17 Aug
Bukumatula 3/2007
Zur Gedenktafelenthüllung für Wilhelm und Annie Reich in Berlin 2007
Andreas Peglau:
Als mich Regine Lockot fragte, ob ich heute über Wilhelm Reich sprechen könnte, habe ich etwas Zeit gebraucht, bis ich dazu „Ja“ sagen konnte. Denn ich finde es schwierig, Reich in so kurzer Zeit gerecht zu werden – ohne ihn und seine Leistungen zu verkleinern. Oder ihn zu idealisieren. Speziell Letzteres werde ich aber nicht vermeiden können.
Denn ich denke, es findet schon dadurch ein Stück Idealisierung statt, wenn man die Persönlichkeit, den Charakter, das Privatleben desjenigen, über den man spricht, ausblendet. Trotzdem will ich mich weitestgehend auf den Therapeuten, Arzt und Forscher Wilhelm Reich beschränken, wenn ich mit Ihnen jetzt eine Art Schnelldurchgang durch sein Leben unternehme – mit einem etwas längeren Zwischenstopp hier in Berlin. Anschließend möchte ich etwas dazu sagen, warum mir persönlich diese Tafeleinweihung wichtig ist.
Wilhelm Reich wurde 1897 als Kind jüdischer Eltern in der Bukowina, im damaligen Österreich-Ungarn, geboren. 1957 starb er in einem US-amerikanischen Gefängnis. Er hat also in diesem Jahr 2007 sowohl seinen 110. Geburtstag wie auch seinen 50. Todestag.1
Reichs Jugend war überschattet vom tragischen Verlust seiner Eltern. Als er 13 Jahre alt war, ertappte er seine Mutter beim Ehebruch und berichtete dies dem Vater. Die Mutter nahm sich daraufhin das Leben. Der Vater konnte das nicht verwinden und zog sich – wohl ebenfalls in suizidaler Absicht – drei Jahre später eine Lungenentzündung zu, an der er verstarb. Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass diese Ereignisse Wilhelm Reich, der ab 1918 in Wien Medizin studierte, auf besondere Weise für Sigmund Freuds Ideen empfänglich machten.
Reich schloss sich jedenfalls bald der Psychoanalyse an, behandelte, forschte, publizierte, knüpfte dabei insbesondere an Freuds Libido-Theorie an, bereicherte die Analyse u.a. um wesentliche Erkenntnisse zur Behandlungstechnik. Für all das wurde er von Sigmund Freud zunächst sehr geschätzt und gefördert.
Erfahrungen mit staatlicher Unterdrückung machten Reich ab 1927 zum begeisterten Anhänger des Marxismus, den er mit der Psychoanalyse zu verbinden suchte. Wobei er fürs erste offenbar erfolgreich verdrängte, wie sehr ihn das in Widerspruch zum Hauptstrom der Psychoanalyse – und zur `Vaterfigur´ Freud – bringen musste.
Da Reich – wie Freud 30 Jahre zuvor – darauf stieß, wie massenhaft verbreitet neurotisches Elend ist, erkannte er, dass die Neurosenbehandlung durch die Neurosenprophylaxeergänzt werden musste. U.a. gründete er zu diesem Zweck 1928 die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“. In mehreren Beratungsstellen wurden hier Erwachsene und – heiß diskutiertes Novum damals – Jugendliche zu Geburtenkontrolle, Sexual- und Beziehungsproblemen beraten. 1930 zog Reich von Wien nach Berlin; seine Familie folgte.
Reich schloss sich dem Berliner Psychoanalytischen Institut an, wurde Lehranalytiker und Mitglied der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“. Insbesondere der Kreis „linker“ Analytiker um Otto Fenichel, zu dem sich auch Erich Fromm und Edith Jacobson gesellten, wurde für ihn wichtig.
Zugleich schloss sich Reich der Kommunistischen Partei Deutschlands an. Seine sogenannte „kommunistische Zelle“ befand sich unweit von hier, in der „Künstler-Kolonie“ am Barnay-Platz. Sein „Politischer Leiter“ war dort der Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz, sein „Agit-Prop“-Leiter der Schriftsteller Arthur Koestler. Mit Unterstützung der Kommunistischen Partei initiierten Reich und andere den „Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“ und organisierten überall im Land entsprechende Informationsveranstaltungen und Beratungsmöglichkeiten.
Reich selbst baute in der Charlottenburger Schloßstraße2u.a. mit Edith Jacobson und Annie Reich eine Sexualberatungsstelle auf, in der kostenlos Hilfe geleistet wurde.- Und er engagierte sich weiter in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen.
Auch das, was er dabei erlebte, regte ihn an, seine analytischen Kenntnisse auf soziale Fragen anzuwenden.
So schreibt Reich über die Mai-Kundgebung der KPD von 1931:
„Am 1. Mai meldete ich mich zum Ordnerdienst. Die Ordner … hatten die Aufgabe, den Zug zu flankieren und vor angreifender Polizei zu schützen. Ich begleitete mit meinem Trupp einen Kinderzug. Die Kinder sangen frisch und fröhlich … Manche Lieder waren streng verboten. So der ,Rote Wedding´ von Erich Weinert. Als das Lied erklang, stürzten sich mit einem Male Dutzende Schupos von den Autos und schlugen blind in die Kindergruppe hinein. Es gelang uns noch im letzten Augenblick, unsere Hände so fest ineinanderzufügen, dass die Polizistenkette nicht voll durchbrach. Wir redeten auf die Schupos ein. Ich staunte über das Maschinelle dieser Polizistenüberfälle. Immer wieder hatte ich bei solchen Gelegenheiten den Eindruck, dass an die Stelle eines lebendigen Denkens und Fühlens eine automatisierte Reaktion tritt: Verbotenes Lied – Knüppel vom Gurt!“3
Wie, fragte sich Reich, kam diese Reaktion zustande? Wie verlieren Menschen ihr Fühlen, Mitfühlen und eigenständiges Denken?
Oder: Reich sah die braunen Kolonnen der SA durch Berlin marschieren und vermerkte: „Sie unterschieden sich in Haltung, Ausdruck und Gesang nicht von den kommunistischen Rotfrontkämpferabteilungen.“4
Und nicht nur das: Die SA- und NSDAP-Mitglieder stammten sogar aus den selben – meist proletarischen – sozialen Verhältnissen wie ihre kommunistischen Kontrahenten. Wie war das möglich, obwohl die Arbeiterklasse doch – marxistisch betrachtet – nahezu zwangsläufig auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts stehen sollte?
Und: Wie war es möglich, dass Hitler – entgegen allen angeblich objektiven Entwicklungsgesetzen, auf die sich die Kommunisten beriefen – zum Siegeszug ansetzte?
Reichs Antworten, sehr verkürzt:
Klassenzugehörigkeit wird überlagert oder negiert durch seelische Verhältnisse, wie sie seit vier- bis sechstausend Jahren typisch sind für das Patriarchat. Da die autoritäre Erziehung die gesunden Bedürfnisse der Menschen nach Liebe und Sexualität unterdrückt, lässt sie zugleich Hass entstehen – welcher sich aufstaut, weil auch er in der Kindheit nicht ausgedrückt werden darf.
Und keiner anderen Partei gelang es so gut wie den Nazis, autoritäre Führung, Ersatzziele für die ungestillte Sehnsucht nach Liebe und Sexualität – und Ventilefür den aufgestauten Hass anzubieten. Somit entfachten Hitler und seine Anhänger eine Kraft, die vielfach stärker als jedes angebliche „Klassenbewusstsein“ war. Ausführlich lässt sich das in Reichs „Die Massenpsychologie des Faschismus“ nachlesen, geschrieben ab 1930 in Berlin, erschienen in der Urfassung 19335, zu großen Teilen sicher hier in dieser Wohnung verfasst. Denn, wie mir Lore Reich Rubin vor zwei Tagen in einem Gespräch sagte: „Es gab einen, für uns Kinder ,verbotenen Bereich´ in dieser Wohnung: den Arbeitsplatz unseres Vaters, wo er auch an seinen Büchern und Artikeln arbeitete.“6
Durch seine Beschäftigung mit dem Thema begriff Reich auch, dass es sich beim deutschen Faschismus wohl keineswegs um eine vorübergehende Randerscheinung handeln dürfte, sondern um eine machtvolle Massenbewegung mit großem, wenn auch vorwiegend destruktivem Potential. Eine Bewegung, vor der Reich dementsprechend immer wieder öffentlich warnte. Und dies tat er, nach allem was ich weiß, konsequenter, lauter und offensiver als sämtliche anderen Psychoanalytiker.7
Das jedoch vertiefte noch mehr Reichs Gegensätze zu Freud und zur „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“. Denn diese hofften, durch Vermeidung von Konflikten mit dem – vermeintlich kurzlebigen – Hitler-Regime, das Überleben der Psychoanalyse in Deutschland sichern zu können. Deshalb befürworteten sie – wenn auch zähneknirschend – den Anpassungskurs des sich zunehmend „arisierenden“ Vorstandes der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ an das Nazisystem.8
Diesem Kurs stand Reich als jüdischer Kommunist doppelt im Weg. Daher wurde ihm zunächst im Februar 1933 verboten, die Räume des Berliner Psychoanalytischen Institutes zu betreten. Im Juli 1933 – drei Monate, nachdem seine Schriften zusammen mit denen Sigmund Freuds vor der Berliner Humboldt-Universität öffentlich verbrannt worden waren – wurde Reich dann aus der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ ausgeschlossen.9
1934 folgte der Ausschluss aus der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“, zu dem, neben Reichs Engagement für den Marxismus und seinem offen antifaschistischen Auftreten, auch seine Ablehnung der Todestrieb-Theorie bzw. sein Festhalten an der überragenden Bedeutung der Sexualität beigetragen hatte.10
Und – nicht zu vergessen: Reichs Charakter. In einer – wie mir scheint – Mischung aus Naivität und Selbstüberschätzung hatte er gemeint, seine Sichtweise auf die Psychoanalyse sei die einzig gültige. Und er werde die Mehrheit der Analytiker schon von deren Rich-tigkeit überzeugen können. Zwei Irrtümer, wie sich herausstellte.
Zur selben Zeit, 1934, wurde Reich auch aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen – auch hier, weil er angeblich der Sexualität zu große Bedeutung beimaß, und damit, wie es hieß, „vom Klassenkampf ablenke“. Außerdem, so eine kommunistische Ärztin: „Im Proletariat gibt es keine Orgasmusstörungen.“11
Wie tief die Verletzung durch diese zeitgleichen Ausschlüsse ging, lässt sich erahnen, wenn man weiß, dass Reich mehrfach die Psychoanalyse als „die Mutter“, die marxistische Sozialwissenschaft als „den Vater“ seiner eigenen Anschauungen bezeichnet hat.12 Aber diese Trennungen waren zugleich eine Befreiung: Nun konnte er seine Ideen kompromissloser vertreten und weiterentwickeln als je zuvor.
Zunächst konzentrierte sich Reich auf die Körperpsychotherapie.
Und ich meine wirklich DIE Köperpsychotherapie, denn – salopp gesagt: Er hat sie erfunden. Wovon heute selbst manche Körpertherapeuten nichts mehr wissen oder wissen wollen.
Und ein ganz wesentlicher Teil dieser „Erfindung“ dürfte tatsächlich genau hier, in diesem Haus in der Schlangenbader Straße 87 stattgefunden haben. Denn erst 1929 begann Reich, sich diesen Zusammenhängen bewusst zuzuwenden.13 Und erst hier in Berlin konnte er sie systematisch anwenden und vertiefen. Und das natürlich vor allem: in seiner therapeutischen Praxis, welche wiederum – ab 1931 – sich hier befand, in den Wohnräumen der Familie Reich.
Wie auch Eva Reich bestätigt, die berichtet: „Ich musste meine ganze Kindheit über verschwinden, wenn die Patienten wechselten. Die sollten nicht wissen, dass da eine ganze Familie lebt“.14– Und Lore Reich Rubin ergänzt: „Meine Eltern hatten getrennte Schlafzimmer. Morgens verschwanden die Betten und aus den Schlafzimmern wurden Behandlungsräume.“ Und sie erinnert sich, dass diese Zimmer bzw. die dazugehörige Wohnung im 2. oder 3. Stock dieses Hauses gelegen haben.15
Wir stehen also wohl – etwas überhöht formuliert – vor dem „Geburtshaus der Körperpsychotherapie“.- Wie ging diese „Geburt“ vor sich?
Frau Lockot verdanke ich den Hinweis auf eine Passage in Reichs, ebenfalls 1933 erschienenen Buch „Charakteranalyse“, die diesen Vorgang illustriert: Wilhelm Reich berichtet darin über die Behandlung eines sexuell schwer gestörten jungen Mannes, der von Größen-Ideen geprägt war und seinen Vater stark idealisierte.
Reich schreibt: „Es war zunächst nicht leicht, den Patienten dazu zu bewegen, das trotzige Agieren der Kindheit zu reaktivieren … Ein vornehmer Mensch … kann doch derartiges nicht tun … (Ich) versuchte es zuerst mit der Deutung, stieß aber auf völliges Ignorieren meiner Bemühungen. Nun begann ich, den Patienten nachzuahmen …“ Dadurch verunsichert, offenbar auch verärgert, reagierte der Patient „einmal mit einem unwillkürlichen Aufstrampeln. Ich ergriff die Gelegenheit und forderte ihn auf, sich völlig gehen zu lassen.
Er begriff zuerst nicht, wie man ihn zu derartigem auffordern könne, aber schließlich begann er mit immer mehr Mut, sich auf dem Sofa hin und her zu werfen, um dann zu affektivem Trotzschreien und Hervorbrüllen unartikulierter, tierähnlicher Laute überzugehen. Ganz besonders stark wurde ein derartiger Anfall, als ich ihm einmal sagte, seine Verteidigung seines Vaters sei nur eine Maskierung seines maßlosen Hasses gegen ihn. Ich zögerte auch nicht, diesem Hass ein Stück rationaler Berechtigung zuzubilligen. Seine Aktionen begannen nunmehr einen unheimlichen Charakter anzunehmen. Er brüllte derart, dass die Leute im Hause ängstlich zu werden begannen. Das konnte uns nicht stören, denn wir wussten, dass er nur auf diese Weise seine kindliche Neurose voll, affektiv, nicht nur erinnerungsmäßig, wiedererleben konnte.“16
Reich berichtet dann davon, wie im Laufe der folgenden Stunden herausgearbeitet werden konnte, dass der Patient den Therapeuten mit diesem Verhalten provozieren wollte, so böse und streng zu werden – wie es einstmals der Vater des Patienten gewesen war. Reich verwendete also viel Zeit darauf, dieses Strampeln und Schreien in lebensgeschichtliche Zusammenhänge und in die therapeutische Beziehung einzuordnen. Mit anderen Worten: Er hat sehr wohl „analytisch“ mit diesem Material gearbeitet. Und somit, aus meiner Sicht, hier die Psychoanalyse nicht verlassen – sondern bereichert: um das systematische therapeutische Einbeziehen von Körper und Emotion.
Sigmund Freud schrieb 1917: „Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nicht durch den Stoff, den sie behandelt … charakterisiert. Man kann sie auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden, wie auf die Neurosenlehre, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes, als die Aufdeckung des Unbewussten im Seelenleben“.17
Die Aufdeckung des Unbewussten im Seelenleben – das hat Reich meiner Meinung nach sowohl in seiner Körperpsychotherapie, als auch in den Büchern „Charakteranalyse“ und „Massenpsychologie des Faschismus“ in hervorragender Weise getan. In den darauf folgendenJahren gerieten allerdings das Einbeziehen von Lebensgeschichte, Beziehung – und Psyche – bei Reich zunehmend in den Hintergrund zugunsten der direkten Arbeit mit Körper und Energie. Was in meinen Augen heißt, dass hier ein weiteres Fortschreiten zugleich mit einem großen Verlust erkauft wurde. Aus der Körperpsychotherapie wurde die Körpertherapie.
Zurück zur Biografie, damit zugleich: weg von Berlin.
Im Frühjahr 1933 musste Reich, auf den Fahndungslisten der Nazis stehend, nach Skandinavien emigrieren. Hier behandelte und forschte er weiter, versuchte, auf experimentellem Weg Aufschluss zu bekommen über bio-elektrische Vorgänge im menschlichen Organismus und über die Entstehung des Lebens. Dabei kam er einer kosmischen Energie auf die Spur, die er später „Orgon“ nannte und die in vieler Hinsicht dem ähnelte, was andere Kulturen als „Chi“ oder „Prana“ bezeichnen.
Aber auch diesem Thema näherte sich Reich wieder in originärer Weise: als Naturforscher. Er dokumentierte diese Energie, konzentrierte sie in sogenannten Orgon-Akkumulatoren, nutzte sie zur Behandlung von leichten und schweren Krankheiten bis hin zu Krebs, untersuchte ihre Wechselwirkung mit atomarer Strahlung und ihre Wirkung im Wetter- und Klimageschehen. Zu letzterem Zweck baute er Apparaturen – sogenannte Cloudbuster, „Wolkenbrecher“ – mit denen er, wieder gut dokumentiert, in verschiedenen Wüstengebieten Regen erzeugte.18 Das war aber schon 1952. Und diese Wüsten befanden sich in den USA – wohin Reich 1939, nach vergeblichen Versuchen, in Skandinavien dauerhaft Fuß zu fassen, emigriert war.
In den USA, in Maine, kaufte er sich eine Farm, baute ein Laboratorium und ein Observatorium zur Erforschung lebensenergetischer Prozesse und wandte sich parallel dazu der Behandlung von Autismus und Schizophrenie zu. Inspiriert von seinem Freund Alexander Neill – dem Initiator und Leiter des „Summerhill“-Projektes – erweiterte Reich nun auch sein Konzept für Neurosenprophylaxe auf Geburtsvorbereitung, natürliche Geburt und nichtautoritäre Erziehung.
In den USA geschah es aber auch, dass Reich – ab 1947 – denunziert wurde als jemand, der in seinen Orgon-Akkumulatoren angeblich Geisteskranke zum Orgasmus zwinge und mit Sex und Scharlatanerie Geld mache. Nach einer Art Hexenjagd wurde Reich 1956 gerichtlich verurteilt die Akkumulatoren zu zerstören und alle Publikationen zu vernichten, in denen das Wort „Orgon“ vorkam.
Da er der Meinung war – und dies so auch öffentlich kundtat – kein Gericht der Welt habe über wissenschaftliche Erkenntnisse zu entscheiden, kam er dem nicht nach. Wegen dieser Zuwiderhandlung wurde er zu zwei Jahren Haft verurteilt. Bevor Reich seine Haft antrat, musste er mit ansehen, wie zum zweiten Mal in seinem Leben seine sämtlichen Bücher und Publikationen – einschließlich früher Werke wie „Die Massenpsychologie des Faschismus“ und die „Charakteranalyse“ – auf staatliche Anordnung hin verbrannt wurden.19 Reichs Hoffnung, US-Präsident Eisenhower würde im letzten Moment für eine Begnadigung sorgen, da die Wahrheit seiner Erkenntnisse doch klar erwiesen sei, erfüllte sich nicht. Im März 1957 wurde Reich in die Bundesstrafanstalt in Lewisburg, Pennsylvania, verbracht.
Am Morgen des 3. November 1957 verstarb er dort, 60jährig, an Herzversagen.
Soweit zu Wilhelm Reichs Lebensgeschichte. Aus den biografischen Fakten geht schon ein Grund hervor, warum ich diese Tafel wichtig finde: Reich hat in Psychoanalyse, Körperpsychotherapie, Medizin, Soziologie, Biologie, Physik und Ökologie Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt, von denen viele meiner Meinung nach für die Lösung aktueller Probleme Bedeutung haben. Zum Beispiel
Aber ich habe noch einen weiteren Grund, warum ich dieser Tafel-einweihung Bedeutung beimesse: In der letzten Zeile des Tafeltextes, ganz unten und relativ klein, steht:
„Gesponsert von der Wilhelm-Reich-Gesellschaft und von Psychoanalytikern der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung.“ Und unter den Gästen dieser heutigen Veranstaltung sind nun auch Vertreter allerdort angeführten Gruppen. Ich möchte das nicht als bloßen Zufall abtun.
Vor 30 Jahren schrieb Wolf E. Büntig in der Enzyklopädie „Psychologie des 20. Jahrhunderts“22:
„Wilhelm Reich ist ohne Zweifel die umstrittenste Figur in der Geschichte der Psychoanalyse. Dabei ist Reich mitzuverdanken, dass die therapeutische Technik der Psychoanalyse zu einer systematischen lehr- und lernbaren Methode wurde. Reich war zunächst einer der kreativsten, wissenschaftlich geschultesten und konsequentesten Schüler Freuds und später einer der hervorragendsten Neuerer der Psychologie des 20. Jahrhunderts. Er griff Freuds revolutionäre Ideen zu einem Zeitpunkt auf, als Freud selbst in manchem resigniert hatte und revolutionäre Ideen für die psychoanalytische Bewegung höchst inopportun wurden. Er gehörte zum engsten Kreis um Freud und war einer der wichtigsten Funktionäre der Psychoanalytischen Vereinigung in Wien.“
Und – Einschub von mir: Als einer der ganz wenigen Analytiker, die sich offensiv gegen das NS-Regime stellten, war Reich auch in dieser Zeit jemand, auf den die Psychoanalyse – wenigstens im Nachhinein – allen Grund hätte, stolz zu sein.
Aber, setzt Wolf Büntig fort: „1934 wurde seine Zugehörigkeit für die Psychoanalyse so unbequem, dass man sich seiner … entledigte …“ Und Büntig schließt: „Trotz allem, was wir von der Psychoanalyse über die Macht der Verdrängung gelernt haben, scheint der Vorgang der Verdrängung Reichs aus der Psychoanalyse schier unglaublich.“
Ich denke, an der hier geschilderten Misere hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert. Und nun hängt hier diese Tafel.
Es mag naiv sein, dürfte von manchem von Ihnen auch rundweg abgelehnt werden, aber ich wünsche mir, diese Tafel wäre ein Zeichen dafür, dass sich die Ansätze von Freud und Reich in Zukunft wieder mehr durchdringen, dass sich Psychoanalyse und Körpertherapie gegenseitig wieder mehr befruchten. Nicht nur, damit Psycho-undKörpertherapeuten ihrer – meiner Meinung nach objektiv gegebenen -gesellschaftlichen, politischen Verantwortung wieder mehr gerecht werden. Sondern auch im Interesse der Patienten BEIDER Therapieformen.
Der Psychoanalytiker und Körpertherapeut Tilmann Moser schreibt dazu:
„Körpertherapie kann oft zaubern, was die Mobilisierung von Affekten und das Tempo wie die Wucht angeht, mit denen sie tief verborgenes Material an die Oberfläche zu holen vermag … Ich konnte … daran teilnehmen und hatte das zwiespältige Gefühl vom raschen Einstieg in den Fahrstuhl in die Tiefe, bei oft nicht ausreichender Verarbeitung nach dem `Wiederauftauchen´ … Damit möchte ich diese Therapieformen nicht im geringsten entwerten, sondern nur darauf hinweisen, dass es eventuelle Leerstellen im therapeutischen Umgang mit Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung gibt, so wie es in der Psychoanalyse große Leerstellen im Umgang mit dem Körper gibt … Von daher rührt das negative Urteil der Tiefenpsychologen, wenn die verschreckten, antherapierten oder auch `aufgerissenen´ Patienten dort landen, wie auch umgekehrt die Körpertherapeuten sich genießerisch oder entsetzt die Haare raufen, wenn sie Patienten, verzweifelt oder erstarrt trotz oder wegen langjähriger Analyse, zu sehen bekommen. Die förderlichen Austauschprozesse könnten in beide Richtungen verlaufen.“23
Patienten, so Tilman Moser, sollten nicht wählen müssen “zwischen beziehungsscheuer Körpertherapie und körperscheuer Beziehungsanalyse“.24
Dem kann ich mich nur anschließen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Literatur:
1) Zu den biografischen Fakten vgl. M. Sharaf, „Wilhelm Reich. Der heilige Zorn des Lebendigen“, Simon und Leutner 1994, D. Boadella, „Wilhelm Reich“, Fischer TB 1988
2) M. Rackelmann, „Was war die Sexpol?“, emotion 11, 1994, S. 75
3) W. Reich, „Menschen im Staat“, Stroemfeld 1995, S. 157
4) ebenda, S. 171 f
5) in Reichs eigenem Sexpol-Verlag erschienen, vgl. auch die 3., korrigierte Auflage bei KIWI 1987
6) Lore Reich Rubin bei einem Treffen mit Mitgliedern der Wilhelm-Reich-Gesellschaft am 19.6.2007. Zitiert mit freundlicher Genehmigung von Frau Reich Rubin
7) vgl. u.a. A.Peglau: „Wilhelm Reich zwischen 1930 und 1945“, emotion 17, Ulrich Leutner 2007,Lockot, „Erinnern und Durcharbeiten“, psychosozial 2002
8) vgl. K. Brecht u.a., „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter“, Michael Kellner 1985, auf den S. 99/ 101/ 103/ 105/ 117 ist hier eindeutig dokumentiert, wie mit Reich umgegangen wurde
9) vgl. K. Fallend/ B. Nitzschke: „Der Fall Wilhelm Reich“, suhrkamp TB 1997
10) vgl. K. Fallend/ B. Nitzschke: „Der Fall Wilhelm Reich“, suhrkamp TB 1997
11) W. Reich, „Menschen im Staat“, Stroemfeld 1995, S. 193
12) u.a. in: W. Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, KIWI 1986, S. 22
13) „Ich begann 1929 zu begreifen, dass der Ausgangskonflikt der seelischen Erkrankung (der ungelöste Widerspruch von Luststreben und moralischer Versagung), sich in Form der muskulären Störung physiologisch strukturell verankert.“ (W. Reich: „Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus“, KIWI 1987, S. 194)
14) in Ruth Priese: „Zur Überwindung des ,heiligen Zorns´ in Eva Reichs Leben“, 1999, emotionelle-erste-hilfe.de
15) siehe Anmerkung zu 6)
16) 1933 erschienen im Sex-Pol-Verlag, zitiert aus Raubdruck, um 1970, S.249 f, bzw. KiWi 1989, S. 299 ff
17) Sigmund Freud: „Vorlesungen“, GW Bd. 11, S.403 f, Fischer TB 1999
18) vgl. W. Reich: „OROP Wüste“, Zweitausendeins 1995, siehe dazu auch A. Bechmann: „Über Wilhelm Reichs OROP Wüste“, Zweitausendeins 1995
19) ausführlich in Jerome Greenfield: „USA gegen Reich“, Zweitausendeins 1995
20) Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: „Not am Mann. Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht“, Berlin 2007
21) z.B. in „Die Massenpsychologie des Faschismus“, KiWi 1986, S. 40 ff
22) in Dieter Eicke: „Tiefenpsychologie“, Band 3: Die Nachfolger Freuds, Beltz Verlag Weinheim und Basel 1982, S. 254 – zunächst erschienen im Rahmen von Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“
23) T. Moser: „Berührung auf der Couch“, Suhrkamp TB 2001, S. 202
24) ebenda, S. 199