30 Mai
Bukumatula 2/1992
Auf den Spuren von Reichs Kindheit
Walter Kogler:
Im Jahre 1970 drückte mir ein Freund ein Buch in die Hand und meinte, daß ich es unbedingt lesen müsse. Es war „Die Entdeckung des Orgons“, Band 1, von Wilhelm Reich. Ich war davon so fasziniert, daß ich mir gleich auch alle anderen Reich-Bücher kaufte, die in deutscher Sprache erhältlich waren. Später besuchte ich auch eine Reihe von Vorträgen. Kursen und Workshops zum Thema „Reich“. Dabei erwachte immer mehr mein Interesse an der Biographie Wilhem Reichs.- Und ich wollte es genauer wissen: was ist das für ein Land, aus dem Reich stammt?
Als ich im Jahre 1983 den Entschluß faßte, den Geburtsort und den Ort von Reichs Kindheit aufzusuchen, wußte ich nur, daß diese beiden Orte im Umkreis der Stadt Czernowitz liegen. Aus einem mir unerklärlichen Grund sind in sämtlichen Büchern die Ortsnamen falsch geschrieben, sodaß es unmöglich war, diese auf irgendeiner Landkarte zu finden. Ich entschloß mich trotzdem dorthin aufzubrechen.
Ich ging zum sowjetischen Konsulat, um ein Visum zu beantragen. Nach einem ausführlichen „Verhör“, bei dem ich keineswegs den Grund bzw. das genaue Ziel meiner Reise bekanntgeben konnte (Reich hatte in mehreren Büchern über den „Roten Faschismus“ in der Sowjetunion geschrieben und galt deshalb als „Staatsfeind“) erhielt ich -nach vorheriger Buchung meiner Unterkunft bei einem Reisebüro – nach zwei Wochen mein Visum.
ERSTER VERSUCH – Die Pausenglocke
Am 20. Juli 1983 fuhr ich mit meinem Auto von Wien über Budapest nach Oradea, Cluj, Sucava und anschließend über die rumänisch-sowjetische Grenze. Dort wurde mein Auto von den Grenzbeamten mehrere Stunden lang untersucht, teilweise zerlegt und mit „modernen“ Geräten (die aus Österreich stammten!) durchleuchtet. Ich wurde wieder ausführlich über den Grund und über das genaue Ziel meiner Reise befragt. Nach diesem anstrengenden Grenzaufenthalt fuhr ich die wenigen Kilometer nach Czernowitz.
Die Gesamtstrecke betrug 1400 Kilometer (die weitaus kürzere Strecke über Ungarn direkt zur sowjetischen Grenze war nicht zu befahren, da ab dem Grenzübergang keine „Ausländerroute“ nach Czernowitz führte). Czernowitz war 200 Jahre lang die östlichste Stadt der österreichisch-ungarischen Monarchie und die Hauptstadt der Bukowina. Czernowitz ist auch heute noch eine schöne Stadt mit vielen prächtigen Bauwerken aus der Monarchiezeit. Nur die Menschen mit ihrem trostlosen Gesichtsausdruck schienen nicht in das Stadtbild zu passen.
Als ich am Campingplatz von Czernowitz eintraf, wurde ich schon erwartet, denn als Autotourist wurde man sorgfältig überwacht. Ich bezog einen Bungalow. Die Campingverwaltung schien verwundert, warum ein „Kapitalist“ denn nicht in einem Luxushotel absteigt.- Am nächsten Morgen begab ich mich zum Hotel „Bukowina“, in dem sich das Intourist-Büro befand. Ich sagte, daß ich einen Ort namens Jurinetz und einen Ort namens Dobrzczinyca (so stand der Ortsname in den Büchern geschrieben) suchte.
Daraufhin trat eine, aus vier oder fünf Personen bestehende „Kommission“ zusammen. Es wurde eifrig geforscht, aber leider besaß das Intourist-Büro keine geeignete Straßenkarte. Zwischendurch wurde ich immer wieder gefragt, warum ich diese Orte besuchen wolle, worauf ich irgendwelche Ausreden erfand. Nach drei Stunden eifrigster Suche wurden wir doch fündig. Wir fanden tatsächlich einen Ort namens Jurinetz, ca. 40 Kilometer nordwestlich von Czernowitz. Nur Dobrzczinyca fanden wir nicht.
Nun mußte ich offiziell um eine polizeiliche Erlaubnis ansuchen, damit mich ein Intourist – Auto (ein schwarzer Wolga mit Chauffeur und einem Reiseführer) nach Jurinetz bringen konnte. Mit dem eigenen Auto zu fahren war nicht erlaubt. Jurinetz ist ein langgestrecktes Dorf mit etwa 800 Einwohnern. Die Landschaft ist sehr schön mit sanften Hügeln und fruchtbarer Erde. Nur die Kolchosgebäude störten die Harmonie.
Der Reiseführer begann widerwillig und nur auf mein ständiges Bitten hin, die Dorfbewohner zu befragen, ob sie etwas über einen ehemaligen Gutshof einer Familie Reich wüßten. Einigen Leuten (besonders älteren) stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Fragende Männer und eine schwarze Limosine schienen ihnen nichts Gutes zu bedeuten. Nach längerem erfolglosen Fragen schien sich eine alte Frau an so einen Gutshof erinnern zu können. Sie führte uns auf eine Wiese außerhalb des Dorfes und berichtete, daß hier früher ein Gutshof stand, der aber im Ersten Weltkrieg zerstört wurde. Dies stimmte zumindest mit den Angaben von Reich-Biographien überein.
Auf dieser Wiese stand kein Gebäude mehr, aber ein Nachbar, der in einiger Entfernung ein Haus besaß, zeigte uns die Stelle, wo die Gebäude der Familie Reich gestanden haben sollen. Dieser Mann behauptete sogar, daß sein Vater sein Haus mit dem Baumaterial aus den Oberresten des Reichschen Gutshofes gebaut hätte. Auf der Wiese befand sich auch ein alter Brunnen, der den Reichs gehört haben soll. In einiger Entfernung waren Fischteiche, so wie sie auch in den Biographien beschrieben sind. Der Reiseführer wurde zusehends nervöser als ich ausgiebig zu fotografieren begann. Auf sein unablässiges Drängen hin mußte ich dem Aufbruch zur Rückfahrt nach Czernowitz zustimmen.
Am nächsten Morgen besuchten wir eine Schule, die zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie ein deutsches Gymnasium war. Reich mußte dieses Gymnasium von 1911 bis 1915 besucht haben. Jetzt beherbergt dieses Gebäude eine ukrainische Mittelschule. Am Eingang ist eine Tafel angebracht, auf der ein Mann mit deutschem Namen, der die Schule besucht hatte, als Held des Spanischen Bürgerkriegs geehrt wird. Im Inneren des Gebäudes habe ich nur einen einzigen Gegenstand gesehen, der noch aus Reichs Zeit stammen könnte: die Pausenglocke.- Wir unterhielten uns auch mit einem Lehrer und einigen Schülern.
Weder der Lehrer noch die Schüler hatten je etwas von Wilhelm Reich gehört. Der Lehrer freute sich aber zu hören, daß ein berühmter Mann einmal seine Schule besucht haben soll. Anschließend fuhren wir zum Stadtarchiv, in der Hoffnung, irgendwelche Dokumente zu finden. Meine Hoffnungen wurden aber gleich im Sekretariat enttäuscht. Eine Beamtin erklärte uns mit schriller Stimme, daß wir eine Bewilligung vom Ministerium vorzulegen hätten. Ohne eine derartige Bewilligung dürfe sie uns keinerlei Auskunft erteilen. Sämtliche Bestechungsversuche blieben erfolglos …
Anschließend führte mich mein Reiseführer durch die Stadt. Das vielleicht schönste Bauwerk ist die Universität, die während der Monarchiezeit Bischofsitz und Kloster war. Leider durften wir auch die Universität nicht betreten (der Portier bemerkte gleich, daß ich Ausländer war, und für solche war der Eintritt verboten). Mein Reiseführer, der übrigens Alexander hieß, war nun den Tränen nahe.
Hatte er mir doch die ganze Zeit von den Vorzügen des Sozialismus erzählt. Jetzt sagte er mir aber die Wahrheit: Er sei sehr unglücklich hier und wolle um jeden Preis weg – wenigstens nach Polen, wenn es schon nicht möglich wäre, in den „Westen“ zu gelangen.- Am nächsten Tag fuhr ich weiter nach Odessa, wo ich einige Tage Urlaub am Schwarzen Meer verbrachte.
ZWEITER VERSUCH – Sieg der Bürokratie
Einige Jahre später – im September 1987 – rief mich eine deutsche Fotoreporterin) an und bat mich, sie in die Ukraine zu begleiten, da sie einen Film über Wilhelm Reich machen wolle und sie gehört habe, daß ich schon einmal dort gewesen sei. Ich teilte ihr mit, daß ich aber den Geburtsort nicht gefunden hätte.- Am darauffolgenden Sonntag machte ich einen Ausflug in ein Schloß in Niederösterreich in dem eine Osteuropa-Austeilung untergebracht war. An einer Wand hingen Landkarten aus der Monarchiezeit. Auf einer Karte fand ich einen Ort, der Dobrzanica hieß. Ich verglich den Namen mit den Namen, die in den Reich-Biographien standen (dort stand meistens Dobrzczynica).
Am nächsten Tag ging ich in das Ost- und Südeuropainstitut der Universität Wien und sprach mit „Experten“ über mein Problem. Nach Durchsicht aller in Frage kommenden Unterlagen, konnte ich erfahren, daß es keinen Ort namens Dorzczynica, wohl aber einen Ort namens Dobrzanica gäbe. Ob diese Orte identisch waren, konnten sie nicht mit Sicherheit sagen. Ich rief daraufhin die Fotoreporterin an und schilderte ihr die Ergebnisse meiner Nachforschungen. Sie meinte, daß sie das Risiko in Kauf nehmen wolle, eventuell auch den falschen Ort aufzusuchen.
Am 10. Oktober 1987 trafen wir uns in Krakau und fuhren mit dem Auto über Tarnow und Przemysl nach L’wow (Lemberg). Fünf Stunden mußten wir an der polnisch-sowjetischen Grenze verbringen. Den Grenzorganen schien es höchst merkwürdig vorzukommen, daß eine deutsche Frau und ein österreichischer Mann zusammen eine Reise in die Sowjetunion unternehmen wollten. Außerdem war in meinem Visum eine andere Reiseroute eingetragen und die telefonischen Rückfragen in Moskau benötigten ihre Zeit.
Als wir am Freitag abend in unserem Hotel in Lemberg ankamen und wir uns im Intourist – Büro über die Ausflug in das 70 Kilometer entfernte Dorf erkundigten, ergaben sich zwei Probleme: Erstens kannten die Intourist – Beamten dieses Dorf nicht – und fanden es auch auf der Straßenkarte nicht (auf dieser Karte waren nur größere Orte eingezeichnet; und meine Karte konnte ich nicht herzeigen, denn es war eine Militärkarte aus der Monarchiezeit). Zweitens war am Wochenende das Polizeipräsidium geschlossen, von dem die Bewilligung hätte kommen sollen.- Also mußten wir bis zum Montag warten. Montag mittag fragte ich im Intourist – Büro nach, ob die Bewilligung schon eingetroffen sei. Das wurde verneint und mir mitgeteilt, daß ich um 16 Uhr wiederkommen solle.
Um 16 Uhr wurde mir gesagt, daß ich am nächsten Vormittag kommen solle.- So verging ein Tag um den anderen, ohne daß wir die Bewilligung bekommen hätten. Da bereits am Mittwoch unser Visum ablief mußten wir unverrichteter Dinge wieder abreisen. Die Wartezeit benutzten wir zu Besichtigungen; Lemberg ist eine sehr schöne Stadt mit ca. 800.000 Einwohnern. Sie war 200 Jahre lang die Hauptstadt Ostgaliziens (vom 18. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch der Monarchie) und wurde damals von seinen Bewohnern liebevoll „Klein-Wien“ genannt. Heute steht die gesamte Innenstadt unter Denkmalschutz und ist relativ gut erhalten.
DRITTER VERSUCH – späte Gewissheit, Schneechaos
Die unbefriedigenden Nachforschungen ließen mir jedoch keine Ruhe. Ich entschloß mich zu einem neuerlichen Versuch: diesmal alleine, auf eigene Faust und ohne Bewilligung. Am 7. Januar 1988 fuhr ich mit dem Auto über die gleiche Route nach Lemberg. Ich suchte und fand einen Mann, der mich am nächsten Tag mit seinem Auto nach Dobrzanica, dem vermutlichen Geburtsort Wilhelm Reichs, bringen sollte. Wir fuhren um 10 Uhr von Lemberg ab.
Zum Glück war es sehr kalt (-20 Grad) und deshalb kamen die Polizisten, die normalerweise alle paar Kilometer jedes Auto bzw. dessen Insassen kontrollierten, nicht aus ihren Häuschen. Ich hatte dem Chauffeur übrigens wissen lassen, daß ich Ungar sei, damit er weniger Angst hätte. Wir fuhren durch eine wunderschöne Winterlandschaft. Die kleinen Städte und Dörfer waren wie ausgestorben. Dobrzanica war nicht leicht zu finden, da es auf der Straßenkarte des Chauffeurs nicht eingezeichnet war und er sich auf meiner Karte nicht auskannte, weil er lateinische Buchstaben nicht lesen konnte. Nach einiger Zeit fanden wir aber doch das gesuchte Dorf. Ich begann sofort mit dem Filmen. Wegen der großen Kälte funktionierte meine Videokamera jedoch schlecht.
Ich wollte mich auch nicht allzu lange im Dorf aufhalten, da wir beträchtliches Aufsehen erregten und ich Angst hatte, daß jemand die Polizei verständigen könnte. Wir fanden einen sehr alten Mann, der uns ein Gebäude zeigte, das früher einmal ein Gutshof war und später als Schule benutzt wurde. Jetzt stand das Haus leer und war dem Verfall preisgegeben. Es war das einzige Haus, das eventuell als Geburtshaus Reichs in Frage hätte kommen können. Wir konnten jedoch, trotz ausführlicher Befragungen, keine Gewißheit darüber erlangen. Ich war damals wieder nicht sicher, ob wir überhaupt im richtigen Dorf waren.
Erst als mir im Jahre 1991 Dr. Eva Reich deren Geburtsurkunde zeigte, auf der Dobrzanica als Geburtsort ihres Vaters angegeben ist, war ich gewiß, auf der richtige Spur gewesen zu sein.
Die Rückreise nach Wien führte diesmal über die Karpaten und durch Ungarn. Kurz vor der österreichischen Grenze geriet ich in ein Schneechaos und war, wie zweihundert andere Autofahrer, sechzehn eisige Stunden lang eingeschlossen; von sowjetischen Panzern wurden wir schließlich evakuiert.