20 Aug
Bukumatula 2/2018
Was ist das für eine Behandlung? Du wirst den Mut, deine Gefühle zu zeigen, finden! Mehr nicht?
von
Markus Hohl:
Vorwort:
Ausgehend von der Diagnose Psoriasis-Arthritis machte ich in den 1980-er Jahren eine Körpertherapie nach Wilhelm Reich, die im Folgenden beschrieben wird. Die Grundannahme Reichs, den „gepanzerten Menschen“ von diesem Panzer zu entlasten oder zu befreien, ist heute unverändert, die aktuelle Ausgestaltung der Therapie stellt sich Jahrzehnte später wahrscheinlich anders dar. Trotzdem hat sich meine Erfahrung, meine Therapie, in den zurückliegenden zwanzig Jahren als langfristig wirksam erwiesen, sodass ich heute ohne medikamentöse Unterstützung weitgehend beschwerdefrei lebe.
Der Text, geschrieben 1998 (hier der erste Teil in Auszügen), zeigt die „Schwierigkeiten und Freuden“ der Behandlung, die letztlich in einem dynamischen Prozess der Veränderung aufgegangen sind. Und warum erst jetzt in Bukumatula? Weil ich schon lange auf einen Text gewartet habe, der nicht nur die Theorie Reichs, sondern auch die Praxis der Therapie vorstellt.
DER PANZER
Nichts kann sich ändern, solange der Mensch gepanzert ist, weil alles Elend von der Panzerung und Unbeweglichkeit des Menschen kommt, die die Angst vor dem Leben, vor dem beweglichen Leben, schafft.
(Wilhelm Reich, Christusmord)
Der Raum ist groß und hell, aber ohne Einrichtung; nur einen Sessel sehe ich, daneben auf dem Holzboden eine Schaumgummimatte. Unbekleidet wird die Behandlung stattfinden, eine Stunde nackt als Voraussetzung für die Körperarbeit, sagt der Doktor, unter dessen Augen ich mich in einer Ecke ausziehe. Wahrscheinlich gehört das zur Behandlung, sage ich mir, sicher beobachtet er mich beim Ausziehen und wird sich schon die ersten Gedanken machen.
Umständliches Hinlegen, Knie angewinkelt, Arme auf die Matte: langer Blick des Doktors vom Sessel aus auf den nackten Körper, schweigend: Was ist denn, was muss denn so ausgiebig betrachtet werden! ATME! sagt er endlich, atme durch den Mund! als erster Befehl von oben. Ich atme doch schon, Herr Doktor, siehst du es nicht, denke ich, bin aber froh, dass ich nicht weiter nur angestarrt werde, sondern eine ärztliche Anweisung bekomme. Atme, atme vor allem lange aus, und: TON, einen Ton beim Ausatmen, mach die Kehle auf, öffne die Kehle, Ton, Ton! sagt er laut und fordernd.
Also ein Ton beim Ausatmen, aber was für ein Ton, und wie öffnet man denn die Kehle?
So bemühe ich mich, bis ein nichtssagendes Geräusch aus der offenen? Kehle kommt, ein schwingungsloses, gehemmtes „Ah“, kein Ton tief aus dem Inneren, wie er ihn sich vielleicht vorstellt, sondern nur ein mechanisch klingender Laut. Halte den Ton möglichst lange bis zum nächsten Einatmen, sagt der Doktor.
Ob er zufrieden ist, frage ich mich und töne so gut es geht und denke: Was soll das für einen Sinn haben, sage aber nichts und mache meinen Ton brav weiter; der Arzt muss ja wissen, wie man gesund wird. Wahrscheinlich mache ich es nicht richtig, kann es nicht richtig, sicherlich mache ich es ziemlich falsch, ist die Kehle doch wie zugeschnürt, sodass er sich denken wird: Er kann nicht einmal richtig atmen, er bringt gar keinen richtigen Ton heraus! Und frage mich schon in der ersten Stunde: Was tue ich überhaupt, warum mache ich denn eine sogenannte Körpertherapie nach Reich, obwohl ich doch bisher immer ganz gut funktioniert habe, ein geschätzter Lehrer, Ehemann und Vater, ein sogenannter normaler Mensch, kein gestörter Typ bin, in der letzten Zeit höchstens unter schmerzenden Gelenken (Rheuma) und einer unruhigen Haut (Allergie) zu leiden habe.
Weil es dir helfen wird, hat der Doktor, mit dem ich gleich per Du bin, vorher gesagt, weil es neun von zehn dringend brauchen würden, vor allem jene, die es überhaupt nicht nötig zu haben glauben, die sofort sagen: Das interessiert mich nicht, das brauche ich nicht, um Gottes Willen, keine Psychotherapie auch noch, wenn ich doch überhaupt nicht krank bin, schon gar nicht verrückt, sondern nur hin und wieder den einen oder anderen Schmerz spüre, aber im Prinzip doch kerngesund bin! Und es ja gegen alles eine Tablette gibt, ich aber diese Verstopfung mit Medikamenten auf Dauer fürchte und mich deshalb also nun nackt vor den Doktor gelegt habe, damit er mir hilft.
Und gegen meine Befürchtung, nicht viel richtig zu machen, sagt er sogar, dass es gut ist, dass er vielleicht sogar einverstanden ist mit meinem Atmen und Tongeben, auch wenn ich daliege wie eine Luftmatratze ohne Luft; und will dann, dass ich weiteratme, nicht gleichmäßig, sondern stoßweise, mit einem lauten Schrei stoßweise ausatme, was zuerst nur ein heiseres Bellen aus der gesperrten Kehle wird, nur mühsam heraus will aus dem Körperinneren, an den jetzt schmerzenden und knackenden Kiefergelenken (auch hier tut es weh) nicht vorbeikommt, den Kieferblock nur mit Schmerzen aufbrechen kann, weil ich den Mund nur mit Überwindung weit öffnen, also aufreißen kann!
Aber jetzt wird die Anstrengung doch zu einer Art Schrei, nach mehrmaligem Üben gelingt der Schrei einigermaßen, auch wenn der Doktor eher gelangweilt schaut und sogar gähnt?
Nach ein paar Minuten, in denen er mich ein bisschen stoßweise schreien lässt, fragt er: Was SPÜRST du? Ich aber dagegen DENKE: Was soll ich denn spüren, wie kann man außer den Gelenksschmerzen (von denen er nichts hören will) etwas spüren bei einer nicht so leichten Übung, die man möglichst gut machen soll, bei der man sich auf ihr Gelingen konzentrieren muss, damit der Doktor zufrieden ist? Was soll man da noch spüren, wenn man alles richtig machen will, damit man sich nicht blamiert, damit er nicht weiter neben mir gähnt oder mich sogar auslacht? Und genügt denn der Schmerz nicht!
Den Ärger oder den Zorn oder die Angst könnte ich gespürt haben, aber die steckten fest in meinen Knochen und Gelenken, unter dem KÖRPERPANZER, wie ihn der Doktor später nennen wird, und konnten noch nicht herausgelassen werden unter der angespannten Haut!
Du spürst nichts, die Frage ist, ob du überhaupt noch lebst, sagt der Doktor und lacht gar nicht über diesen Witz und ich lenke gleich ab und frage ihn, was das für eine Methode ist, warum ich denn so atmen und schreien muss? Doch da winkt der Doktor nur kopfschüttelnd ab, weil er hören will, was ich spüre, keine Diskussion über die Methode als Ablenkung von mir selbst. Über mich will er wahrscheinlich etwas hören, über meine Beschwerden, die körperlichen und seelischen und wie das alles zusammenhängt. Aber auch das will er dann überhaupt nicht hören, keine Vorträge von mir, sondern etwas anderes!
Was für eine abenteuerliche Behandlung ist das, bei der man nicht in Ruhe etwas erzählen, die eigenen Theorien zum Besten geben kann, sondern sich ausgeliefert wie ein monströses Schaufensterstück fühlt! Und dann sagt er aus der atmenden Stille heraus sogar: Du Körperbatzen! und: Du Fleischbrocken! Ich aber erschrecke nicht, wundere mich höchstens ein bisschen über die Grobheit des Doktors, äußere jedoch keinen Protest, will auch kein Querulant sein, sondern denke mir, recht hat er, weil ich mir genauso vorkomme und daliege wie ein schon etwas angefaultes Stück Fleisch, jedenfalls muss es von rechts oben, von wo der Doktor auf mich herunterschaut, so sein!
Warum muss ich mich denn nackt vor ihn legen, habe ich jetzt auch Zeit, mir zu überlegen, warum muss sofort alles hergezeigt und zur Schau gestellt werden? Den Körper in seiner Nacktheit braucht er, unverstellt, nicht zugedeckt, sondern bloßgestellt, aufgedeckt und öffentlich gemacht in seiner Verkrampfung. Da fällt das bloße Liegen schon schwer genug, wenn man vor allem schweigend betrachtet, ja angestarrt wird, das bloße Liegen wird auf diese Weise zur Qual, sodass ich fürchte, nicht einmal das richtig zu machen. Seltsam verrenkt und ausdruckslos komme ich mir vor, wie ein ziemlich lebloses Objekt, ein Fleischbatzen eben! Und jetzt soll auch noch richtig geatmet und geschrien werden!
Sicherlich schaut der Doktor zuerst auf das Glied, denn auf irgendeine für den Patienten zunächst undurchschaubare Weise muss diese Besichtigung mit dem entblößten Geschlecht zu tun haben. Wahrscheinlich muss die Nacktheit sein, um die offenen oder versteckten Sexualverkrampfungen auf den ersten Blick zu diagnostizieren und die Behandlung darauf abzustellen, da wird noch einiges auf mich zukommen? Obwohl das Sexualleben doch nicht so schlecht ist, sage ich mir, manches Mal doch sogar ein wenig ablenkt vom üblichen Schmerz.
Aber der Doktor redet ohnedies kein Wort davon, der Schwanz scheint ihn gar nicht besonders zu interessieren, weil er mehr den Körper ALS GANZES im Blick hat, wie mir scheint, den Gesamtkörper begutachtet und dabei sicherlich zu katastrophalen Schlüssen kommt. Sonst würde er doch nicht so verstummen, offenbar ist er so erschrocken, dass es ihm die Sprache verschlagen hat, er also überhaupt nichts mehr von sich gibt.
Warum diagnostiziert und erklärt er denn nichts, wie man es bei einem Doktor erwarten muss, warum sagt er denn nicht, was ich habe? Sicher sind seine Erkenntnisse so, dass er lieber nichts mehr sagt, wahrscheinlich hält er mich für einen aussichtslosen Fall, der für diese Art der Therapie überhaupt nicht geeignet ist und wieder weggeschickt werden muss, denn nachdem ich noch ein wenig herumgelegen bin, geht er zunächst ohne Kommentar hinaus und erklärt damit die erste Sitzung für beendet.
Das also war die erste Stunde auf dem Weg zur Heilung, sage ich mir und bin einerseits froh, das es vorbei ist und wundere mich andererseits weiter, dass gar nichts zur Sprache gekommen ist, nicht über meine Gebrechen geredet wurde, als ich mich auf allen vieren langsam in die Höhe bringe. Ich rede mir ein, dass schon alles seinen Sinn haben wird, dass der Doktor schon wissen wird, wie er mich gesund macht, denn von einem sofortigen Abbruch der Behandlung ist nicht die Rede, sondern von der Vereinbarung eines weiteren Termins, möglichst bald!
Er gibt aber auch beim nächsten Mal keine Erklärungen ab, will nicht wissen, dass ich zuhause fleißig geübt, also geatmet habe (das sind keine Übungen, sagt er) und fragt nur, was sich denn verändert habe seit dem letzten Mal? Darauf fällt nun mir nichts ein, so liege und so atme ich also wieder minutenlang vor mich hin, scheinbar unbehelligt von der Heilkunst des Doktors, ohne sein Eingreifen, sodass ich, zur Decke starrend, ihn nur manchmal aus den Augenwinkeln beobachtend, ungestört meinen Gedanken nachhängen kann, mich von meinen Gedanken irritieren lassen kann.
Worauf wartet er, bis er endlich mit der richtigen Behandlung beginnt, denke ich, warum beobachtet er mich denn immer nur und sagt kaum etwas, obwohl er sicher schon einiges entdeckt haben wird, außen und innen, wozu taxiert er mich sonst die ganze Zeit? Sicher wird er aus den geschwollenen Gelenken und der geröteten Haut seine Schlüsse ziehen und sich seinen Teil denken, die Gefährlichkeit der Krankheit schon lange erkannt und den Grad meiner Gestörtheit herausgefunden haben, wird sich vielleicht denken: Noch nicht vierzig, aber schon so ein Körper- und Seelenwrack, das es nicht mehr lange machen wird, bei dem alles Mögliche NICHT IN ORDNUNG IST!
Oder denkt sich: Wie sieht der denn aus! Schon beim ersten Treffen, beim Kennenlernen, wird er mich durchschaut haben, obwohl er damals auf die Frage nach dem Sinn der Behandlung nach einer langen Pause nur gemeint hat: Am Ende wird es dir besser gehen, weil du den Mut haben wirst, deine Gefühle zu zeigen! Was mir aber als nichts Besonderes erschien, gerade dass er nicht sagte: Gesund und glücklich wirst du werden! Obwohl er dann noch etwas ähnlich Banales von sich gab, nämlich: So schön könnte das Leben sein, nicht wahr, so schön könnte das Leben sein, wenn du es dir nicht selbst zur Hölle machen würdest!
Na, na, habe ich mir gedacht, so schlimm ist es auch wieder nicht! Aber das habe ich damals noch nicht ganz verstanden, sondern immer nur wie jetzt daran gedacht, dass er bald etwas ganz Verstecktes, Ungutes, das ich bisher nicht einmal geahnt habe, aus dem Unterbewusstsein herausziehen und mir an den Kopf werfen wird, allerhand psychische Defekte und Normabweichungen schon garantiert erkannt haben und gleich aufdecken wird. Bald wird er mir wahrscheinlich sagen, welche Kindheitsschwierigkeiten ich gehabt habe und wie man die daraus folgenden Störungen nennt.
Da könnte ich ihm schon weiterhelfen und einiges erzählen, aber davon wird nicht die Rede sein, höchstens in Ansätzen und Andeutungen (zum Beispiel: der Vater, die Schläge, die Angst). Es genügt ihm, wird er später sagen, auf meinen Panzer zu schauen, da kennt er sich schon aus, der Körperpanzer genügt ihm, da braucht er keine Wörter und Begriffe, keine psychologischen Diagnosen, nur den Körper, wie er daliegt in seiner Verhärtung und Erstarrung! Daran muss gearbeitet werden, Körperarbeit muss in erster Linie geleistet werden, keine Sprecharbeit als Analysearbeit, sagt er, als ob er meine Gedanken erraten hätte.
Ja, ja, sage ich und bin froh, einen Beitrag leisten zu können; die Psychologie ist ein Sprachproblem, also ein philosophisches Problem, aber da lächelt er nur und meint: Du lenkst von dir ab, du redest gescheiten Unsinn, weil du verlernt hast, DICH SELBST AUSZUDRÜCKEN, also deine Gefühle zu zeigen, was du nämlich hier tun wirst! Worauf ich gleich wieder ruhig bin, möglichst unauffällig daliegen will und mir höchstens noch denke: Schon wieder habe ich mich bloßgestellt und auch nicht verstanden, was er mit dem Wort Körperarbeit wirklich meint.
Wahrscheinlich etwas Ähnliches wie mit dem Satz vom Herauslassen der Gefühle, der heute schon in jeder Illustrierten zu lesen ist, den jeder Hobbypsychologe gegen seinen Nachbarn verwendet, der ein Stehsatz in jedem Hausfrauenkränzchen ist und jetzt als Allerweltsanweisung gegen mich gerichtet wird! Warum schimpft er mich und redet mir nicht gut zu, wie ich es eigentlich erhofft habe, warum ist er nicht nett, wie man es erwarten würde gegenüber einem empfindsamen, vielleicht auch empfindlichen Menschen, wie ich es bin?
In so einem Fall wie meinem muss doch gelobt und bestärkt und nicht zurechtgewiesen werden! Höchstens das Atmen lobt er hin und wieder, meistens aber spricht er nur knappe Befehle aus, zum Beispiel: Lass die Füße auf dem Boden! und immer wieder: Ton, Ton, einen Ton möchte ich hören!
Streng ist der Doktor, und obwohl er ein paar Jahre jünger ist und auch keinen weißen Mantel hat, sondern vielleicht sogar eher abgerissen wirkt, ist er zwar kein Gott in Weiß, aber doch eine Respektsperson, vor der man sich ein bisschen fürchten könnte. Aber das sage ich nicht zu ihm, weil ich es für unwichtig und normal halte, sich vor einer Respektsperson ein bisschen fürchten zu müssen. Wie sich wahrscheinlich auch meine Schüler vor mir ein wenig fürchten, weil sie mich sonst vielleicht nicht ernstnehmen?
Geh wieder hinaus, würden sie vielleicht sogar zu mir sagen, wenn sie sich nicht ein wenig fürchten würden? Oder mich mit ihrer Unruhe, mit ihren Schwätzereien, mit ihrem Gelächter nicht zu Wort kommen lassen, nicht auf mich hören würden, als ob ich nicht einmal im Raum wäre!
Das gibt es ja bei Lehrern, immer wieder hört man von solchen Lehrerschicksalen, dass einer in die Klasse geht und sich schon nach fünf Minuten nicht mehr verständlich machen kann, weil es so zugeht und laut ist, dass er sich fehl am Platze und überflüssig vorkommt und denken muss: Ich kann mich nicht durchsetzen! Wahrscheinlich lachen sie über mein Gesicht, das kein richtiges Lehrergesicht ist, oder über meine Stimme, die keine richtige Lehrerstimme ist, oder über meine Witze, die richtige Lehrerwitze sind.
Deshalb muss man sofort fest auftreten, keinen Zweifel daran lassen, wer zu bestimmen hat, wer der Lehrer ist! Auch wenn das feste Auftreten ziemlich anstrengend ist, muss es doch gleichzeitig ausgeglichen werden durch Freundlichkeit und Entgegenkommen, die ja nicht nur vorgespielt werden. So wird das Stehen vor (oder mitten in) der Klasse zu einer gefährlichen Gleichgewichtsübung und im Lauf zu einer schmerzhaften Verspannung, zu einer Kopf- und Magenverhärtung, zu einer Muskel- und Gelenksverhärtung wie bei mir, zum Panzer, unter dem man im Lauf der Zeit nicht mehr viel Luft bekommt oder wegen des zunehmenden Rauschens im Ohr die Schülerunruhe nur mehr gedämpft und aus wachsender Entfernung hört, auch wenn man dann ein angesehener Lehrer und keine lächerliche Figur ist!
Atme, sagt er, und: Ton! ruft er, und weil er vielleicht verärgert ist über mein unbeteiligtes Daliegen: Willst du überhaupt gesund werden? Ich glaube, du willst überhaupt nicht gesund werden!
Natürlich will ich gesund werden, erwidere ich, aber wie? Und sage mir, dass man beim Doktor doch still und gefasst sein muss, damit er ungestört seiner Arbeit nachgehen und mich behandeln kann. Warum regt er sich dagegen immer über mein ruhiges Daliegen auf? Die Behandlung am brav daliegenden Körper und das Lob für mein Stillliegen habe ich mir erwartet und jetzt ist offensichtlich das Gegenteil der Fall! Der unruhige Körper wird anscheinend verlangt, der widerspenstige Patient, das Kind, das beim Doktor laut jammert (was ich doch immer ganz tapfer vermieden habe), nicht das Kind, das sich nichts anmerken lässt und deshalb gelobt wird!
Das aufsässige, wehleidige, sich herumwerfende, gar schreiende Kind soll ich auf einmal sein, das doch von allen bedauert, belächelt, ausgelacht und von den Eltern geschimpft wird! Nimm dich zusammen, hat es dann geheißen, nimm dich zusammen! als Lebensanweisung zum Beispiel gegen drohende oder bereits ausgebrochene Krankheiten (Tränen und Schmerzen), also auch gegen alle psychischen Probleme, die es als Diagnose aber ohnedies nicht gegeben hätte und die deshalb gar nicht vorhanden waren.
Nimm dich zusammen! selbstverständlich als Anweisung zum Lernen, als Aufforderung, das Beste zu leisten und fleißig zu sein, besonders in den Bereichen, die einem auf die Nerven gegangen sind und also immer mit Unlust und Widerwillen verbunden waren!
Nimm dich zusammen! vor allem aber als Anweisung zum Abwürgen von Gefühlen, besonders der auffälligen; zum Beispiel wurde so der Ausdruck des Ärgers oder eines drohenden Wutanfalls gegen einen Gleichaltrigen (gegen die Eltern sowieso undenkbar) schnell unterbunden.
Die Anweisung: nimm dich zusammen! hat gleichzeitig zur Folge gehabt, dass ständig der Körper zusammengenommen, also zusammengezogen wurde, bis ihm dieser Befehl im Lauf der Jahre wahrhaftig in Fleisch und Blut übergegangen ist, so sehr, dass er sich schließlich ganz von selbst und dauernd zusammengenommen, also verkrampft und verpanzert hat. So sitzt der Doktor heute anscheinend ziemlich ratlos vor diesem verklumpten und zusammengeschrumpften Menschenkörper, der sich offensichtlich nur mehr mit großer Mühe auseinandernehmen und entpanzern lässt! Wahrscheinlich hilft nur ein gewaltsamer Eingriff, nämlich eine Operation, denke ich, eine Operation der versteinerten Kniegelenke zum Beispiel.
So fühle ich mich vom Doktor unverstanden und stelle mir schon vor, wie ich die Behandlung abbrechen werde, ihm gleich sagen werde, dass es so nicht weitergeht, dass ich in der Atmerei keinen Sinn sehe. Vielleicht werde ich es ihm aber erst später mitteilen und etwas von hinausgeworfenem Geld sagen, telefonisch und nicht ins Gesicht, oder ich komme einfach nicht mehr, breche die Behandlung kommentarlos ab, das wäre am besten!
Aber sicher bin ich mir nicht, wie es weitergehen soll, wie ich wieder gesund werde. Immer öfter herrscht Chaos in meinem Kopf, ein Durcheinander, von dem ich jedoch auch nicht weiß, wie es aus dem Kopf herausgelassen und ausgedrückt werden kann, das also am besten im Kopf selbst behandelt werden soll: Die Heilung im Kopf, wenn schon nicht mit Tabletten, dann über ein paar therapeutische Gespräche mit einigen Kunstgriffen seitens des Doktors habe ich mir nämlich erhofft, nicht ein sinnloses vor mich Hinkeuchen und Tönen!
Wieder schaut er von der Seite, von seinem Sessel aus, steht dann auf und geht rundherum, umkreist mich, kommt näher und sagt: Es geht dir also gut? Nein, sage ich, wie kommst du auf so etwas? Weil du ganz ruhig daliegst, wie ein alter Mann, der zufrieden ist, weil er sich nichts mehr erwartet; vollkommen kontrolliert und normal liegst du da! Man sieht nämlich nicht, dass es dir schlecht geht, davon ist nichts zu bemerken, also muss es dir gut gehen!
Aber ich bin gar nicht ruhig, sage ich, in Wirklichkeit bin ich unruhig und nervös und überhaupt nicht zufrieden! Davon sieht man aber nichts, ruft er, davon sieht man nicht das Geringste, schon gar nicht in den Augen, ganz überlegen und abgeklärt schaust du aus, als ob dich nichts erschüttern und durch einander bringen könnte, ein richtiger Herr Lehrer bist du!
Ich verstelle mich nicht, widerspreche ich, man sieht doch an den geschwollenen Gelenken, wie es um mich bestellt ist, an den klauenartigen Fingern und am hinkenden Gang, wie sehr ich bedient bin. Immer wieder fragen mich die Leute, wie es mir geht, worauf ich ihnen antworte, dass es nur Rheuma sei, was sie auch immer zufrieden stellt, weil sie sich nichts darunter vorstellen können, wie sich ja auch die Ärzte nur eine Entzündung darunter vorstellen können. Also nur ein paar Entzündungen, sonst aber alles in Ordnung, sage ich zu den Leuten.
Da musst du wahrscheinlich über dich selbst lachen, sagt der Doktor, weil genau das die Täuschung ist, dass mit der Diagnose schon alles erklärt sein soll, dass mit dem Wort Rheuma die Dinge in Ordnung gebracht sind. Das Wichtige, das herausgezogen werden muss, liegt hinter dem Wort, hinter der Fassade, zum Beispiel deine Unruhe und Unzufriedenheit, die du zeigen und herauslassen musst, wenigstens hier!
Wie denn? Wie können sie denn herausgelassen werden, rufe ich und spüre für einen Moment die Möglichkeit einer Faust am Ende des ruhig daliegenden rechten Arms und stelle mir vor, wie ich dem Doktor eine aufs Maul schlagen könnte, wenn er nicht der Doktor und auch sonst ungefährlich wäre!
Wie denn? sage ich ziemlich laut, vielleicht ein wenig zu laut, weil er eine Spur zurückweicht, leicht erstaunt ist und leiser sagt: Ja, da bewegt sich doch immerhin etwas, ein bisschen Leben ist noch da, wenigstens in der Stimme, wenn schon nicht im Gesicht und im Körper, immerhin noch ein bisschen Leben in der erhobenen Stimme! Das könnte also ein Anfang sein, von der sich hebenden Stimme zum aufrechten Menschen!
Ich weiß nicht genau, was er damit meint, ob er mich nur ärgern will oder ob ich etwas richtig gemacht, auf seine Rede richtig reagiert habe, so wie er es sich erwartet hat, so wie ein gesunder Mensch reagieren müsste. Meint er den Ansatz zu einer Aggression, den er vielleicht bemerkt hat, ein Hinschlagen als immerhin denkmögliche körperliche Reaktion, die höchstens aus der Ohnmacht kommen könnte und ein ganz und gar verzweifeltes bubenhaftes Um-sich-Schlagen wäre?
Und wieder: Atme, sagt er, und: Ton, sagt er, mach einen Ton! und später: Was spürst du? Nicht viel, sage ich und denke angestrengt darüber nach, was ich denn schon wieder spüren sollte, und ich berichte über meine Schmerzen in den Beinen, über meine kalten Hände und eine leichte Benebelung im Kopf, vielleicht vom heftigen Atmen.
In Wirklichkeit müsste ich zugeben, dass ich nichts Besonderes spüre, weil ich mich immer wieder fragen muss, wie ich daliege, wie mich der Doktor sieht, was er sich über mich denkt, ob ich alles richtig mache, ob ich seine Anweisungen auch richtig ausführe und bemerke dabei, dass sich der Blick immer mehr verengt: Auch der Raum erscheint mir kleiner, sogar die ursprünglich hohen Wände niedriger und näher gerückt, die weiße Farbe dafür immer deutlicher gebündelt als Lichtkegel, als Scheinwerfer auf mich gerichtet, dahinter die beobachtenden Doktoraugen, die mich, den Fleischbatzen, anstarren, den Panzermenschen!
Das ist die Einschränkung der Perspektive auf den Gedanken, was sich die anderen von mir denken, nämlich garantiert nichts Gutes! Wahrscheinlich aber denke ich vor allem über mich selbst nur manchmal etwas Gutes, meistens etwas Kritisches, wenn nicht gar Zerstörerisches! Du magst dich ja selbst nicht, war oft die lästige und gereizte Anrede des Vaters, um mich zu treffen, und in Wahrheit meinte er damit sich selbst, war er mit sich selbst unzufrieden. Und dann gelang nur die Flucht in die Aggression gegen die Frau und die Kinder, später fast einzig in den Alkohol. Sich selbst nicht zu mögen, ist die Krankheit, aber auch das ist eine Illustriertenweisheit, die mir nicht weiterhilft.
Und der Doktor scheint nicht einmal das zu wissen, weil er keine Anstalten macht, mir mehr Selbstliebe beizubringen und offensichtlich erkennt er auch nicht die Erziehungsschwierigkeiten, weil er nichts unternimmt, um mein Selbstbewusstsein zu stärken, sondern sogar das Gegenteil versucht, indem er mich nur begafft und dumm sterben lässt! Er redet mir noch immer nicht gut zu, sondern schaut mir weiter beim abwechselnden Atmen und Tönen zu und gibt mir manchmal ein paar Anweisungen, zum Beispiel: Versuche beim Einatmen den Oberkörper zu bewegen, beweg die Brust beim Atmen!
Ich dagegen wackle da nur ein bisschen mit dem ganzen Körper und hebe die Schultern, ohne die Brust aus einer unbestimmten Umklammerung freigeben zu können, was den Doktor veranlasst, mir seine bewegliche Brust vorzuzeigen und eindrucksvoll zu atmen! Wahrscheinlich wird er mich wegen meiner Ungeschicklichkeit bald berühren und angreifen, um mir klar zu machen, wie es geht, aber hoffentlich nicht auf ungute Weise, nicht sogar irgendwie im Sexualbereich, stelle ich mir vor, denn wozu liege ich nackt da, wenn nicht auch die Genitalien mit behandelt werden sollen?
Wozu muss ich mich sonst betrachten lassen, auch unten betrachten lassen vom Doktor, wenn das nicht bald eine Rolle spielen würde, denn eigentlich muss doch in einer Therapie über Sexualität geredet werden, habe ich mir immer gedacht, besonders wenn man sich gleich am Anfang nackt präsentieren muss!
Wahrscheinlich macht er momentan irgendwelche Versuche mit mir, die ich jetzt noch nicht durchschaue, um später handgreiflich zu werden, um meine Reaktion zu testen, vielleicht greift er gar mein Glied an, um zu testen, ob zum Beispiel irgendeine versteckte Schwulengeschichte in meinem Kopf eine Rolle spielt, eine unbewusste latente Homosexualität vorhanden ist.
Wie soll ich dann reagieren, wenn nicht mit dem sofortigen Abbruch der Behandlung? Oder soll ich ganz unbeteiligt tun oder einen Witz machen, vielleicht aber dem Doktor wirklich einen Schlag verpassen, was auch das Falsche wäre. Sicher wird bald die Rede auf so etwas kommen, auch wenn bisher gar nichts besprochen wurde, nichts Wichtiges jedenfalls, wie mir scheint, geredet worden ist, eigentlich nur Belangloses ausgetauscht wurde, nicht einmal medizinische Annäherungen, wie ich sie mir vorgestellt habe, versucht wurden.
Der Doktor aber will gar nicht reden, will nur, dass ich die Brust hebe, durch die Brust ausatme, stell dir ein großes Loch in der Lunge vor, durch das die Luft hinausströmt, sagt er, dann wird es leichter gehen, dann wirst du beweglicher. Während ich krampfhaft versuche, die Brust zu heben und das Loch zum Hinausströmen der Luft aus der gepressten Lunge suche, hat er offensichtlich weiter vor, nur Unwichtiges von mir zu verlangen, eben nicht zum Beispiel über das Sexualleben zu reden, sondern die Brust heben zu lassen und mich fortgesetzt mit seinen Anweisungen zu peinigen, sodass mich beim Ausatmen schon der Rücken zu schmerzen beginnt, nach den Gelenken nun auch der Rücken Probleme bereitet!
Lass die Beine aufgestellt! halte den Kopf ruhig! Lass die Hände auf der Matte! sind seine mir oft unverständlichen Anweisungen, und jetzt eben: Bewege die Brust beim Atmen! Womit er jedoch ziemlich unzufrieden ist, weil ich sicherlich wie ein einziger Krampf vor ihm liege und nicht frei herausatmen kann, was doch das Leichteste von der Welt sein sollte? Mich selbst aber wundert meine Kurzatmigkeit nicht besonders, muss ich mich doch dauernd auf meine Schmerzen konzentrieren und vor allem darauf, was alles Mögliche noch sein könnte.
So muss ich beobachten, ob nicht vielleicht das Kniegelenk sogar etwas mehr schmerzt als noch vor der Behandlung; hören, ob nicht auch ein leises Pfeifen, das vorher nicht da war, aus der angestrengten Lunge herauskommt, vielleicht sogar ein asthmatisches Pfeifen; aufpassen, ob nicht in meinem Kopf noch mehr durcheinandergeraten ist durch die bisherige Doktorarbeit: Anstatt kühler und abgeklärter zu werden, ist er erhitzter und verwirrter durch den Gedankenstau, der nicht heraus kann und so auch zu einem kopfweherzeugenden Blutstau geworden ist, was vielleicht schon die ersten Anzeichen einer bevorstehenden Nervenkrankheit sind, zum Beispiel Multipler Sklerose, Alzheimer oder mindestens einer Depression.
Man sieht nichts, ruft der Doktor plötzlich, da kommt nichts, regt er sich auf, da bewegt sich kaum etwas, kein Ausdruck, nur deine Erstarrung führst du vor, nicht deine Gefühle! Hinter dem erstarrten Oberkörper ist noch etwas, das aber nicht herauskann, weil du es nicht herauslassen willst, das du gut versteckt hast!
Davon weiß ich gar nichts, denke ich und bemühe mich sofort noch mehr und ausdrücklicher zu atmen und gleichzeitig einen beeindruckenden Ton von mir zu geben, einen möglichst auffälligen Ton zu produzieren, der dann jedoch mehr wie ein heiseres Brüllen klingt, mit dem auch der Doktor nichts anfangen kann. Sofort schüttelt er den Kopf und gibt mir zu verstehen, dass es nicht richtig gewesen ist, weil es nicht ehrlich war, dass ich übertrieben habe in diesem Doktorspiel, in diesem Psychospiel falsch gespielt habe, weil ich einen unechten Ausdruck herausgequält habe: Das ist ja nur ein blödes Spiel, ein so genanntes Rollenspiel, aber keine ernsthafte Angelegenheit, bei der man gesund werden kann, denke ich.
Ich glaube, die Methode ist nichts für mich, sage ich also nach einer Pause möglichst deutlich, auch wenn es eher beiläufig klingt und mehr als Nebensatz herauskommt. Und der Doktor: Das ist eine Erklärung, aber kein Gefühl, Herr Lehrer! Ein Gefühl will ich hören und sehen! Außerdem ist es ohnedies besser aufzuhören, wenn du überhaupt nicht mitmachen willst, dich gar nicht auf die Körperarbeit einlassen willst, sagt er ruhig.
Das erschreckt mich ein bisschen, weil es nicht stimmt und ungerecht ist und ich mich deshalb unverstanden fühle, aber das sage ich dem Herrn Doktor nicht, sondern das: Und wie empfindet ein Gesunder dein Atmen und Tongeben, was kann der damit anfangen?
Der genießt es, weil er sich nicht verstellt, weil er seine Beweglichkeit vorführen und seinen Körper frei bewegen kann, ein gesunder Mensch empfindet wie ein Baby LUST, zum Beispiel am Lachen, Schreien und Weinen! Schau dir ein gesundes Baby an, da ist noch nichts gehemmt, da fließt und bewegt sich alles, der ganze Körper ist andauernd in Bewegung, ein einziges Greifen, Rollen, Zucken und Gesichterschneiden!
Ein Baby reagiert sofort, wenn ihm etwas gefällt, sofort merken wir, wenn es sich wohlfühlt, ohne dass etwas gesagt werden muss, auf der anderen Seite aber lässt es keinen Zweifel daran, wenn es sich nicht wohlfühlt, wenn es unglücklich ist, dann wird laut geschrien und geweint, um die Unlust zu beseitigen und die Zufriedenheit, um nicht zu sagen das Glück wieder herzustellen. Das Baby braucht keine Sprache, um auszudrücken, wie es ihm geht und was es sich gerade fühlt. Ein Baby führt uns vor, dass der Mensch zum glücklichen Leben, nicht zum Unglück bestimmt ist, der Mensch will leben, also sich ausdrücken: So die bisher längste Doktorrede, die damit auch diese Sitzung beendet.
Aber wir sind keine Babys mehr, wollte ich noch sagen und bin doch bereits überzeugt, die Behandlung nicht abzubrechen, sondern beim nächsten Mal wiederzukommen.
So verlaufen die Behandlungsstunden: Nach dem Ausziehen in einer Ecke des Raumes lasse ich mich – wegen meiner Kniebeschwerden grotesk auf allen vieren – auf die Matte nieder, die einerseits Fluchtpunkt ist, andererseits aber auch Ort der Quälerei, jedenfalls momentan meine Welt: der Plumpsack (der doch auch einmal ein ganz guter Sportler, ein talentierter Fußballer war!) auf der Matte in der Unbeweglichkeit des Krüppels!
Jetzt auf den zweieinhalbmal einen Meter Schaumgummi beginnend mit dem Atmen und dem Versuch, die Brust beim Einatmen zu heben und dann möglichst lange, möglichst deutlich ganz weit auszuatmen! Dass mir fast schon die Augen aus den Höhlen treten, so betont atme ich aus und leere meine Lunge, die auch nicht mehr ganz in Ordnung ist, aber so, vor allem, wenn der Doktor dann erscheint, mit einem langgezogenen a-Ton immerhin oberflächlich bewegt wird.
Und nun der Doktor neben mir, durchtrainiert, der bewegliche Gegensatz zum erstarrten Patienten, den er wie immer betrachtet, dessen Panzer er sich aus ungefähr einem Meter Entfernung anschaut. Dann die Frage: Was hat sich geändert seit dem letzten Mal? Was soll sich schon geändert haben? Wodurch? frage ich mich und weiß gar nicht, welche Änderungen er sich erwartet, wie bedeutsam die Änderungen sein müssen, damit er zufrieden ist.
Die geschwollenen Gelenke sind jedenfalls unverändert, sage ich, was ihn aber nicht zu interessieren scheint, weil er wahrscheinlich auf etwas anderes aus ist, auf allgemeine Lebens- und Verhaltensänderungen, eine eingeleitete Scheidung vielleicht oder einen Berufswechsel, also auf die großen Dinge, mit denen ich aber nicht dienen kann. Dass ich die Zeitung am Sonntag nach Langem wieder einmal selbst geholt habe, mich aufgerafft habe und zweihundert Meter zu Fuß gegangen bin, ist die Veränderung, die mir einfällt, die ich ihm jedoch sicher nicht mitteilen werde, damit er nicht zu lachen anfängt.
Und in der Schule? Alles beim Alten, muss ich zugeben, noch immer bin ich der distanzierte Lehrer, der sich die Schüler vom Leib hält, dem sie auf diese Weise nicht zu nahe kommen, den sie manchmal aber auch durchschauen: sie sind gar nicht so cool, sagte einmal eine Schülerin! Die Verunsicherung nimmt zu, weil ich früher doch geglaubt habe, dass ich doch als Lehrer keine Schwierigkeiten habe, im Gegenteil immer gern unterrichtet habe, aber mit welcher Körperstarre als Ergebnis? frage ich mich jetzt, und ob ich nicht doch einmal vor die Schüler hintreten und zugeben müsste, dass ich sie auch ein bisschen fürchte?
Nein, sagt der Doktor, du sollst nicht deine Minderwertigkeitskomplexe, sondern dich selbst vorführen, dich als Mensch zeigen; das wäre der dritte Weg neben dem Auseinanderbrechen oder der Erstarrung, wie bei dir. Du sollst erkennen, dass die Schüler dich nicht als Person meinen, wenn sie unruhig werden, wenn sie stören, dass es nicht deine Schwäche ist oder im Gegensatz dazu deine Stärke, wenn du sie ruhigstellst, sondern dass ihr Verhalten zuerst im Schulsystem begründet ist. Keine Lehrermaschine, sondern ein Mensch sollst du sein, der doch auch zum Beispiel zeigen kann, dass er einzelne Schüler mehr mag als andere, der seine Sympathien und Antipathien zum Ausdruck bringt.
Um Gottes Willen, sage ich, das ist doch völlig unmöglich, genau das Gegenteil muss der Lehrer tun, nämlich möglichst alle gleich behandeln! So ein Blödsinn, der Doktor hat keine Ahnung von der Schule, denke ich, wie kann er nur so etwas sagen! Darüber kann doch gar nicht geredet werden, mit solchen Vorschlägen tut er mir keinen guten Dienst, das verunsichert mich nur, so hat das alles aber keinen Sinn! So muss die Behandlung abgebrochen werden!
Und dann passiert eines Tages doch etwas, ohne Ankündigung, während ich wieder allein und mühselig vor mich hinatme und nur daran denke, wann endlich die Stunde zu Ende ist und wie ich aus dieser sogenannten Therapie aussteigen könnte, der Doktor aber mehr unbeteiligt danebensitzt und sich wahrscheinlich eins lacht.
Plötzlich also passiert etwas, das ich nicht erwartet habe, was ich mir nicht einmal habe vorstellen können, nämlich eine Körpersensation! Zum ersten Mal macht sich der Körper frei von den Panzerklammern des Denkens und erobert sich ein Stück Beweglichkeit zurück: Unvermittelt beginnen sich meine aufgestellten Beine zu bewegen, ein leichtes Zittern wird immer heftiger, bis die Knie schließlich nach ein paar Minuten in Wellen aneinanderschlagen, ohne dass ich etwas dazu tue und ich spüre: Jetzt passiert etwas mit mir, da löst sich etwas, geht der Körper mit mir durch und macht sich selbständig, da flattern mir auf einmal die Beine davon! Ein Schock! Ich vergesse auf das Doktor-Atmen und schaue verblüfft auf die flatternden Beine und bin gleichzeitig schockiert und erstaunt und schaue wohl so auch den Doktor an wie den Weihnachtsmann, voll Angst und Freude, aber er nickt und sagt, sehr gut, lass es zu, lass es geschehen, weil er diesen Abflug offenbar schon erwartet hat, also zufrieden ist.
Wahrscheinlich ist es doch nicht ein rasanter Ausbruch der immer wieder befürchteten neuen schweren Krankheit, also einer Schüttellähmung, wie ein Unbeteiligter bei meinem Anblick vermuten würde, doch nicht Parkinson, sondern etwas Gesundes, sonst würde der Doktor nicht so zufrieden schauen, sage ich mir.
Ich weiß ja nicht, was los ist und fürchte mich ein bisschen vor den losgelassenen Beinen, fühle mich zum ersten Mal aber auch nicht geprüft und merke, dass ich keine Erklärung brauche, sondern die Beinfreiheit nach einiger Zeit fast schon genieße. Irgendeine Kraft, die ich nicht kenne, treibt die Beine an, eine Art Körperstrom, der sie ausschlagen lässt und sich langsam hinaufzieht bis unter das Becken, wo ich auch ein leichtes Zucken spüre, das sich durch den Unterleib arbeitet und ihn leichter und fröhlicher macht.
Ein Rütteln und Schütteln also plötzlich im unteren Bereich, das mir verdächtig vorkommt, aber auch so angenehm ist, dass sich bald nach den abhebenden Beinen auch der Schwanz zu rühren beginnt! Offensichtlich auch mehr Strom im Schwanz, was mir jetzt doch ein wenig peinlich wird, weil er sich zu einer halben Erektion aufbaut, auf die ich dann lieber gleich den Doktor aufmerksam mache.
Du bist ein bisschen lebendiger geworden, freu dich darüber, sagt er und hält offensichtlich diese Körperäußerung für selbstverständlich, sodass sie mir nicht weiter peinlich sein muss! Ein bisschen lebendiger bin ich scheinbar ganz von selbst geworden, mehr Beweglichkeit ist plötzlich in die bisher arg stockende Körpermaschine gekommen, bei der jedoch trotzdem die Gelenke unvermindert schmerzen, so weit geht das Wunder auch wieder nicht!
Aber zum ersten Mal seit langer Zeit ist mir wirklich etwas anderes als nur der Schmerz aufgefallen, zum ersten Mal hat sich der Körper nicht nur als aufgedunsenes Fleischstück, als Klumpen gezeigt, bei dem alles schwer zu Boden zieht, sondern als etwas Leichtes, Schwebendes, das „von selbst geht“, was einem Gesunden nicht auffällt, weil es für ihn selbstverständlich ist.
Aus dem Stillstand hat der Unterkörper mit einem Schlag losgelegt, zwar noch unregelmäßig, aber nach der jahrelangen Sperre geht jetzt etwas weiter, kann ich auf einmal strampeln – ja, fast wie ein Baby; spielerisch schien der Körper für einige Minuten, die Beine als Mobile, auch wenn ich gleich wieder aus dem Raum humpeln werde.
Jahrelang habe ich das Zusammengezogene und Verkrampfte gespürt, jetzt aber das Losgelassene und Ausgelassene; ein ausgelassener Mensch bin ich für ein paar Minuten gewesen, deshalb bin ich mir wahrscheinlich fremd vorgekommen! Denn an das Ausgelassen-Sein kann ich mich nicht erinnern, schon gar nicht als Kind, das vor allem brav und ruhig, aber nicht ausgelassen war, besonders nicht in Vaternähe, der das Laute nicht aushielt, dabei selbst aber immer sehr laut war und viel geschrien hat und sich dabei selbst nicht aushielt. Ein gut erzogenes Kind also, nicht ausgelassen, sondern eingesperrt in der dauernden Angst, etwas falsch zu machen!
Aber vorerst schlenkern nur die Beine, die bei diesen Gedanken gleich wieder stillstehen und sich erst nach der Kopfberuhigung wieder in Bewegung setzen. Die Binsenweisheit aus diesem Erlebnis ist, den Körper gehen zu lassen, was seit Jahren mit großen Schwierigkeiten verbunden ist; der Körper „geht nicht mehr“, er hinkt und stockt. Das will der Doktor wahrscheinlich: Damit ich wieder gehen kann, muss ich mich gehen lassen und deshalb mehr spüren, fragt er doch immer wieder: Was spürst du?
Jetzt also schon mehr als noch vor ein paar Behandlungsstunden, jetzt fällt mir schon mehr auf, nachdem ich nicht mehr nur darauf achten muss, was sich die anderen – der Doktor – von mir denken könnten. Auf mich selbst kann ich mehr schauen, mich selbst nicht nur mehr als Klumpen wahrnehmen. In den rotierenden Beinen beginnt es bald zu ziehen und pulsieren, eine Gänsehaut entsteht, die sich auch als schneller Schauer über den Rücken zieht.
Aber bald erstirbt die Welle an einem harten Brett, das quer in den Bauch eingespannt scheint, in die Bauchränder hineingefräst ist, wie hineingetreten in den Oberbauch und sich dort querlegt. Ob sie elastisch ist, fragt mich der Doktor, als ich ihm von dieser Sperre berichte. Nein, sage ich, hart und starr spüre ich sie fast bis zum Hals herauf und ziemlich tief im Körperinneren, auch im Rücken hart und gespannt.
Und dann kommt der Doktor zum ersten Mal ganz nahe, prüft meinen Zustand nicht mehr aus einem bestimmten Abstand, sondern hockt sich neben mich hin und legt mir von der Seite seine kühle, trockene Hand auf die Brust, wahrscheinlich um das Brett zu fühlen, das sich jetzt schon mehr als gusseiserne Klammer anfühlt und vorher gar nicht da war, jedenfalls ist sie mir noch nie aufgefallen.
Atme, atme so, dass du meine Hand heben kannst, sagt er und drückt sie mir auf die Brust und ich atme mit aller Kraft dagegen, versuche vehement gegen die Doktorhand anzuatmen, obwohl sie nicht so unangenehm ist, wie ich befürchtet habe. Aber viel tut sich nicht, nur wenig kann ich dem Druck entgegensetzen und die Lage der Eingeweideklammer ändert sich dadurch überhaupt nicht. Immer wieder atme ich tief ein, um den Brustkorb zu heben, um auch den Oberkörper wie die Beine ein bisschen mehr in Bewegung, ins Rollen zu bringen, aber da tut sich nichts, da wird nur ein krampfartiges Rucken daraus, nichts Fließendes.
Dann setzt sich der Doktor hinter mich, nimmt vorsichtig meinen Hinterkopf in beide Hände und lässt ihn wie in einer Schale liegen, – sonst nichts! Und? Was jetzt? Was erwartet er sich denn? Wie muss der Kopf von mir gehalten werden, damit er zufrieden ist? Wahrscheinlich will er den entspannten, losgelassenen Schädel haben, den ich auf seine entsprechende Anweisung, nämlich den Kopf so schwer wie möglich werden zu lassen, gleich in seine Hände hineinfallen lassen will, was aber doch offensichtlich mehr ein gespanntes Hinstrecken wird, weil er nicht aufhört, den Kopf zu umklammern, jedenfalls kommt es mir so vor! Mehr eine Umklammerung als ein lockeres Halten spüre ich, mehr eine Angst, dass mir jemand (er?) die Schädeldecke eindrückt, weniger die Zuversicht, durch die Doktorhand geschützt zu werden.
Zwar keine Panik, aber doch große Vorsicht und Aufmerksamkeit, eine vorerst nicht nachlassende Unruhe, je länger ich den Doktor in meinem Nacken spüre. Aber er macht auch nach mehreren Minuten keine Anstalten, den Schädel endlich freizugeben, deshalb gewöhne ich mich langsam daran und spüre, dass nichts anderes passieren wird, schon gar nichts Unangenehmes oder Gefährliches; so stellt sich schließlich doch eine Besänftigung ein, die den Kopf ruhig und mich gesprächig macht. Dass ich die Angst gespürt habe, einen Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen, sage ich zum Doktor, der den Kopf nun sanft auf die Matte sinken lässt und mich ermuntert weiterzureden.
Ein Schlag auf den Hinterkopf vom Vater, wenn ihm wieder einmal etwas nicht gepasst hat, schnell eine „Tachtel“, so wurde daraus eine Körperhaltung, wenn ich aus irgendeinem Grund mit schlechtem Gewissen am Vater vorbeigeschlichen bin, den Kopf eingezogen und mit einem Unterarm schützend, immer gewärtig, „eine zu bekommen“. Aber mich regt nicht wirklich diese Erinnerung auf, sondern der Zorn, den ich zum ersten Mal im Schädel spüre, die Wut auf den schlagenden Vater, habe ich doch als Kind offensichtlich vor allem Angst und Erschrecken wahrgenommen. Aber bei diesen Worten bleibe ich ganz ruhig, nur die Arme sind ein wenig außer Kontrolle, so bleibt der Zorn vorerst nur eine Kopfgeschichte.
Daran arbeitet der Doktor dann vielleicht in der nächsten Sitzung, weil ich mich aufsetzen muss und er meinen Hals zu befühlen, an meinem Hals herumzudrücken beginnt, und zwar nicht vorsichtig oder gar sanft, sondern ziemlich kräftig, sodass mehr ein heftiges Kneten als ein angenehmes Massieren daraus wird.
Ja, ruft er, was haben wir denn da, richtige Eisenkugeln, die du in deiner Halswirbelsäule angesammelt hast, steinharte Knödel im Nackenpanzer, um die täglichen Gegner nicht nahekommen zu lassen! da muss es ja auch wehtun, sagt er, nicht nur im Bauch und Oberkörper die Verhärtung, sondern besonders im Genick, ruft er, wie bei den meisten Leuten schon fast eine Nackenstarre von der Daueranspannung: immer den Kopf eingezogen zwischen den Schulterblättern zur dauernden Abwehrhaltung! Gegen wen musst du dich denn immer verteidigen?
Gegen alle, gegen alle selbstverständlich, sage ich und versuche den Kopf zum hinter mir stehenden Doktor zu drehen, bleibe dabei aber gleich stecken, kann den Kopf höchstens zur Seite drehen, aber nicht weiter zurück, um mich umzuschauen, um dem Doktor zu beweisen, dass es gar nicht so arg ist.
Auch hier seit Jahren eine Eisenklammer, die eingerostet scheint und sich kaum mehr bewegen lässt; entstanden aus der dauernden Verteidigungsbereitschaft und dem Gedanken: Ich darf mir nichts gefallen lassen! Besonders vor den Schülern muss man ständig auf der Hut, also gespannt sein; stundenlange Gespanntheit vor den Schülern, um sich nicht bloßzustellen und den lockeren Lehrer spielen zu können: vorgetäuschte Entspanntheit also mit ständig eingezogenem Kopf und gesträubten Nackenhaaren offensichtlich! Nur ein schwacher Mensch lässt sich etwas gefallen, habe ich mir immer gedacht, einer, der nicht ernst genommen wird, muss sich etwas gefallen lassen.
Immer bin ich vorbereitet auf eine Auseinandersetzung, eine Konfrontation mit irgendjemandem, die aber kaum jemals das Aussprechen des Ärgers, der Enttäuschung oder des Zornes gewesen ist, meint jedenfalls der Doktor, sondern meistens eine Belehrung oder Zurechtweisung. Du bist ein Belehrer und Zurechtweiser, sagt er, wahrscheinlich auch ein Stänkerer und Zyniker, deshalb ist dir eine richtige Eisenplatte unter der empfindlichen Haut gewachsen!
Na, na, sage ich ziemlich leise und fühle mich wieder einmal schlecht behandelt, wenn er auch ein bisschen recht hat: Die Flucht in den Zynismus als Abwehr, um nicht zu viel Angst aufkommen zu lassen, tut mir nicht gut, was schon an der Haut zu sehen ist. Auch die ist zu gespannt, muss sich offensichtlich dauernd verteidigen und reagiert auf alles mögliche allergisch, also falsch: Zum Beispiel auf harmlose Birkenpollen mit einem Heuschnupfen, der mir die Luft nimmt, so wie ich auf harmlose Schüler übertrieben reagiere mit allen möglichen Beschwerden?
Atme, sagt der Doktor, versuche zu den schmerzenden Stellen hinzuatmen und sie aufzuweichen, weil du selbst in Wirklichkeit kein harter, sondern eher ein weicher Mann bist, sicher kein harter Hund, sondern ein gefühlsbetonter Mensch, den du aber auch zum Ausdruck bringen musst!
Immer dasselbe, denke ich, immer redet er denselben Krampf, dieselben Allerweltsweisheiten! Außerdem will ich kein weicher Mann sein, vielleicht gar ein sogenannter Softie! Und jetzt soll auch noch zu den Schmerzstellen hin geatmet werden, aber wie? Wie atmet man in den Nacken oder zu den Knien hinunter, von außen oder von innen, mit mehr oder weniger Druck und wie soll ich den offenbar im Körper dahinschleichenden Atem spüren?
Mit seiner Anweisung will er mich wieder ärgern und sich im Stillen darüber lustig machen, wie ich den Atem tatsächlich im Körper herum schicken will, zu den Schmerzstellen mit aller Kraft hinzuatmen versuche, dabei aber alles taub und unverändert bleibt, ich nur schwerfällig nach Luft schnappe und sich jetzt auch das rotierende Beingefühl nicht mehr einstellen, sich der Unterkörper nicht mehr in Bewegung setzen will, alles im Krampf erstarrt.
Wie zum Hohn sagt der Doktor: Du bist viel lebendiger, als du glaubst, da ist viel mehr Leben in dir, als du dir selbst zutraust, viel mehr Energie in deinem Körper, die du aber eingesperrt hältst und nicht herauslässt, weil du als Lehrer immer kontrollieren willst, ob alles in Ordnung ist, du unter keinen Umständen die Kontrolle verlieren möchtest und so die Lebendigkeit verloren geht, weil du dich nur selbst damit sperrst und krank machst!
Ja, weil ich Angst habe, dass sonst nichts funktioniert, dass ich nichts zusammenbringe, sage ich, aber ganz ruhig und unbeteiligt sage ich es, mehr nebenbei, als sei es ganz normal, und der Doktor schüttelt nur den Kopf. Was hat sich geändert, fragt er beim nächsten Mal wieder, überraschend mit einer Zigarette im Mund, während ich pflichtgemäß atme und so kurzfristig auch die Beine wieder in Bewegung bringe.
Noch immer hat sich nichts geändert, sage ich und denke mir noch nicht viel bei der Doktorzigarette, die er sicherlich auch gleich ausdämpfen und weggeben wird, während ich die vom vorigen Patienten übriggelassene abgestandene Luft heftig ein- und ausatme und dazu jetzt auch noch die Zigarettenwolke des Doktors, der aber keine Anstalten macht, das Rauchen einzustellen, sondern sich paffend auf seinen Sessel neben mich setzt und mir zuschaut.
Warum raucht er denn auf einmal, frage ich mich, zum ersten Mal sehe ich den rauchenden Doktor, aber erst, als er sich noch eine anzündet, während ich fleißig keuche und auch manchmal einen Ton beim Ausatmen von mir gebe, denke ich mir, dass er mit dieser Aktion etwas bezwecken will, weil er mich – so bilde ich mir ein – irgendwie spöttisch anschaut, vielleicht auf meine Reaktion wartet, auf einen anderen Ton wahrscheinlich.
Ein Doktor kann doch nicht neben seinem nach Luft ringenden Patienten rauchen, sage ich mir, sich gedankenverloren eine Zigarette anzünden und dann noch eine, das gibt es doch gar nicht, ganz besonders nicht neben einem ohnedies ziemlich angeschlagenen und schutzlos daliegenden Patienten, von dem er noch dazu weiß, dass er Nichtraucher ist! Die Zigarette in der Doktorhand ist ein absoluter Verstoß gegen jede Doktormoral, also eine totale Provokation! Aber eigentlich passt das zu ihm, der sich auch sonst nicht wie ein Doktor benimmt, der mich ja höchstens beobachtet, aber nicht behandelt, der meistens nur herumsitzt, aber kaum eingreift, der nichts diagnostiziert und keine Maßnahmen ergreift, auch wenn ich zugeben muss, dass die fliegenden Beine verblüffend sind.
Aber sonst lässt er vor allem die Zeit vergehen, um damit Geld zu verdienen, sage ich mir, obwohl dieser Gedanke zunächst nur der Zorn auf den rauchenden Doktor ist, der noch immer allein nur mit seiner Zigarette beschäftigt ist, sich also nicht nur nicht wie ein Doktor benimmt, sondern vielleicht gar keiner ist, sondern einen Doktor nur spielt, auch wenn das Schild vor seiner Tür das Gegenteil aussagt.
Aber eigentlich spielt er ja nicht einmal einen Doktor, weil er da anders reagieren müsste, sich mehr bemühen und wenigstens einige doktorähnliche Sprüche loslassen würde. Eigentlich spielt er nur die anderen Leute, x-beliebige Leute, die mir überall begegnen könnten, er spielt nur das Publikum, die Mitmenschen, die Kollegen, die Passanten mit ihrer Fremdheit und Gleichgültigkeit, mit ihrer Gafferei und Aggression, mit ihrer Dummheit und Intoleranz! Und wartet, wie ich darauf reagiere, nämlich bisher mit dem Zusammenziehen und Kleinermachen, meistens jedenfalls. Jetzt also ist der Doktor offensichtlich der rücksichtslose Raucher?
Warum rauchst du denn die ganze Zeit, sage ich endlich ruhig, davon wird ja die Luft nicht besser, aber er reagiert darauf nur mit einem vielleicht noch spöttischeren Blick, schaut mich weiter nur an und sagt nach einer Pause: Was war denn das?
Was war denn das, was war denn das! äffe ich ihn nach und schüttle dabei den Kopf über so viel Doktorarroganz, schimpfe und schüttle aber mehr in mich hinein als zum Doktor hin, der wahrscheinlich gemeint hat, dass er wieder einmal meinen Ausdruck nicht deuten kann, dass ihm mein Ausdruck zu wenig deutlich ist, zu unklar auch gegen ihn, den Verursacher, gerichtet!
Aber immerhin gibt er augenblicklich die Zigarette weg, als hätte er nur auf irgendeine Aussage gewartet, auf irgendeine Reaktion, auch wenn sie zu wenig und schon gar kein Gefühlsausdruck, höchstens die Darstellung einer kleinen Verärgerung war.
Vielleicht hätte ich sagen sollen: Gib endlich die Zigarette weg, du Arschloch!? Oder: Mir geht dein Rauchen auf die Nerven!? Oder hätte gar aufstehen und rufen sollen, da freut es mich nicht mehr, wenn du die ganze Luft verpestest, da werde ich sicher nicht mehr weiteratmen, sondern nach Hause gehen! Hätte die Matte verlassen und eine Aktion setzen sollen, einen Auf-stand machen? Aber könnte ich das überhaupt mit den schmerzenden Gelenken? Und wäre das nicht lächerlich gewesen, hätte ich mich da nicht einfach nur blamiert?
Zeigs mit den Augen, zeige mit den Augen, was du empfindest, sagt er, das Wichtigste sind die Augen, da erkennt man zuerst, was los ist. Bei dir aber habe ich gar nichts gesehen, keine Reaktion in den Augen, nur im Kopf hast du dich aufgeregt und beschwert, aber die Augen waren die eines Unbeteiligten!
Aber das ist nicht so leicht, ich bin ja kein Kleinkind mehr, dem man nur in die Augen schauen muss, um zu wissen, was es empfindet, erwidere ich, außerdem ist bei dir auch nichts zu sehen, was soll denn in deinem Blick zu sehen sein, höchstens die Langeweile und der Überdruss (mit so einem Patienten, wie ich es bin, denke ich) und erschrecke dabei und verstumme, weil ich ja die Wahrheit in seinen Augen erkenne, nämlich seine Enttäuschung mit so einem Patienten, bei dessen Behandlung er sich nur langweilt? Er zeigt doch, wie er sich fühlt, ganz deutlich ist der Unmut im Doktorgesicht zu erkennen, den er vielleicht aber auch nur spielt, um mich zu provozieren wie bei der Zigarettengeschichte, um meine Reaktion herauszufinden?
Es geht zu wenig weiter, sagt er, du bemühst dich zu wenig und liegst nur unbeteiligt herum, als ob ich dich gesund machen könnte ohne deine eigene Anstrengung, ohne dass du deine Lebendigkeit zulässt. Und wieder ahne ich da meine Wut, irgendwo im Körper versteckt, in den Gelenken, unter dem harten Brett der Eingeweide und hinter der Stirn vielleicht, und kann sie nicht herauslassen, weil ich mich nicht traue und nur daran denke, dass ich dann vielleicht falsch reagiere, nicht wie ein Vierzigjähriger, sondern wie ein schlimmes Kind!
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Fortsetzung in Bukumatula 1/19