 und neu: “Reich und Orgonomie in Deutschland 1968-2017” (s. Homepage des OrgonInstituts).
Laut Trettins Auskunft ist der zweite Beitrag in einer zugespitzten Version unter dem Titel „Ein Weg der Entwicklung der Orgonomie 1968-2017“ nur einzusehen, wenn man den Google-Blog „dzogorg.biospot.de/2017/04“ öffnet. Interessanterweise arbeitet Trettin auch auf „spirituellem“ Feld, indem er eine Verbindung zwischen orgonomischen Wissens- und Funktionsprinzipien mit der Lehre und Praxis besonders des tantrischen Buddhismus herstellt (s. Blog dzogorg.de).
Bernd A. Laska, LSR-Projekt – Die Wolken sterben. Andere – wie der Ingenieur und Reich-Biograph Bernd A. Laska (Verfasser einer informativen rowohlt Monographie über Reich mit vielen Fotos und ausführlicher Bibliographie) – arbeiteten über Reich eher erkenntnistheoretisch.
Sie lieferten, am “ganzen Reich” interessiert, wichtige Beiträge der Zusammenschau in seiner kleinen blau eingeschlagenen Zeitschrift wilhelm-reich-blätter (1975-1982). Neben der emotion war diese damals die wichtigste deutsche Reich-Zeitschrift. Beide Publikationen traten zum Glück nicht in Konkurrenz zueinander, vermieden aber auch zu große Annäherung. Das nährte verschiedene Ansätze, Perspektiven und Interpretationen.
Laska modifizierte sein Reich-Interesse mit den Jahren und stellte es in den Kontext eines philosophischen Veröffentlichungs-Projekts, LSR genannt, LaMettrie-Stirner-Reich. Er versucht, die drei Persönlichkeiten sowohl vergleichend als auch in ihren parallelen Zuordnungen zu Voltaire (LaMettrie), Marx (Stirner) und Freud (Reich) zu verstehen – die eine unbekannte Person jeweils als Paria zur bekannten anderen. Ein interessantes Vorhaben.
Ein drittes Zeitungsprojekt, Die Wolken sterben (A5-Format geheftet), des Anhängers von Dr. Walter Hoppe, Kurt Nane Jürgensen (München), schaffte es nur zu drei Ausgaben.
Jürgensen ließ gegen Bezahlung kopierte Kassiber von späten Reich-Schriften (oder Auszüge davon) zirkulieren, die für viele die erste Begegnung mit den schwierigen Spätwerken der orgonomischen Forschungen war. Die beiden Bände der Späten Schriften (Verlag Zweitausendeins) – Die kosmische Überlagerung (Cosmic Superimposition) und Orop Wüste – Raumschiffe, DOR und Dürre – mit den Versuchen zum Cloudbusting in Maine und Arizona widmen sich diesen Themen.
Reich-inspirierte Psychoanalytiker. Verschiedene deutsche Psychoanalytiker zeigten sich unterschiedlich inspiriert von Reichs Werk. Als Beispiele seien hier Fritz Erik Hoevels (*1948) und Hans-Joachim Maaz (*1943) genannt. Der eine, Hoevels, auch Publizist, Übersetzer und Selbstverleger mit Reichweite laut VVN/Bund der Antifaschisten bis zum “rechten Rand”, kommt aus Freiburger Wirkungsstätte.
Der andere, Maaz, ist ein noch DDR-geschulter Neurologe und Psychiater, damals Chefarzt einer Psychosomatischen Klinik der Evangelischen Diakonie in Halle, der erst mit der 1989er Wende im vereinten Deutschland in Erscheinung trat. Maaz erwarb sich Verdienste vor allem mit seinen Büchern Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (1990; München 2010 NA) und Die Entrüstung – Deutschland. Stasi, Schuld und Sündenbock (Berlin 1992).
Sie stellen beste Beispiele angewandter politischer Psychologie auf den deutschen Vereinigungsprozess dar, indem sie den Versuch unternehmen, die ostdeutsche Seelenbefindlichkeit zum Zeitpunkt der Wende und danach aus der typischen, den Einzelnen entmündigenden und kontrollierenden DDR-Sozialisation in Staat und Familie zu verstehen und zu erklären. Dies erfolgt unter analytischer Bezugnahme auf Reichs Charaktertypologie. Hoevels wiederum verortete sich in der Position des orthodoxen Freudo-Marxisten, für den das Werk Reichs nur bis zum Ende von dessen marxistischer Phase gilt.
Er gründete früh die Marxistisch-Reichistische Initiative, die als Bunte Liste-Freiburg zeitweise einen Stadtrat stellte und verfasste Bücher zum politischen Ausschnittswerk Reichs: Marxismus, Psychoanalyse und Politik (Freiburg 1983) und Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse (Freiburg 2001). Maaz rezensierte das Buch für die Zeitung Das Neue Deutschland und stellte dabei fest, dass Reich darin zu Recht als der Psychoanalytiker herausgestellt werde, der am klarsten die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der Neurosenentstehung aufgezeigt habe (ND-Beilage zur Buchmesse FFM. 2001).
Reich-Studium nur eine Sache für Autodidakten? In den 1990er Jahren kam es publizistisch zu einer wahren Flut an neuen Veröffentlichungen. Die persönlichen Interessen und Studien vieler zeigten akademisch-publizistische Früchte, als sich die Beschäftigung mit Reich zunehmend professionalisierte und akademisierte. Gleichzeitig erwies es sich als schwierig, mit dem Label „Wilhelm Reich“ oder „Orgonomie“ in der Medizin zu reüssieren oder berufsperspektivisch ein Standbein zu entwickeln.
Natürlich war Reich bekannt bei einer Reihe von Professoren, politischen Psychologen und Sexualwissenschaftlern wie Gerhard Amendt, Volkmar Sigusch, Reimut Reiche, Peter Brückner oder Horst-Eberhard Richter, um nur einige zu nennen und spielte bei ihnen z.T. eine gewisse bis nicht unwichtige Rolle. Reich polarisierte auch oder gerade in den Reihen linker Intellektueller.
Es gab jedoch an keiner deutschen Hochschule ein ausgewiesenes psychologisches, medizinisches oder soziologisches Studienangebot bzw. eine zertifizierte Zusatzausbildung zu Reich. An der Universität Bremen war es z.B. so, dass es mit der Gesundheitswissenschaftlerin und Soziologin Prof. Dr. Annelie Keil zwar eine vorzügliche Kennerin und didaktische Vermittlerin von Reichs Werk gab, aber ihr Lehrangebot war im Fachbereich Sozialpädagogik angesiedelt.
Diese Schwierigkeiten brachten manche von Reich wieder ab. In Bremen hatte sich schon in den frühen 1980er Jahren um den rebellischen Theologen und suspendierten Pastor der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde, Wolfgang Schiesches (1939-2010), eine kleine Gruppe Reich-Interessierter gebildet, die sich regelmäßig bei ihm traf. Die Künstlerin Brigitta Forst, ein Mitglied dieser Gruppe, organisierte im Nov./Dez. 1991 an der Universität im Kleinen Hörsaal an elf Terminen die Vorführung von Bernd Senfs kompletten Einführungen in Reichs Werk, die es damals schon auf Videoaufzeichnungen gab.
Hier wurden auch erstmals die mikrobiologischen Filmaufnahmen der Reichschen Bionversuche gezeigt, die die Berliner Reich-Initiative reproduziert hatte. Der Hörsaal war jedes Mal gut besetzt. Schiesches hatte im Keller seines Wohnhauses in der Mozartstraße 31, in dem er auch eine alternative Druckerei betrieb, einen selbstgebauten Orgonakkumulator stehen. Zu seinem Tod veröffentlichte die TAZ einen ironischen Nachruf unter dem Titel „Mit Jesus gegen die orgiastische Impotenz“. (taz Bremen, 1.9.2010)
Fischer-Orgon-Technik. Das medizinische Instrumentarium, vornehmlich des Orgonakkumulators, verbesserte sich bis zur technischen Standardisierung in seiner im Grunde äußerst simplen Kasten-Ausführung unter Verwendung von Materialien wie (weniger geeigneten) Holzdämmplatten, verzinktem Eisenblech und Stein- oder Glaswolle in alternierender organisch-anorganischer Schichten-Anordnung mit Abstrahlung nach innen. Mit etwas geschickten Bastlerhänden war auch jederzeit nach Anleitung der billigere Selbstbau möglich.
Jürgen Fischer, nach eigener Auskunft im Interview Techniker, Publizist und Autor, ursprünglich im alternativen Verlagswesen tätig, ist neben Trettin autodidaktischer Pionier auf dem Gebiet. Ihm wiederum kommt das Verdienst zu, eine kleine, knapp 60-seitige Broschüre Reichs zum Orgonakkumulator (ORAC) ins Deutsche übersetzt und unter dem Pseudonym Jürgen F. Freihold veröffentlicht zu haben; seiner Auskunft nach waren die ersten Akkus mit Aluminium als Metall falsch gebaut worden.
Die ORAC-Technik, aus der sich in umgekehrter Richtung und Anordnung das Cloudbusting ergab, steht im Zentrum von Reichs späterer Forschung und jeder Beschäftigung damit. Fischer richtete ab 1978 zunächst in einem Moordorf in der Nähe von Bremen seine kompetente Werkstatt ein (heute lebt er auf einem Hof bei Breitenbrunn im Unterallgäu). Seine und Trettins gemeinsame Wege trennten sich 1990 nach langjähriger Freundschaft. Fischer baut und vertreibt den ORAC nach Reichscher Anleitung noch immer auf Bestellung.
Seine Erfahrung damit ist mittlerweile auf Jahrzehnte erweitert; man bekommt von ihm die ausgereiften Grundgeräte und eine Reihe abgewandelter, erweiterter Orgonenergieträger-Techniken. Sein aktualisiertes Anwendungs-Grundbuch, zusammen mit der Berliner Orgonomie-Ärztin Heike Buhl verfasst, heißt einfach Energie! und ist mittlerweile ein Standardwerk (www.fischer-orgon-technik.de).- Seit 2016 liegt in neuer, aktualisierter und erweiterter Fassung das Handbuch zum Orgonakkumulator nach Wilhelm Reich von James DeMeo vor, mit dem Fischer auch bei Wetterexperimenten kooperierte.
Zu Fischers Angebot gehört auch ein spiritueller Engel-Energie-Akkumulator (EEA). Dazu verwendet er Rosenquarze, die in den oberen Rahmen integriert sind. Idee, Bau- und Benutzungsanleitung dazu will Fischer über zwei Medien von einem jenseitigen “Wilhelm Reich” aus dem kosmischen Off (dem Wilhelmreich?) bezogen haben.
Nicht genug dieses Kuriosums, hat Fischer 1996/97 über einen mehr als einjährigen Zeitraum hinweg eine Reihe von “Gesprächen” (Fragen – Antworten – Dialog) mit dem geistigen Reich-Wesen “geführt” und sie für die interessierte Nachwelt in seinem Buch Der Engel-Energie-Akkumulator nach Wilhelm Reich (1997) ausführlich protokolliert und wiedergegeben. In der weiter oben erwähnten Ausgabe der emotion Nr. 16/2004 schildert und erörtert Fischer (mit wörtlichen „Reich-Zitaten“) sein Jenseits-Experiment in seinem Beitrag “Spirituelle Orgonomie – Widerspruch oder Synthese?” (S. 84-127).
Die Herstellung des Kontakts und der Empfang einer Geistweltbotschaft “von drüben” sind Kanäle, die von inspirierten Menschen mit intuitiv-imaginativer Eignung und etwas meditativer Übung seit Jahrtausenden geöffnet und benutzt werden. Die moderne rationalistische Wissenschaft der Neuzeit seit Descartes bis hin zur christlichen Theologie hat dieses andere “Erdkraft-Wissen” (Gaia) wie das der “Hexen-Weisheit” und Ketzergedanken verschwiegen, verdrängt, unterdrückt und bekämpft. Keltische Kraftorte wurden oftmals mit christlichen Kirchen und Kapellen überbaut.
Es musste erst archäologisch wiederentdeckt und freigelegt werden, wozu die Arbeiten verschiedener tiefenökologischer Forscher und geistig Wissender wesentlich beigetragen haben. Zu nennen wären etwa Dolores LaChapelle, Joanna Macy, Arne Naess, Nigel Pennick, Marco Pogacnik, James Lovelock u.a. Fischer nahm dazu zunächst selbst eine skeptische, hinterfragende Position ein. Doch habe er sich eines Besseren belehren und vom verständnisvollen Auftreten der Reichschen Geist-Präsenz überzeugen lassen und sieht sich in der Funktion eines “Journalisten“, der „Reich“ zu Wort kommen lässt. Mehr erfahren wir über das eigentliche Motiv zu diesem ungewöhnlichen Schritt und die Interessenslage Fischers allerdings nicht.
Natürlich kann man einen Reichschen ORAC mit bestimmten Kristallen experimentell modifizieren, um noch andere erwünschte, in diesem Fall “spirituelle”, Wirkungen zu erzielen. Ein Reichscher ORAC ist das dann nicht mehr, es sei denn “Reich selbst” liefert aus der Geistwelt die Anregung und Anleitung dazu. Das nimmt sich alles etwas zurecht konstruiert aus. Nichts wegnehmen, nichts hinzufügen, stellte Walter Hoppe einmal als sein Prinzip fest.
Es dürfte für viele ohne eigene Erfahrung mit einem EEA vielmehr eine reine Glaubenssache als ein überprüfbares, nachvollziehbares Faktum sein, ob man Fischer in diesem Punkt folgt oder nicht. Das macht die ganze Angelegenheit etwas heikel. Es geht nicht darum, jemandem die eigene Wahrheit aufgrund eigener subjektiver Erfahrung auf spiritueller Ebene abzusprechen, sondern um die Frage, ob und wie es eine Verbindung von Reichs Wissenschaftlichkeit mit einer spirituellen Dimension geben kann und dies wünschenswert ist. Fischer beantwortet das Dilemma so: “… die streng materialistische Ausrichtung des reichschen wissenschaftlichen Werkes wurde um die spirituelle Dimension erweitert. Ich musste an dieser Stelle von der grundsätzlich materialistischen Sichtweise – die bisher auch die Grundlage der Orgonomie bildete – abrücken und das Primat des Geistes anerkennen.” (emotion 16/2004, S. 85).
Wer von Jürgen Fischer einen eigenen Eindruck gewinnen will, sei auf ein interessantes TV-Interview von Uwe Behnken mit ihm verwiesen, in dem dieser über die tiefe Bedeutung des Emotionalen in Reichs Forschung, das doppelte ORAC-Prinzip der Konzentration und Ableitung (Absaugen, s. ORANUR-Experiment) spricht und einfache Beispiele der inneren Energiewahrnehmung demonstriert (“Orgon” nach Wilhelm Reich mit Jürgen Fischer; Live Net Concept e.V., 2010; YouTube).
“Reich-Kommunen”. Es bildeten sich Kommunen wie die „Aktionsanalytische Organisation“ (AAO) am Friedrichshof im österreichischen Burgenland um den höchst fragwürdigen Wiener Aktionskünstler Otto Muehl (1925-2013) oder Dieter Duhms Kulturprojekt „Bauhütte“ (gegr. 1978). Sie orientierten sich an einer freien sexuellen Lebensweise und standen (und stehen) u.a. in einem mehr oder weniger direkten Bezug zu Wilhelm Reich und seinen Büchern wie Die sexuelle Revolution, Die Funktion des Orgasmus, Charakteranalyse oder Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Die psycho-manipulative Praxis der rigorosen AAO-Kommune unterschied sich deutlich von der Bauhütte, die deren faschistoide, autoritäre und frauenfeindliche Gruppenorganisation gerade nicht übernahm, als hierarchische Falle ansah und eigene öko-spirituelle Wege beschritt (s. Buch: Aufbruch zur neuen Kultur; 1982).
Von 1983 bis 1986 fand ein kommunitäres Gruppenexperiment der Bauhütte mit etwa 50 Personen im Südschwarzwald in Schwand (Rosenhof) statt. Dieses wurde – öffentlich und teilweise auch aus der linken Szene in heftige Kritik geraten -, schließlich beendet. 1991 gründete man im östlichen Bundesland Brandenburg auf 15 Hektar Fläche das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) als Bildungs- und Tagungsstätte, Lern- sowie Lebensort für anfangs etwa 60 bis 80 Menschen. Eines der Vorbilder war die schottische Findhorn-Gemeinschaft.
Das Ökodorf ZEGG ist von der Energieversorgung bis zur Abwasserreinigung weitgehend autark angelegt und verfolgt strikte ökologische und humanitäre Prinzipien. Seine BewohnerInnen und Gäste leben nach dem Leitbild der ‘freien Sexualität‘ zusammen. Zu einem eigenständigen Ableger wurde ab 1995 in Portugal das von Duhm, Sabine Lichtenfels und anderen gegründete Heilungsbiotop 1-Tamera, zugleich internationale Friedensschule und ökologische Forschungsstation, wo heute etwa 170 Menschen leben. ZEGG und Tamera sind international im Global Ecovillage Network (GEN) vernetzt (www.zegg.de; www.tamera.org).
Plocher-Energiesystem. Ein Geheimnis machte der erfindungsreiche süddeutsche Techniker (er bezeichnet sich selbst ursprünglich als Mechaniker) Roland Plocher (*1940) um sein “Plocher-Mehl”, das er in einem “technischen Apparat/Verfahren” (Plocher-Energiesystem) energetisiert und gewerblich als Substanz mit Heileffekt vertreibt (man kann es in Wasser gelöst stark verdünnt sogar trinken).
Ähnlich wie man in der Homöopathie die Trägerflüssigkeit Wasser oder Traubenzuckerglobuli mit natürlichen Substanzen (Elemente und Stoffe wie Sulfur, Quecksilber, Kohlenstoff, Eisen, Kochsalz oder auch Arsen), pflanzlichen und tierischen Essenzen (Schlangen-/Insektengift) versetzt und durch Schütteln und Verdünnen (Potenzierung) “energetisiert”.
Es war aber jedem halbwegs Reichverständigen klar, dass seine Vorrichtung nichts Anderes als ein für seine Zwecke modifizierter Orgonakkumulator (PENAC) sein konnte, eine Art „Energie-Kopierstation“. Plocher erzielte mit seinem Verfahren in der Landwirtschaft, im Haushalt (Wasserkreislauf), in Kläranlagen (Gülle) und in stehenden Gewässern (Schwimmbecken, Badeseen) von trüb auf klar, von verschmutzt auf sauber, erstaunliche Reinigungs- und Verbesserungseffekte sogar bei extremen Verschmutzungszuständen.
Der Grundschlamm eines stark mit Algen und organischen Ablagerungen belasteten Badesees in Traun (Österreich) veränderte sich in der Färbung von schwarz auf Grauton, im Geruch von faulig stinkend auf neutral. Pflanzen gedeihten kräftiger und gesünder, wenn die Erde mit Plochermehl angereichert wurde. Kühe weiden dort lieber, wo auf Wiesen Plochergülle ausgebracht wurde (s. Literatur; www.plocher.de). Das Beispiel zeigt, wie weit gesteckt und alltagstauglich eine rationale, durch Erfahrung geleitete technische Anwendung Reichscher Erkenntnisse und Methoden sein kann.
Das Spätwerk – Ausblick. Leider wurden die fortlaufenden Ausgaben der emotion mit den Jahren seltener (letzte Ausgabe ist die Nr. 17/2007 mit sexualökonomischem Schwerpunkt zur Selbstregulation), während zugleich die Anzahl interessanter deutscher Literatur zur Orgonenergie auch in praktischer Hinsicht zahlreicher geworden ist.
Aus den einstigen experimentellen, orgonenergetischen Ansätzen wurde bis heute eine erprobte medizinische Orgonomie, die von den damit arbeitenden Ärzten nachvollziehbar systematisch beschrieben ist (siehe etwa Heike Buhl: Lebensenergie-Medizin. Eine Einführung in die Praxis. Berlin 2000; ferner Kavouras, Lassek; s. Literatur). Eine ebenfalls große Leistung stellen die zwischen 1995 und 1997 in enger Kooperation mit der WRG erstellten sechs Bände zum Spätwerk Reichs (Späte Schriften) im Zweitausendeins Verlag dar.
Darunter befinden sich die Bionexperimente, die Reich in den späteren 1930er Jahren im skandinavischen Exil zur Entdeckung der biologischen Lebensenergie führten (während Otto Hahn und seine Mitarbeiter etwa zur selben Zeit mit der Urankernspaltung experimentierten) sowie die beiden Report-Bände zur verheerenden Energiewechselwirkung mit Radioaktivität ORANUR I (Orgone Energy Anti Nuclear Radiation) und zu Wetter-, kosmischen und UFO-Phänomenen ORANUR II in der ersten Hälfte der 1950er Jahre und vermächtnisreich Der Christusmord. Alle sechs Bücher werden in kürzeren Begleitbroschüren (Lesehilfen) von verschiedenen Autoren ausführlich fachlich kommentiert und erläutert. Derzeit ist diese Edition leider vergriffen, z.T. nur antiquarisch erhältlich.
Für Herbst 2013 wurde in einem Ousia-Lesekreis-Verlag ein kompletter Reprint der 15 Hefte der Reichschen Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (Organ der Sexpol) in drei Bänden im Schuber zur Subskription angekündigt; bislang blieb sie aber leider unrealisiert (www.ousia-verlag.de). Der Wilhelm Reich Infant Trust Fund veranstaltete im Juli 2017 in Orgonon das Seminar „The Voice of Wilhelm Reich“ mit Vorführung und Diskussion einer Reihe von Konferenz-Filmen, in denen Reich auftritt und zu bestimmten Themen – darunter auch „Reich Speeks of Freud“ -, spricht (www.wilhelmreichtrust.org).
Ein Teil der wissenschaftlichen Arbeit zu Wilhelm Reich hierzulande bezieht sich im Kontext der WRG auf therapeutische und prä- und postnatale Anwendung (vgl. James DeMeo/Bernd Senf, Hg.: Nach Reich. Neue Forschungen zur Orgonomie. Sexualökonomie. Die Entdeckung der Orgonenergie. Frankfurt/M. 1997).
Ein Gebiet, auf dem die Ärztin Eva Reich als Pionierin ganz im Sinne des Vermächtnisses ihres Vaters für die “Kinder der Zukunft” lange tätig war. Der Bezug dessen, womit sich die WRG aktuell zum Reichschen Werk beschäftigt ist für mich nicht immer und ohne weiteres nachvollziehbar. Neue Bezeichnungen halten Einzug, die bei Reich unbekannt sind. Walter Hoppe nannte das “Cocktail”, d.h., das Reichsche wird mit anderen Inhalten vermischt.
Auch im letzten Jahr gab es im Mai wieder die Jahrestagung der WRG in Berlin mit interessanten Vorträgen und Arbeitsgruppen zum Thema “Reich und lebendig“. Die wichtige Konferenz 2013 wurde bisher noch nicht in der emotion dokumentiert. Nach nunmehr zehn Jahren des Nichterscheinens, muss man sie als eingestellt betrachten. Das Argument, die Bedeutung eines Printmediums hätte in Zeiten des online-newsletters, neuer Medien, diverser Infopools und kommunizierender sozialer Netzwerke (Facebook, Twitter) nachgelassen, kann nicht recht greifen.
Denn mit einem periodischen Organ als Fokus könnte genau der damit verbundenen informellen Auf- und Zersplitterung entgegengewirkt werden. Eine mögliche Alternative wäre vielleicht ein regelmäßiges emotion-Jahrbuch (man sollte einen so passenden Titel nicht aufgeben) mit Beiträgen der Jahreskonferenz und weiteren Artikeln. Als Publikationsprojekt wäre zudem ein Wilhelm-Reich-Lexikon hilfreich mit kompetenten lexikalischen Stichwörtern zu Grundbegriffen und Personen von A wie Arbeitsdemokratie über K wie Körpertherapie bis Z wie Zwangsmoral.
Es ist klar, dass dies nur Vorschläge und Wünsche sein können. Die Menschen in der WRG und anderen Reich-Initiativen bringen ihre Mitarbeit nebenberuflich und ehrenamtlich ein und tragen die Kosten selbst. Wer sich intensiv mit Wilhelm Reich befasst, macht sich dies ohnehin zur Lebensaufgabe. Einen spezifischen deutschen Reich-Verlag, der auch wichtige Übersetzungen von ausländischen (zumeist englischen) Neuerscheinungen relativ zügig besorgen würde, gibt es bis heute nicht. Ansätze dazu boten sich zeitweilig mit dem Berliner Leutner Verlag.
Mitunter muss man lange warten, bis es neue Titel auf Deutsch gibt, siehe etwa bei den Letters & Journals. Dieser abrissartige Rückblick kann nur ein vorläufiger Arbeitstext sein. Es wäre zu begrüßen, wenn die Geschichte der deutschen Forschungsarbeit zu Wilhelm Reich und ihrer wichtigen Repräsentanten seit dem Wiedererstarken des Interesses an Reich in den 1960er Jahren bald einmal Eingang in einen Sammelband finden würde, der diese Arbeit und ihre Stationen in Beiträgen verschiedener beteiligter AutorInnen ausführlich dokumentiert und darstellt. Bevor die Zeit vollends darüber hinweggeht und es zu einer Aufgabe der „Archäologie des Wissens“ wird.
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Literatur/Quellen/Kontakte (Auswahl):
David Boadella: Wilhelm Reich. Pionier des neuen Denkens. Eine Biographie. Darmstadt 2008
Heike Buhl/Jürgen Fischer: Energie! Heilung und Selbstheilung mit Lebensenergie. Orgon in der medizinischen Praxis und zu Hause. Ein Kompendium. Berlin 2007; www.orgon.de
Jürgen Fischer: Orgon und Dor. Die Lebensenergie und ihre Gefährdung. Texte zu Wilhelm Reich und zur Orgonomie (enth. u. a. Eva Reich: Meine Erinnerung an W.R.; S. 130-154) Berlin 1995
Ders.: Der Engel-Energie-Akkumulator nach Wilhelm Reich: Mediale Gespräche mit dem Entdecker der Orgonenergie. Düsseldorf 1997
Ders.: “Der Fall Wilhelm Reich” – der missglückte Versuch, Wilhelm Reich gerecht zu werden (Filmbesprechung) www.orgon.de > Aktuelle Texte
Manfred Fuckert: Lebenskraft und Krankheitsdynamik. Wilhelm Reichs Beitrag zum Verständnis der chronisch-miasmatischen Krankheiten in der Homöopathie. Barsinghausen 2011
Ingo Diedrich: Naturnah forschen. Wilhelm Reichs Methode des lebendigen Erkennens. Berlin 2000
Dieter Duhm: Aufbruch zur neuen Kultur. Von der Verweigerung zur Neugestaltung. Umrisse einer ökologischen und menschlichen Perspektive. Belzig 1993
Ders.: Zukunft ohne Krieg. Theorie der globalen Heilung. Wiesenburg 2006 (www.verlag-meiga.org)
Ders.: Terra Nova: Globale Revolution und Heilung der Liebe. Belzig 2017 (Neuaufl.)
Karl Fallend/Bernd Nitzschke (Hg.): Der “Fall” Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt 1997
Jürgen F. Freihold (d. i. Jürgen Fischer): Der Orgonakkumulator nach Wilhelm Reich. Berlin o. J.
Walter Hoppe: Wilhelm Reich und andere große Männer der Wissenschaft im Kampf mit dem Irrationalismus. München 1984 (Kurt Nane Jürgensen Verlag)
“In die Richtung gehen, an die man glaubt”. ZEGG/Tamera – 25 Jahre weltweit vernetztes spirituell-ökologisches Gemeinschaftsprojekt. Projektporträt von Elmar Klink, 9.1.2016 (unveröffentl. Manuskript)
Jorgos Kavouras: Heilen mit Orgonenergie. Die medizinische Orgonomie. Bietigheim 2005
Lassek, Heiko: Orgontherapie – Heilen mit der reinen Lebensenergie. Ein Handbuch der Energiemedizin. München – Wien 1997 (2. Auflage 2005 bei U. Leutner, Berlin unter dem Titel: Orgontherapie. Ein Handbuch der Lebensenergie-Medizin).
Digne Meller Marcovicz: Viva, kleiner Mann. Über Wilhelm Reich. Das Buch zum Film (1985)
Mulisch, Harry: Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich. Reinbek b. Hamburg 1999
Ernstfried Prade: Das Plocher-Energie-System. Anstöße zum Umdenken (Bio Energetik Verlag). Kinsau 1995
Ola Raknes: Wilhelm Reich und die Orgonomie. Frankfurt/M. 1973. (enth. die damals vollständigste Bibliographie von Reich-Schriften)
Eva Reich/Eszter Zornànszky: Lebensenergie durch sanfte Bioenergetik. München 1997
Wilhelm Reich: Ausgewählte Schriften. Eine Einführung in die Orgonomie. Vorwort v. Mary Higgins, Treuhänder. Köln 1976
Ders.: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934-1939. Hrsg. u. m. e. Einführung von Mary Boyd Higgins. Köln 1997 (Über die wichtigen Jahre im skandinavischen Exil und die Bionexperimente)
Ders.: American Odyssee. Letters & Journals 1940-1947. Edited by Mary Boyd Higgins. Farrar, Straus & Giroux, NY 1999
Ders.: Where’s The Truth? Letters & Journals 1948-1957. Edited by Mary Boyd Higgins. Farrar, Straus & Giroux, NY 2012
Wolfgang Schiesches: Anbruch der Freiheit (Klartext Verlag) 1975
James E. Strick: Wilhelm Reich, Biologist. Harvard University Press (2015)
“Teure Tüten”. Bericht über Roland Plochers Energie-Arbeit in: DER SPIEGEL 21/1995
Wilhelm-Reich-Gesellschaft Berlin. Aperiod. newsletter online. www.wilhelm-reich-gesellschaft-deutschland.de
wilhelm-reich-blätter; www.lsr-projekt.de
www.wilhelmreich.at (Wilhelm Reich Institut Wien – Zeitschrift „Bukumatula“ seit 1988)
www.wilhelmreichtrust.org (US-amerikanische Website incl. WR-Museum)
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© Elmar Klink, Bremen; November 2017
Kontakt: Elmar.Klink@gmx.de
Zum Verfasser:
Jg. 1953; freier Autor; um 1969 erste Beschäftigung mit der Psychoanalyse Freuds und Gruppendynamik; Lektüre von H.-E. Richters Buch Die Gruppe; Beschäftigung mit Alice Miller, Ronald D. Laing, Anti-Psychiatrie und dem englischen Reformpädagogen A. S. Neill; 1977-1983. Studium der Sozialarbeit und Sozialwissenschaften in Bremen; 1982 Kontaktaufnahme zum Kulturprojekt Bauhütte; 1991-2008 Berufstätigkeit in Beratungs- und Öffentlichkeitsarbeit; 1993 Halbjahres-Studium generale im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG); seit 1993 Beschäftigung mit Tiefenökologie und Geomantie; Mitarbeit bei politischen Zeitschriften; zahlreiche Aufsätze, Kurzessays, Buch- und Filmbesprechungen; Beschäftigung mit Person und Werk Wilhelm Reichs seit etwa 1970.