19 Aug
Bukumatula 2/2012
Später Versuch einer Antwort an Monika Seifert*)
von
Wolf Büntig:
Hintergrund
1967/68 ging ich mit Frau und drei Kindern als Austauschforscher nach Buffalo, New York, um ein Labor in Gang zu halten, dessen Inhaber sein Sabbatjahr in München verbrachte. Tagsüber saß ich über eine narkotisierte Ratte gebeugt und untersuchte mithilfe von Mikropunktion einzelner Nierenkanälchen die Harnproduktion. In meiner Freizeit hing ich jedoch oft auf dem Campus herum, beobachtete Studenten, wie sie Kommilitonen zur Wehrdienstverweigerung motivierten und hörte Civil Rights Aktivisten wie Leslie Fiedler, Timothy Leary und den Komiker Dick Gregory eine neue Gesellschaftsordnung propagieren.
Von Martin Luther Kings Rede – ich glaube, es war Warum wir nicht warten können –, ist mir besonders in Erinnerung, dass er sagte, sie, die Schwarzen, könnten die Weißen nicht zwingen, sie zu lieben, doch dazu bewegen, dass sie sich (menschlich) benehmen. Nach seiner Ermordung ging ich mit der ganzen Familie in die Southern Baptist Church zum Gedenkgottesdienst und ließ mich, beziehungsweise uns, von den Kollegen im Labor für verrückt erklären dafür, dass wir es gewagt hatten, uns zu Zeiten brennender Ghettos als Weiße downtown sehen zu lassen.
In San Francisco, wo ich für das Cardiovascular Research Institute, University of California San Francisco, ein Mikropunktionslabor aufbaute, diskutierten wir lange Abende mit jungen Dozenten vom benachbarten City College den Vietnamkrieg, faschistische Tendenzen im amerikanischen Alltag, die Anerkennung von Kommunismus als weltanschaulichen Grund für Wehrdienstverweigerung durch den Supreme Court, die Studentenunruhen und die vierwöchige Ausgangssperre in Berkeley anlässlich des War of People‘s Park; ich hörte Pete Seeger Dust Bowl Ballads, von Woody Guthry und Buffy Sainte-Marie The Universal Soldier singen, ging zu fund-raising dinners zugunsten von Freunden, die, weil sie Kinder knüppelnde Polizisten gefragt hatten, was sie da täten, wegen Anstiftung zum Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beleidigung eines Polizisten und Missachtung des Gerichts angeklagt waren, und marschierte mit hunderttausenden Friedliebenden im Golden Gate Park gegen den Einmarsch von amerikanischen Bodentruppen in Kambodscha.
Humanistische Psychologie
In San Francisco kamen wir mit der Humanistischen Psychologie in Kontakt. Wir erfuhren von Aldous Huxley und seiner Entdeckung des menschlichen Potentials in LSD Experimenten und von Karen Horney, die Freuds Vorstellungen von weiblicher Sexualität in Frage gestellt und Aggression als Leben unterstützende Bewegung – auf das hin, was nährt und nützt, von dem weg, was schadet, und gegen das, was Integrität bedroht – beschrieben hatte.
Wir erfuhren durch Carl Rogers von den Möglichkeiten der Entwicklung zur authentischen Person und durch Erich Fromm von der menschlichen Neigung, lieben zu lernen; durch Rollo May, dass Menschen jenseits ihrer konditionierten Reaktionen und jenseits der Übertragung ihrer früh geprägten Beziehungsmuster eine Wahl haben und zu Absicht und Entscheidung fähig sind; durch Viktor Frankl, dass wir Menschen die Gabe haben, über uns selbst hinauszuwachsen und Sinn zu finden; und durch Roberto Assagioli, dass wir eine Neigung zur Spiritualität haben und Willen entwickeln können.
Ein richtungsweisender Theoretiker der Humanistischen Psychologie war Abraham Maslow. Er ging der Frage nach, was das eigentlich Menschliche am Menschen sei. Dafür studierte er die Lebensweise und das Erleben von besonders gesunden Menschen, die in ihrem Umfeld als beispielhaft menschliche Personen hohes Ansehen genossen. Aufgrund der Beobachtung, dass die konfliktfrei und selbstverständlich erlebte Befriedigung der Primärbedürfnisse oder Säugetiertriebe Voraussetzung war für die stabile Aktualisierung von spezifisch menschlichen, sogenannten höheren oder Metabedürfnissen, formulierte er die Hierarchie der Bedürfnisse, die sich hierzulande in Wirtschaft und Pädagogik gut durchgesetzt hat, in der Psychologie jedoch weitgehend unbeachtet blieb.
Nach Maslow haben die höheren Bedürfnisse oder Notwendigkeiten – die Freude am Wahren, Schönen und Guten, das Mitgefühl, die Würde, der Dienst an der Gemeinschaft und schließlich die Selbstverwirklichung – Instinktnatur wie die Primärbedürfnisse. Sie sind inbildhaft als Potential angelegt und werden als Wert an einem Vorbild erkannt, als Bedürfnis, als Notwendigkeit und als Auftrag zur Verwirklichung erlebt und durch Übung im Alltag verwirklicht. Da sie von schwächerer Durchsetzungskraft als die Primärbedürfnisse sind, bedarf ihre Verwirklichung der bewussten Entscheidung und des nachhaltigen Wollens.
Maslow postulierte – im Widerspruch zu Freud – aufgrund seiner Beobachtungen an gesunden Menschen, dass Menschen differenzierte Menschlichkeit und Kultur nicht durch Triebunterdrückung, sondern durch bewussten und freiwilligen Triebverzicht entwickeln. Die Verwirklichung der höheren Bedürfnisse kann in dem Maß als Notwendigkeit, als Auftrag und als Wert erlebt werden, in dem die Grundbedürfnisse der Person nicht durch Konditionierung verbogen wurden und deren Befriedigung infolgedessen – frei von Reaktionen auf von Mangel und Trauma geprägte Vergangenheit – als selbstverständlich erlebt wird.
Ein weiterer wesentlicher Beitrag Maslows zum Verständnis vollen Menschseins war sein Studium der peak experiences (Gipfelerlebnisse). Die besonders gesunden Menschen, die er studierte, berichteten gehäuft über Durchbrüche in eine Wirklichkeit, welche die durch Konsens konstruierte Alltagsrealität gleichzeitig überstieg und umfasste. Diese den von Graf Dürckheim beschriebenen Seinsfühlungen entsprechenden Momente stiller Ekstase waren verbunden mit dem Erleben von Weite und Befreiung von Bedingtheit, mit Erweiterung des Bewusstseins, mit Verbundenheit mit allen Menschen und allem Leben und mit Gefühlen von Glückseligkeit. Maslow beobachtete auch, dass die sogenannten neurotischen Menschen dazu neigen, Gipfelerlebnisse in dem Maß zu leugnen, in dem sie in unbewusster Reaktion auf Vergangenheit beziehungsweise Übertragung früher Erfahrung in die Gegenwart hinein befangen waren.
Fazit: Für Maslow stehen Ästhetik, Geistigkeit, Dienst an der Gemeinschaft und Spiritualität nicht im Widerspruch zur Natur, sondern sind wesentlicher Ausdruck menschlicher Natur: Des Menschen eigentliche Natur ist seine Menschlichkeit.
Der Vorwurf
Die Begegnung mit der Humanistischen Psychologie veränderte mein Leben. Ich hängte meine Karriere als Physiologe an den Nagel, absorbierte in San Francisco und Umgebung in knapp einem Jahr etwa 600 Stunden Vorträge, Seminare und Selbsterfahrung in unterschiedlichen Methoden und legte so einen Grundstock für meine spätere Arbeit als Psychotherapeut.
Als wir 1970 nach München zurückkamen, fanden wir Deutschland grundlegend verändert: Wir sahen Polizisten mit Bärten, Postboten ohne Schlips, im Park Fußball spielende Arbeiter, die notfalls ganz regelwidrig die Hände zu Hilfe nahmen, und ein Pärchen, das leidenschaftlich Ping-Pong spielte – ohne Netz. Wir wurden Zeugen von Straßenschlachten, die zur Einstellung von Polizeipsychologen führten, wir lasen Wilhelm Reich und wir versuchten, unsere Kinder nach den Prinzipien von Summerhill zu erziehen.
Bevor wir uns für ZIST entschieden, stand für eine kurze Zeit zur Diskussion, ob ich mich Hartmut von Hentigs Team für den Aufbau der Laborschule Bielefeld anschließe und studierte ein paar Semester Pädagogik. Im Seminar von Professor Schiefele fiel mir auf, dass revolutionsbegeisterte Kommilitonen, während sie über die Würde von Putzfrauen diskutierten, ihre Zigarettenkippen auf dem Fußboden austraten und erleichtert waren, wenn sie vom studentischen Mitfahrdienst nicht an Proletarier vermittelt wurden, weil sie mit denen nicht zu kommunizieren verstanden. Da begriff ich mein Unbehagen angesichts des wilden Gehabes um mich herum etwas besser: von derart Unfreien wollte ich lieber nicht befreit werden.
Als von Hentig mir absagte, setzte ich meine psychotherapeutische Weiterbildung fort, ließ mich in freier Praxis nieder, begann Selbsterfahrungsgruppen zu leiten und baute mit meiner Frau Christa und vielen Helfern das Seminarzentrum ZIST Penzberg auf.
Anfang der 70er Jahre gingen viele der 68er Linken in Selbsterfahrungsgruppen. Sie waren freiwillig arbeitslos und lebten sehr bescheiden, um Zeit und Geld für die Gruppen zur Verfügung zu haben. Sie vermuteten, dass der Grund für das von ihnen als Scheitern erlebte Abflauen der Revolution der subjektive Faktor war. Sie ahnten oder begriffen, dass sie die Massen nicht befreien konnten, solange sie selbst – in Reaktion auf eine von Mangel und Trauma geprägte Sozialisierung – gefangen waren in eingefleischten Mustern von Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln. In der Arbeit mit ihnen waren nicht selten für diese Klientel typische Widerstände gegen Veränderung zu beobachten.
Zum einen fürchteten manche, dass ihnen der revolutionäre Dampf ausgehen könnte, wenn sie sich auf Selbsterfahrung einließen. Andere hatten, wenn sie in Selbsterfahrungsgruppen oder gar in Einzeltherapie gingen, ein schlechtes Gewissen und fürchteten, als unpolitisch abgekanzelt zu werden und damit die Zugehörigkeit zu der Gruppe, der sie angehörten, zu gefährden. Eine streng gläubige Kommunistin, die aus gutem Grund zu mir in Einzeltherapie kam, musste jede Sitzung vor einem Tribunal der Roten Zelle, der sie angehörte, rechtfertigen, was sie als regelrechten Psychoterror erlebte, wodurch die therapeutische Arbeit erheblich erschwert, aber auch vertieft wurde.
„Du bist ja völlig unpolitisch!“ war in den 70er Jahren ein so häufig vorgebrachter wie schlimmer Vorwurf. Das hatte vermutlich weniger mit Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen zu tun als mit Klassenkampf und Bewusstseinsveränderung der Massen. Wie auch immer: Selbsterfahrung galt, wie Psychotherapie, als unpolitisch. Meine Arbeit, die ich liebte, deren Entwicklung ich mich mit Leidenschaft widmete und für die sich namhafte Angehörige des Münchener psychoanalytischen Establishments interessierten, galt in den Augen derer, zu denen ich gehören wollte, als individualistisch, konformistisch und damit unpolitisch.
In San Francisco war ich Teil des human potential movement gewesen, einer Bewegung, in der soziales Engagement und Bewusstseinserweiterung in lebendiger Wechselwirkung standen, wenn nicht einander bedingten. Wieder zu Hause musste ich mich entscheiden, so schien es mir, zwischen der Zugehörigkeit zum psychotherapeutischen Establishment einerseits und der Bewegung der Zeit andererseits. Ich entschied mich – eher unbewusst – dafür, mich nicht parteilich zu entscheiden, sondern der Bewusstseinserweiterung beider Parteien zu dienen. Doch der Vorwurf, unpolitisch zu sein, beschäftigt mich bis heute.
Wie macht Ihr das?
Eines Tages fand ich frühmorgens Monika Seifert*) versonnen im Dämmerlicht des unbeleuchteten Speisesaals von ZIST stehend. Als ich sie fragte „Was machst denn Du hier so früh am Tage?“, antwortete sie, eher fragend: „Ihr produziert hier doch Mehrwert? („So kann man das sehen“, sagte ich.) Und man merkt das nicht in den Beziehungen. („Das freut mich, dass Du das so siehst.“) … Wie macht Ihr das?“ („Das ist eine gute Frage“, antwortete ich.)
„Wie macht Ihr das?“ ist wirklich eine gute Frage, die seither immer wieder einmal auftaucht und der ich hier und heute nachgehen will: Wie kann man das kapitalistische System mit Darlehen und Kapitaldienst (was für ein verräterisches Wort!) nutzen, um ein Zentrum für Bewusstseinserweiterung aufzubauen, ohne davon bestimmt zu werden – ohne dem Mammon zu dienen? Wie kann man einen kommerziellen Betrieb leiten und für sich selbst und andere als Mitmensch wahrnehmbar bleiben?
Wie kann man Autorität wirken lassen ohne autoritäre Strukturen? Wie kann man führen, das heißt anderen vorausgehen, ohne sich über sie zu erheben? Wie kann man Kompetenz einbringen, ohne sich besser als andere zu wähnen. Wie kann man (in der Sprache der östlichen Traditionen bis hin zu Jesus von Nazareth) in dieser Welt, in der wir leben, wie kann man in der bedingten Realität funktionieren, ohne die Verbindung zur unbedingten Wirklichkeit – zu der Welt, aus der wir kommen – ganz zu verlieren?
Wie macht man das? Indem man es tut. Das ist einfach und doch sehr schwer – wie alles Einfache. Die Antwort ist jeweils im zweiten Teil der Frage enthalten – siehe unten am Ende des Beitrags.
Potentialorientierte Selbsterfahrung
Therapeutische Selbsterfahrung zielt auf Linderung oder Überwindung von Leiden mit Krankheitswert, wie es im Jargon der Krankenkassen heißt.
Umfassender dient Selbsterfahrung der Einsicht ins eigene Gewordensein, das heißt in die Prägung durch Geschichte, mittels der fühlenden Erkundung und geistigen Reflektion des eigenen Erlebens und der meist unbewussten Motivation des Handelns insbesondere in kritischen Situationen: „Warum sehe ich mich selbst anders als andere, warum werde ich nicht verstanden, warum verhalte ich mich anders als ich will? Wie kommt es, dass ich unter Druck automatisch und eingefahren reagiere statt der Situation angemessen zu handeln? Warum benehme ich mich gegenüber der Person, die ich zu lieben glaube und behaupte, oft so hässlich?“
Das Bedürfnis nach Selbsterfahrung kann aber auch durch eine Grenzerfahrung ausgelöst werden, die zur Hinterfragung der vertrauten Muster in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln führt: „Wer bin ich, wenn ich – ergriffen von der Schönheit eines Bildes oder eines Musikstücks; im Herzen berührt durch das Lied einer Amsel; allein und doch aufgehoben in der Stille des Waldes oder auf dem Gipfel eines Berges; hingegeben an eine Liebe – mich nicht mehr kenne wie gewohnt, mich unerwartet frei von Angst und Groll, weit, still, klar und glücklich fühle?“ und schließlich „Wie muss ich leben, um bereit zu sein für ein Sein in jener die Alltagsrealität übersteigenden und umfassenden Wirklichkeit?“
Gebunden durch die im Charakter eingefleischte Abwehr von Erinnerung leben wir im ständigen inneren Konflikt. Einerseits verlangt die Kinderseele, die mit Mangel und Trauma mithilfe von Verleugnung, Verdrängung, Abspaltung und Depression fertig zu werden gelernt hat, endlich Beachtung, Anerkennung und Genugtuung. Andererseits unterdrücken wir uns selbst mit den verinnerlichten familiären und gesellschaftlichen, Über-Ich genannten Kontrollinstanzen. Wir warnen, mahnen, drohen, kritisieren, verfolgen, verklagen und verurteilen uns selbst, treiben uns an und machen uns klein oder aber loben und idealisieren uns selbst und blasen uns auf – und drücken uns so vor der Verantwortung für die Entfaltung unseres Potentials zu persönlicher Eigenart.
Tiefenpsychologisch orientierte, auf Verständnis der in der Kindheit geprägten Psychodynamik ausgerichtete Selbsterfahrung kann tiefe Gefühle reaktivieren und heftige Emotionen auslösen, die lange verdrängt und abgespalten worden beziehungsweise unterdrückt waren. Die „Regression“ genannte emotionale Entladung wird nach anfänglichem Widerstand als entlastend erlebt und kann zur Lösung von eingefleischten Mustern führen. Sie wird allerdings heutzutage oft vermieden aus Angst vor der sogenannten Retraumatisierung.
Sowohl klinische Erfahrung als auch Hirnforschung deuten darauf hin, dass unbewusst emotional vollzogene Erinnerung an traumatisierende Erfahrung vom Organismus so verarbeitet wird, als habe man sie tatsächlich noch einmal erlebt und so zu einer Bestätigung der defensiven Strukturen führt. Potentialorientierte Psychotherapie begegnet den in der Übertragung mobilisierten schmerzlichen Beziehungserfahrungen der Vergangenheit und den damit verbundenen Befürchtungen, diese könnten sich in der Gegenwart der Selbsterfahrungsgruppe wiederholen, indem die therapeutische Beziehungsperson beharrlich zur Wahrnehmung der veränderten Gegenwart einlädt.
Dann nämlich, und nur dann, dient die emotionale Mobilisierung einer vertieften Einprägung der neuen, ergänzenden und damit heilsamen Erfahrung. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Fühlen zu. Fühlen ist etwas anderes als die Wahrnehmung von Gefühlsreaktionen auf unspezifische Reize, denen wir, wiederum in der Regel unbewusst, eine alte, einer fernen Vergangenheit entsprechende Bedeutung geben.
Fühlen ist die besonnene, der gegenwärtigen Situation gemäße Deutung eines mit Sinnen wahrgenommenen Reizes. Fühlen ist eine Wertungsfunktion, die uns informiert, ob wir unsere Muskulatur für Annäherung, Kampf oder Flucht mobilisieren sollen. Fühlen ist der erste und entscheidende Schritt der Überwindung vertrauter Selbst- und Weltbilder. Beharrliches Fühlen mobilisiert zunächst Erinnerung und entsprechende emotionale Abreaktion, dann die Wahrnehmung einer bergenden Beziehungsumgebung, dann die Entdeckung unbekannter Bewusstseinsräume und schließlich die Bereitschaft zur Hingabe an das Leben in einer sich ständig wandelnden Gegenwart und damit zur Selbsttranszendenz.
Ein Beispiel: Eine ebenso kraftvolle wie emotional zurückhaltende Frau, die erstmals an einer Selbsterfahrungsgruppe teilnimmt, erlebt die Erregung angesichts der neuen Situation zunächst reaktiv als Angst. Bei näherem Hinspüren deutet sie diese neu und der Situation gemäß als Neugier. In ihrer Kindheit war Neugier von den emotional beschränkten Eltern mit Missbilligung und Strafe geahndet worden. In der gegenwärtigen Situation erlebt sie die Gruppe als interessiert, mitfühlend und unterstützend.
Sie lässt sich auf vertieftes Fühlen ein und entdeckt in sich einen Raum, der größer ist als der durch ihre Haut begrenzte. Durch weiteres fühlendes Erkunden dieses inneren Raumes entdeckt sie Stille, Klarheit, Stärke, Wahrheit, Schönheit, ein inneres Zuhause, Verbundenheit mit allen Menschen, also Mitmenschlichkeit, und ein Gefühl der Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens im Dienst des Lebens insgesamt.
Ist nun Potentialorientierte Selbsterfahrung politisch? Ich glaube ja, insofern sie über die Restauration von Beziehungs- und Leistungsfähigkeit hinaus auf den Abbau autoritärer Strukturen sowohl bei den Tätern wie bei den Opfern abzielt, die Entfaltung als Potential angelegter menschlicher Qualitäten wie Autonomie und Mitgefühl fördert und letztlich Selbstverwirklichung im Dienst an der Gemeinschaft anregt und unterstützt.
Durch Potentialorientierte Selbsterfahrung können wir als Mitmenschen wahrnehmbar bleiben lernen, indem wir uns selbst annehmen, sein lassen und zeigen, wie wir sind. Wir können uns unseren sogenannten Existenzängsten stellen und mit Scheitern und Schuld leben lernen. Wir können unsere eigenen autoritären Muster – als Täter wie als Opfer – wahrnehmen lernen. Wir können aufhören, uns zu vergleichen und zu konkurrieren und stattdessen lernen, einander zu unterstützen in unserer spirituellen Entwicklung.
Wir können miteinander die Erinnerung an Momente der Einheit mit allem Sein pflegen; die Muster in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln hinterfragen, die uns dieser Einheit entfremden; unser Leben so gestalten lernen, dass wir offen bleiben für die unbedingte Wirklichkeit und unseren Alltag auf sie gerichtet gestalten. Und wir können erkennen, dass wir – ob Männer oder Frauen, Arme oder Reiche, Gestrandete oder Erfolgreiche, Europäer oder Afrikaner, Maori oder Inuit – in unserem Wesen von der gleichen menschlichen Natur sind und uns nur durch unsere kulturellen Bräuche und durch unsere Sozialisierung geprägte, geformte oder verformte Individualität unterscheiden.
Dessen eingedenk können wir – jeder an seinem Platz und oft nur in kleinen Schritten – im Alltag darauf hinarbeiten, dass wir uns selbst und einander unsere Beschränktheit vergeben, unsere Stärken würdigen, Verständnis für einander entwickeln und so einen bescheidenen Beitrag zur Entfaltung der Menschlichkeit leisten.
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*) Monika Seifert (1932–2002), Tochter der Psychoanalytiker Alexander und Melitta Mitscherlich, war seinerzeit als Mutter der antiautoritären Kinderläden eine prominente Linke. Nachdem sie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt über Gaststudenten aus den USA die Schriften Wilhelm Reichs und bei einem Studienaufenthalt in England Alexander S. Neill, den Gründer von Summerhill, kennengelernt hatte, gründete sie in Frankfurt den Verein für angewandte Sozialpädagogik und initiierte die Wiederentdeckung von Wilhelm Reich. Reichs Bücher waren (damals noch als Raubdrucke) bald Bestseller unter Studenten und Linken. Aufgrund seiner Hypothesen zur Funktion der menschlichen Sexualität für die Gesellschaft wurde Reich zum theoretischen Vordenker der sexuellen Revolution. Vor allem aber hat er (auch über Neill) wegen des Prinzips der Selbstregulierung bis heute nachhaltigen Einfluss auf die Pädagogik. Kinder jeden Alters sollten danach ihre Bedürfnisse frei äußern und selbst steuern können.