21 Aug
Bukumatula 2/2021
von
Peter Bolen:
Auf die Impfverweigerer, die den Volkszorn der Geimpften auf sich ziehen, möchte ich als Psychiater und Psychotherapeut differenziert eingehen. Gegen die Gurtenpflicht und das Handyverbot während des Autofahrens hat niemand etwas. Bis 1983 gab es die allgemein akzeptierte Impfpflicht gegen Pocken, obwohl diese Impfung mit einem Lebendimpfstoff starke Nebenwirkungen hatte. Wie kommt es dann, dass doch ein kleiner, aber lautstarker Teil der Bevölkerung so vehement auf die Impfpflicht reagiert?
Sie als Idioten abzuqualifizieren, trifft nur zum Teil zu. Obwohl das Zitat von Ödön von Horvath „Nichts gibt einem so sehr das Gefühl der Unendlichkeit, wie die Dummheit der Menschen“ wohl immer noch Gültigkeit hat. Auf Fake News und haarsträubende Verschwörungstheorien fallen nicht nur bildungsferne Menschen hinein. Es ist zunächst überraschend, dass rationale Argumente nichts nützen. Die Wutbürger reagieren darauf mit dem Abwehrmechanismus der Deflexion – wie an einem Schild prallt die Vernunft ab.
Die Beschreibung eines dieser Charaktere in dieser Sammelbewegung gegen Corona-Maßnahmen, ist die unreife Persönlichkeit. Aufgrund von übermächtigen Elternteilen, gegen die man nicht aufkommen konnte, hat sich keine eigene differenzierte Meinung ausbilden können. Bildlich gesprochen besitzen diese Menschen so etwas wie ein Vakuum in ihrer Mitte, es fehlt ihnen etwas. Und diese Leere drängt danach, gefüllt zu werden. Lebenskrisen befeuern dieses Bedürfnis.
Da der dominante Elternteil als steuerndes Element im Unterbewussten weiterbesteht ohne durch einen Introspektionsprozess verarbeitet worden zu sein, fühlen sich diese Menschen magisch von starken Persönlichkeiten angezogen, die geeignete Ideen als Stoff zum Füllen des mangelhaft ausgebildeten Selbst anbieten. Der Selbstbegriff wird von mir im gestalttheoretischen Sinne verwendet. Das Selbst wird als Zentrum der Persönlichkeit angesehen.
Dort findet sich die Summe aller Erfahrungs- und Wissensinhalte, die vom Ich, welches den Kontakt zur Umwelt herstellt, gesammelt und ins Zentrum gebracht wird. Und je bunter, je dramatischer dieser Stoff ist, desto anziehender wirkt er; endlich ist das Leben nicht mehr so langweilig und uninteressant. Der Aktionismus belebt, die Idee beseelt einen und man gehört zu einer Gemeinschaft.
Neben dem Charakter der unreifen Persönlichkeit finden wir in der Protestsammelbewegung auch den faschistischen Typ. Dieser wird als schwacher Durchschnittsmensch vom todesmutigen Heldencharakter angezogen, der gegen einen übermächtigen Feind kämpft. Siegfried kämpft gegen den Drachen, die Gutinformierten gegen die Mächtigen, die uns manipulieren. Gegen eine Weltelite – Juden, Freimaurer, Bill Gates – die uns als Menschheit dezimieren und lenken wollen. Je größer der Feind, desto stärker der Held.
Der Faschist ist aus seinem sinn- und glanzlosen Leben zu einem Ritter in prachtvoller Rüstung geworden, der mutig für die gute Sache kämpft und gar bereit ist, dafür zu sterben
Nicht übersehen sollten wir aber die Menschen, die einfach Angst haben. Die internationale Klassifikation von psychischen Erkrankungen ICD 10 kennt vor allem zwei Diagnosen, die hier zu nennen sind. Es sind die Angststörung F41 und die Phobie F40, die häufig auftreten.
Einen kleinen Prozentsatz an eigentlichen Wahnerkrankungen, also der schweren psychiatrischen Störungen, gibt es natürlich auch. Besonders erwähnenswert an dieser Stelle ist auch das Michael Kohlhaas-Syndrom.- Es handelt sich dabei um eine Person, die tatsächliches oder vermeintliches Unrecht unverhältnismäßig, nämlich mit maximalen Mitteln durchsetzen will, sogar um den Preis der eigenen Vernichtung. Das hat die historische Figur tatsächlich getan. Dieses Krankheitsbild bewegt sich fließend zwischen einer Belastungsstörung und einer Psychose.
Ängste und Vermeidungsverhalten kommen im Alltag hingegen häufig vor. Es handelt sich um eine Bandbreite von Symptomen, die von der harmlosen Schrulle bis zu schweren psychischen Verhaltungsstörungen reicht. Jemand hat Angst vor Schmetterlingen, ein anderer hat Flugangst. Diese Ängste sind irrational und daher nicht durch sachliche Argumente auflösbar. Damit lässt es sich mehr oder weniger gut leben.
Wenn die Ängste aber so weit gehen, dass diese Personen nicht mehr auf die Straße gehen können, oder die Angst zu dick zu sein, zu Essstörungen führt, besteht bereits eine massive Einschränkung der Lebensqualität. Häufig hat die Angst keinen Inhalt; sie ist frei flottierend. Dann sucht sie sich ein Thema, an dem sie andocken kann.
Die Impfpflicht ist mit einer Bestrafung verbunden. Folge ich nicht der Aufforderung mich impfen zu lassen, muss ich Strafe zahlen oder ersatzweise ins Gefängnis gehen. Diese Maßnahmen haben aber bei Menschen mit Ängsten keine Wirkung. Eine Patientin, nach einem Unfall ans Bett gefesselt, sagte zu mir: „Ich möchte lieber sterben als geimpft werden.“ Solche Menschen sind nicht blöd oder böse, sie leiden und brauchen unsere Unterstützung.
Ein diffuses Verfolgungsgefühl ohne den Schweregrad einer Geisteskrankheit zu haben entsteht in der heutigen Gesellschaft aus dem Gefühl heraus, überwacht zu werden. Dieses Gefühl hat aber keinen konkreten Inhalt.- Tatsächlich werden wir aber als Internetuser ständig überwacht und gelenkt. Wir hinterlassen auf Plattformen wie Google und Co unseren Abdruck mit allen Daten, die Verkaufsportale brauchen.
Treffend hat das Soshanna Zuboff in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungs-kapitalismus“ beschrieben. Wir liefern den großen Konzernen „ich hab´ ja nichts zu verstecken“ freiwillig durch den Klick auf „I agree“ bei den Nutzungsbedingungen alle unsere Daten. Das führt dazu, dass die Konzerne uns nicht nur kennen, sondern uns auch lenken.- Alle diese Vorgänge sind dem Durchschnittsbürger nicht so bekannt.- Aber er fühlt es. Und wenn er auf eine Verschwörungstheorie stößt, passt diese oft genau zu seinem Gefühl.
Es gibt einen weiteren Aspekt, wieso diese Gruppe von Menschen wie Lemminge einem Führer in den Abgrund folgen: Es sind verinnerlichte Narrative, Kerne von über Generationen unreflektiert weitergegebenen Geschichten, die uns lenken. Gut beschrieben haben dieses Thema Samira El Quassil und Friedemann Karig in ihrem Buch „Erzählende Affen“. Am Beginn unserer Kultur hat diejenige Gruppe besser überlebt, die gute Narrative hatte. Sie förderten den Altruismus, und dadurch bekam die Gemeinschaft Vorrang vor dem einzelnen Individuum. Es ist notwendig sich unserer Narrative bewusst zu werden, um nicht unbewusst durch sie gelenkt zu werden.
Da ich kein Politiker bin, habe ich keine Lösung für das Problem der Impfpflicht. Der schwedische Weg? Was machen wir, wenn ein benötigtes Intensivbett nicht frei ist? Für ein Kind, welches auf eine Herzoperation wartet und keine Luft mehr bekommt und für den Tumorpatienten, dessen Leben von einer raschen Operation abhängt?
Mit einer Grenzlinienziehung einerseits und einem Verständnis andererseits – und sicher auch durch die Schöpfung neuer Narrative, könnten wir es doch schaffen, mit dieser Situation fertig zu werden.
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Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie.
Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen.
Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen:
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen.
Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut.
Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.
Der Optimistfink schlägt im Blätterwald.
Die guten Leute, die ihm Futter gaben,
sind glücklich, dass sie einen Vogel haben.
Der Zukunft werden sacht die Füße kalt.
Wer warnen will, den straft man mit Verachtung.
Die Dummheit wurde zur Epidemie.
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung. (Erich Kästner)