31 Mai
Bukumatula 2/1995
Redaktioneller Vorspann zu Loil Neidhöfers Artikel – Genitalität und genitale Angst
Wolfram Ratz:
Der psychoanalytische Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt Wilhelm Reichs bildete die Untersuchung der Triebenergetik auf Grundlage des Libidokonzepts Sigmund Freuds. Da die Begriffe „Genitalität“ und „orgastische Potenz“ von grundlegender Bedeutung für Reichs Werk sind, habe ich in aller Kürze versucht den Weg Wilhelm Reichs dorthin – und nachfolgend zum „genitalen Charakter“ – nachzuzeichnen.
Wenn Reichs erster Artikel „Über Genitalität“ aus dem Jahr 1923 ein eher bescheidener Beitrag zur bereits bestehenden psychoanalytischen Literatur war, kam Reich in der Folge zu der heftig umstrittenen Schlußfolgerung, daß alle neurotischen Patienten genital gestört seien. Das heißt, keiner erlange die volle Befriedigung im Geschlechtsverkehr, wobei er sich neben seinen eigenen Beobachtungen – wie auch sonst so oft – auf Äußerungen Freuds – in diesem Fall aus dem Jahr 1905, bezog , daß „keine Neurose möglich ist mit einer normalen vita sexualis“.
In der Internationalen Zeitschrift fair Psychoanalyse erschien 1924 ein weiterer Artikel Reichs, wo erstmals der Begriff „orgastische Potenz“ auftauchte. Sie fehle den Patienten, auch wenn sie im herkömmlichen Sinne des Wortes „potent“ waren. „Orgastische Potenz“ beinhalte etwa das Zusammenspiel von zärtlichen und sinnlichen Strebungen gegenüber dem Partner, rhythmische Bewegungen während des Verkehrs, ein Hinübergleiten in einen Zustand ohne Bewußtseinstätigkeit auf der Höhe der sexuellen Erregung, Zuckungen der gesamten Muskulatur während der Phase der Entladung und schließlich Gefühle der wohligen, entspannten Ermattung nach dem Geschlechtsakt.
1925 erschien der Aufsatz Die Rolle der Genitalität in der Neurosentherapie, wo er auf die „unwillkürliche Hingabe“ und die Einbeziehung des gesamten Körpers in die Genitalität zu sprechen kommt. Entladung der sexuellen Energie sei nur über die Genitalien möglich: „Die prägenitalen erogenen Zonen … können nur einer Steigerung des Erregungszustandes dienen“. Damit wurde klar, daß Patienten, die Reich, ebenso wie die anderen Analytiker als sexuell „normal“ eingestuft hatten, diese Forderungen nicht mehr erfüllten. 1927 erschien das Buch Die Funktion des Orgasmus, worin er seine Erkenntnisse detailliert zusammenfaßte.
Genitaler Charakter
Zu den psychoanalytischen Charaktertheorien war Reichs Beitrag zur Unterscheidung neurotischer Charaktertypen bedeutend. Noch bedeutender aber war, daß er zu den Charaktertypen einen weiteren Typus hinzufügte: den genitalen Charakter. Basis war das Vorhandensein oder das Fehlen der orgastischen Potenz. Damit verband Reich die Charakteranalyse mit seinen Forschungen zur Genitalität. Orgastische Potenz oder die ungehemmte Erlebnisfähigkeit der Genitalität wurde zum erklärten Ziel der Charakteranalyse.
Auf die Kritik, daß der genitale Charakter eine utopische Paradiesvorstellung wäre, entgegnete Reich, daß er ebenso empfänglich für Unlustgefühle sei, nicht nur für Lust: „Die Fähigkeit, Unlust und Schmerz zu ertragen, ohne enttäuscht in die Erstarrung zu fliehen, geht einher mit der Fähigkeit, Glück zu nehmen und Liebe zu geben. Um mit Nietzsche zu sprechen: Wer das Himmelhoch-Jauchzen lernen will, muß sich auch für das Zu-Tode-Betrübt bereit halten.“ (FO, S.153)
Reich sagte, daß auch der genitale Charakter gepanzert ist, aber daß er „schmiegsam genug“ sei, um auf verschiedenste Lebenssituationen angemessen zu reagieren: „Der genitale Charakter kann sehr fröhlich, aber er kann, wenn nötig, auch sehr zornig sein; er reagiert auf Objektverlust mit entsprechender Trauer, aber er verfällt ihr nicht; er kann intensiv und hingebend lieben, aber er kann auch energisch hassen; er kann in entsprechenden Situationen kindlich sein, wird aber nie infantil erscheinen; sein Ernst ist natürlich, nicht kompensierend steif, weil er keine Tendenz hat, sich partout erwachsen zu zeigen.“ (CA, S.131) Reich war sich bewußt, daß der „genitale Charakter“ ein Konstrukt war, der einen Idealtypus darstellte: „Hinsichtlich der qualitativen Unterschiede sind der genitale und der neurotische Charakter als Idealtypen aufzufassen. Die realen Charaktere stellen Mischformen dar, und es kommt bloß auf die Entfernung von dem einen oder anderen Idealtypen an, ob die Libidoökonomie gewährleistet ist oder nicht.“ (CA, S.226)
Nachsatz:
In seinem letzten Lebensjahrzehnt schrieb Reich kein therapeutisches Hauptwerk mehr. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Orgonomie nahm ihn ganz in Anspruch.- In der Supervision seiner Mitarbeiter und in seiner Weiterentwicklung des therapeutischen Ansatzes jedoch zeigt sich ein bisher unbekannter, weicherer und umfassenderer Reich.- Reich, am 26.08.1956 in einem Vortrag in Orgonon (das Transkript erschien in „Orgonomic Functionalism“, Vol.II, S.68, Rangley 1991): „
…But I think there is a deeper function there. And that is the constant feeling of human beings, which is hidden in neurotics and biopathic, amored individuals, but quite manifest in what we call „healthy people“. (We should get away from that term, too. Jr becoms a religion again.) And that is a feeling of a separation from something. lt is most clearly expressed in the pain, in the aching pain of beeing separated from the beloved, whether child, or wife, or husband, with a longing to unite again, to be together again, to be in contact again. But I think that this love experience is one of the function, one of the variants of a much deeper thing. Somehow, you think such thoughts on very quiet nights, no noises around except the high wind, thoughts of beeing separated from the cosmic orgone energy ocean, of being singled out, so to say. „- Und an anderer Stelle: „ There is developement, there is functioning, there is process. What we have to do is to think in the direction of where does the pulsating system, the closed system, develop out of the orgone energy ocean and, with that, where does self-awareness begin to develop? (..) I learned to respect religious thought. I have to confess that. I did not twenty years ago. I began to see how deep the religious probing goes, how deep down,…“ (a.a.o., S.66)