15 Aug.
Bukumatula 3/2003
Christian Rieder über einen „Wahnsinnsfilm“
Im Mittelpunkt des Regiedebüts von Hans Weingartner steht der einundzwanzig jährige Lukas, gespielt von Daniel Brühl. Mit dem Umzug in die Großstadt- WG seiner Schwester beginnt für ihn ein neues aufregendes Leben. Der stressreiche Studienbeginn, ein viel versprechendes, jedoch in einer Katastrophe endende Rendezvous sowie wiederholter Drogenkonsum lösen die ersten typischen Symptome einer paranoiden Schizophrenie aus. Nach einem halluzinatorischen Psilo- cybin- Picknick beginnt Lukas Stimmen zu hören, wodurch er sich zunehmend irrational und aggressiv verhält.
Nach einem ersten Selbstmordversuch kommt es zur Einweisung in eine psychiatrische Heilanstalt. Danach versucht er wieder Selbstmord zu begehen, zwei Hippies können ihn jedoch daran hindern. Lukas wird zum Aussteiger, indem er sich entscheidet, mit seinen Rettern und deren Kommune ans spanische Meer zu fahren. Letzten Endes führt ihn aber sein Lebensweg in die totale zwischenmenschliche Isolation.
Nachdem ich den Film gesehen hatte ging ich auf die Homepage, wobei mir neben den Stellungnahmen des Regisseurs die Filmrede von Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk M. Emrich bei der Konzeption dieses Artikels besonders geholfen hat. Meiner Meinung nach stellt diese Seite eine optimale Ergänzung dar und ist somit genauso wie der Film selbst durchaus zu empfehlen.
Ich möchte nun nach dieser kurzen Inhaltsangabe näher auf den Titel eingehen. In der Physik versteht man unter „Rauschen“ eine spezielle Generierung von elektronischen Prozessen, die eine Bildung von semantischen Strukturen unmöglich macht. Zur speziellen Bedeutung im Kontext dieses Filmes ist für Prof. Emrich das „weiße Rauschen“
„eine Metapher für die besondere Verbindung des Innen mit dem Außen. Signale können dann auch aus dem rein Zufälligen bezogen werden: alles hat Bedeutung, alles wird zur Bedeutung. Psychiater lassen delirante Patienten gerne auf eine weiße Wand blicken und fragen sie, was sie da sehen.
Oft sind es Käfer, Krabbeltiere aller Art, die sie beschreiben – ein Scheich aus Abu Dabi beschrieb kleine Kamele – dies ein Beleg für die Konstruktivität der Wahrnehmung, die nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen funktioniert.“
https://www.x-verleih.de/filme/das-weisse-rauschen/
25.08.2003
Zu Filmbeginn meint Lukas, dass die Erfahrung aller Visionen aller Menschen aller Zeiten in einem Augenblick als „weißes Rauschen“ bezeichnet wird.
Hans Weingartner geht es in seinem mehrfach preisgekrönten Werk vor allem um Angstabbau und Entstigmatisierung. Mittels Filmtechnik (besonders Kameraeinsatz und Tongestaltung) und einem überzeugenden Hauptdarsteller vermittelt er Einblicke in eine beängstigende Realitätskonstruktion, die aber immer noch reichlich Identifikationsmöglichkeiten bietet. Wichtig war die Betreuung und Prüfung des Filmprojekts durch Prof. Emrich.
Er ist Vorstand der psychiatrischen Universitätsklinik Hannover sowie Gastprofessor an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Dadurch wurde wahrscheinlich erst die gelungene Mischung aus Psychiatriefilm und Kunstwerk möglich. Neben Aufklärung und Unterhaltung möchte Weingartner den Betroffenen Mut machen. Auch wenn diese Erkrankung nicht immer heilbar ist kann man doch lernen, mit ihr umzugehen. Auf seiner Homepage schreibt er:
„Die Radikalität wird nicht in seinen Mitteln liegen, sondern in seiner Hingabe zur Wahrheit. Ich möchte einen authentischen Film machen, der hier und heute spielt und etwas über die Wirklichkeit erzählt.“
siehe: https://www.x-verleih.de/filme/das-weisse-rauschen/
25.08.2003
Auf dem Filmplakat liest man „Die Realität ist ein Hirngespinst“.- Mich persönlich interessiert neben den medizinischen, sozialen und künstlerischen Aspekten die philosophische Dimension des Phänomens „Schizophrenie“. Die Tatsache der Konstruiertheit unserer Realitätsauffassung wird bei der Beschäftigung mit Schizophrenie besonders deutlich. Zweifelsohne spielen situative Begebenheiten eine ganz entscheidende Rolle, jedoch ist Welterfahrung immer auch durch eine stark subjektive Komponente gekennzeichnet. Wenn wir gleichzeitig von innen und von außen mit Reizen stimuliert werden, gestaltet sich die Erfassung der Realität besonders schwierig.
Leider werden in unserer (angeblich) hoch aufgeklärten westlichen Gesellschaft immer noch an Neurosen und Psychosen erkrankte Menschen tendenziell ausgegrenzt. Bei Schizophrenie im Speziellen handelt es sich um eine häufig vorkommende schwere Geisteskrankheit (Erkrankungsrate: 1%). Dabei kann man weder die Person selbst noch die Familie noch die Gesellschaft für das Auftreten schuldig sprechen. Ausschließlich ein multikausaler Erklärungsansatz kann diesem Phänomen gerecht werden. Besonders signifikant ist der hohe Vererbungsfaktor, dessen Konsequenz in einer fehlerhaften Informationsverarbeitung liegt.
Zum Ausbruch der Krankheit führen dann in der Regel psychologische, pharmakologische und/oder soziale Belastungsumstände, wie z.B. Stress, Einsamkeit, Drogenmissbrauch oder Arbeitslosigkeit. Der Patient leidet typischerweise an chronischer Reizüberflutung und dem mit ihr einhergehenden Realitätsverlust. Nach Wilhelm Reich ist Lukas´ Diagnose „dementia paranoides“ bzw. „dementia praecox“, gekennzeichnet
„durch bizarre Ideen, mystische Erlebnisse, Verfolgungsgedanken und Halluzinationen, durch den Verlust der Fähigkeit, Worte ihrer Bedeutung nach zu erfassen und sinnvoll zu assoziieren und im wesentlichen durch einen langsamen Verfall des organismischen, d.h. einheitlichen Funktionierens.“ (Reich 1989, 520)
Es handelt sich also um eine Fundamentalstörung, die sich im Fühlen, Handeln, Wahrnehmen und Denken äußert. Zentral ist die Unfähigkeit, sich der jeweiligen Situation entsprechend zu verhalten. Im Umgang mit Betroffenen fällt auch auf, dass selten mehrere Funktionen gleichzeitig gestört sind. Besonders wichtig zu betonen scheint mir, dass Schizophrenie nicht mit Persönlichkeitsspaltung à la „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ gleichzusetzen ist. Nicht weniger unsinnig ist die Mystifikation des Erkrankten zum erleuchteten Genie oder seine Verteufelung zum gemeingefährlichen Psychopathen.
Obwohl mir klar ist, dass es wenig Sinn macht in einer Fachzeitschrift wie dieser Aufklärungsarbeit leisten zu wollen ist es mir doch ein Anliegen, an dieser Stelle gegen solche Fehlmeinungen anzuschreiben. Prof. Emrich ist davon überzeugt, dass in jedem Menschen grundsätzlich auch „schizophrenes Potential“ angelegt ist. Für diese Annahme sprechen Erkenntnisse aus Experimenten mit Reizdeprivation, psychotropen Substanzen und systematischem Schlafentzug Die Ursache bezüglich des Problemfeldes „Stigmatisierung“ scheint mir neben schlichten Informationsdefiziten die Angst vor dem schwer vorhersehbaren Verhalten des Erkrankten zu liegen.
Auch die eingeschränkte Leistungsfähigkeit wird eine gewisse Rolle spielen. Wie bereits erwähnt werden Schizophrene in besonders radikaler Weise mit dem weit verbreiteten Problem der zwischenmenschlichen Isolation konfrontiert. Ob der an der spanischen Atlantikküste lebende Protagonist aus „Das weiße Rauschen“ den individuellen Sinn seines Lebens erfüllen kann, indem er alleine am Strand sitzt und die Wellen beobachtet, möchte ich anzweifeln. Möglicherweise führt dieser meditative Lebensstil aber auch zur Genesung, frei nach dem Kredo: „Wer das weiße Rauschen sieht, der wird sofort wahnsinnig. Außer wenn er schon wahnsinnig ist.
Dann wird er normal.“ Wie viele junge Menschen ist er ein „Suchender“, für den es gilt, einen für ihn stimmigen Lebensstil zu entwickeln, um so sich selbst finden zu können. Letztlich würde ich aber Lukas´ Lebensentscheidung verteidigen, da ich fest an das demokratische Recht der individuellen Selbstbestimmung glaube!
P.S.: Für alle an Psychopathologie interessierten Cineasten und die, die es werden wollen möchte ich noch die zehn „Lieblingswahnsinnsfilme“ des Herrn Weingartner anführen:
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Quellenverzeichnis: Reich, W.: Charakteranalyse. Köln, Kiepenheuer&W., 1989.
Web: www.dasweisserauschen.de