29 Mai
Bukumatula 2/1989
Nadine Hauer und Wolfram Ratz:
Außerhalb jeglichen runden Anlasses kam 1985 der Schöpfer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, zu offiziellen Ehren. Den Platz vor der Wiener Votivkirche, der jetzt Sigmund Freud-Platz heißt, schmückt nun auch ein entsprechendes Denkmal. Freud hat es also geschafft; zu einem Zeitpunkt, wo er in anderen Ländern nach ausgiebiger Auseinandersetzung wieder vermenschlicht, manches von ihm in Frage gestellt wird, gelangte er in seiner Heimat endlich aufs Podest.
Einer seiner bedeutendsten, gleichfalls österreichischen Kollegen fristet jedoch nach wie vor ein – allerdings rühriges – Untergrunddasein: Wilhelm Reich. Wie zu seinen Lebzeiten lösen seine Schriften, aber auch er selbst heftige Reaktionen aus. Er wird geliebt oder verehrt, gehasst oder abgelehnt, nur gleichgültig bleibt niemand, der auf ihn stößt. Vor allem aber wird er, der angeblich oder tatsächlich Schizophrene, von seinen Jüngern ebenso wie von seinen Gegnern, gespalten: in den „frühen“ und in den „späten“ Reich. Man liebt oder hasst den einen, hasst oder liebt den anderen. Wie soll dieser Wilhelm Reich in Österreich jemals zu einem Denkmal kommen?
Objektivität gibt es sowieso nicht, und bei Wilhelm Reich schon gar nicht. Angeblich sagen Ansichten über andere weniger über diese aus als über jene, die diese Ansichten äußern. Wilhelm Reich aus der Sicht einiger weniger, die sich persönlich an ihn erinnern und aus der Sicht der Nachwelt, auch seiner heutigen Kollegen:
Die Frau von Ernst Federn – bei dessen Vater war Reich 1920/21 sechs Monate in Analyse – damals Kindergärtnerin, erinnerte sich, daß Reichs Töchter Fotos im Kindergarten zeigten, auf denen Reich und seine Frau nackt waren: „Solche Fotos waren ein Affront. Heute sagt man, Reich war ein Pionier“. Die Mutter von Ernst Federn mochte Reich überhaupt nicht, „wegen seines Lebenswandels“.
„Viele, die seinen Namen hören, reagieren noch immer mit: Oh, der Mann, der von Sexualität besessen ist und lassen durchblicken, daß ein Wissenschaftler nicht ganz ernst zu nehmen ist, der an Sexualität interessiert ist“. So Reichs dritte Frau, Ilse Ollendorf-Reich, in ihren Erinnerungen.
Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Eva Reich, seine 1924 in Wien geborene Tochter aus erster Ehe, geht noch weiter: „Reich gilt immer noch als Ketzer, weil er behauptet hat, daß es eine ‚Lebensenergie‘ gibt“. Noch allgemeiner sieht es der Wiener Psychiater Peter Bolen: „Die Reichschen Ideen stellen alle Strukturen in Frage, das provoziert die Gegnerschaft von allen“. Und außerdem: „Während meiner Studienzeit wurde Reich als Geisteskranker abgetan“.
In seinem 1985 erschienenen Buch „Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers“ beschreibt Richard F. Sterba Wilhelm Reich bei seiner Arbeit: „Er war eine eindrucksvolle Persönlichkeit, voll jugendlicher Intensität. Er war kraftvoll als Sprecher, und er drückte sich klar und bestimmt aus. Er hatte eine ungewöhnliche Begabung, sich in das seelische Kräftespiel von Patienten einzufühlen. Seine klinische Erfassung, seine technische Geschicklichkeit, vereint mit der Begabung, sich sprachlich plastisch auszudrücken, machten ihn zu einem vorzüglichen Lehrer. Unter seiner Leitung wurde das ‚Technische Seminar“ zu einer so hervorragenden Stätte des Lernens, daß selbst ältere Mitglieder regelmäßig daran teilnahmen.“
Lange Zeit rührte sich kein Reich-Jünger in Österreich, die Zeit war noch nicht reif. Wie viele Strömungen, war auch die Reich-Renaissance eine Folge des Jahres 1968. Im Gegensatz etwa zu den USA, Deutschland und Italien haben sich in Österreich hauptsächlich „Laien“ für Reich interessiert. Und diese Reichianer spalteten sich in die verschiedensten und kleinsten Grüppchen. Die Linken nahmen sich den „frühen“ Reich, die einen nur den politischen, die anderen nur den Sexualforscher, die Nicht-Linken nur den „späten“ Reich.
Im Bereich „Sanfte Geburt“ etwa haben Reichs Ideen aber durchaus Eingang gefunden, auch in nicht-linken Kreisen. So gab es etwa schon vor ein paar Jahren Veranstaltungen zu diesem Thema mit Eva Reich „aufgrund der Ideen und Methoden ihres Vaters Wilhelm Reich“ im katholischen Bildungshaus St. Hyppolit in Niederösterreich.
Doch trotz der Reich-Renaissance seit 1968 dauerte es noch eine ganze Weile, bis sich diese auch in Österreich in größeren Veranstaltungen niederschlug. Offensichtlich unter dem Einfluss von Igor Caruso machte die Universität in Salzburg den Anfang. Zwei mehrtägige Reich-Seminare im Jahr 1982, verliefen jedoch wieder in privaten Zirkeln. Im November 1982 folgte Wien mit zweieinhalb Wochen dauernden Reich-Tagen mit Experten aus dem In-und Ausland. Hauptinitiator war die AIKE. Auch diese Großveranstaltung endete wieder in Splittergrüppchen. Ein weiteres Reich-Seminar fand im Jänner 1984 an der Universität in Innsbruck und das bisher letzte im November 1987 in Wien statt; diesmal organisiert vom 1982 gegründeten „Wilhelm Reich Institut“.
So mancher Reichianer der 68-er Bewegung betrachtet sein Engagement von damals als „Jugendsünde“. Der Salzburger Politologe Norbert Nagler, der über Reich im Zusammenhang mit Faschismus gearbeitet hat, sieht in den späten Werken Reichs eine Abkehr von der Politik, einen „romantischen Universalismus“ von „monomanischer Besessenheit“. Reich, für Nagler eine Mischung aus Philosoph, Kosmologe und Theologe, bestehe nur aus „unproduktiven Denkwidersprüchen“. Für den „Mittelstand von heute“ bedeute die von Reich entwickelte Vegetotherapie jedoch so etwas wie eine „emotionelle Heimat“ für die „fehlende Identität“.
Zweifellos ist es auf Caruso zurückzuführen, daß Dissertationen über Reich in den letzten Jahren ausschließlich in Salzburg verfasst wurden.
Eine umfassende, beinahe liebevoll ins Detail gehende, ernsthafte Auseinandersetzung mit Reich schrieb Martin Wolkersdofer. Er glaubt nachweisen zu können, daß Reich ab 1951 an „manifesten, paranoiden, wahnhaften Ideen“ litt, aber nicht früher, und daß eine klare Trennungslinie zwischen Reichs psychopatischen Störungen und seiner wissenschaftlichen Arbeit gezogen werden muss. Bis heute gehört es ja zu den gängigen Argumenten auch der heutigen Analytiker- und Therapeutenprominenz, vor allem den „späten“ Reich mit dem Hinweis auf seine Wahnideen abzutun.
Daß das große Interesse für Reich, besonders unter Studenten, ungebrochen ist, bestätigen auch die Buchhandlungen in der Wiener Innenstadt. Früh- wie Spätwerke erweisen sich als „Longseller“ mit Auflagenhöhen von teilweise mehreren zehntausend Exemplaren je Titel. Ein Buch, das dem „alten“ Reich besonders wichtig war, das einerseits am leichtesten missverstehende und andererseits das von seinen Anhängern und Gegnern am meisten vernachlässigte Werk, der „Christusmord“ ist seit längerem nicht mehr erhältlich, und es ist auch – laut Verlagsauskunft – keine Neuauflage vorgesehen. Auch die englische Ausgabe dieses Buches ist vergriffen. Eine Schwerpunktveränderung zu den späten Werken Reichs stellt vor allem die Buchhändlerin Brigitte Hermann fest, die darin eine Verdrängung des psychoanalytischen und marxistischen Reich sieht.
In der Beurteilung Reichs spiegeln sich auch Gegensätze, Wert- und Geringschätzung der Analytiker und Therapeuten untereinander:
Peter Bolen bezeichnet die Psychoanalyse als „paranoid“ und Harald Leupold-Löwenthal, den Vorsitzenden der „österreichischen analytischen Gesellschaft“, als so konservativ, daß er sich mit Reich nicht auseinandersetzt. Von Strotzka wurde er immerhin schon einmal auf die Universität zu einem Vortrag eingeladen. Für den Sexualwissenschaftler Bornemann ist Reich, so Bolen, eine Konkurrenz und Erwin Ringel ist über Reich nur wenig informiert; dabei wären die Ideen Reichs für ihn als Psychosomatiker, der „kein Therapiekonzept hat“, besonders wichtig.
Ernst Bornemann, der ja von Reichs Geisteskrankheit schon in den Dreißigerjahren und nach wie vor überzeugt ist, sieht den deutlichen Beweis in der biologischen Ausrichtung Reichs. „Die Vegetotherapie ist ein totaler Unsinn, ebenso der Orgonakkumulator“. Daher hat er sich mit allem, was Reich nach 1938 geschrieben hat, nicht mehr beschäftigt. „Analyse und Therapie sind sowieso ein Unsinn und mit den Neoreichianern kann man überhaupt nicht reden, das kann man noch eher mit Stalinisten“.
Ernst Federn, Sozialtherapeut in Stein, sieht gerade in der Krankheit Reichs die Voraussetzung für seine schillernde Persönlichkeit. „Vieles wird Reich zugeschrieben, das nicht von ihm, beziehungsweise nicht allein von ihm ist“. So ist der eigentliche Begründer der Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse Siegfried Bernfeld und der Begründer der Psychosomatik, auch hinsichtlich der Krebserkrankung, der 1934 verstorbene Georg Groddek. Den „späten“ Reich hält Federn für „konfus“, nicht hinsichtlich seiner Arbeiten – „davon verstehe ich nichts“ -sondern wegen seines Verhaltens, das 1954 zur Gerichtsverhandlung geführt hat. Aus heutiger Sicht, meint Federn, war Reich ein sogenannter Borderline-Fall, ein Grenzfall zwischen Neurose und Psychose. Aber er war ein ausgezeichneter Kliniker mit durchaus wissenschaftlichen Formulierungen, seine psychischen Störungen haben seine Exaktheit nicht behindert. Das Störende in seiner Zusammenarbeit war keineswegs Disziplinlosigkeit im Denken, sondern seine immense Aggressivität.
Der Psychoanalytiker Harald Leupold-Löwenthal sieht in Reich eine „tragische Figur“. Er war genial, überschwemmt von Vielseitigkeit, aber seine Versuche waren ungenau, amateurhaft. Er hatte eine große kreative Begabung, aber ohne Denkdisziplin. Nach der „Charakteranalyse“, der Entdeckung des „Charakterpanzers“, hat Reich, so Leupold-Löwenthal, seine „Phantasie fortgetragen, da hat sich der großartige Methodiker und Wissenschaftler verloren“. Die Vegetotherapie, die Verbindung zwischen Psyche und Biologie, die Psychosomatik, bedeuten den Bruch mit der Analyse, das ist alles „nicht bewiesen“. Leupold-Löwenthal sieht bei Reich „Magier-Tendenzen, wie in der Volksmedizin; für seine Erfolge waren seine Genialität und sein Charisma ausschlaggebend“.
Als Adlerianer empfindet Erwin Ringel – in Österreich als „Seelenarzt der Nation“ durch Fernsehen und Bücher allgemein bekannt – große Sympathien für Reich, der sozialistische Ideen mit der Psychoanalyse verbinden wollte. „Nur mit dem Kommunismus als Machtinstrument geht das nicht. Derzeit liegt das Unverständnis, liegt die Einseitigkeit mehr auf Seiten der Marxisten, die die Tiefenpsychologie nicht akzeptieren. Reich musste, so Ringel, ein tragisches Ende nehmen, weil er seine beide Heimaten – die Psychoanalyse und den Marxismus – verloren hat. In Bezug auf die Orgontheorie möchte er „große Vorsicht, große Skepsis walten lassen“, hier hat Reich die „Basis der Realität verlassen“. Was Reichs Krebsforschung anbelangt, wird aber immer klarer, daß Reich mit seiner psychologischen Komponente nicht unrecht hatte. In Österreich wird er als „Kommunist“ und „Geisteskranker“ abgetan, aber „je älter ich werde, desto besser verstehe ich Wilhelm Reich; es mag sein“, so Ringel, „daß ich ihn auch zu wenig erwähne“.
Diese Aussagen von etlichen der bekanntesten österreichischen „Seelenärzten“ beruhen auf wenig Wissen und sind für eine fundierte und differenzierte Kritik völlig ungeeignet. Dadurch, daß keine wirkliche Auseinandersetzung stattgefunden hat, gibt es haarsträubende Missverständnisse, die mit großer Leidenschaft vorgebracht, mehr zur Verwirrung als zur einer Klärung beitragen. – Kurz gesagt, und der „österreichischen Seele“ entsprechend: viele „Motzer“, wenig Auseinandersetzung!