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Bukumatula 2/2007

Wie weit hat W. Reich Marx verstanden?

Fritz Erik Hoevels:

Das Werk von Marx (und des im allgemeinen Bewußtsein viel zu sehr in dessen Schatten stehenden Engels, ähnlich wie Tinbergen viel zu wenig neben Lorenz gewürdigt wird) ist umfangreicher, heterogener und voraussetzungsvoller als dasjenige Freuds.

Während die Psychoanalyse ihren experimentellen Hauptgegenstand sozusagen überall zur Verfügung hat (nämlich das eigene Subjekt, das es mit einer besonderen, grundsätzlich einfachen Methode zu objektivieren gilt), ist der Gegenstand der Ökoanalyse, wie wir die Lehre von Marx und Engels nennen sollten, weil sie den Ausdruck »Marxismus« nicht mochten, der direkten, gar experimentellen Beobachtung nicht zugänglich, sondern erschließt sich nur durch die Bearbeitung einer erheblichen externen Datenmenge; diese Marx/Engels’sche Ökoanalyse erfordert also neben der Kenntnis ökonomischer Daten und Abläufe vor allem ein erhebliches historisches Wissen, ohne welches sie so wenig überprüfbar und anschaulich bzw. persönlich einleuchtend sein kann wie die Lehre von der Artentstehung bzw. Organismenevolution ohne erhebliche positive Kenntnisse in Spezieller Biologie und verwandten Disziplinen, oder die Psychoanalyse ohne Verarbeitung eines satten Quantums eigener und zur Kontrolle auch fremder freier Assoziationen und damit exemplarischer objektiver Individualgeschichte und deren subjektiver Besetzung.

Während Reich letzteres zweifellos so gründlich und engagiert geleistet hat wie jeder ernstzunehmende Vertreter der Psychoanalyse, brachte er zu ersterem aus seiner persönlichen Vergangenheit weder nennenswerte Voraussetzungen mit, noch hatte er später genügend Zeit, sie sich anzueignen; die etwa zwei Jahre (1927–1929), die er dafür angibt und nach welchen wir ihn auch als bekennenden Marxisten erleben, reichen dafür einfach nicht aus, auch nicht für ein »Genie«.

Wie fast alle Menschen, bei denen dies eintritt, lernte Reich die Lehre von Marx und Engels durch politische Aktivisten (oder Sympathisanten von deren Politik) kennen, welche behaupteten, diese Lehre ihrer Aktivität zugrundezulegen; das ist nahezu unvermeidlich, denn die staatlich unterhaltene Wissenschaft wollte damals wie zuvor und bis heute von der Ökoanalyse freiwillig nichts wissen, und man lernte sie daher von ihr entweder gar nicht oder nur in polemischer Brechung kennen. Wenn aber ein System sachlicher Behauptungen – und keine Wissenschaft kann etwas anderes sein – nur oder hauptsächlich über eine um den Sieg kämpfende und zugleich von Verfolgung bedrohte Partei wahrgenommen werden kann, bevor man sich – wenn es überhaupt noch dazu kommt – mit den Originalen beschäftigt, so kann es leicht sein, daß diese von vornherein mit normativen Ansätzen belastet sind und diese dadurch – verhängnisvollerweise, wird man sagen dürfen – als deren Bestandteilaufgefaßt werden und dadurch Parteinahme und Aussagenüberprüfung vermengen.

Wir wissen spätestens aus Reichs frühen Tagebüchern, daß er den »Marxismus« nicht nur von vornherein mit dieser Belastung kennenlernte, sondern daß diese auch noch dadurch erschwert wurde, daß mindestens ein redegewandtes Individuum, das sich zum Wortführer der Marx/Engels’schen Positionen aufschwang und von seinen Zuhörern einschließlich Reich zunächst auch so empfunden werden mußte, der spätere Springer-Kolumnist (d.h. Pro-US-Propagandist) William Schlamm, diese Verquickung ausgerechnet mit solchen moralischen Positionen vornahm, die denjenigen von Marx und Engels ganz zuwiderliefen und stattdessen am ehesten denjenigen des Faschismus entsprachen (also Mussolinis und Hitlers sowie deren ideologischen Vorläufern).

Reich brauchte eine gewisse Zeit, um diese Entstellung zu durchschauen, und die Heftigkeit seiner Betonung des Individuums als letzten moralischen Bezugspunkt, wie ihn Schlamm und gewiß nicht wenige seiner damaligen, irregeleiteten Gesinnungsgenossen im Gegensatz zu Marx und Engels offen geleugnet hatte, mag hier ihre unmittelbare Wurzel haben.[1]

Nun mag es mancher ungerecht finden, die Vermengung des wertenden und des sachlichen Aspekts nur bei den erklärten Anhängern von Marx und Engels getadelt zu finden, unabhängig davon, wie die Wertung erfolgt, da ja auch das berühmte Duo in dieser Hinsicht keine Zweifel offen läßt – die Emanzipation des Individuums, die volle Entfaltung seines humanen Potentials läßt sie die von ihnen beschriebenen oder behaupteten Zusammenhänge immer wieder gemäß dieser Zielsetzung bewerten, unabhängig davon, daß sie diese Emanzipation in nennenswertem Ausmaß und in leidlicher Stabilität nur auf gesellschaftlicher und daher kollektiver Grundlage für möglich hielten.

Freilich unterscheidet diese stattgehabte Wertung bzw. permanente Wertungsmöglichkeit die Ökoanalyse grundsätzlich von keiner anderen angewandten oder anwendbaren Wissenschaft wie z.B. der Medizin: daß Tausende von Frauen aus Bequemlichkeit und, wie heute manches ähnliche in unseren Kliniken unter dem Vorwand der »Müllvermeidung«, Kostenersparnis qualvoll zu Tode gebracht wurden, machte Semmelweis im buchstäblichen Sinne längst nicht so verrückt wie die in diesem Zusammenhang entstandene und festgehaltene Leugnung der von ihm entdeckten Infektionswege durch die ärztliche Sanitätsbürokratie. Daß man Patienten nicht aus Kostengründen und Liebe zur bequemen Gewohnheit Qual und Tod ausliefern soll, ist eine moralische Forderung und keine wissenschaftliche Aussage; bringen wir jedoch eine neugewonnene wissenschaftliche Aussage, z.B. über die Folgen gewisser sparsamer bzw. »umweltfreundlicher« Klinikhygiene, mit jener aus den menschlichen Wünschen abgeleiteten moralischen Forderung zusammen, so ergibt sich daraus eine zwingende Handlungsanweisung.

Dennoch hat diese Moral oder irgendeine andere dabei niemals einen Bestandteil der Medizin bzw. Wissenschaft überhaupt gebildet, so wenig wie die für Marx und Engels typische Forderung nach allseitiger menschlicher Emanzipation einen solchen ihrer Ökoanalyse.

Es ist leicht zu erkennen, daß ein solcher Einbau moralischer und daher subjektiver Postulate in den »Marxismus«, egal mit welch fanatischem Bekenntnis zu diesem er vorgetragen werden mag, oder in die Psychoanalyse, die Medizin oder irgendeine sonstige Wissenschaft, dieser jede Seriosität raubt und daher gründlicher als alles denkbare andere schadet; sowünschen sich eine Lehre immer nur deren Feinde.

Daß aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann (d.h., daß daraus, daß etwas so ist, z.B. die Menschen sterblich oder die Primatenfortpflanzung sexuell, keineswegs abzuleiten ist, daß es auch so sein soll) hat Reich zwar aus anderen Gründen heraus immer wieder betont, jenen nämlich, die Marx das Wort »Fetischisierung« prägen ließen, aber es paßt auch zu unserem Zusammenhang: jede Wissenschaft erschließt uns – bei erfolgreicher Forschung – nur das Sein, egal welchen Gegenstandes, das Sollen aber ist letztlich nur aus unseren Wünschen ableitbar, ob das dem Gepfaff und seinen säkularen Nachgeburten nun paßt oder nicht (diese Erkenntnis stammt in ihrer klassischen Form übrigens von Hume, nicht von Max Weber, dem sie gerne zugeschrieben wird, auch von ihm selbst, der sie allerdings in ihrer Anwendung parteilich verzerrt, Hume nicht).

So weit dürfte Reichs Position mit derjenigen von Marx und Engels zusammenfallen und ihn entsprechend von jeder Art Gepfaff abgrenzen; aber so grundlegend diese Voraussetzung der Wissenschaft ist, so pauschal ist sie auch. Die Erkenntnistheorie bannt wohl viele Irrtümer, bewirkt aber noch keine Erkenntnis; die Festlegung der Rahmenbedingungen für Wissenschaft steht noch vor der Ausübung derselben.

Hat also Reich die Ökoanalyse von Marx und Engels vollständig verstanden – oder nicht? Diese Frage ist davon zu trennen, wie weit seine Versuche, sie anzuwenden, im Einzelfall zu treffenden oder zu fehlerhaften Resultaten geführt haben; denn daß etwa seine Rekonstruktion, wie das Inzesttabu entstanden sein soll, am Ende seines Trobrianderbuchs gründlich mißglückt ist, wird wohl niemand bestreiten – diese entgleiste prähistorische Phantasie liest sich wie eine Engelsparodie und liegt in ihrem Wahrheitsgehalt weit unter Freuds analogem »wissenschaftlichen Mythos« vom Urvatermord, der als häufiges Phänomen in der menschlichen Frühgeschichte, natürlich jenseits von allem lamarckistischen Gallimatias, von der neueren Primatologie/Anthropologie viele Stützen erhält (die Sprache dürfte zwecks Festigung vorzugsweise männlicher Dyaden entstanden sein, die damit unvergleichlich effektiver in den Rangkämpfen mitmischen und sich außerdem erstmals zu Triaden etc. erweitern lassen; damit wird die Alphastellung in der Horde für deren Inhaber prekärer, bis einer derselben schließlich auch das Mittel beherrscht und so zu einer Art Leibwache kommt).

Aber Reichs anthropologischer Unfug wirkt nicht wie ein Mißverständnis der ökoanalytischen Klassentheorie der gesellschaftlichen Einrichtungen und deren standardisierten Rationalisierungen (»Ideologien«); Reichs Fehler besteht vielmehr darin, daß er seine theoretisch benötigten Gesellschaftsklassen aus grauer Vorzeit allzu abenteuerlich und empirielos zusammenphantasiert, und wohl auch aus diesem Grund, d.h. weil er es selber merkte, ist er später nie wieder auf diese seine unglückliche prähistorische Theorie zurückgekommen.

Dagegen hat er ansonsten, d.h. bezüglich der unmittelbar beobachtbaren Phänomene seiner Zeit, die Klassengrundlage der Ideologien, Gesetze und politischen Einstellungen sogar meisterhaft erkannt und auch im Detail und selbständig nachgewiesen, wie seine »Massenpsychologie des Faschismus« beweist; seine Analyse der drei Schwerpunkte der Klassengrundlagen des Faschismus (bäuerliche und kleinbürgerliche Familienbetriebe sowie das wachsende Heer der Staatsangestellten und ökonomisch-juristisch ähnlicher Formationen) hebt sich, besonders durch seine originelle und erhellende, ohne die Psychoanalyse in ihrer Bedeutung nicht angemessen durchführbare Analyse der jeweils spezifischen Familienstruktur, nicht nur sehr vorteilhaft von den thematisch zugehörigen Äußerungen anderer Freudschüler (und Freuds äußerst kargen und beiläufigen eigenen), sondern auch der erdrückenden Masse aller heutigen egal welcher Provenienz ab, was freilich aus politischen Gründen kein Wunder ist.

Aber wenn Reich auch Marx’/Engels’ Klassentheorie der Ideologie, vielleicht sogar die umfassende Basis-Überbau-Theorie richtig erfaßt hat, was wiederum der KPD, die sich von ihr zugunsten Stalins entfernte, gar nicht paßte (da sie sie andernfalls auch auf die Sowjetunion hätte anwenden müssen, wie das vor allem Trotzki in seiner »Verratenen Revolution« so einleuchtend vorgeführt hat), so erlag er doch bei dem Herzstück der Ökoanalyse, nämlich der Werttheorie, seinem Hang zu vitalistischer Mystik. »Gesetzt, ein solcher ostasiatischer Brotschneider [d.h. ein Malaie, der seinen Nahrungsbedarf von wilden Sagopalmen decken kann]brauche 12 Arbeitsstunden zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse.

Was ihm die Gunst der Natur unmittelbar gibt, ist viel Mußezeit. Damit er diese für sich selbst verwende, ist eine ganze Reihe geschichtlicher Umstände, damit er sie als Mehrarbeit für fremde Personen verausgabe, ist äußerer Zwang erheischt. Würde kapitalistische Produktion eingeführt, so müßte der Brave vielleicht 6 Tage in der Woche arbeiten, um sich selbst das Produkt eines Arbeitstags anzueignen. Die Gunst der Natur erklärt nicht, warum er jetzt 6 Tage in der Woche arbeitet oder warum er 5 Tage Mehrarbeit liefert. Sie erklärt nur, warum seine notwendige Arbeitszeit auf einen Tag in der Woche beschränkt ist. In keinem Fall aber entspränge sein Mehrprodukt aus einer der menschlichen Arbeit angebornen okkulten Qualität.«[2]

Genau eine solche okkulte Qualität schreibt Reich ihr aber in seiner Selbstdarstellung »Menschen im Staat« zu, wo wir die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit Marx kennenlernen: »Der Tauschwert und der Gebrauchswert einer toten Ware sind identisch. (…) Dagegen verhält sich die einzige lebendige Ware, die ›Ware Arbeitskraft‹, anders, gerade weil sie lebende Kraft ist. Bei ihr sind Tauschwert und Gebrauchswert nicht identisch. Bei ihr ist der Gebrauchswert weit höher als der Tauschwert« (p. 47 der Nexus-Ausgabe).

Das ist er nun so wenig wie die Arbeitskraft die einzige lebende Ware (welch letzteres schon jeder Viehtransport zeigt, auch jeder Hefewürfel im Supermarkt); da der Gebrauchswert niemals in der Art des Tauschwerts quantifizierbar ist (es läßt sich kein gemeinsames Maßfür den Gebrauchswert verschiedenartiger Güter konstruieren), kann er auch nicht höher als irgendein anderer Wert sein. Was Reich meint, ist, daß die durch die Nutzung (den Gebrauch) der Arbeitskraft durch ihren Käufer erzeugten Gegenstände mehr wert sind als die Arbeitskraft selbst, da der Wert beider in den zu ihrer Erzeugung nötigen Arbeitsstunden liegt.

Genau dieser Wert erzeugt ihren Preis auf dem Markt, wenn Angebot und Nachfrage ausgeglichen sind; für den Preisausgleich bei der Ware Arbeitskraft sorgen die Streikbrecher aus der »industriellen Reservearmee«, heute vor allem die sogenannten Ausländer, d.h. die zuströmenden Bürger jener und nur jener Staaten, in denen entweder keine Arbeiterbewegung eine Wertsteigerung der Arbeitskraft (i.S. von MEW XVI 148; s.a. MEW XXIII 185) hatte bewirken können oder aber in denen militärischer Druck überlegener Feinde das allgemeine Lebensniveau niedrig gehalten hatte.

Nun wollen wir nicht so beckmesserisch sein; Reich »meint« ja etwas Richtiges, auch wenn er mit Marx’ Terminologie nicht ganz zurechtkommt. (Unglücklich ist auch, daß er dessen Originalität an der falschen Stelle würdigt [siehe p. 45]; die Wertlehre, die Marx verwendet, geht bekanntlich – und auch bei Marx zu lesen – auf Ricardo und Adam Smith und nicht ihn selbst zurück. Erst als Marx sie mit allen Konsequenzen auch auf den »Arbeitsmarkt« anwendete, ließ die bürgerliche Ökonomie sie wie eine heiße Kartoffel fallen und regredierte auf den von Reich ihrer vormarx’schen Epoche zugeschriebenen Unverstand, den sie seither immer verzwickter mathematisiert, aber unwandelbar beibehält, und so muß sie sowohl Reich wie uns auch in Schule und Literatur begegnet sein.) Was aber sollen wir von Sätzen wie diesem halten? –: »Bei Marx ruht die gesamte sozialökonomische Konzeption auf dem lebendigen Wesen der menschlichen Arbeit. Arbeit ist eine grundsätzliche biologische Tätigkeit, die schon primitiven Lebewesen eigen ist.

Der Mensch unterscheidet sich in seinen Arbeitsfunktionen von anderen niederen Tieren nicht durch die Tatsache, daß er arbeitet; das tun alle Lebewesen, sonst könnten sie nicht existieren« (p. 61; die »Erfindung von Werkzeugen« soll dagegen das spezifisch menschliche an der Arbeit sein). Müssen wir Reich hier noch einmal durch Marx’ Gleichnis von der »besten Biene und dem schlechtesten Architekten« korrigieren (MEW XXIII 193), mit dem Marx auf die Zielvorstellung als dem Wesen menschlicher Arbeit hinweist?!

Gewiß haben Schimpansen manchmal auch schon eine, das zeigten Köhlers Experimente auf Teneriffa, und von Goodall wissen wir inzwischen, daß sie auch sehr rohe Werkzeuge herstellen, aber sie halten nicht lange durch, und gerade dieses Ertragen einer Mühe– nichts anderes, außer »Unannehmlichkeit« im weitesten Sinne, ist die ursprüngliche Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes – um eines Zieles willen heißt Arbeit (labor, work) im Neuhochdeutschen, und in diesem Sinne tritt sie nur beim Menschen auf, ist also, seit es nur noch eine Menschenspezies gibt, spezifisch menschlich.

Reich dagegen will sie, genau wie die tatsächlich schon vor der Vielzelligkeit (»crossing over«), aber lange nach den ersten Lebewesen, entstandene Sexualität, noch auf der gleichen Seite seines Buches zu einer von zwei »objektiven Grundfunktionen des Lebendigen« machen; das hat weder mit Marx noch der Biologie etwas zu tun – Stoffwechsel, die wirkliche Grundfunktion des Lebendigen, ist keine Arbeit – wohl aber mit Mystik.[3] Offensichtlich ist Reich, dessen vitalistische Tendenz hier die nötige Nüchternheit stört, auf das von Marx und Engels so oft verwendete Stichwort von der »lebendigen Arbeit« vs.der »toten Arbeit« »angesprungen«.

Dabei ist der metaphorische Charakter dieser Ausdrucksweise äußerst einfach zu erfassen: so wie das Leben keine Substanz, sondern ein Prozeß ist – nämlich die Aufrechterhaltung einer Homöostase mit chemischen Mitteln, weswegen es keineswegs Energie produziert oder enthält, sondern vielmehr dauernd verschlingt, um sein inhärentes Defizit auszugleichen –, ebenso ist die Arbeit ein Prozeß (Ablauf) und keine Substanz, weswegen man sie währendihres Ablaufs als »lebendig«, die Spuren ihres Ablaufs, nachdemdieser vorbei ist, als »tot« bezeichnen kann (die Spur ihres vergangenen Ablaufs ist das Produkt, in welchem sie sich mit den Worten von Marx »vergegenständlicht« hat, nicht anders als sich ein gewisser Teil der Lebensprozesse in einem Leichnam vergegenständlicht; der Rest derselben vergegenständlicht sich während seines Ablaufs in den körpereigenen Stoffen und Ausscheidungen, besonders anschaulich in Adenosintriphosphat und Kohlendioxyd).

Sapienti sat;die Suche nach einem vitalistischen Mysterium endet immer in einem Holzweg, es gibt nun einmal keines, und seit Wöhlers Harnstoffsynthese weicht es vor den Erkenntnisfortschritten der Menschheit so kontinuierlich zurück wie der liebe Gott.

Es erübrigt sich festzustellen, daß Reich nach dieser Unklarheit im Fundament kein angemessenes Verständnis der darauf aufbauenden, sehr komplexen ökonomischen Analyse von Marx entwickeln konnte, egal, welche Mängel diese haben mag oder nicht, und es finden sich folgerichtig auch keine Spuren davon in seinem Werk. Ebenso zeigte er auch keinen Ansatz zur politischen Analyse, soweit diese nicht psychologisch, sondern spieltheoretisch zu leisten war. Eine Art mathematischer Spieltheorie ohne jeden subjektiven Aspekt ist es aber, die auch das Verständnis ökonomischer wie biologischer Vorgänge entscheidend ermöglicht; sie war Reichs Sache nicht, Marx und Engels jedoch gewohnte Denkweise, so ernst sie das Subjekt stets nahmen, wo es hingehört.

Schließlich ist noch Reichs Loyalität zu jener praktischen Politik zu würdigen, die er mit Recht als Resultat der Marx-Engels’schen Erkenntnisse ansah, wenn man diese in der Nachfolge ihrer Gründer mit humanistischer Zielsetzung verbindet, also der kommunistischen.

Es ist Reichs Tragik, seine im Ausführungsfall mit Sicherheit nützlichen Hinweise zur Verbesserung der KPD-Aktivität ebenso wie seine dabei einsatzfähigen Broschüren (v.a. »Der sexuelle Kampf der Jugend«) gerade zu einem Zeitpunkt beigesteuert zu haben, wo die dazugehörige Organisation das Ziel des politischen Siegs nicht mehr verfolgte (falls sie das nach der Ermordung Levinés in München überhaupt noch einmal so ernsthaft fertigbrachte wie Lenin und Trotzki in Rußland), da sie subjektiv wie materiell von ihrer sowjetrussischen Mutterpartei abhing, deren fest im Sattel sitzende Führung ihre Territorialherrschaft nicht mehr durch ausländische »Abenteuer«, d.h. Siege riskieren wollte, welche die zu ihrem vorübergehenden Glück noch uneinigen herrschenden Klassen der kapitalistischen Länder zu einem koordinierten Militärüberfall hätten reizen können, welchen in einen innerimperialistischen Bürgerkrieg umzuwandeln Stalin weder Lust noch moralische Kraft hatte; wie für einen Schachspieler, der ausschließlich defensiv spielt, die Niederlage feststeht, so war damit für die Sowjetunion der Weg zu Gorbatschow vorgezeichnet.

Für die zielbewußte Kühnheit eines Reich, die nur noch mit der unbedingten Solidaritätsbereitschaft eines Lenin zu allen Gegnern und Opfern des Zarismus einschließlich der religiösen Sekten und nationalen Separatisten zu vergleichen ist, ohne welche seine Partei nicht hätte siegen können, war da kein Platz – dies hätte einen Siegeswillen vorausgesetzt, wie ihn die Masse der KPD-Mitglieder gewiß substanziell mitbrachte, aber gegen eine Führung, welche entgegengesetzten Absichten dienstbar war, nicht entfalten konnte. (Dieses Verhältnis spiegelt sich beispielsweise im »Broschürenkampf« der Sexpol.)

Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Reich, der in diesem Zusammenhang die kindlich-individualistische Ebene unheimlicher »Modjus« nicht ernsthaft überschreiten konnte, dieser militärisch-politische Hintergrund klar war; auf dem entgegengesetzten, wie er noch wenige Jahre vorher zumindest teilweise bestand, hätte er persönlich geschichtswirksam werden können. (Dieser unglückliche Hintergrund erklärt auch, warum die KPD – die KPÖ war zur Geschichtswirksamkeit immer zu klein geblieben, Österreich hatte von innen her keine Chance – niemals eine »Anti-Kornilow-Taktik« hatte entwickeln können, wodurch als Folge dieses Mangels die SPD Hitler den Weg zur Macht ebenso unaufhaltsam bahnte, wie dies andernfalls Kerenski mit Hitlers oder Pinochets russischem Möchtegern-Vorläufer getan hätte, wenn der Siegeswille der Bolschewiki diesen nicht jenen dem KPD-»Ungeschick« diametral entgegengesetzten Ausweg gewiesen hätte und damit einen Erfolg Kerenskis, damit aber Kornilows und somit den andernfalls ersten Faschismus der Geschichte vereitelte.)

Ein kommunistischer Führer hätte Reich aufgrund der beschriebenen Mängel niemals werden können; aber eine bedingungslos zum Sieg strebende kommunistische Führung hätte, als makrohistorisch dessen Chance für kurze Zeit bestand, sie durch Nutzung seiner Beiträge und Erkenntnisse erheblich vergrößert.- Schade.

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Dr. Fritz Erik Hoevels, Dipl.-Psych., geb. 1948 in Frankfurt/Main, studierte Psychologie, Altertumskunde und Literaturwissenschaft in Freiburg i.Br., wo er heute als Psychoanalytiker tätig ist. Er ist der Gründer des leninistischen „Bundes gegen Anpassung“, welcher bis heute Diskriminierung und Verfolgung trotzen konnte, die „Ketzerbriefe“ herausgibt und dessen Aktivität und Zielsetzung in dem von Hoevels herausgegebenen Dokumentenband „30 Jahre Ketzer“ belegt ist. Hauptwerke: „Marxismus, Psychoanalyse, Politik“; „Psychoanalyse und Literaturwissenschaft“; „Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse“. Daneben Herausgeber und Übersetzer Hyam Maccobys („Jesus und der Jüdische Freiheitskampf“; „Der Mythenschmied – Paulus und die Erfindung des Christentums“). Zahlreiche politische Beiträge in den „Ketzerbriefen“ und wissenschaftliche in den Zeitschriften „Praxis der Psychotherapie“ sowie „System ubw“; die religionswissenschaftlichen darunter wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und als Sammelband herausgegeben, darunter Chinesisch, Vietnamesisch, Russisch und Polnisch. Arbeitet gegenwärtig an einem Werk „Wie unrecht hatte Marx wirklich?“.

Verweise:

[1]»Aber in einem gebe ich ihm [sc.Schlamm]auch affektiv nicht recht: daß jeder Einzelne ein Teil des Ganzen zu sein verpflichtet sei, um dem objektiven Geistzu dienen. (…) Ich will nicht vor allem der ›Gemeinschaft‹ dienen und dann Ich selbst zu sein versuchen (…) Wenn ich mir selbst diene, dann (…) wird in allen jenen Taten, die ich zu meiner Selbstgestaltung begehe, jener von Schlamm postulierte Dienst von selbst enthalten sein« (Leidenschaft der Jugend, KiWi 348, p. 139).- Reich hat dann später – in Marx’ und Engels’ gemeinsamem „Zirkular gegen [sc. Herrmann] Kriege“ (MEW IV 3-17) seine Position gegen Leute wie Schlamm, d.h. Gepfaff bis Faschisten, noch einmal aufs deutlichste bestätigt gefunden und in seiner „Sex-Pol-Zeitschrift“ veröffentlicht. In der Tat wehren sich die beiden Gründer des „wissenschaftlichen“ (d.h. die Wissenschaft bewußt nutzenden) Sozialismus hier ebenso treffsicher wie entschlossen gegen die übelste Form der Verpfaffung jeglicher denkbarer politischer Lehre, die überhaupt möglich ist: „’Wir haben noch etwas mehr zu tun, als für unser lumpiges Selbstzu sorgen, wir gehören der Menschheit [sagt Kriege sozusagen als Vorläufer Schlamms oder Hitlers, der dafür das „Volk“ einsetzt]’. Mit diesem infamen und ekelhaften Servilismus gegen eine von dem ‚Selbst’ getrennte und unterschiedene ‚Menschheit’, die also eine metaphysische und bei ihm sogar religiöse Fiktion ist, mit dieser allerdings höchst ‚lumpigen’ Sklavendemütigung endet diese Religion wie jede andere.“ (MEW IV 15. Cf. auch ibid. P. 12: „Hier predigt Kriege im Namen des Kommunismusdie alte religiöse und deutschphilosophische Phantasie, die dem Kommunismus direkt widerspricht. DerGlaube, und zwar der Glaube an den „heiligen Geist der Gemeinschaft“ ist das Letzte, was für die Durchführung des Kommunismus verlangt wird.“

[2]MEW XXIII 538. – Cf. auch kurz zuvor: »Mitten in der westeuropäischen Gesellschaft, wo der Arbeiter die Erlaubnis, für die eigene Existenz zu arbeiten, nur durch Mehrarbeit erkauft, wird sich leicht eingebildet, es sei eine der menschlichen Arbeit angeborne Qualität, ein Surplusprodukt zu liefern.«

[3]Daß von dieser angeblich urbiologischen Arbeit ein Weg zu Reichs quietistischer »Arbeitsdemokratie« abzweigt, ist kaum zu übersehen. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß es ein für Ichstärke und -entwicklung wichtiges, aber von jeder dira necessitaswenigstens zunächst subjektiv getrenntes menschliches Arbeitsbedürfnis wirklich gibt; am einfachsten beobachten wir es bei Künstlern, Freizeitgärtnern oder burgenbauenden Kindern. Es ist am angemessensten wohl nichtmit der klassischen Sublimationstheorie zu erfassen; ich habe stattdessen diejenige der primärnarzißtischen Besetzung von Ichfunktionen (genauer: deren Wahrnehmung in actuwird besetzt) im Gegensatz zu derjenigen von Körperteilen oder -funktionen, vorgeschlagen (im 7. Kapitel meines Reich-Buchs). Natürlich hat auch dieser Vorgang, wie jeder subjektive, seine neuronale Basis, aber nun einmal nicht auf Zellniveau; nur dann läge eine »biologische Grundfunktion« vor, von welcher wir aber selbst bei präpongiden Affen, geschweige denn Vögeln oder Fischen, wenig oder nichts beobachten können. Eine subjektive Besetzung von Körperteilen dagegen, nicht nur eine Schmerzwahrnehmung, kann aber deren neuronaler Apparat wegen der Nützlichkeit des »Körperschemas« vielleicht schon leisten. (Es kann sein, daß das Spielenmit der Besetzung von Ichfunktionen phylogenetisch verwandt ist; wir pflegen es freilich wegen seiner mangelnden externen Zielausrichtung als Antithese zur Arbeit zu betrachten, die sich im Gegensatz zu ihm ohne unmittelbaren Zwang bzw. den Tieren unzugängliche innere Zielvorstellung nur bei unserer Art beobachten läßt.)

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