19 Aug
Bukumatula 2/2013
Die Anfänge der Eltern–Säugling–Körperpsychotherapie sind eng mit der Geschichte der modernen Körperpsychotherapie verwoben. Obwohl bisher kaum von der heutigen modernen Säuglingsforschung zur Kenntnis genommen, finden sich wichtige Pionierarbeiten der heutigen Eltern–Säugling–Körperpsychotherapie in den psychosomatischen und neurosenpräventiven Forschungen des Arztes und Naturforschers Wilhelm Reich (1897-1957).
Zu einer Zeit, als René Spitz, John Bowlby und andere psychoanalytisch orientierte Forscher begannen, die folgenschweren Auswirkungen des Entzugs der Mutterliebe auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu untersuchen, beschäftigte sich Reich bereits mit den Grunderfordernissen dessen, was Mutterliebe ausmacht: Guter Körperkontakt und die Fähigkeit der Mutter, mit den Bedürfnissen des Kindes mitzuempfinden. (Boadella, 2008; Bowlby, 2010)
Nachdem Reich in den 30er und 40er Jahren wichtige Beiträge zur Entwicklung einer körperorientierten Psychotherapie eingebracht hatte, begann er sich ab Mitte der 40er Jahre – ausgelöst durch die Geburt seines Sohnes Peter – für die Erforschung der natürlichen Ausdruckssprache der Babys, die Entwicklungsbedingungen von emotionalen Panzerungen in der Säuglingszeit, sowie Möglichkeiten des Einsatzes von vegetotherapeutischen Techniken an Säuglingen und Kleinkindern, verstärkt zu interessieren.
Im Dezember 1949 gründete Reich in New York, gemeinsam mit 40 Fachkollegen aus den Feldern der Medizin, Geburtshilfe und Sozialarbeit das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Kinder der Zukunft“, mit dem Ziel, die selbstregulatorischen Entwicklungsprozesse und Voraussetzungen für den Erhalt der primären Gesundheit bei Säuglingen und älteren Kindern langfristig zu studieren.
Folgende vier Punkte standen dabei im Zentrum dieses umfassenden Forschungsprojekts:
Im Rahmen dieser Forschungsarbeiten beschreibt Wilhelm Reich den Fall eines fünf Wochen alten Säuglings, in dem er den behutsamen Einsatz von vegetotherapeutischen Techniken darstellt, um erste Anzeichen einer beginnenden emotionalen Rückzugsreaktion des Säuglings zu lösen.
„Our infant was pale, its upper chest was „quiet“. The breathing was noisy, and the chest did not seem to move properly with respiration. The expiration was shallow. Bronchial noises could be heard on auscultation. Generally the infant appeared uncomfortable. Instead of crying loudly, it whimpered. It moved little and looked ill. (…)On examination of the chest, the intercostal muscles felt hard. The child seemed oversensitive to touch in this region. The chest as a whole had not hardened, but it was held in inspiration with the upper part bulging forward. (…) Upon slight stimulation of the intercostal muscles the chest softened but did not yield fully when pressed down. The infant immediately started to move vigorously. The breathing cleared up appreciably, and the child began to sneeze (bursts of sudden expiration), smiled, then coughed several times vigorously, and finally urinated. The relaxation increased visible; the back, formerly arched, curved forward and the cheeks reddened. The noisy breathing stopped.“ (Reich, 1987)
In diesen ersten Erfahrungen bioenergetisch fundierter Säuglingstherapie werden – neben Spiegelungen der kindlichen Ausdrucks- und Körpersprache, vor allem zarte Körperberührungen spielerisch eingesetzt, um verspannte Muskel- und Gewebeblockierungen zu lösen und die ursprüngliche Ausdrucksfähigkeit des Säuglings wieder zu eröffnen. Die Wiederherstellung der natürlichen Pulsations- und Beziehungsfähigkeit des Kindes ist in diesen ersten Fallbeschreibungen mit Säuglingen und Kindern der wichtigste Bezugspunkt therapeutischen Handelns. (Reich, 1985)
Die Ärztin und Geburtshelferin Eva Reich (1924–2008) setzte diese Traditionslinie der bioenergetischen Säuglings- und Kleinkindforschungen ihres Vaters fort. (Reich, 1993, 2006; Overly, 2005) In der von ihr entwickelten Schmetterlings-Babymassage wurden wichtige Elemente vegetotherapeutischer Arbeit zu einem festen Behandlungsablauf systematisiert und neurosenpräventiv in der Arbeit mit Schwangeren, werdenden Eltern und Neugeborenen eingesetzt. (Reich, 1993; Deyringer, 2008) Im skandinavischen Raum war es die norwegische Reich-Schülerin Nic Waal, die Reichs Konzepte der somatischen Psychotherapie im Feld der Kinder- und Jugendpsychotherapie – und hier besonders für Behandlung autistischer Kinder – weiter entwickelte und bekannt machte. (Waal, 1970)
Unter dem Einfluss der neueren Säuglings- und Bindungsforschungen ab Anfang der 80er Jahre, wurden erste integrative Modelle der Eltern–Säugling–Psychotherapie entwickelt, die bindungstheoretische, pränatale, tiefenpsychologische und achtsamkeitsorientierte Ansätze mit Konzepten der körperorientierten Psychotherapie verbanden. (Diederichs, 2009; Downing, 2003; Harms, 2008, 2013; Schindler, 2010; Trautmann-Voigt, 2011)
Körper und Bindung
Alle modernen Ansätze der Eltern–Säugling–Psychotherapie haben zum Ziel, die Regulations- und Bindungsfähigkeit von Eltern und Säuglingen zu verbessern. Einzig die Wege dorthin sind sehr unterschiedlich. Eine Besonderheit der körperpsychotherapeutischen Ansätze in der Arbeit mit Eltern und Babys liegt in der Betrachtung der neurovegetativen Grundlagen der frühen Beziehungs- und Bindungsprozesse zwischen Eltern und Säuglingen.
Bereits Wilhelm Reich sah die elterliche und kindliche Kontaktfähigkeit fest verwoben in den Regulationen des Autonomen Nervensystems (ANS). (Reich, 2000) Hierbei lassen sich die beiden grundlegenden Äste des ANS, der Parasympathikus und Sympathikus, grundlegenden Verhaltensstrategien zuordnen.
Der Stress- und Alarmmodus einer jungen, verunsicherten Mutter äußert sich in ihrer Hypererregung, motorischer Unruhe, einer ausgeprägten Hypervigilanz (Hab-Acht-Stellung) und ihrer dauerhaften Zentrierung der Aufmerksamkeit auf das Kind. Inneres Unlust- und Bedrohungserleben im Kontakt mit dem Kind sind weitere Phänomene des Stress- und Alarmastes des ANS.
Demgegenüber zeigt sich in sicheren Bindungsbeziehungen zwischen Eltern und Säuglingen ein Überwiegen von körperlicher Entspannung, eine erweiterte Wahrnehmungs- und Feinfühligkeitsfähigkeit, sowie eine erhöhte Aufnahme- und Kontaktbereitschaft gegenüber dem Kind. Ein wesentlicher Fokus der körperorientierten Eltern–Säugling–Psychotherapie besteht darin, durch die Nutzung von körperbasierten Zugängen direkt auf die vegetative Reaktionslage und die damit verbundene Öffnungsbereitschaft bei Eltern und Säugling Einfluss zu nehmen. (Harms, 2013)
Kontinuum der Bindung
In der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Eltern und Säuglingen zeigt sich eine Abfolge von aufeinander aufbauenden Regulations- und Bindungszuständen bei Eltern und Kind. Dabei reicht dieses Kontinuum von gelingenden Momenten der Entspannung und Verbundenheit zwischen Eltern und Kind bis hin zum Erleben von überwältigenden Bedrohungs-, Ohnmachts- und Entfremdungsgefühlen in Phasen des Abrisses der Eltern–Kind–Bindung. Nachfolgend sollen die einzelnen Stadien des elterlichen Bindungserlebens phänomenologisch umrissen werden. Was erlebt eine junge Mutter, wenn sie sich mit ihrem Säugling verbunden und nah fühlt? Und was geschieht körperlich und emotional, wenn in Phasen erhöhter Stressbelastung der „Draht“ zum Kind schwächer wird oder ganz abreißt?
Zustand der Bindungsstärkung
Ist die Bindungs- und Regulationsfähigkeit gut entwickelt, können die Bezugspersonen des Säuglings zwischen Kontaktphasen mit dem Kind und Momenten des Selbstkontaktes frei hin und her schwingen. Sowohl die Fähigkeit der Ab- und Einstimmung auf die Verhaltenssignale und Bedürfnisse des Kindes, als auch die Wahrnehmung der inneren Körperzustände ist hinreichend entwickelt. Physiologisch kann die Mutter in den Phasen des ruhigen Kontaktes mit dem Kind – zum Beispiel den Stillzeiten – körperlich entspannen und loslassen.
Die Atmung ist fließend, tief und verbindend. Diese Fähigkeit des „Durchatmens“ ist eine direkte Folge der Zwerchfellentspannung, die wiederum eine Funktion des allgemeinen Öffnungs- und Entspannungsprozesses des Organismus ist. Das subjektive Erleben im Kontakt mit dem Kind wird von den Eltern häufig mit den Worten „Sicherheit“, „Geborgenheit“ und „Wohlbefinden“ beschrieben. Obwohl die Mutter innig mit dem Kind verbunden ist, ruht ihre Aufmerksamkeit sehr im eigenen Körper. Es ist ein gleichzeitiges Spüren von sich Selbst und dem Anderen. Diese vorhandene Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung erlaubt es der Mutter, innerlich zu überprüfen, ob ihre Interaktionsangebote zum Kind als „stimmig“ erlebt werden.
Harms (2008) spricht in diesem Zusammenhang von einer elterlichen Fähigkeit der „Selbstanbindung“. Diese Selbstanbindung beinhaltet die Fähigkeit der Ko-Regulatoren, eine achtsame Verbindung mit dem inneren Strom der Körper- und Innenempfindungen herzustellen und aufrecht zu erhalten. Den im bindungstheoretischen Kontext beschriebenen Bindungsmustern stehen in diesem Verständnis vergleichbare Muster der sicheren, vermeidenden oder ambivalenten Selbstanbindung gegenüber.
Somit sind der Aufbau des inneren wie auch des äußeren Beziehungsfadens zwei funktionell identische Prozesse einer stabilen und hinreichend sicheren Bindungsbereitschaft der Eltern.
Zustand der Bindungsschwächung
Im Zustand der geschwächten Bindungs- und Kontaktfähigkeit dominiert in den Begleitern oft ein Erleben der Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Unverbundenheit im Kontakt zum Kind. Häufig werden diese Zustände verstärkt, wenn die Beruhigungsversuche der Eltern bei den Schrei- und Unruhephasen des Säuglings ohne Erfolg bleiben.
Wichtige Kennzeichen der sich aufbauenden Stress- und Angstspirale sind auf Seiten der Eltern eine erhöhte Muskelspannung, Atemverflachung, Ansteigen des Herzpulses, sowie eine Steigerung der körperlichen Unruhe. Der Fokus der elterlichen Aufmerksamkeit verlagert sich in diesen Belastungsphasen vermehrt auf das schreiende Kind. Häufig gelingt es den Eltern nicht mehr, ihre Aufmerksamkeit auf das Innenempfinden des Körpers zu verlagern – selbst dann nicht, wenn der Säugling in einer guten und entspannten Verfassung ist.
Eltern, die sich im Stress- und Alarmmodus befinden, sind in ihrer wichtigen Funktion als notwendige Ko-Regulatoren des Kindes eingeschränkt. Auf der Basis der allgemeinen Stressdominanz gelingt es den betroffenen Eltern immer weniger, die emotionalen Äußerungen des Kindes hinreichend zu erfassen und zu begleiten. Schnell erfolgt jetzt ein Prozess der „negativen Gegenseitigkeit“: Die Babys spüren den spannungsbedingten Verlust der elterlichen Feinfühligkeit und reagieren daraufhin mit vermehrter Unruhe und Schreien (Papousek, 2004).
Und dies wiederum steigert die Verunsicherung und körperliche Anspannung der Eltern. Unabhängig von den konkreten Hintergründen und Ursachen der Regulations- und Beziehungsproblematik, ist es das Hauptziel körperpsychotherapeutischer Interventionen, diesen schwächenden Kreislauf zügig zu durchbrechen und zu einem Prozess „ansteckender Gesundheit“ zurückzukehren.
In dem bisher beschriebenen Stress- und Alarmmodus verfügen die Eltern noch über eine – wenn auch eingeschränkte – Fähigkeit, den „Draht“ nach innen und außen aufrecht zu erhalten. Obwohl die Betroffenen sich in einem Zustand der Verunsicherung und Anspannung erfahren, wird das „reale Kind“ mit seinen Bedürfnissen noch wahrgenommen. Ebenso können die Eltern in diesem Regulationszustand in der therapeutischen Arbeit noch konkrete Angaben zu ihrem inneren Körper- und Gefühlserleben machen. So sind sie in der Lage, Gefühls- und Körperzustände zu identifizieren, zu beschreiben und auch zu lokalisieren. („Immer wenn der Kleine schreit, spüre ich den Kloß in meinem Hals.“)
Zustand des Bindungsabbruchs
Die dritte Regulationsstufe elterlicher Bindungsbereitschaft setzt ein, wenn im Kontakt mit dem Säugling unverarbeitete Traumaanteile der Eltern durch das stressauslösende Verhalten des Säuglings (z.B. massive Schreiattacken oder chronische Blickkontaktvermeidung) reaktiviert werden. Das Stress- und Erregungsaufkommen ist in diesen Phasen überwältigend und führt bei den Eltern zu einem kompletten Zusammenbruch ihrer emotionalen Verbindung zum Kind.
Die freigesetzten Erregungsmengen können nicht mehr in gezielten Aktivitäten des Muskel- und Denkapparates umgesetzt werden. Die Betroffenen erleben sich selbst in einem verzweifelten Zustand der Denk-, Fühl- und Handlungsunfähigkeit gefangen. Während das Baby schreiend in den Armen der Mutter liegt, bricht die Verbindung zum inneren Strom der Körperempfindungen zusammen. Dieser Verlust der Selbstanbindung wird von Eltern als Gefühl der Taubheit, Lähmung und Benommenheit beschrieben.
Im Zuge dieser dissoziativen Episoden reißt somit der Faden in doppelter Weise: Zum einen büßen die Betroffenen ihre Fähigkeit zur Innenschau und Selbstwahrnehmung ein. Andererseits verlieren sie auch den Beziehungsfaden und das Gefühl der Verbundenheit zum realen Kind. Die Angst zu sterben, sowie Gefühle der Verzweiflung und Ausweglosigkeit sind fast immer anzutreffen, wenn die Eltern diese halt- und bodenlosen Episoden des Kontaktabrisses zum Kind durchleben.
Bindungsabbruch, Verlust der Fähigkeit zur Emotionsregulation, sowie der Einbruch der körperlichen Selbstwahrnehmung sind in dieser Phase des Bindungskontinuums untrennbar miteinander verwoben. Aus Sicht des Kindes bricht mit der beginnenden Dissoziation das elterliche Haltesystem zusammen. Das Kind fällt ins Bodenlose, hinein ins Nichts. Die von Wilhelm Reich beschriebenen Fallangst-Reaktionen der Säuglinge (Reich, 1985) haben in diesen plötzlichen und schockbedingten Zusammenbrüchen des Bindungsfeldes ihren Hintergrund.
Polyvagale Betrachtungen der Bindung
Nachdem die einzelnen Regulationszustände elterlicher Bindungs- und Kontaktbereitschaft bereits phänomenologisch erfasst wurden, soll jetzt ein Blick auf die neurovegetativen Hintergründe der Prozesse gerichtet werden. Hier kommen wir nun zu den bereits erwähnten Forschungen des amerikanischen Psychiaters und Psychophysiologen Stephen Porges. Die Polyvagale Theorie von Porges bietet einen umfassenden Erklärungsansatz, um die beschriebenen Phasen des Bindungskontinuums physiologisch zu untermauern. (Porges, 2010, 2005, 1998) Der Kern der polyvagalen Betrachtungen konzentriert sich auf die These, dass das Autonome Nervensystem (ANS) – anders als die herkömmliche Sichtweise der Schulmedizin – drei neuronale Regelkreise umfasst, die unterschiedliche Funktionen übernehmen.
Aus klassischer Sicht stehen sich im ANS der Sympathikus und der Parasympathikus als zwei Äste polar gegenüber. Gesamtorganismisch sind sie für die Regulation einer Fülle von inneren Organfunktionen zuständig, die der unmittelbaren Willkürkontrolle entzogen sind. Dabei stellt der Parasympathikus den „Ruhe-Zweig“ des ANS dar. Gesamtorganismisch sorgt er für Regeneration, Verdauung und Innenwendung der Aufmerksamkeit und Auffüllen der Energieressourcen.
Der Sympathikus ist in der klassischen Sichtweise der Zweig, welcher die Lebenskräfte freisetzt, um eine gezielte Gefahren- und Unlustabwehr zu realisieren. So aktiviert das sympathische Nervensystem den Muskel- und Bewegungsapparat („Fight and Flight“), die Ausdrucksorgane („Schreien“), sowie den Denkapparat (angestrengtes Suchen nach Lösungen). Im sympathikotonen Stress- und Alarmmodus sind wir hochgespannt, und die Aufmerksamkeit richtet sich in Richtung zur Außenwelt. (Ruegg, 2007; Reich, 2000; Sunderland, 2006)
Die polyvagale Betrachtung unterscheidet sich insofern von der klassischen Sichtweise, als Porges von einem zweigeteilten Vagus (deshalb poly-vagal) ausgeht. Hierbei wird ein jüngerer Ast des vagalen Systems (der ventrale Vagus) von einem stammesgeschichtlich älteren Teil des Vagus (dem dorsalen Vagus) unterschieden. Der ventrale Ast des Vagus ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste Bereich des ANS.
Er tritt in Funktion, wenn wir uns sicher, aufgehoben und geborgen im Zusammensein mit anderen Menschen fühlen. Die Aktivierung des ventralen Vagus steuert im Zustand der Sicherheit die soziale Hinwendung und Kommunikation mit unseren wichtigsten Bindungspartnern. (Odgen, 2010)
Hirnphysiologisch entspringt der ventrale Vagus im Nucleus Ambiguus des Hirnstamms. Von hier aus verzweigen sich einzelne Nervenstränge und stellen die neurophysiologische Grundlage für eine Reihe von Funktionen, die speziell für den sozialen Austausch von fundamentaler Bedeutung sind. (Porges, 2010) Wichtige Funktionen im Zusammenhang mit dem ventralen Vagus sind:
Diese Dominanz des ventralen Vagussystems lässt sich eindrücklich in einer gelingenden Interaktion von Mutter und Säugling darstellen. Die Mutter sucht die Blickverbindung zum Kind, sie lächelt es an und hebt regelmäßig auffordernd den Kopf zur Grußreaktion. In der Ansprache des Kindes ist die Stimme leicht erhöht (Babytalk) und an die Hörneigungen des Säuglings angepasst. Der Gesichtsausdruck der Mutter ist dabei lebhaft und offen. Subjektiv dominiert in der Begegnung mit dem Kind das Erleben von Sicherheit, Vertrautheit und Wohlbefinden.
Evolutionsbiogisch ist das Baby darauf vorbereitet, direkt nach der Geburt mit seinen wichtigsten Bezugspersonen in Austausch zu treten. Erlebt der Säugling sein Gegenüber wiederkehrend als emotional verfügbar, tritt das ventrale Vagussystem des Säuglings in Funktion. Die Vagus-Dominanz wird somit zur neurovegetativen Entsprechung des psychischen Erlebens der Sicherheit, die das Kind in der Bindung zu seinen erwachsenen Begleitern erfährt.
In Porges‘ Modell bleibt das sympathische Nervensystem die Struktur, die durch Mobilisierung des Muskel- und Bewegungssystems eine gezielte Gefahrenabwehr ermöglicht. In der Kriseninterventionsarbeit mit Eltern und ihren Säuglingen zeigt sich die sympathikotone Dominanz vor allem in der vermehrten Motorik der Eltern (aufgeregtes Herumlaufen, nicht Stillsitzen-Können, etc.), der erhöhten Aufmerksamkeitsspannung, sowie der gesteigerten Denkaktivität (Zwangsgrübeln).
Subjektiv erlebt die gestresste Mutter vermehrt Angst- und Unlustempfindungen. Es ist wichtig zu betonen, dass der Sympathikus nicht mit negativem Unlusterleben gleichzusetzen ist. Vielmehr ist die moderate Aktivierung des sympathischen Nervensystems ein essentieller Teil des lebendigen Funktionierens. So sind Aufregung und hohe Anspannung bei einem wichtigen Fußballspiel durchaus gewollte und positive Begleiterscheinungen der sympathischen Innervation.
Diese lustvolle Dimension des Spannungs- und Erregungsaufbaus (Spannungslust) scheint immer dann gegeben, wenn eine realistische Aussicht auf spätere Entspannung besteht – und, wenn die betroffene Person die Fähigkeit besitzt, nach Abschluss des aufregenden Ereignisses den Spannungszustand wieder zu verlassen.
Entwicklungsgeschichtlich älter ist der dritte Regelkreis, den Porges in seinem polyvagalen Modell beschreibt: Der dorsale Vagus. Der dorsale Vagus versorgt absteigend die inneren Organe, vor allem das Herz, die Lunge und die Eingeweide. Das dorsale Vagussystem betritt die Bühne, wenn – wie in dem vorangegangenen Kapitel beschrieben – das Stressaufkommen überwältigend wird und ein Zustand der Lebensbedrohung einsetzt.
Physiologisch entspricht dieser Regulationszustand einem Herunterfahren des Gesamtsystems in einen Standby-Modus. Nur mehr die inneren Organe werden versorgt, während die Peripherie des Organismus weitestgehend von der Versorgung abgehängt wird. In besonders deutlicher Weise sehen wir dies in der Schocklähmung nach Unfällen, wo die Beine ihren Dienst versagen, die Haut blutleer und fahl wird und kein klarer Gedanke mehr gefasst werden kann.
Porges beschreibt in seinem Polyvagal-Modell eine hierarchische Ordnung der beschriebenen neuronalen Regelkreise. Das Sicherheitserleben erlaubt uns, die Nähe, den sozialen Austausch und die Verbindung mit anderen Menschen einzugehen. Diese Suche nach Bindung entspricht der evolutionsbiologischen Grundausrüstung, die wir als menschliche Wesen mitbringen. Kann das Sicherheitserleben in der Bindung nicht etabliert werden, übernimmt das sympathische Stress- und Alarmsystem die Führung.
Erst wenn die verschiedenen Strategien der Gefahrenabwehr erfolglos bleiben, tritt der entwicklungsgeschichtlich älteste Regelkreis des dorsalen Vagus mit seinem „Abschalt-Automatismus“ auf den Plan. Je nach Ausmaß der Gefahren- und Bedrohungssituation müssen grundlegendere und ältere Systeme in Kraft treten, um die Selbsterhaltung des Systems zu garantieren. Während das System des ventralen Vagus noch komplexe Kommunikationsstrategien unterstützt (Sprechen und Kontaktaufnahme mit dem Aggressor in einer Konfliktsituation), reagiert das sympathische Nervensystem bereits weniger differenziert auf die Gefahrensituation (Flüchten, Schreien, Kämpfen).
Im Verhältnis dazu ist jedoch die Immobilsierungs-Strategie des dorsalen Vagus (Lähmung und Erstarrung) in ihrer Bandbreite noch eingeschränkter. Wichtige psychische Funktionen des Wahrnehmungs- und Denkapparates werden hierbei abgeschaltet, um die verbleibende Energie zu zentralisieren und den grundlegenden Körper- und Organfunktionen zuzuführen. (Levine, 2010)
Mit dem polyvagalen Verständnis sprechen wir nicht von einem „guten“ ventralen Vagus und einem „bösen“ Sympathikus. Vielmehr haben wir es mit einem neuronalen Kontinuum zu tun. Je nach äußerer Situation und Herausforderung können die einzelnen Regelkreise temporär die Führung übernehmen. Ein psychisch wie somatisch gesunder Mensch ist fähig, je nach Notwendigkeit, frei zwischen den einzelnen Regulationszuständen hin und her zu schwingen.
So ist es vorerst unbedenklich, wenn eine junge, unerfahrene Mutter schnell mit Unsicherheit und dem Gefühl der Bedrohung auf die Schreiphasen ihres Säuglings antwortet. Problematisch wird es jedoch, wenn sich die Mutter weiterhin bedroht fühlt, selbst dann, wenn das Kind längst friedlich in ihren Armen eingeschlafen ist. Aus einer neurovegetativen Perspektive ist dieses elterliche Verhalten Ausdruck eines „Feststeckens“ im Gefahrenast des Autonomen Nervensystems. Aus psychologischer Sicht ist es ein Hinweis auf das subjektive Bedrohungs- und Unsicherheitserleben der Mutter.
Elterliche Feinfühligkeit und optimierte Toleranzfenster
Aus den modernen Säuglings- und Bindungsforschungen wissen wir, dass gelingende Bindungsbeziehungen von einer feinfühligen Abstimmung der Hauptbezugspersonen mit den Bedürfnissen und Verhaltensreaktionen des Säuglings abhängig sind. (Downing, 2006; Siegel, 2010) Aus körperpsychotherapeutischer Perspektive ließe sich hinzufügen, dass diese feinfühlige Kompetenz der Eltern einen entspannungsfähigen Organismus voraussetzt. Dadurch, dass die erwachsenen Begleiter hinreichend häufig in einen Zustand der Aufnahme- und Öffnungsbereitschaft gelangen, sind sie innerlich dazu in der Lage, sich mit den nonverbalen Mitteilungen des Säuglings zu verbinden und diese adäquat zu beantworten.
Wie beschrieben, ist dieser bindungsbereite Modus der Eltern durch das Überwiegen der ventralen Vagusfunktionen physiologisch fundiert. Auf dieser Basis ist es den Begleitpersonen möglich, auf die verschiedenen Verhaltensmodi des Kindes mit einer Haltung innerer Gelassenheit und Ruhe zu reagieren. Und wie beschrieben, hemmt die gelingende Bindungserfahrung und die damit verbundene Funktion des ventralen Vagus die Auslösung von sympathischen Stress- und Alarmreaktionen, bzw. von dissoziativen Traumareaktionen.
Anders formuliert: Die Erfahrung der Bindungssicherheit beruhigt das Herz, die Atmung und das Toben der Gedanken der Eltern. Bleibt das Sicherheitserleben auf der Basis der ventral-vagischen Regulation erhalten, bleiben „negative Ansteckungsreaktionen“, wie sie sonst häufig zwischen Eltern und Säuglingen beobachtbar sind, aus. In gewisser Weise wirken die Eltern in diesem öffnungsbereiten Funktionszustand wie „Blitzableiter“ für die Stressreaktionen des Säuglings. Heftige Schrei- und Unruhephasen in der Nacht sind zwar anstrengend und ermüdend, aber die in Krisenkontexten häufig beobachtbaren Begleitphänomene der Hypererregung und Bedrohung bleiben aus.
Indem die Eltern in einem öffnungs- und bindungsbereiten Zustand verbleiben, erlebt das Kind während seiner belastenden Schrei- und Unruhephasen ein verfügbares Gegenüber. Die Eltern übernehmen hier eine spezifische „Leuchtturm-Funktion“ für das Kind. Solange die Selbstanbindung der Eltern vorhanden ist, wirken sie dabei als wichtige Hilfssysteme, um die Affekt- und Erregungszustände des Kindes zu modulieren
. Wird der elterliche Begleiter jedoch selbst von emotionalen Erfahrungen überschwemmt, verlässt dieser schnell das enge Toleranzfenster seiner optimalen Aufmerksamkeit für den Säugling. In diesem Augenblick verliert das Kind seinen Ko-Regulator. Das Schreien bleibt unerhört und die zugrunde liegenden Bedürfnis- und Affektzustände finden nicht mehr jene Antwort, die sie benötigen. Das Schreien wird in der Folge in seiner Qualität verzweifelter und haltloser. Gelingt es den Begleitern auch hier nicht, eine Brücke zum Säugling aufzubauen, wird der Stress- und Alarmzustand des Säuglings durch einen Resignations- und Erstarrungsmodus abgelöst. Das Kind gibt auf und gerät in einen paralysierten Zustand.
In dieser neurovegetativen Betrachtung der Bindungsvorgänge zwischen Eltern und ihren neugeborenen Kindern sind alle Formen der Mischung denkbar. Eine gelassene, zugewandte Mutter begleitet ein hochgespanntes, alarmiert schreiendes Baby. Ein haltlos und wütend schreiendes Baby hat eine dissoziierte Begleitperson an seiner Seite, oder ein entspannter und bindungsbereiter Säugling trifft auf eine erwachsene Bezugsperson, die emotional verunsichert und unnahbar ist.
Für die körperpsychotherapeutische Praxis mit Eltern und Säuglingen bieten die neurovegetativen Konzepte ein wichtiges diagnostisches Werkzeug. Konkret kann in der Eltern–Baby–Körperpsychotherapie über die Wahrnehmung der Körperzeichen von Eltern und Säuglingen vom Therapeuten frühzeitig erkannt werden, ob die Betroffenen den schmalen Korridor der Bindungs- und Aufnahmebereitschaft verlassen.
Wenn etwa die junge Mutter in einer kurzen Interaktions- und Beobachtungsphase plötzlich gebannt ihren Säugling fixiert, nur noch flach atmet und sich in ihrer gesamten Körperhaltung versteift, dann sind dies Hinweise darauf, dass die Mutter in der Verbindung mit dem Säugling das Gefühl der Sicherheit verliert und in einen sympathischen Stressmodus wechselt. In der therapeutischen Prozessarbeit könnte dieser Moment ein erster Marker sein, dem eine genauere Exploration des Stresserlebens der Mutter folgt. (Dieser Punkt wird im zweiten Abschnitt des Artikels, in dem die Behandlungstechnik entwickelt wird, noch genauer vorgestellt.)
Was muss nun geschehen, damit die Eltern diesen optimierten Aufmerksamkeits- und Toleranzbereich im Zusammensein nicht dauerhaft verlassen? Wie kann eine körperpsychotherapeutische Vorgehensweise Eltern in Krisenzeiten darin unterstützen, diesen engen Korridor der Bindungsbereitschaft zu bewahren, bzw. wieder aufzubauen?
Im zweiten Abschnitt des Artikels (erscheint in Bukumatula 1/14) sollen behandlungstechnische Prinzipien verdeutlicht werden, wie im Rahmen einer Eltern–Baby–Körperpsychotherapie die Öffnungs- und Bindungsbereitschaft von extrem belasteten Eltern und Kindern gezielt aufgebaut und unterstützt werden kann.
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Weitere Informationen zu Aus- und Weiterbildungen in Emotioneller Erster Hilfe und Präventiver Körperpsychotherapie finden Sie unter:
www.zepp-bremen.de
oder telefonisch im Sekretariat des
Zentrums für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie (ZEPP):
Tel. 0049 –(0)421 – 349 12 36
Fortsetzung in BUKUMATULA 1/14