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Bukumatula 2/1994

Wilhem Reich über Freud, Psychoanalytiker, Säuglinge und …

Ich war derjenige, der unbehaglich in der Kultur war
Beatrix Teichmann-Wirth:

Dr. Reich
Wie weit wollen Sie in die Geheimnisse der Psychoanalyse eindringen? Wollen Sie alles wissen?
Dr. Eissler
Sicher, ich meine …
Dr. Reich
Sie denken, es sollte keine Einschränkungen geben?
Dr. Eissler
Keine Einschränkungen.
Dr. Reich
Ich denke genauso.
Dr. Eissler
Ich glaube, es wird alles verständlicher, wenn Sie mit 1919 beginnen, als Sie Freud kennenlernten.
Dr. Reich
Einen Moment! Das geht von 1919 durchgängig bis 1950. Das ist alles aus einem Stück.
Dr. Eissler
Aber Sie sollten mit 1919 beginnen.
Dr. Reich
Ja, ich fange mit der Verzweiflung an.
* Zit. aus dem Buch „Reich Speaks of Freud“. Hrsg. Marv Higgins, Chester Raphael; New York, 1967.

Eindringlich und bisweilen drängend gestaltet sich das Interview über weite Passagen, welches Eissler mit Reich 1952 führte.

Reichs Bemühen um Genauigkeit in der Wortwahl und sein Bestreben, es nicht bei einer uneindeutigen Rezeption seiner Theorien und Aussagen zu belassen, sind erkennbar in den immer wiederkehrenden Fragen „Verstehen Sie mich?“, „Ist das jetzt klar?“. Seitenweise findet man vom Interviewer nur ein knappes „Ja“ bzw. kurze Einwürfe, was den Eindruck erwecken könnte, dieser sei durch die offensichtlich starke Präsenz Reichs an die Wand gespielt. Doch der/die Leserin versteht, wenn Eissler an einer Stelle sagt: „Sie sprechen so faszinierend, daß ich nicht merke, wie die Zeit vergeht“.

Das Buch ist eine Fundgrube. Ist das Interview doch zu einem späteren Zeitpunkt in Reichs Leben – fünf Jahre vor seinem Tod – geführt worden und läßt daher deutlich werden, wo Reich angekommen ist.

Es scheint, als habe er die Hoffnung auf Heilung der Menschen durch individuelle Therapie hinter sich gelassen, weiß darum, daß man bei der Durchsetzung von Lebensbedingungen nicht die Politik bemühen darf und hat auch die Psychoanalyse jenseits der Libidotheorie hinter sich gelassen.

Demgegenüber meint er, daß unsere Bemühungen der Neurosenprophylaxe in der Arbeit mit Müttern, Säuglingen und Kleinkindern gelten sollten und daß es auf naturwissenschaftlicher Basis um die Erforschung der Frage „Was ist Leben?“ gehen muß.

So gestaltet sich, unterstützt durch die knappe Form des Buches das Interview als eine Sammlung von Essenzen. Die Intensität wird durch die direkte Anwesenheit eines Gegenübers noch gefördert und die Aufregung übersteigt dadurch das Maß, welches mich bei der Lektüre Reichscher Werke, welche anonym adressiert sind, erfaßt.

Ich möchte im folgenden so weit wie möglich Reich für sich sprechen lassen, um auch die Spannung zu erhalten, werde die Zitate also nur dann kommentieren, um Verbindungen herzustellen, wenn dies um der Verständlichkeit willen angebracht erscheint bzw. dann, wenn – und dies geschah bisweilen -, ich meiner Empörung darüber Ausdruck verleihen mußte, daß so vieles von dem von Reich Gesagten mißverstanden, entstellt, mißachtet bzw. zumindest unberücksichtigt blieb. Und dies bis jetzt.

„Er war ein großer Mann, ein sehr großer Mann“
Reich über Freud

Im Zentrum des Interviews steht Sigmund Freud. Obwohl Reich darin viele andere Themen berührt, kehrt er immer wieder zur Person Freuds, seinem Werk und ihrer beider Beziehung zurück. Spricht Reich über Freud, so ist dies von Hochachtung, Liebe und jener Distanz geprägt, die ihn befähigt, wahr-zu-nehmen. Oftmals bezieht er sich auf den Ausdruck in Freuds Gesicht – kenntlich in einem Bild aus dem Jahre 1924 – „ein äußerst trauriger Ausdruck, wahre Hoffnungslosigkeit“. Reich lernte Freud als „eine sehr lebendige Person“ kennen. „Er lebte. Er ging aus sich heraus. Er war voller Begeisterung und Freude.“

„Es gab sofort Kontakt. Oh, ja! Sie sehen mich jetzt. Ich bin sehr lebendig, nicht wahr? Ich funkele, ja? Er hatte die gleichen Qualitäten. Er war von einer Lebendigkeit, die ein normaler Mensch nicht hat, wissen Sie. Seine Hände, ihre Bewegungen, waren sehr elegant. Seine Augen waren gut. Er sah einen direkt an. Er hatte keinerlei Pose. Andererseits war Federn ein Prophet mit einem Bart. Ein anderer, Eidelberg, z.B. saß da als ‚Denker‘. Aber Freud war nur ein einfaches Lebewesen. Würden Sie das akzeptieren? Nur ein einfaches Lebewesen. Das war Freud. Und dann zerbrach er.“

Den Bruch siedelt Reich 1924 an. In diesem Jahr entwickelte sich Freuds Rachenkrebs, im selben Jahr begann das Zerwürfnis zwischen Reich und Freud. Reich macht für diese Entwicklung von einem lebendigen zu einem
verzweifelten Menschen zwei Aspekte in Freuds Leben verantwortlich. Zum einen war es „die persönliche Seite der Angelegenheit, d.h. Freuds Hemmung die ihre Ursache in seiner persönlichen Struktur hat, in seiner Resignation, in seiner Gebundenheit an eine Familie, die er höchstwahrscheinlich nicht mochte“.

In Freuds Biographie finden sich Hinweise, daß Freuds Sexualleben unbefriedigend war. Er führte „ein ruhiges, stilles, sittsames Familienleben, aber es besteht kaum ein Zweifel, daß er genital außerordentlich unbefriedigt war“.

„Seine Resignation und seine Krebserkrankung beweisen, daß Freud als Person aufgeben mußte. Er mußte seine persönlichen Freuden, seine persönlichen Wonnen in den mittleren Jahren aufgeben. Was davor war, weiß ich nicht. Weil er eine weitgehende Erkenntnis dessen besaß, was Jugend ist und wofür Menschen leben, mußte er, für seine Person, aufgeben.“

Natürlich prägte Freuds persönliche Einschränkung auch seine Haltung zu Reichs Theorien, insbesondere zur Neurosenprophylaxe und zur Genitalität.

Die „merkwürdige Mischung aus einem fortschrittlichen Freidenker und einem Gentleman-Professor von 1860“ war zu eingegrenzt durch „seine Stellung, sein Judentum und vieles mehr, als daß er die gesellschaftlichen Implikationen von Genitalität uneingeschränkt begrüßen konnte“.

So schätzte er zunächst die neue Gesetzgebung in Rußland, war jedoch, was die Erleichterung von Scheidungen anbelangt, mehr als zurückhaltend. So war es letztendlich auch die Frage der Kleinfamilie, an welcher der Disput zwischen Reich und Freud zur Trennung wurde. „Es ging um Folgendes: Ich sagte, man müsse die natürliche Familie, die auf Liebe gegründet ist, von der Zwangsfamilie unterscheiden. Ich sagte, man müsse alles unternehmen, um Neurosen zu verhindern. Und er antwortete: ‚Ihr Standpunkt hat nichts mit dem mittleren Weg der Psychoanalyse zu tun.‘ “

“ ‚Ja, mit dem Mittelweg der Psychoanalyse‘. Das waren seine Worte. So sagte ich: ‚Tut mir leid. Das ist, was ich glaube. Das ist, was meine Überzeugung ist. Wenn Sie die Neurosen verhüten wollen. Wenn Sie das Elend wegbringen wollen.‘ Darauf antwortete er: ‚Es ist nicht unser Zweck oder der Zweck unserer Existenz, die Welt zu retten‘. Und Sie werden erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich jetzt den gleichen Punkt erreicht habe. Ich bin genau da, wo Freud 1930 war.“

Neben Freuds „persönlicher Hemmung“ waren es seine Anhänger und Gegner, welche nur „darauf warteten, Freud unmoralisch zu nennen“, die Freud von der Libidotheorie Abschied nehmen ließen.

Freud war zu einem gewissen Grad angewiesen auf seine Anhänger, da er es nicht ertragen konnte, allein zu sein: „Freud war sehr allein. Er war fünfzehn Jahre allein. Dann kamen die ersten Studenten, und er schlürfte das und es geschah, daß der Führer von Anhängern verführt wurde. Sie bewundern ihn, sitzen herum und schauen in seine Augen und sein Ich schwillt.“

„Also, um auf Freuds Verzweiflung zurückzukommen. Wie ich bereits sagte, kam die erste Hoffnungslosigkeit, nachdem er die kindliche Sexualität entdeckt hatte. Er bewegte sich jetzt ganz logisch in Richtung auf das Problem der Genitalität zu, wo ich mich so viel später befand, etwa fünfzehn Jahre später. Aber er konnte es nicht erreichen. Er versuchte, es in drei Abhandlungen in die Hand zu bekommen. Aber da kam bereits etwas ins Spiel, das nicht gut war. Nämlich daß Genitalität ‚Im Dienste der Zeugung‘ steht. Das schreibt er in drei Abhandlungen.

Das stimmt nicht, sehen Sie? Er ahnte es etwa. In unseren Diskussionen wurde es ganz deutlich, daß die Welt ihn behinderte, die nicht wollte, daß er zur Genitalität der Kleinkinder, Kinder und Jugendlichen vorstieß, weil das die ganze Welt auf den Kopf gestellt hätte. Ja, Freud wußte das, Aber er konnte aus gesellschaftlichen Gründen nicht dahingelangen. Die Sublimationstheorie, die er als Absolutum entwickelte, war die Konsequenz davon. Es war ein Drumherumgehen. Das mußte er. Er war tragischerweise gefangen. Wissen Sie, durch wen? Sie nahmen, was er hatte und machten es zu Geld. Ich bedaure, so etwas sagen zu müssen. Ich habe das schon früher öffentlich gesagt. Sie behinderten Freud.

Er war so behindert, daß er sich nicht weiterentwickeln konnte. Und von da ging es stracks in die Todestriebtheorie. Ich weiß nicht, ob Sie solche Details haben wollen … Jetzt möchte ich die Möglichkeit ausschließen, daß Sie denken, ich erzählte all das über die Studenten, weil ich Ärger mit ihnen hatte, oder weil ich eifersüchtig bin. Ich bin es nicht. Das hat nichts mit soetwas zu tun. Ich habe mein eigenes Leben. Ich schere mich nicht darum. Was wichtig ist, ist allerdings das, was sie taten, was Analytiker wie Adler, Stekel, Jung taten. Sie nahmen die Theorie, brachen die wichtigsten

Sachen heraus, zogen sie heraus, warfen sie weg und gingen nach Ruhm aus. Das taten sie, gewiß. Und jedesmal war es das gleiche, die Sexualität, die sie herauswarfen.“

Daran hat sich nichts geändert. Noch heute wird das Reichsche Werk jenseits der „Charakteranalyse“ den Studenten an Hochschulen und Psychotherapielehrgängen vorenthalten oder als Auswuchs der psychischen Situation Reichs betrachtet. Dies betrifft die wissenschaftliche Begründung der Orgonenergie ebenso, wie Reichs Beiträge zur Erforschung des Krebs wie auch den massenpsychologischen Hintergrund faschistischer Entwicklungen. Reich beschreibt die Entwicklung der Beziehung zu Freud vom ersten Kontakt („Warum ich zu Freud ging? – Weil ich seine Sachen las und sah, was er machte. Also ging ich zu ihm“) – über die hoffnungsvolle Zusammenarbeit der beiden bis zum Bruch.

‚Als ich Freud zum ersten Mal traf gab es sofort Kontakt, sofortigen Kontakt zweier Organismen, Lebendigkeit, Interesse, und ein Zur-Sache-Kommen. Die gleiche Erfahrung hatte ich mit Einstein, als ich ihn 1940 traf Es gibt bestimmte Leute, bei denen der emotionale Kontakt sofort einklickt. Sie kennen die ‚Charakteranalyse‘ gut genug um zu wissen, wovon ich rede. Ich wußte, daß Freud mich liebte. Ich fühlte es. Ich konnte es sehen. Er hatte Kontakt mit mir. Ich konnte geradeheraus mit ihm sprechen. Er verstand, was ich meinte, geradezu. Darüberhinaus war ich ein junger Psychiater, in der Klinik sehr vielversprechend, auch im Psychiatrischen Krankenhaus. Und zwischen meiner Ausdrucksweise, wie Sie sie jetzt fühlen, und der des Rests der Psychoanalytiker in Wien war ein großer Unterschied Es war da so langweilig. Etwa acht oder zehn Leute saßen da herum und es war schrecklich langweilig – wenn Sie wissen, was ich meine.“

Reich verweist auf die großen Erwartungen und Hoffnungen, welche Freud Reich gegenüber hegte; er bezeichnete ihn einmal als „den besten Kopf der Gesellschaft“, um die große Enttäuschung zu erklären.

Die Auseinandersetzungen begannen im Technischen Seminar:

„Von da an lautete die große Frage: ‚Woher kommt dieses Elend?‘ Und da begannen die Auseinandersetzungen. Und während Freud seine Todestriebtheorie entwickelte, die besagte ‚das Elend kommt von innen, ging ich nach draußen, nach draußen, wo das Volk war. Von 1927 bis zum September 1930 arbeitete ich draußen und leistete diese ganze soziologische Arbeit an den Wurzeln der Gesellschaft Hier kam Freuds Enttäuschung auf. “

Trotz des anfänglichen Enthusiasmus Freuds für „die geistig-seelische Hygienebewegung“, wandte sich Freud zunehmend ab, unterstützt durch „Verleumdungen von Seiten Federns“, dann als die politisch-soziologische Seite Reichs zunahm.

„Ich hatte die gesellschaftlichen Konsequenzen aus der Libidotheorie gezogen. Für Freud war das das schlimmste, was ich tun konnte.“

Das letzte Treffen fand im September 1930 in Grundelsee statt. Reich besuchte Freud auf seinem Weg nach Berlin.

‚Aber zurück zu unserem Treffen. Wir sprachen etwa eine Stunde lang, vielleicht anderthalb, und dann ging ich fort. Ich wußte, daß ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Irgendwie wußte ich, daß ich ihn nie wieder sehen werde. Ich ging die Treppe hinunter. Als ich das Haus verließ, schaute ich zu seinem Fenster hoch, und ich sah ihn in seinem Zimmer auf und ab gehen, auf und ab, schnell auf und ab. Ich weiß nicht, warum dieser Eindruck so lebendig geblieben ist, aber ich dachte ‚ein gefangenes Tier‘. Und das war er. Jeder Mann von seiner Größe, seiner Lebenskraft und seinem Geist, der wußte, was er wollte, und der dort gelandet war, wo er gelandet war, hätte sich so verhalten, wie ein gefangenes Tier. Ich habe ein sehr gutes Gefühl für Bewegung und Ausdruck, und das war mein Eindruck – ein gefangenes Tier. Ich weiß nicht, wie viele Psychoanalytiker sich darüber im Klaren waren. Ich glaube, nicht sehr viele. Ich weiß es nicht.“

„Jeder dachte ich sei psychotisch. Das war meine Strafe für die Entdeckung der Funktion des Orgasmus“
Reich über Psychoanalytiker

Mit einer in diesem Ausmaß nicht gekannten Offenheit spricht Reich über renommierte Psychoanalytiker, über deren Beitrag zur psychoanalytischen Theorie, über deren Persönlichkeitsstruktur und über ihre Haltung zu ihm

Er spricht von Adler, der „sich mit dem Machttrieb in einer sehr oberflächlichen Schicht verrannte“ – „einer Umgehung der Libidotheorie“ von Jung, der die Energie im Universum als eine universale Libido verstand und deshalb von Freud als unwissenschaftlich abqualifiziert wurde; er würdigt Rank, der mit dem Trauma der Geburt auf etwas „sehr Wahres gestoßen ist“, „einen sekundären, tertiären Vorgang jedoch zum einzig verantwortlichen Faktor erhob“. Und er scheut sich auch nicht, über die „Privatangelegenheiten“ von Psychoanalytikern zu sprechen, obwohl er zögert „Geschwätz“ zu erzählen:

„Sie fragten mich nach den privaten Affären der Psychoanalytiker. Nicht weil wir an den Privataffären als solchen interessiert wären – wir sind es natürlich als Ärzte und Wissenschaftler – sondern weil sie, wie ich bereits sagte, einigen Einfluß auf die Entwicklung der Psychoanalyse hatten. Es ist ein schwieriges Kapitel, ein sehr unangenehmes, aber ich glaube, es ist notwendig. Ich hoffe, daß es mir gelingt, darüber zu sprechen, ohne großen Schaden anzurichten.“

Um es auf den Punkt zu bringen:

„Ich weiß nicht weshalb ich zögere, aber ich zögere zu sagen: Die meisten Analytiker waren genital gestört, und deshalb haßten sie die Genitalität. Das ist es. Ich versichere Ihnen, daß ich das nicht sage, um irgend jemandem zu schaden.“

Reich hatte mit der Fortführung der Libidotheorie „etwas sehr Schmerzliches berührt“ – die Genitalität.

„Die Psychoanalytiker mochten sie nicht, und sie mögen sie auch heute noch nicht. Sie erwähnen es nicht. Sie wird nirgends erwähnt. Bis zum heutigen Tage wird Genitalität nicht als grundsätzliches Problem des Jugendalters und der ersten Pubertätszeit behandelt. Meines Wissens wagt niemand, das anzupacken.“

Dieses Phänomen ist übergreifend, Reich nimmt auch „seine“ Orgonotiker dabei nicht aus.

Bis zum heutigen Tag gibt es in der Psychoanalyse keine Genitalität. Es gibt sie nirgends, nicht einmal in meiner Organisation.“

Auch die Epigonen körpertherapeutischer Ausrichtung wie Lowen, Pierrakos und Boyesen haben den Reichschen Ansatz ebenda beschnitten – bei der Genitalität. So spricht Lowen in einer Videoaufzeichnung („Der Verrat am Körper“) davon, daß es nicht so sehr um eine freie Sexualität ginge, sondern um den Spaß am Leben als erstrebenswertes Ziel – welch ein Widerspruch!

So wird die Energiefunktion gesellschaftsfähig.

Reich macht genau jene Angst der Psychoanalytiker vor der Genitalität dafür verantwortlich, daß es zur Verbreitung von Gerüchten kam, darunter dies, daß Reich psychotisch war, welches bis jetzt, nahezu vierzig Jahre nach seinem Tod hartnäckig in Hochschulvorlesungen weitergetragen wird, immer dann, wenn Reichs Werk jenseits der Charakteranalyse zu disqualifizieren ist.

Er schildert hiezu ein Beispiel:

„Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel geben. Meine zweite Frau, Elsa Lindenberg, war sehr schön. Das ist ihr Bild da drüben. 1934 begleitete sie mich zu dem Luzerner Kongreß. Wenn ich heute daran denke, ist es sehr amüsant. Aber um Ihnen ein Bild von der damaligen Einstellung der Analytiker zu geben: sie wohnten in Hotels, saßen in verrauchten Hotelhallen herum usw. Ich nicht. Ich wohnte mit meiner Frau in einem Zelt am Luzerner See. Ich hatte ein Messer dabei, wie es beim Zelten üblich ist. Heute würde niemand etwas Besonderes dabei finden. Fünfzehn Jahre später tauchte in New York das Gerücht auf daß ich bei dem Luzerner Kongreß vollkommen verrückt geworden sei und in der Hotelhalle ein Zelt aufgeschlagen hätte und ständig mit einem

Messer herumgelaufen sei. Ich weiß nicht, wer das Gerücht aufgebracht hat, aber es sprach sich herum und kam schließlich auch mir zu Ohren. Es stimmt, daß ich in einem Zelt wohnte, aber nicht in der Hotelhalle. Und es stimmt, daß ich ein Messer hatte, aber nicht bei dem Kongreß. Sie wissen, wie das verdreht wird. Als meine Frau dort erschien, strömten viele Analytiker zu ihr, wie Männer es eben tun, und versuchten, mit ihr Kontakt zu gewinnen. Nur sexhungrige, verhungerte Individuen können so etwas tun. Ist das klar?“

Er erzählt von Tatsachen „welche aus der sexuellen Frustration einiger Psychoanalytiker entstammten“, von Fällen, wo Psychoanalytiker unter dem Vorwand einer genitalen Untersuchung, einer medizinischen Untersuchung, ihre Finger in die Vagina ihrer Patientinnen einführten, was „recht häufig geschah“.

Ebenso offenherzig spricht Reich über sein eigenes Sexualleben:

„Sie war krank Ich mußte sie verlassen. Und im Gegensatz zu Freud gab ich mein Privatleben nicht auf Ich lebte mein Liebesleben. Ich hatte keine Angst vor der öffentlichen Meinung. Als ich das Verhältnis mit meiner ersten Frau aufgelöst hatte, nahm ich eine andere Frau. Heute wird so etwas ohne weiteres akzeptiert. Aber in den ‚kultivierten‘ Wiener Kreisen war es etwas sehr Sonderbares. Nun, ich bewegte mich ganz offen. Jeder wußte davon.

Ich war nicht promiskuös, oder irgendwie amoralisch oder unmoralisch. Aber ich ließ es nie zu, daß mein Organismus stagnierte, oder beschmutzt wurde. Sie wissen was passiert, wenn man zu lange abstinent lebt. Man wird schmutzig, mit schmutzigen Phantasien, pornographisch, neurotisch usw. Ich ließ nie zu, daß das mit mir geschah. Man verkümmert, wird krank, auf die eine oder andere Weise. Ich ließ es nie geschehen. Mein Leben war ein offenes Geheimnis, oder soll ich sagen, es lag offen da.

Die Privatleben der anderen Psychoanalytiker dagegen waren verborgen und versteckt. Durch die Analyse jedoch wußten wir, was vorging Als Psychoanalytiker ist man sich der Tatsache bewußt, daß jemand, der ein frustriertes oder ein pathologisches Leben führt, denjenigen beneidet, der ein gerades und klares Leben führt. Ich habe daraus nie ein Hehl gemacht. Ich habe nicht darüber gesprochen, und ich habe es nicht vor mir hergetragen. Aber ich habe es nicht verborgen.

Ich hatte nichts zu verbergen. Als die Beziehung zu meiner ersten Frau abbrach, nahm ich mir eine zweite Frau. Wir waren nicht verheiratet, nicht legal verheiratet, aber sie war meine Frau. Das war Elsa Lindenberg. Sie sehen also, während ich mit meinen genitalen Beziehungen völlig offen war, blieben die anderen verborgen. Ich glaube, ich sollte keine Namen nennen, aber ich kann Ihnen versichern, daß viele Dinge heimlich vor sich gingen und manchmal auf eine schmutzige Art.“

Er berührt auch das Phänomen der emotionalen Pest, welche er als ein biologisches Problem begreift, nennt namentlich seine „Feinde“, zu allererst Fenichel und Federn, den er „Modju“ („Synonym für die Gefühlsseuche oder den pestilenten Charakter, der unter der Hand Verleumdung und Diffamierung in seinem Kampf gegen Leben und Wahrheit einsetzt“) bezeichnet und resümiert schließlich:

„Es gab also Neid. Die Eingeengten beneideten den, der sich nicht einengen ließ.“

„Wenn ein Baum einmal krumm gewachsen ist, kann man ihn nicht mehr gerade richten“
Wilhelm Reich über Neurose, Gesellschaft und Krebs

Reich betrachtet in konsequenter Weiterführung der Libidotheorie Freuds – und er würdigt ihn dafür oftmals im vorliegenden Interview den Energieaspekt als das zentrale Element bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheit. Die Traumatisierung beginnt schon vor der Geburt „es ist der verkrampfte, der zusammengezogene spastische Uterus, der das Kind erstickt“ und setzt sich während und nach der Geburt in dramatischer Weise fort. Ich zitiere an dieser Stelle den folgenden Abschnitt in voller Länge, führt er doch drastisch und damit schmerzlich vor Augen, was tagtäglich an tausenden Babys vollzogen wird.

Immer noch wird die Möglichkeit zur Sanften Geburt eigens erwähnt und nicht umgekehrt. Immer noch werden Frauen, welche an eine Hausgeburt zu denken wagen mit einer Vielzahl von lebensfeindlichen und Horrorvisionen bedacht, gegen die sich zu wehren schwer möglich ist, ohne sich selbst in Angst und Schrecken zu kontrahieren. Immer noch werden ärztliche Vertreter einer humanen Begleitung bei der Geburt diffamiert, Jahrzehnte nach dem geführten Interview.

„Wenn ein Kind geboren wird, so kommt es aus dem warmen Uterus, 37 Grad warm, in etwa 18 oder 20 Grad. Das ist schlimm genug. Aber das ließe sich überleben, wenn nicht Folgendes stattfände: Es kommt heraus, es wird an den Beinen aufgenommen und kriegt einen Klaps auf den Hintern. Der erste Gruß ist ein Klaps. Der nächste Gruß: Man nimmt es von der Mutter. Stimmts? Ich möchte, daß Sie hier zuhören.

Es wird in hundert Jahren unglaublich klingen. Es von der Mutter nehmen. Die Mutter darf das Kind nicht berühren oder sehen. Das Baby hat keinen Körperkontakt, nachdem es neun Monate lang bei sehr hoher Temperatur Körperkontakt gehabt hatte – was wir die orgonomische ‚Körperenergie-Berührung‘ nennen, das Feldverhalten zwischen beiden, die Wärme und die Hitze. Dann führten die Juden vor etwa sechs- oder siebentausend Jahren etwas ein, und das ist die Beschneidung. Ich weiß nicht, warum sie es einführten. Es ist noch ein Rätsel. Nimm den armen Penis.

Nimm ein Messer – nicht wahr? Und beginn zu schneiden. Und jeder sagt: ‚Das verletzt nichts.‘ Jedermann sagt: ‚Nein, das verletzt nichts.‘ Verstehen Sie? Das ist natürlich eine Entschuldigung, ein Vorwand. Sie sagen, die Nervenenden wären noch nicht entwickelt. Deshalb sind auch die Gefühle in den Nerven noch nicht entwickelt. Deshalb fühlt das Kind auch nichts. Nun, das ist Mord. Beschneidung ist eine der schlimmsten Behandlungen für das Kind. Und was geschieht mit ihnen? Sehen Sie sie sich an. Sie können nicht mit ihnen sprechen. Sie weinen nur. Was sie tun ist, daß sie zurückschrecken.

Sie ziehen sich zusammen, gehen in sich, fort von der hässlichen Welt. Ich drücke das sehr grob aus, aber Sie wissen, was ich meine, Doktor. Also das ist die Begrüßung: Es von der Mutter fortnehmen, die Mutter darf es nicht sehen. Vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden nichts essen. Nicht wahr? Der Penis beschnitten. Und dann kommt das Schlimmste: Dieses arme Kind, dieser Säugling, versucht immer, sich auszustrecken und etwas Wärme zu finden, irgendetwas, sich daran zu halten. Es kommt zur Mutter, legt seine Lippen auf die Brustwarze der Mutter. Was passiert? Die Brustwarze ist kalt, sie erigiert nicht, oder die Milch kommt nicht, oder die Milch ist schlecht. Und das ist das Übliche. Das ist nicht ein Fall unter tausend. Das ist allgemein.

Das ist der Durchschnitt. Was macht also das Baby? Wie reagiert es darauf? Wie muß es darauf bioenergetisch reagieren? Es kann nicht zu Ihnen kommen und sagen: ‚Hören Sie zu, ich leide so sehr, so sehr.‘ Es weint nur. Und endlich gibt es auf Es gibt auf und sagt: ‚Nein!‘. Es sagt nicht ’nein‘ in Worten, verstehen Sie, aber das ist die emotionale Situation. Und wir Orgonomisten wissen das. Wir lesen das aus unseren Patienten. Wir lesen es aus ihrer emotionalen Struktur, aus ihrem Verhalten, nicht aus ihren Worten. Worte können das nicht ausdrücken. Hier, gleich am Anfang, entwickelt sich die Bosheit. Hier entwickelt sich das ’nein‘, das große ’nein‘ der Menschheit. Und dann fragen Sie mich, warum die Welt in Unordnung ist.

Kann ich gleich etwas anschließen über die Lage der Welt heutzutage? Wie ist es zu erklären, daß ein einziger Hitler oder ein einziger Dshugaschwili achthundert Millionen Menschen kontrolliert? Wie ist das möglich? Das war die Frage, die ich 1927 in die Soziologie einführte. Und ich diskutierte die ganze Sache mit Freud. Wie ist das möglich? Niemand stellt diese Frage. Man hört nichts davon.

Wie ist es möglich, daß achthundert Millionen erwachsene, hart arbeitende, vernünftige Leute von einem einzigen Modju unterjocht werden können? Die Antwort ist, und sie ist ganz sicher und abgesichert, und in hundert Jahren werden die Menschen es wissen, hoffe ich, – weil die Säuglinge in ihren emotionalen Bedürfnissen ruiniert werden, in ihrem natürlichen, emotionalen Lebensausdruck: und zwar direkt vor der Geburt und nach der Geburt. Sie werden durch kalte, wie wir sagen ‚anorganische‘, d.h. biologisch gesehen tote, zusammengezogene Uteri vor der Geburt ruiniert. Wir haben das durch viele Fallgeschichten erhärtet.

Psychoanalytiker wollen darüber gar nichts wissen. Sie hören nicht zu. Die Welt hingegen hört bereits zu. Können Sie mir folgen? Die Schädigung erfolgt genau da, gleich am Anfang, gleich nach der Geburt. Da erfolgt die Disponierung für alles Weitere. Das ‚Nein, der Trotz, die Wunschlosigkeit, die Meinungslosigkeit, die Unfähigkeit, irgendetwas zu entwickeln. Die Leute sind stumpf Sie sind stumpf, tot, uninteressiert. Und dann entwickeln sie ihre Pseudokontakte, Ersatzfreuden, Ersatzintelligenz, oberflächliche Sachen, die Kriege usw. Das geht sehr weit.“

„Woher kommt dieses Elend?“- Die Suche nach den Ursachen für das massenhaft auftretende Leid der Menschen sollte, wie oben erwähnt, trennend für Reich und Freud wirken. Dort nämlich, wo Reich die Trennung zwischen Biologie und Soziologie überwand, dort, wo er

„Libido als Energie (begreift), die durch die Gesellschaft geformt wird“.

Reich führte die These „nicht Sexualität, sondern Gesellschaft“ auf die Verdrängung, die reine Furcht, mit dem größten Problem in Berührung zu kommen, mit der der Mensch zu tun hat, der sexuellen Neurose der Menschen, zurück. Ausgelöst durch den sozialen Aufstand in Wien 1927 begann Reich, seine Arbeit auf gesellschaftlicher Basis fortzusetzen:

„Ich wollte von den Krankenhäusern fort, von der individuellen Behandlung in das soziale Geschehen eingreifen“.

Er gründete die sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung. Politische Tätigkeit muß sich Reich zufolge zuallererst nach den Bedürfnissen der Säuglinge, der Kinder und der Heranwachsenden richten.

So waren seine Initiativen immer lebensnah. Der Kampf gegen die Wohnungsnot, um dem Elternpaar einen freien Ausdruck ihrer Sexualität zu ermöglichen, ebenso wie die Einrichtung von Sexualberatungsstellen, welche nicht wie heute so oft der Fall, ausschließlich die Beratung in Verhütungsfragen (dies auch) zum Ziele hatten, sondern dort ansetzten, wo die Verunsicherung der Jugendlichen lag: in der Frage der konkreten Gestaltung ihrer sexuellen Kontakte. Es sei an dieser Stelle auf den kleinen Band von Reich „Sexualerregung und Befriedigung; Beantwortung sexueller Fragen“ hingewiesen; er gibt einen faszinierenden Eindruck, wie gut es Reich gelang, über intime Fragen auch in größeren Gruppen zu sprechen:

„Einmal im Monat hatten wir eine öffentliche Versammlung, auf der wir uns mit einem besonderen Problem beschäftigten, etwa mit der Kindererziehung, dem Problem der Onanie, den Problemen der Heranwachsenden oder Verheirateten, oder mit sonstigen Themen. Dann stellten die Leute Fragen. Das war großartig. Ich zehre heute noch von der Erfahrung. Die Leute waren dabei völlig offen. Meine Aufgabe war jetzt sehr schwierig. Ich mußte die Schranken durchbrechen, die die Öffentlichkeit von ihrem eigenen Privatleben trennt.

Verstehen Sie? Niemand spricht darüber. Niemand erwähnt es. Niemand. Ich mußte also zuerst diese Schranke durchbrechen. Ich sagte den Leuten: ‚Ich werde konkrete Fragen an Sie richten, und ich werde Sie mit direkten Problemen konfrontieren.‘ Kein Herumgerede. Und das funktionierte wunderbar. Ich werde niemals die warmen, geröteten Gesichter vergessen, die leuchtenden Augen, die Spannung, den Kontakt. Es besteht kein Zweifel, Dr. Eissler, diese Sache ist nicht aufzuhalten.“

Diese Versammlungen fanden in großem Ausmaß statt; in Berlin vier bis fünfmal pro Woche mit zwei- bis dreitausend(!) Menschen. Dennoch schließt Reich, in Einbekenntnis einen großen Fehler gemacht zu haben, mit einer Warnung für jede zukünftige mentalhygienische Bewegung“:

„Hier möchte ich eine Warnung für jede zukünftige mentalhygienische Bewegung aussprechen: es kann nicht auf politischer Ebene gemacht werden. Die Leute werden begeistert sein. Sie werden Feuer und Flamme sein. Aber ihre Strukturen sind nicht so beschaffen, daß sie leicht folgen können. Die Charakterstrukturen können nicht folgen. Und dann fangen die Schwierigkeiten an.

Darin liegt die Gefahr und das besondere Problem der Mentalhygiene. Ich beschäftige mich zur Zeit sehr intensiv damit und versuche, das Problem zu lösen. Die Diskrepanz zwischen dem, was ein Menschenwesen will, wovon es träumt, und was es intellektuell als wahr und gut begreift, und dem, was es tatsächlich tun kann, d.h. was seine Struktur, seine Charakterstruktur ihm wirklich zu tun erlaubt, ist ein zentrales Problem der Mentalhygiene. Diese Lücken firnen die Religionen mit der Vorstellung des Paradieses.“

Ebenso wie der sozialistische Aufstand in Wien Anlaß für Reichs Aufbruch zu politischer Aktivität bot, war es Freuds Rachenkrebs, der am Anfang der Beschäftigung Reichs mit dem Krebs stand. Bezugnehmend auf den Berliner Kongerß 1922 sagt er: „Bei diesem Kongreß war er wunderbar, wie jedesmal, wenn er sprach. Und dann traf es ihn gerade dort, im Mund. Damals fing ich an, mich für Krebs zu interessieren. Ich begann meine Krebsstudien 1926 oder 1927.“

Oftmals spricht Reich von Freuds Verzweiflung und Resignation, welche in seinem Gesicht zu lesen ist und so deutet er auch Freuds Krebs als Ausdruck ebendieser emotionalen Resignation, eines Schrumpfungsprozesses, dessen Beginn er etwa mit dem Jahr 1924 ansetzt.

„Nun, wenn meine Theorie richtig ist, wenn meine Ansichten über den Krebs richtig sind, gibt man einfach auf, man resigniert und dann schrumpft man zusammen. Es ist sehr begreiflich, warum er seine ‚Epulis‘ entwickelte; er rauchte sehr viel, sehr viel. Ich hatte immer das Gefühl, er rauchte – nicht aus Nervosität, nicht aus Nervosität, sondern, weil er etwas sagen wollte, das er nie über die Lippen brachte … als ob er etwas ‚in sich hineinfressen müßte‘.

Ich weiß nicht, ob Sie mir folgen können. Beißen – ein Impuls, etwas in sich hineinfressen, etwas hinunterschlucken, sich niemals ausdrücken. Er war immer sehr höflich, von ‚beißender‘ Höflichkeit … ‚Beißend‘. Irgendwie kalt, aber nicht grausam. Und hier entwickelte er seinen Krebs. Wenn man mit einem Muskel Jahr um Jahr beißt, beginnt das Gewebe zu verderben, und Krebs entwickelt sich. Ja, das kann man in der psychoanalytischen Theorie nicht finden. Das folgert direkt aus meinem Werk, aus der Orgonomie.“

„Alles ist nutzlos bis auf die Säuglinge.
Sie müssen zum unverdorbenen Protoplasma zurück“
Wilhelm Reich über Neurosenprophylaxe

In Anerkennung der Tatsache, daß Störungen bereits im vorsprachlichen Bereich begründet liegen, galt Reichs Interesse in den letzten Lebensjahren insbesondere den Säuglingen und Kleinkindern. Er hatte bald erkannt, daß es ein mühsames und teilweise hoffnungsloses Unterfangen ist, beim Erwachsenen strukturelle Veränderungen zu bewirken.

„Ich möchte, daß Sie verstehen, daß individuelle Therapie nutzlos ist. Nutzlos! Oh ja, von großem Nutzen, um Geld zu machen und hie und da zu helfen. Aber vom Standpunkt des sozialen Problems, vom Standpunkt geistig-seelischer Hygiene aus ist das nutzlos. Deshalb gab ich es auf. “

Und er hat auch am Beispiel des Scheiterns der russischen Revolution erkannt, daß Maßnahmen, die der Freiheit dienen, wie liberale Ehegesetze und Erziehungsmaßnahmen in freiheitsungewohnten Menschen nichts fruchten, mehr noch, von diesen bekämpft werden. „Ehe nicht die Medizin, die Erziehung die soziale Hygiene es fertigbringen, in der Masse der Gesellschaft ein bio-energetisches Wirken in der Weise zu garantieren, daß die Uteri nicht mehr zusammengezogen werden, daß die Embryonen in gut funktionierenden Körpern wachsen, daß die Brustwarzen nicht zusammengezogen werden, und die Brüste der Mütter bio-energetisch und sexuell lebendig sind, wird sich nichts ändern.

Solange die Kinder mit aller Häßlichkeit verletzt und gekränkt werden, – mit Chemikalien der Chemie-Modjus, mit Injektionen aller Art, und mit dem Messer direkt nach der Geburt -, wird sich nichts ändern. Ich habe so manches Kind aus dem Schmutz gezogen. Solange das so weitergeht, wird nichts in die richtige Richtung laufen. Keine Verfassung, kein Parlament, nichts wird helfen. Nichts. Ich sage das. Nichts wird sich zum Besseren wenden. Man kann die Freiheit nicht auf dem zerstörten bio-energetischen System der Kinder errichten.“

Die Neurosenprophylaxe ist das logische Ergebnis der Weiterentwicklung der Libidotheorie. So meinte Reich zu Freud:

„Wenn Ihre eigene Theorie besagt, daß die Stauung, die Libidostauung oder Energiestauung der Kern der Neurose ist, der Kern des neurotischen Prozesses, und wenn die orgastische Potenz, die Sie nicht leugnen (er leugnete das nie) der Schlüssel zur Bewältigung der Stauung ist, oder wenigstens zur Beherrschung, dann ist meine Theorie der Neurosenprophylaxe richtig. Es ist Ihre eigene Theorie. Ich habe nur die Konsequenzen daraus gezogen.“

Und dennoch begannen zu dieser Frage auch die Konflikte mit Freud, welcher meinte, daß „die Kultur vorginge“. „Er wollte das nicht. Er war der alte Gentleman, durch die Schüler eingekreist, die besonders neurotisch waren und besonders durch die Familie gefesselt.“

Und wieder war es die „strukturelle, charakterologische Unfähigkeit zur Freiheit“, welche bewirkte, daß Reich etwa bei den Analytikern Jekels, Hitschmann, Federn, Nunberg und Deutsch auf kalte Ablehnung stieß, als er dabei blieb, daß von der Therapie zur Prophylaxe überzugehen sei.

„Ich bin kein Psychoanalytiker.“ oder „Dann schritt ich bis zum körperlichen Ausdruck, der ohne Worte ist“
Wilhelm Reich über therapeutische Werkzeuge

Gleich zu Beginn des Interviews macht Reich die grundlegende Differenz zwischen dem Ansatz der Psychoanalyse und seiner Arbeit klar:

„Die Psychoanalyse arbeitet, wie Sie sehr gut wissen, mit Worten und unbewußten Ideen. Das sind ihre Werkzeuge. Freud zufolge – wie ich es verstand, als er das veröffentlichte – kann das Unbewußte nur bis zu den Wortvorstellungen zurückverfolgt werden, wenn die ‚Wort-Bilder‘ entstehen. Mit anderen Worten: die Psychoanalyse kann nicht hinter das zweite oder dritte Lebensjahr zurückdringen.

Die Psychoanalyse wird durch ihre Methode gefesselt. Sie muß sich an die Methode halten, das heißt, an die Handhabung von Assoziationen und Wortbildern. Jetzt entwickelte die Charakteranalyse eine Möglichkeit, Gefühlsausdrücke zu lesen. Während Freud die Welt des Unbewußten öffnete, Gedanken, Wünsche usw., gelang es mir, Gefühlsausdrücke zu lesen.“

Und weiter:

„Während die psychoanalytische Organisation den qualitativen Gesichtspunkt entwickelte, d.h. die Ideen, ihre Wechselbeziehungen usw., beschäftigte ich mich mit der Energie. Ich mußte an der Libidotheorie festhalten, nicht nur, weil sie richtig war, sondern weil ich sie brauchte, verstehen Sie. Ich brauchte sie als Wekzeug. Sie ftührte in den physiologischen Bereich. Das heißt, das, was Freud Libido nannte, war keine chemische Substanz, sondern eine Bewegung des Protoplasmas.“

Im Zuge der Beschäftigung mit der Psychoanalyse erkannte Reich bald, daß die Methode der freien Assotiation nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllte. Auch Freud sei Reich zufolge enttäuscht gewesen über das Heilungspotential der Analyse:

„Er hatte sehr viel erwartet, und seine Erwartungen wurden nicht erfüllt. Als ich mit dem Analysieren anfing, sollte eine Behandlung normalerweise drei Monate oder im Höchstfall sechs Monate dauern. Dann wurde es immer länger, immer länger. Schließlich gab er die Therapie ganz auf Er wollte die Menschheit nicht mehr verbessern. Er war enttäuscht, deutlich enttäuscht. Und er hatte Recht. Man kann nichts tun. Man kann nichts tun. Aber ich glaube, daß er aufgab, bevor er überhaupt angefangen hatte.“

Reich führt die geringe Erfolgsrate zum einen auf den Mangel an theoretischer Untermauerung der Technik zurück und meint:

„Es gab keine Theorie der Technik seinerzeit. Nichts. Nur Assoziation. Sich hinsetzen. Assoziieren. Nichts passierte. Nichts. Und daß ’nichts passierte, war genau das Problem. Wie kann man von einem Patienten

Reaktionen erlangen? Es dauerte etwa acht Jahre, bis das Problem gelöst war, obwohl ich sagen muß, daß es noch immer nicht völlig gelöst ist. Und Freud liebte diese lebendige Art. Ich brachte Leben in einen toten Körper. Er schätzte meine Arbeit im Technischen Seminar.“

In diesem Sinne bot die charakteranalytische Technik erstmalig einen systematischen Zugang zur Auflösung von (Charakter-)Widerstand und Panzerung:

„Das orgonomische Bild der Neurose verschafft einem ein sehr praktisches Werkzeug für die Arbeit mit Patienten. Es ist ein bioenergetisches Werkzeug. Man kann den menschlichen Charakter nicht mit psychoanalytischen Mitteln erfassen. Man muß die Charakteranalyse und die Orgontherapie anwenden. Menschliche Wesen leben äußerst emotional in ihrer äußeren Erscheinung. Richtig? Um zum Zentrum zu gelangen, wo das Natürliche, das Gesunde liegt, muß man diese mittlere Schicht durchdringen.

Und in dieser mittleren Schicht ist Schrecken, nicht nur das – auch Mord. Alles das, was Freud unter dem Begriff des Todestriebes zusammenzufassen versuchte, findet man in dieser mittleren Schicht. Er glaubte, das sei biologisch bedingt. Aber das stimmt nicht. Es ist ein künstliches Produkt der Kultur. Es ist eine strukturelle Bösartigkeit des menschlichen Wesens. Deshalb muß man durch die Hölle gehen, bevor man das erreicht, was Freud Eros nannte, und was ich orgonotische Strömung oder plasmatische Erregung nenne (die grundlegende Plasmaaktion des bioenergetischen Systems). Durch die Hölle muß man! Das gilt sowohl für den Arzt als auch für den Patienten. In dieser Hölle ist Verwirrung, schizophrener Zusammenbruch, melancholische Depression. All das.

Ich habe es in der ‚Charakteranalyse‘ beschrieben. ich brauche es hier nicht zu wiederholen. Aber warum sprechen wir überhaupt von Lebenskraft? Es gibt nur einen Grund: um ihnen zu zeigen, warum niemand sich daran wagte oder versuchte, das biologische Zentrum zu erreichen, womit ich mich derzeit beschäftige. Bevor man dieses Zentrum erreichen kann, muß man sich mit Haß, Schrecken und Mord konfrontieren. Alle diese Kriege, all das Chaos jetzt – wissen Sie, was das für mich ist? Die Menschheit versucht, ihr Zentrum wiederzugewinnen, ihr lebendiges, gesundes Zentrum. Aber bevor es

erreicht werden kann, muß die Menschheit diese Phase des Mordes, des Todschlags und der Zerstörung überwinden. Das, was Freud den Destruktionstrieb nannte, findet man in der mittleren Schicht. Ein Stier ist verrückt und zerstörungswütig, wenn er frustriert wird. Mit den Menschen ist es genauso. Das heißt, bevor man zu den wahren Dingen gelangt – Liebe, Leben, Rationalität – muß die Hölle durchschritten werden. Das ist von großer Tragweite für die gesellschaftliche Entwicklung Ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen, aber ich wollte erklären, warum die Psychoanalytiker sich – unbewußt – weigerten, sich mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Wenn ich die Konsequenzen voll erkannt hätte, hätte ich selbst die Finger davon gelassen. Heute kann ich das nicht mehr. Die Brücken hinter mir habe ich abgebrochen. Wenn ich zurückschaue, begreife ich es. Es ist sehr gefährlich.“

Und es ist zuallererst die „genitale Gesundheit des Analytikers“, welche entscheidet, ob dieser vor der „Hölle“ der zweiten Schicht zurückschreckt, oder sich heranwagt, in dem (biologischen) Wissen, daß sich dahinter ein „Stück einfacher, anständiger Natur“ verbirgt.

Diesbezüglich hegte auch Freud Reich zufolge keine Illusionen über das Potential seiner Analytikerkollegen:

„Oh ja, ich erinnere mich an eine schöne Geschichte. Es war während des Berliner Kongresses, 1922. Ich war damals noch sehr jung. Ich analysierte erst seit drei oder vier Jahren. Es waren ungefähr einhundertfünfzig Teilnehmer da. Freud und ich und ein paar andere standen zusammen. Freud machte eine Geste und sagte: ‚Sehen Sie diese Menge hier? Wie viele davon, glauben Sie, können analysieren, wirklich analysieren?‘ Er hob fünf Finger. Das zeigte, daß er Bescheid wußte. Nicht daß die Leute schlechte Ärzte waren, aber das richtige Verständnis, der richtige Kontakt, das ‚Gefühl, wie ich es nenne, fehlte Ihnen.“

Und er selbst dazu: „Um es ganz deutlich zu machen: ein menschlicher Organismus wie der eines Analytikers kann unmöglich jahrelang kontinuierlich mit der menschlichen Struktur arbeiten, mit den Trieben, den perversen Trieben und den gesunden Trieben, er kann sich nicht

damit befassen, es akzeptieren, es auf sich bezogen finden und es aushalten, wenn er nicht selbst völlig sauber, klar und orgastisch befriedigt ist, wenn er nicht selbst ein gutes Leben führt. Nun, bei der Mehrheit der Analytiker war das nicht der Fall, und das ist entscheidend. Hier zeigt sich die Struktur, die Charakterstruktur, die dazu beitrug, die grundlegende Freudsche Theorie, die sexuelle Ätiologie der Neurosen, zu zerstören. Dafür war die Charakterstruktur verantwortlich. Die Psychoanalytiker entfernten sich von der natürlichen Genitalität. Und warum entfernten sie sich? Sie konnten es nicht ertragen; ihre Strukturen konnten es nicht ertragen. Ich glaube nicht, daß sie auf moralische Weise auswichen. Bei einigen war die Reaktion pornographisch, bei anderen abwehrend, zwangsneurotisch, bei wieder anderen bestand die Weigerung, damit in Berührung zu kommen, sich damit auseinanderzusetzen.“

Und letztlich:

„Die Tatsache, ob ein Psychoanalytiker ein neurotischer Charakter ist oder bis zu welchem Grade er es ist, bestimmt den Standpunkt, den er gegenüber meiner Arbeit einnimmt. Das entscheidet darüber, ob er mich verleumdet oder nicht, ob er mich für einen Psychopathen hält oder für ein normales, fröhliches Individuum, oder für ein Individuum, das aus sich herausgeht, natürlich ist, usw.“

„Man kann nur handeln: Kliniken gründen, den Heranwachsenden helfen, ihr Liebesleben in Freiheit zu führen, die Gesetze ändern, die im Weg sind“
Wilhelm Reich und wir

Was ist geschehen? Jetzt, vierzig Jahre danach, bleiben wir nach wie vor ausschließlich auf dem Terrain der Individualtherapie. Niemand wagt sich in den gesellschaftlichen Bereich, es gibt nach wie vor kein zweites Summerhill in Europa und auch wir Reichschen Eltern begnügen uns

mit Kompromissen in der Wahl von Kindergärten und Schulen für unsere Kinder, anstatt Initiativen zu setzen, die es unseren Kindern ermöglicht, in Freiheit heranzuwachsen. Warum?

Betrachte ich nun das in der Überschrift genannte Zitat in seiner Angemessenheit auf uns, jetzt, so meine ich, es könnte ohne moralische Überforderung durch ein „Reichsches Über-Ich“ (gesellschaftliche Initiativen setzen zu müssen), folgendermaßen lauten: Wir möchten, dürfen, könnten Initiativen wachsen lassen, welche aus unserem Bedürfnis zusammen zu sein ent-„strömen“ – miteinander kochen, ein Schloß kaufen, Lebensräume schaffen, unseren Kindern eine lebensbejahende Erziehung angedeihen lassen, usf.

Um nun mit Reich zu schließen:

„Die Verleumdungen werden noch lange dauern, die Verleumdung der Liebe, die Verleumdung der Genitalität, die Verleumdung des Lebens, der Haß auf das Leben – das wird noch lange dauern. Ein Teil der Arbeit besteht darin, sich dagegen zu schützen.“

Hinweis:
Das Buch „Wilhelm Reich über Sigmund Freud“ ist als broschürte Ausgabe (S 170,- + Versand) über Wolfram Ratz, c/o WRI, 1110 Wien, Simmeringer Hauptstraße 86 (Tel.: 7499131) beziehbar.

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