1 Jun
Bukumatula 1/1995
Bemerkungen über Körperarbeit und „Streaming Theater“
Al Bauman
Übersetzung Brigitta Bolen, Wolfram Ratz und Andrea Schlegelhofer:
Es war 1952 oder 1953. Ich saß mit Reich auf einem Balkon in Orgonon, als er mich mit einer Frage überraschte. „Glaubst du, daß ich irgendetwas getan habe?“ Und er fuhr fort, während er auf die Hügel am Horizont deutete: „Nein, ich habe die Fähigkeit zu wissen, was auf dem Gipfel dieses Hügels dort drüben ist. Etwas tun bedeutet jedoch, diesen Hang hinunterzugehen, das Tal zu durchqueren und den Gipfel des Hügels drüben zu besteigen.“
Sobald die Panzerung sich gelöst hat, besteht die Möglichkeit, den Charakter zu ändern.
Reich hat geschrieben, daß der Charakter sich in Form von Strategien und Gewohnheiten entwickelt, die Kinder anwenden, um sich vor ihren besten Instinkten zu schützen. Von den vielen Kindern, die ruhig gehalten werden – „Kinder soll man sehen, aber nicht hören“ – bleiben manche stumm, manche schreien, manche singen, andere wiederum sprechen nur, nachdem sie ihre Umgebung mißtrauisch gemustert haben, manche setzen tuschelnd Tratschgeschichten in die Welt etc.
Panzerung hat viele Ausdrucksformen. Ihre Strategien beginnen automatisch abzulaufen, und es gibt Entsprechungen in allen Teilen des Körpers.
Wenn nun die Panzerung sich löst, nachdem die Gefühle, die gegen die Panzerung gerichtet sind – Wut etwa – ausgedrückt worden sind, ist es notwendig, die darauf folgende Bewegung der freiwerdenden Energie im Körper – das Strömen – wahrzunehmen und zu fühlen.
Simeon Tropp wollte während meiner therapeutischen Sitzungen bei ihm immer, ich solle ihm über neue Empfindungen, bewußte Wahrnehmungen und Verhaltensweisen aus der Zeit zwischen den Sitzungen berichten.
Während einer kurzen Periode von einer Woche brachte ich meine Strömungsgefühle zeichnerisch zu Papier. Als ich diese etwa 50 Zeichnungen Simeon zeigte, fragte er mich, ob ich jemals Anatomie studiert hätte.
Keine Bewegung ohne emotionalen Ausdruck
Er meinte, daß bestimmte Feinheiten der Anordnung und der Beziehung von Knochen zueinander nur durch ein solches Studium erlernt werden könnten. Ich hatte natürlich nicht Anatomie studiert.
Physische Bewegung kann von jedem Teil des Körpers ausgehen. Man kann den Körper zum Beispiel beim Gehen von den Knien, von der Stirn, von den Augen, vom Becken, vom Brustkorb, von den Händen usw. aus leiten lassen.
Ich habe für diese Punkte den Ausdruck „pivot points“ – Angelpunkte -gewählt. Das sind Punkte, um welche der Körper sich dreht, das Gleichgewicht verlagert, und, unterstützt durch vollständige Atmung, die spezielle Bewegungsenergie – das „Momentum“ erzeugt.
Wenn ein Athlet oder Tänzer sich ständig um seine pivot points bewegt und es dem ganzen Körper erlaubt, diese Bewegung anzunehmen, so wird das als „being in the zone“ bezeichnet.
Es gibt keine Bewegung, die nicht gleichzeitig emotionalen Ausdruck zeigt. Und es gibt keinen Katalog mechanistischer Entsprechungen von Bewegungen, die von einzelnen Körperteilen ausgehen und von bestimmten Gefühlen. Wenn der Brustkorb die Bewegung führt, kann einmal Arroganz vorherrschen, dann wieder Sehnsucht, wieder ein anders Mal Traurigkeit usw.
Die Möglichkeit, einen neuen Charakter zu entwickeln wird genährt
durch das Erlebnis und das Annehmen der Funktionsweise des
gesamten Körpers, um die Automatismen durch bewusste Wahrnehmung und im Einklang mit der Atmung und den Körperempfindungen zu ersetzen.
Dabei können zahllose Zusammenhänge und Folgen beobachtet werden. Einer der bemerkenswertesten Aspekte bei der Entwicklung eines neuen Charakters durch Konzentration und Übung ist die Erfahrung, daß Sprache und Ausdruck von der Biologie ausgehen, von inneren Quellen über die Muskulatur usw. in den Ausdruck gelangen.
Dieser Entdeckung, die neue Wege in der Arbeit an der menschlichen Gesundheit, in der Kunst und für Änderungen in unserer Umwelt eröffnet, habe ich den Namen „Streaming Theater“ – Strömendes Theater – gegeben.
Egal in welcher Disziplin – ein Therapeut/Begleiter kann einen Klienten nicht dazu bewegen, sich weiter als an die Grenzen des Therapeuten/der Therapeutin selbst heranzuwagen. Er könnte ihn ja dann dorthin auch nicht mehr begleiten. Das ist besonders wichtig bei der Lösung der Beckenpanzerung und dem Entstehen des vollen Orgasmusreflexes, verbunden mit der Hingabe an ein vollständiges Strömungsempfinden. Gerade in dieser Situation ist es für Therapeuten unumgänglich, über ihre eigenen Grenzen Bescheid zu wissen und im Umgang mit dem Klienten kein durch Panzerung hervorgerufenes Verhalten einzusetzen.
Vor allem dann, wenn ein Teil des Oberkörpers von der Panzerung befreit wurde, besteht ein starker Drang nach Erfüllung. Angst und Schmerz können sich dann zur Struktur verhärten, wenn die Orgasmusangst und die Lösung der Beckenpanzerung vermieden werden.
Unter den sogenannten Professionals können diejenigen, die es sich so eingerichtet haben, daß sie, ohne vollständige Strömungserfahrungen zu machen und mit der Frustration, die mit der Beckenpanzerung verbunden ist, leben, mächtige Triebkräfte der „Emotionalen Pest werden.- Die häufigsten Symptome, abgesehen von Tratsch und Sticheleien, sind:
Ein anderes Symptom, das einer Stellungnahme bedarf, hat mit „Spiritualität“ zu tun. Genauer gesagt meine ich damit bestimmte Praktiken, die ihren Ursprung im Osten haben und in deren Mittelpunkt ein Guru steht, seine Person, seine Worte und seine Anweisungen.
Das Überschreiten gedanklich konstruierter Grenzen
Für mich gilt hier Reichs Konzept der „Counter Truth“ – Gegen-Wahrheit, die nichts Falsches zeigt, sondern für Handlungen und Konsequenzen im Rahmen von gepanzertem Leben wahr ist.
Ich fühle zum Beispiel immer eine Art von Dankbarkeit, wenn ich Menschen in die etablierten Kirchen gehen sehe; vielleicht verringert das ihre Neigung zu Gewalttätigkeit.
Beim ‚Therapeuten/Begleiter scheint das Einschlagen des „spirituellen Weges“ die Unfähigkeit zu zeigen, sein/ihr sich ausdehnendes Energiefeld zu benützen, um die gedanklich vorgefaßten Grenzen zu überschreiten.
Das Erlebnis von ungepanzertem Strömungskontakt im Universum öffnet die Möglichkeit der Identifikation mit der kosmischen Energie und nährt die eigene Ganzheit und Lebensfreude.
Unsere immerwährende Herausforderung:
Uns mit offenem Herzen bewegen und gleichzeitig
der Realität lebendig begegnen.
„To move with open heart“ erschien im Oktober 1993 in SKANReader Nr. I. Die Übersetzung ins Deutsche besorgten für BUKUMATULA Brigitta Bolen, Wolfram Ratz und Andrea Schlegelhofer.