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Bukumatula 2/2019

Willi und Lore – Alicija und Martin und die Traumen der begabten Kinder

von
Beatrix Teichmann-Wirth:

Im Zuge meiner Arbeit an der Rezension der Autobiografie von Lore Reich Rubin erinnerte ich mich an das sehr lesenswerte Buch „Das wahre `Drama des begabten Kindes´. Die Tragödie Alice Millers.“ Der Autor ist der Sohn der berühmten Psychoanalytikerin, die mit ihrem Ansatz wie auch Reich tausende Menschen wie auch mich, sehr berührt hat.

Mich beeindruckte die Vielzahl von Parallelen, die ich sowohl in den Biographien der beiden – Wilhelm Reich und Alice Miller, wie auch in dem, wie sie mit ihren Kindern umgingen, finden konnte.

Die in meinem Beitrag heraus gearbeiteten Parallelen beruhen – was Wilhelm Reich betrifft, auf den Biographien von Ilse Ollendorf-Reich, Myron Sharaf, David Boadella und seinen autobiographischen Aufzeichnungen. In Bezug auf Alice Miller beziehe ich mich auf die gründliche Recherche von Martin Miller, der mit Verwandten, Therapeuten und Zeitzeugen in Kontakt trat. Die Ausführungen erheben in diesem Sinne keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Was die Gemeinsamkeiten betrifft, so beeindruckte mich zu allererst, dass beide – Alice Miller und Wilhelm Reich – ihre Ansätze und Konzepte von einem förderlichen, heilsamen Einfluss der Eltern auf die Kinder in deren Beziehung zu den eigenen Kindern so überhaupt nicht verwirklichten. Im Gegenteil – sie wurden traumatisiert, vernachlässigt und überfordert. Ich weiß, das ist häufig der Fall, dennoch: diese Kluft zwischen Anspruch, dem theoretischen Ansatz und auch dem therapeutischen Wirken von Menschen und der enttäuschenden Wirklichkeit im Umgang mit den Nächsten, ist immer wieder schier unglaublich für mich.

Beide – Alice Miller wie auch Wilhelm Reich, mussten schon früh – vor dem 18. Lebensjahr Verantwortungen übernehmen, die nicht altersgemäß waren. Reich hatte sich nach dem Selbstmord der Eltern um die Leitung des Gutshofes zu kümmern, ehe er bald danach in den Krieg eingezogen wurde. Alice Miller, 1923 in Polen geboren, verpflichtete sich bereits als 16-Jährige zur Rettung ihrer Familie aus dem Getto.

Sowohl das Werk Alice Millers als auch das Wilhelm Reichs fußt auf zentralen Erfahrungen in deren Kindheit und Jugend. Reichs Mutter hatte ein Verhältnis mit einem Hauslehrer. Als Wilhelm dies seinem Vater verriet (die Details finden sich in einer verklausulierten Fallstudie wieder, über die Myron Sharaf in seiner Reich-Biographie berichtet), sah die Mutter keinen anderen Ausweg, um dem Terror des Ehemanns zu entkommen, als ihr Leben zu beenden. Der Vater seinerseits konnte den Tod seiner Frau nicht ertragen und beging einige Jahre später, einen, wenn auch getarnten Selbstmord.

Wilhelm Reich kämpfte sein Leben lang für die sexuelle Freiheit und gegen das Korsett der Kleinfamilie. Alice Miller wiederum musste, um in Warschau zu überleben, zwischen dem achtzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahr tagtäglich ein Versteckspiel spielen, da sie als Jüdin nicht erkannt werden durfte – ein Versteckspiel, das tief in ihre Persönlichkeit eingriff.

Martin Miller schreibt: „Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben. Die tragische Konsequenz dieser traumatischen Erfahrung war, dass Alice Miller bleibend zwei verschiedene Persönlichkeiten in sich trug. Einerseits die aufmüpfige und rebellische Alicija, die sich gegen Normen auflehnt und sich schon als Kind für das Existenzrecht menschlicher Originalität einsetzt, andererseits die quasi unsichtbare Alice, die dem Zwang zur Anpassung absolut gehorsam ist, um ihr Überleben zu sichern.

Dazu kam die paradoxe Spannung, dass sie in der Verfolgungssituation mit einem jüdischen Selbst identifiziert wurde, das sie bis dahin immer abgelehnt hatte, das sie nun aber um jeden Preis verbergen musste.“ Bewegte sich bei Alice Miller das spätere Leben im Spannungsfeld dieser beiden Pole, so war es bei Reich einerseits der Anspruch auf ein freies sexuelles Leben auch in der Partnerschaft – er hatte den Biographien zufolge auch in seinen Ehen immer wieder Affären, die er als Beitrag zur Erhaltung seiner Gesundheit rechtfertigte, und andererseits war er extrem eifersüchtig in Bezug auf seine Frauen.

Die Biographien zeigen auch, wie gravierend die Folgen von (früher) Traumatisierung sind: Beide haben sich über ihre traumatischen Erfahrungen nicht explizit öffentlich geäußert. Wie bei vielen Opfern von Gewalt und Überwältigung fand offenbar auch bei ihnen ein Verstummungsprozess statt. „Die Opfer sprechen nicht. Die Gründe des Schweigens sind verschieden.

Die Opfer wissen, dass keiner wirklich ihre Erfahrungen verstehen kann, der nicht selbst im Lager war“, schreibt Leiser, zitiert nach Miller im Buch „Leben nach dem Überleben“. Ein weiteres Symptom von schwerer Traumatisierung ist das Switchen von einem in der Traumatherapie so benannten Ego-State in einen anderen. Gerade noch freundlich und entspannt, kann zum Beispiel ein individuell bedeutsamer Stress eine heftige Aggression auslösen. Beide waren in ihren Reaktionsweisen unberechenbar – bisweilen zugewandt, offen und kindgerecht, dann plötzlich bedrohlich, abwehrend und aggressiv.

Beide hielten gesellschaftlichen Umgang nur schwer aus. Reich schreibt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen, dass er Kontakt, „außer mit guten Freunden“ oder wenn es um seine Arbeit ging, nicht ertragen kann. Und auch Alice Miller hielt Gesellschaften offenbar schlecht aus. Beide wurden zunehmend einsam, widmeten sich ganz ihrer Arbeit und suchten – auch ein Wesenszug von traumatisierten Menschen – Zuflucht in geistige Höhen.

Beide zogen sich von menschlichen, auch therapeutischen Kontakten zurück. Reich widmete die letzten Lebensjahre vor allem seiner Forschungstätigkeit, Alice Miller zog sich in die Provence zurück, schrieb an ihren Büchern, die sie auf einsamen Spaziergängen entwickelte und kommunizierte vor allem über E-Mails mit anderen Menschen. Beide waren höchst sensibel gegenüber Kritik und verstanden diese oftmals als zentralen Angriff auf ihre Person.

Beide entfernten sich von der Psychoanalyse im orthodoxen Sinne, weil sie sich weiterentwickelten und sich nicht mehr in ein enges Korsett zwängen konnten. Während diese Bewegung bei Reich jedoch in einem Ausschluss mündete, war es bei Miller ein eigener, nach einer schweren Krebserkrankung getroffener Entschluss, der zur Trennung von der psychoanalytischen Vereinigung führte. Beide zeigten paranoide Züge gegen Ende des Lebens – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Beide hatten eine missionarische Ader, ein Sendungsbewusstsein, ihre Ideen in die Welt zu bringen.

Die Biographien zeigen eindrücklich, wie sehr eine Traumatisierung, so sie nicht geheilt ist, weitergegeben wird. Man gewinnt den Eindruck, dass beide keinen wirklichen Raum für ihre Kinder hatten, weshalb diese auch abgeschoben werden mussten – siehe die Rezension von Lore Reich Rubins Autobiographie. Auch Martin Miller wurde für 2 Jahre in ein Heim gesteckt. Beiden Kindern, Lore und Martin, wurde oftmals über Jahre hinweg der Kontakt entzogen. Und beide hatten es mit diversen Symptomen einer eigenen posttraumatischen Belastungsreaktion zu tun.

Teilweise sind auch die Parallelen im Aufwachsen der Kinder der beiden berühmten Eltern schier unglaublich. Wenn Lore Reich Rubin erzählt, dass sie und Eva in erster Linie still zu sein hatten, wenn die Eltern analysierten oder ihre wissenschaftlichen Arbeiten verfassten, so findet sich im Buch von Martin Miller nahezu wortident eine Beschreibung seines Lebens als Kind: „Ich erinnere mich, wie meine Eltern in intensiver Konzentration am Esstisch saßen. Ich schaute ihnen zu. Schweigend. Stundenlang, so kommt es mir vor. Ich verstand nicht wirklich, was sie da taten, aber dass ich keinen Lärm machen durfte, das war klar. Es herrschte absolute Stille.“ (S. 113)

Und auch folgende Sätze könnten von Lore Reich Rubin stammen: „Die beiden waren so damit beschäftigt, den Krieg zu vergessen und endlich wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, dass die Bedürfnisse eines Kindes schlicht sekundär waren.“ (S. 114) oder zum ersten Schultag: „Niemand hatte mich auf die Schule vorbereitet“ (S. 118), ebenso wie Lore Reich Rubin auf keine der wesentlichen Veränderungen – Wechsel der Wohnorte, Unterbringung in kommunistischen Lagern, bei Greta Fried, etc. – vorbereitet wurde.

War es in den frühen Lebensjahren die Vernachlässigung, die die Beziehung von Alice Miller zu ihrem Sohn prägte, so intensivierte diese den Kontakt ab seinem 17. Lebensjahr „exzessiv“. Die Übergriffigkeit fand einen dramatischen Höhepunkt, als Alice Miller ihren damals bereits erwachsenen Sohn drängte, zu einer Schülerin von dem von ihr verehrten Primärtherapeuten Klaus Stettbacher in Therapie zu gehen. Als Martin Miller in eine schwere Krise geriet, beugte er sich dem beständigen Druck und nahm die Therapie auf.

Es ist unfassbar, wie missbräuchlich das ablief: „Meine Therapeutin schickte die Tonaufnahmen unserer Sitzungen an Stettbacher, der berichtete meiner Mutter und sie wiederum versuchte in ihren Briefen auf mich in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen.“ (S. 121) In einer späteren Sichtung der Briefe wurde ihm klar, wie sehr er ein Opfer ihrer Gehirnwäsche war, indem sie „mir immer und immer wieder einhämmerte, dass ich das Opfer falscher Wahrnehmungen wäre …. und ich ein Monster und total gestört (wäre)“.

Wie grotesk, dies von Alice Miller zu lesen, hat sie doch ihr Lebenswerk der Wahrnehmung und Bestätigung des eigenen wahren Selbst gewidmet. Alice Miller insistierte wie Reich – er interessierte sich besonders für die sexuellen Erfahrungen seiner Kinder – oftmals auf die Beantwortung von intimen Fragen – auch ein Zeichen von beschämender Übergriffigkeit.

Auch neigten beide zu einer Parentifizierung der Kinder, wie dies Reich vor allem bei seinem Sohn Peter tat, indem er ihn als einzig verbliebenen „Soldaten“ (miss-)brauchte. Martin Miller wurde hingegen in der Jugend „oft geradezu verfolgt“. In beiden Fällen ging es nicht um die kindlichen Bedürfnisse und um eine Berücksichtigung der Generationenschranke, sondern allein um die Bedürfnisse der verlassenen Kinder Willi und Alicija.

Aber es gab natürlich auch wesentliche Unterschiede: Alice Miller und ihrem Sohn Martin war eine viel längere gemeinsame Zeit gegönnt; Alice Miller starb mit 87 Jahren, da war ihr Sohn bereits 60 Jahre alt. Es konnten daher auch friedvolle Phasen mit seiner Mutter stattfinden. Auch tauschten sie sich auf einer fachlichen Ebene aus, und die Jahre in denen sie an ihren drei bedeutendsten Büchern arbeitete, war von lebhaftem Interesse geprägt, etwas was Wilhelm Reich zwar mit Eva, nicht jedoch mit Lore hatte. Alice Miller hat, im Unterschied zu Reich, einen Traumatherapeuten, Oliver Schubbe, aufgesucht, um ihr Trauma und die Triggerung durch ihren Sohn zu heilen.

Martin Miller hat mit seinem tiefen Interesse für die Biographie seiner Mutter und seiner Bereitschaft, ihr Verhalten ihm gegenüber als Ausdruck ihrer Geschichte zu sehen, sicher einen wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Heilung geleistet. Er hat darüber hinaus ihr Werk gewürdigt und es war ihm, wie er am Schluss des Buches schreibt wichtig, dass sein Buch weder eine Abrechnung noch eine unkritische „Lobhudelei“ sei. Das, meine ich, ist ihm gelungen.
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Literatur:

Miller, M. (2013). Das wahre `Drama des begabten Kindes´. Die Tragödie Alice Millers. Kreuz Verlag
Ollendorf-Reich, I. (1975) Wilhelm Reich. Das Leben des großen Psychoanalytikers und Forschers, aufgezeichnet von seiner Frau und Mitarbeiterin.
Reich, P. (1997). Der Traumvater. Simon & Leutner
Reich, W. (1997). Jenseits der Psychologie, Briefe und Tagebücher 1934-1939. Kiepenheuer & Witsch
Sharaf, M.: Fury on Earth. A Biography of Wilhelm Reich. St. Martin & Marek, New York

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