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Bukumatula 5/1988

Meine Arbeit mit Wilhelm Reich, Teil 1

Vortrag zum Vortrag
Myron Sharaf:

„Wie definiert man einen Intellektuellen? Wenn es zwei Türen gibt, eine mit der Aufschrift: „Himmel“, und eine mit der Ankündigung: „Vortrag über den Himmel“, wird der Intellektuelle immer den Vortrag wählen.“ (Zitat : Sharaf)

Die Intellektuelle allerdings, die am 29.September dieses Jahres Sharafs Vortrag über seine Arbeit mit Reich besuchte, statt Reichsche Körperarbeit zu praktizieren, war etwas verwirrt von diesem „Vortrag“. Irgendwie war das kein Vortrag, wie Intellektuelle ihn normalerweise halten, mit einem eindeutig definierbaren Inhalt und einer „ordentlichen“ Struktur, vielleicht mit ein wenig rhetorischer Ausschmückung oder mit der Möglichkeit zur Diskussion, wenn der Vortragende auch die neuere Didaktik rezipiert hat.

Nicht daß an den Inhalten etwas auszusetzen gewesen wäre. Im Gegenteil, ich fand Sharafs sehr persönlichen Bericht von seinem Zusammentreffen und seinen Erfahrungen mit Reich ebenso interessant, wie die allgemeinen Themen und Fragestellungen, die er aufgriff. Dennoch störte irgendetwas meine habituelle Hirn—Konsumhaltung, und das waren nicht nur die Fragen, mit denen Sharaf (verzweifelt) versuchte, das Publikum zu aktivieren. Irgendetwas war anders — aber was? Die Differenz erschien zunächst als ein Mangel: ein Mangel an Struktur. Daß Sharaf Persönliches mit Allgemeinem vermischte und verband, konnte ich gut annehmen, aber der ständige Wechsel von Ebenen und Themen stellte harte Anforderungen an meine rigiden Denkgewohnheiten. So verließ ich den Vortrag selbst mit ambivalenten Gefühlen, irritiert, aber viel mehr noch interessiert an der geheimnisvollen Logik Sharafscher Gedankensprünge. Im zweiten Anlauf und aus gehöriger Distanz (während der Übersetzung) fand ich sie, die Logik, und meine Ambivalenz schlug in Begeisterung und Respekt um.

Vor allem zwei Mechanismen der Präsentation oder der Didaktik Sharafs möchte ich hervorheben und auch den Lesern dieses Vortrags vermitteln: Zum einen verknüpfte Sharaf seine Themen durch jenen Mechanismus, der einem Therapeuten als geeignetster erscheinen muß: durch Assoziation. Oft diente ihm nur ein einzelnes Wort als Anknüpfungspunkt für einen thematisch völlig andersgearteten Anschluß nach einer Sprechpause, oft griff er situative Gegebenheiten auf, um wichtige allgemeine Aussagen zu treffen. Anders formuliert: Sharaf sprach, als ob er auf der Couch läge und friedlich vor sich hin assoziiere. Er umkreiste Themen und Fragen, näherte sich ihnen immer wieder auf verschiedenen Ebenen und führte so zu Klarheiten jenseits einer abstrakten Logik.

Die zweite Strategie ist schwer zu fassen und noch schwerer zu beschreiben. Sie hat zu tun mit dem Verhältnis von kommunikativer Interaktion und Kommunikationsinhalt, das bei einem „normalen“ Vortrag einem bestimmten — weitgehend unbewußten — sozialen Reglement folgt, und meist eine strenge Rollenverteilung in: hier Vortragender — dort Zuhörende impliziert. Die oben erwähnte moderne Didaktik hat bereits begriffen, daß eine solche Vermittlungsweise nicht sehr effektiv ist und fordert daher Fragen, Diskussion und dergleichen, d.h. sie erweitert das Spektrum der erwünschten

Interaktionsformen auf andere (weniger einseitige) Sprechhandlungen.

Das hat Sharaf auch versucht, er ging jedoch weit darüber hinaus. Die Dinge, über die er sprach, waren ja keine „Dinge“, sonders ihrerseits wieder Kommunikationssituationen (z.B. sein Treffen mit Reich u.a.) bzw. erfahrene und/oder postulierte Prinzipien der Kommunikation (z.B. Gruppenwahrnehmung), d.h. der Vortrag stellte eine Art Metakommunikation dar.

Das Faszinierende an Sharafs Vorgangsweise war nur dass er nicht nur Kommunikationsphänomene und mit den Zuhörern sprach, sondern sich selbst als (nicht nur vortragender) Interaktionspartner und

Demonstrationsobjekt für die von ihm beschriebenen Mechanismen anbot.

Diese scheinbar komplizierte Sache läßt sich anhand eines Beispiels demonstrieren: Während Sharaf zunächst ganz allgemein über Kinderarbeit und Gruppenwahrnehmung sprach, befand sich im Publikum ein Kleinkind, das gelegentlich schrie, worauf der Vater mit ihm den Raum verließ. Sharaf wies sofort auf diese paradoxe Situation hin, daß er (abstrakt) über Kinderarbeit spricht, während ein reales Kind (mit dem man hier und jetzt konkrete Erfahrungen machen könnte) anwesend ist. Schlafen und Schreien des Kindes, Kommen und Gehen des Vaters bildeten einen kaum wahrgenommenen situativen Hintergrund, während Sharaf weiter vortrug. Als er schließlich über die Vorteile der Gruppenwahrnehmung gegenüber der subjektiven sprach und das Kind wieder zu weinen begann, probierte Sharaf genau das, worüber er redete, mit den Anwesenden aus, indem er seine subjektive Empfindung von Störung mit der der Gruppe konfrontierte und sogar Vermutungen über die Hintergründe seiner verzerrten Wahrnehmung anstellte. Er predigte nicht nur Gruppenwahrnehmung, er praktizierte sie.

Sharaf hat damit die, vom ihm selbst in dem Intellektuellen-Witz thematisierte Kluft
zwischen der Erfahrung und dem Reden über die Erfahrung übersprungen und im besten Sinne „Zeugnis abgelegt“ für die Ehrlichkeit und Risikobereitschaft, von der er sprach.

MYRON SHARAF:

MY WORK WITH WILHELM REICH

Vortrag, gehalten am 29.Sept.1988, in Wien

Es gibt viele verschiedene Gruppen, die ihre Aktivitäten – mehr oder weniger – von Reichs Arbeit herleiten oder eine Verbindung dazu feststellen. Wenn Sie verschiedene Aspekte von Reichs Arbeit nehmen – ich greife einen Bereich heraus, wo der Einfluß klar ist, nämlich den Bereich, den Reich Sex-Pol-Arbeit nannte, wo er eine Verbindung von Sexualität und Politik herzustellen versuchte. Es gab großes Interesse für diesen Aspekt der Arbeit Reichs in den 60er Jahren. Dieses Interesse ist jetzt geringer geworden, war aber sicher von großem Einfluß.

Bei vielen anderen Entwicklungen ist es schwer zu sagen, ob es einen direkten Einfluß durch Reich gab oder ob es sich um unabhängige Entdeckungen handelt. Man kann ja nicht in die Köpfe der Forscher hineinschauen und herausfinden, mit wem sie gesprochen und was sie alles gelesen haben. Und da Reichs Arbeiten in den späteren Jahren nur in kleinen Journalen publiziert wurden, ist es gut möglich, daß vieles, was er tat, weitgehend unbekannt blieb.

Ich gebe Ihnen zur Illustration zwei Beispiele, die mir wichtig erscheinen: Das eine ist die Arbeit mit Kindern, die in Amerika …

Wir haben auch ein kleines Kind im Publikum -Wissen Sie, wie man einen Intellektuellen definiert? – Wenn es zwei Türen gibt, eine mit der Aufschrift „Himmel“ und eine mit „Vortrag über den Himmel“, dann wird der Intellektuelle den Vortrag wählen. – So haben auch Sie heute Abend die Wahl zwischen einem Vortrag über Kinder und einem Kind. Ich hoffe, Sie wählen das Kind.

Viel von der heutigen Arbeit mit Kindern hebt Aspekte wie die frühe Empfindlichkeit (responsiveness) hervor. Kinder sehen, fühlen, sind sehr empfänglich und reaktionsfähig vom Moment der Geburt an, aber auch schon vorher. Zu Reichs Zeiten dominierte hingegen die Annahme, daß Kinder eine gewisse Zeit lang nichts fühlen, da ihre Nervenenden noch nicht entwickelt seien. – Kennen Sie diese Theorie? Sie war sehr verbreitet und viel wurde den Kindern angetan im Namen dieser Theorie.

Zum Beispiel die Beschneidung, die teilweise mit dem Argument gerechtfertigt wurde: Wenn sie früh genug durchgeführt wird, fühlt das Kind ohnehin nichts. Möglicherweise muß eine Beschneidung zu einem späteren Zeitpunkt gemacht werden, wenn das Kind sie viel stärker spürt; das jedoch kann dann zu neurotischen Phantasien führen, die man nicht haben will. Nun gibt es aber nur eine ganz geringe Zahl von Menschen, für die eine Beschneidung überhaupt sinnvoll ist.

Diese Überlegungen implizieren jedoch ein ganzes Denkmodell. Nach dem psychoanalytischen Konzept besteht durch eine spätere Beschneidung die Gefahr der neurotischen Phantasiebildung. Sie wissen, daß das zu Kastrationsangst und dergleichen führen kann. Vom energetischen Standpunkt her gibt es dafür keinen vernünftigeren Zeitpunkt als den der Geburt, denn das ist die grundlegende Einführung in die Welt. Wenn sie (die Beschneidung) gar nicht notwendig ist, sollte man sie überhaupt nicht durchführen. Der eine von Zehntausend, der sie vielleicht später braucht, sollte sie später bekommen und es wird kein Nachteil für ihn sein, aber für die 999 oder so, die sie weder früher noch später brauchen, wäre es besser darauf zu verzichten.

Reich hob viele dieser Dinge bereits in den 40er Jahren hervor. Er war entschiedener Gegner der Beschneidung, er setzte sich stark für das Zusammensein (rooming-in) von Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt ein. Er selbst arbeitete ja eine zeitlang mit Müttern und Kindern. Er war sehr gegen eine exzessive Medikamentierung der Mütter während Schwangerschaft und Entbindung. Es gab also eine Entwicklung zu einem anderen Verständnis der Schwangerschaft usw., die Reich antizipierte.

Aber die Beziehung zwischen Reichs Ideen und der heutigen Praxis der Kinderarbeit wird nicht bewußt hergestellt. Nun könnte man fragen: Ist es nicht gleichgültig, ob der Bezug hergestellt wird oder nicht? Wichtig ist, daß Mutter und Kind zusammenbleiben, wichtig ist, daß der Kontakt möglichst früh hergestellt wird. Es ist egal, wer zuerst die Idee hatte, daß Kinder z.B. nicht beschnitten werden sollten und ich stimme diesem Standpunkt zu.

Aber ich glaube, es ist auch wichtig, diese Ideen miteinander zu verbinden und zu integrieren, denn – wie es jetzt aussieht – sind all diese neuen Erkenntnisse über die Kindheit und die jüngsten Tendenzen in der Kinderarbeit im allgemeinen nicht mit Therapie verbunden. In Reichs Arbeit hingegen waren sie es, sie wurden teilweise aus der Therapie abgeleitet, durch die Einsicht in den Zusammenhang zwischen den neurotischen Problemen der Menschen und ihren Erfahrungen in der Kindheit. Beide, Therapie und

Kinderpflege, können in einem energetischen System verbunden werden und sind, wie ich glaube, wichtig als Teil einer Weltsicht oder – wie Thomas Kuhn sagt – eines Paradigmas, eines Modells oder Begriffsschemas.

Es gibt eine andere Verbindung, die ich nur kurz erwähne, nämlich daß Reich in der Behandlung von Krebskranken die Rolle der Gesundheit des ganzen Organismus hervorhob, die bioenergetische Resistenz gegen Krebs und gegen viele

andere Krankheiten. Wir wissen, wenn wir uns gut fühlen, ist es weniger wahrscheinlich, daß wir uns verkühlen. So einfach ist das.

Wir sind weniger anfällig gegen depressive Gefühle als wenn wir uns schlecht fühlen, wir sind besser fähig, Streß zu ertragen. Wir haben eine Art Energiefeld oder — anders dargestellt — eine „Grenze“, sodaß, wenn jemand uns verletzt, das nicht direkt in uns hineinsticht und schrecklichen Streß verursacht. Ich würde es nicht Panzer nennen, aber es ist eine Grenze, von der so manches abprallen kann. Wir können schließlich nicht alles, was passiert, wie Windstöße in uns hineinlassen. Wenn wir uns „down“ fühlen, ziehen wir unsere Energie ins Körperzentrum zurück. Dieser Mangel an Pulsation im Zellgewebe, dieser Energiemangel trägt vorrangig zum Beginn des Krebsprozesses, in dem das Fleisch beginnt, sich mit sich selbst zu füttern, bei.

Ich will das nicht weiter ausführen. Das ist ein eigenes Kapitel. Ich wollte es nur erwähnen, weil heute so viel über das immunologische System gesprochen wird. Die Tatsache, daß man, wenn dieses Abwehrsystem durch Streß geschwächt ist — etwa bei Verlust einer geliebten Person —, wesentlich krankheitsanfälliger ist als sonst, wird heute allgemein anerkannt. Beide, Reich und die Immunologie, zentrieren ihre Aufmerksamkeit auf den Organismus, auf uns, mehr als auf die Keime in der Luft, die sind sekundär. Ganz anders als bei Pasteur, der sie als primäre Verursacher sieht. Was zählt ist, wie der Organismus auf die Keime reagiert, ob wir sie abwehren können oder nicht. Wir alle tragen die ganze Zeit Keime in uns, wir alle sind ständig Grippeviren ausgesetzt — manchmal werden wir krank, manchmal nicht.

Sowohl Reich als auch die Immunologen heben den Mechanismus der Resistenz, die Verteidigung des Organismus gegen Krankheitsattacken hervor. Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es jedoch auch Unterschiede, denn die Immunologie konzentriert sich vor allem auf das System der weißen Blutkörperchen, während Reich eher die roten Blutkörper hervorhob. Ich bin nicht kompetent genug, um die Details dieser Auseinandersetzung beurteilen zu können. Diese Frage ist von der empirischen Forschung zu klären.

Wenn das Reichsche System für uns im Bereich der Erziehung, der Therapie und vieler anderer Dinge so nützlich wurde, nützlich wie eine Investition in eine Gesellschaft, die uns großen Gewinn brachte, dann wäre es von Interesse herauszufinden, ob und wie die immunologische Forschung und Reichs Arbeit zusammenhängen. Es kann sein, daß Reichs Ideen durch diese neue Forschung grundsätzlich revidiert werden müssen oder, daß sie mit teilweisen Modifikationen innerhalb dieses Rahmens interpretiert werden können. Ich habe keine Antwort auf diese Fragen, aber ich glaube, das ist die Art von Fragen, die wir stellen müssen. Statt zu sagen, Reich ist gut und die Immunologie ist gut, sollten wir fragen, ob und auf welche Art beide zusammenhängen. Genauso ergibt sich z.B. auch die Frage nach dem Zusammenhang von Akupunktur und Reichs Konzept der Orgonenergie. Aber im großen und ganzen wurde das nicht gemacht. Ich komme später darauf zurück …

Ich möchte Reichs Konzept der funktionalen Identität und Antithese erwähnen, das in den späten Publikationen Reichs expliziter ausgearbeitet wurde. Was bedeutet diese Idee? Im Kern besagt sie, daß im Symbol des Penis zur gleichen Zeit Identität und Opposition repräsentiert sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Mann und Frau. Mann und Frau sind in vieler Hinsicht identisch, aber sie sind auch Antithesen.

Inwiefern sind sie Antithesen oder Gegensätze? Nun in einer Hinsicht sind sie eindeutig gegensätzlich, nämlich in der Sexualität. Im Verkehr dringt der Mann in die Frau ein, die Frau empfängt. Die Frau bekommt Kinder und der Mann nicht; das ist ein großer Unterschied. Bei vielen anderen Unterschieden können wir nicht sagen, ob es sich nicht um kulturell determinierte Gegensätze handelt. So wissen wir z.B. nicht, inwieweit die Tatsache, daß Männer aggressiver sind als Frauen oder daß Frauen emphatischer, weicher und einfühlsamer sind als Männer, auf kulturspezifische Erziehung oder auf biologische Unterschiede zurückzuführen ist.

Eine andere funktionale Identität und Antithese bilden Lust und Angst. Inwiefern sind sie identisch?

Publikum: Energie fließt.

Das Kind beginnt zu schreien. –

Energie fließt. Beide, Lust und Angst, sind gegensätzlich zur Leere. Im Nichts oder in der Leblosigkeit scheint nichts zu fließen, obwohl – wie jemand sagte – unter der Oberfläche Bewegung sein kann. Einmal hörte ich: Wir fühlen uns nie so schlecht, als in einem Zustand, in dem wir nichts fühlen. Dann wissen wir nicht, was darunter liegt, weil wir so damit beschäftigt sind, nichts zu fühlen.

Ganz im Gegensatz dazu fließt die Energie bei lustvoller Erregung nach außen, vom Zentrum in die Peripherie. Unsere Hände sind warm, unsere Augen funkeln, wir stehen sicher auf unseren Beinen. Wir strecken uns aus in die Welt, während sich im Zustand der Angst unsere ganze Energie im Körperzentrum kondensiert und sammelt. Dann fühlen wir uns eng und zusammengezogen und schwach in der Peripherie.

Wir können leicht fallen, Kontakte herzustellen wird schwierig, wir ziehen uns ganz in uns selbst zurück.

Der Kontakt mit Reichs Arbeit kann in zwei Richtungen gehen: Entweder reflektiert die Beziehung zwischen Reichs Arbeit und anderen Ansätzen eine Gemeinsamkeit, in der wir zu erforschen suchen, wie weit dieses spezifische Modell gehen kann und wo es falsch ist, was es leisten kann und was nicht. Oder wir nehmen einen mechanistischen Standpunkt ein, indem wir einzelne Wissenselemente addieren, jedoch nicht verbinden. Akupunktur macht dies, Bioenergie tut jenes. Immunologie bringt das, Reich etwas anderes. Das ist eine Aneinanderreihung von Bruchstücken, keine organische Entwicklung.

Andererseits kann unsere Arbeit zu einer mechanistisch—mystischen Mischung werden, wenn wir uns ausschließlich und in einer reduzierten Form auf Reich beziehen, ohne Ausarbeitung, ohne Weiterentwicklung, wenn wir keinen Bezug zu anderen Entwicklungen herstellen. Das passierte etwa in der Psychoanalyse.

Viele Bewegungen wurden sehr rigid. Diese Antithese besteht sehr oft, vor allem in Denkrichtungen, deren Postulate nicht überprüft werden können. Das Christentum z.B. entwickelte sich in eine eher rigide, von Dogmen beherrschte katholische Richtung und in einen protestantischen Zweig, der jedem Menschen erlaubt seine eigene Beziehung zu Gott zu entwickeln.

Das sind zwei Polaritäten.

Ein positiver Aspekt an Reichs Arbeit — anders als bei anderen körperorientierten Methoden — ist, daß seine ganze Theorie teilweise getestet werden kann. Das ist wichtig, daß wir Ideen entwickeln, die überprüft und auch widerlegt werden können. Wenn ich sage: Gott ist überall, ist das schwer zu widerlegen, da es

nicht überprüft werden kann. Oder wenn ich behaupte: Ich war in einem früheren Leben Napoleon, gibt es für Sie keine Möglichkeit zu überprüfen, ob ich recht habe oder nicht. Vielleicht war ich es, vielleicht nicht.

In einem Workshop sagte einmal jemand: „Ich habe eine Idee“. Und ich antwortete, es sei wichtig, sie so auszudrücken, daß sie überprüft werden könne. „Ich weiß nicht“, antwortete er, „Für mich ist das nicht notwendig, denn ich fühle es in meinem Herzen.“ So eine Einstellung führt meiner Meinung nach nirgendwohin, denn Sie wissen, ein Rassist fühlt in seinem Herzen, daß Schwarze böse sind; ein Nicht-Rassist fühlt genauso sicher, daß sie gut sind. Wenn man nur den Herz-Test anwendet, bleibt unentscheidbar, wer recht hat.

Das ist sehr wichtig und bei Reichs Arbeit gibt es – wie ich schon sagte Überprüfungsmöglichkeiten. Mit seinem Akkumulator z.B. führte Reich eine ganze Reihe von Tests durch. Er stellte eine Temperaturdifferenz im Akkumulator fest, er konnte krebskranken Mäusen helfen und die Wundheilung beschleunigen. Das waren objektiv feststellbare Resultate. Gute Wissenschaft ist schon in Ordnung. Und wenn keiner dieser Tests sich als korrekt erweist, ist meiner Meinung nach die ganze Theorie in Frage zu stellen. Das muß nicht bedeuten, daß alles falsch ist, aber wir müßten alles radikal neu bewerten.

Daß diese Tests nicht wirklich nachvollzogen werden, hat zwei Gründe: Der erste Grund dafür ist, daß Leute, die gegen Reich eingestellt sind, Tests nicht für notwendig erachten. Ich kann ihren Standpunkt gut verstehen, denn unsere Zeit ist begrenzt und wir können nicht jede neu auftauchende Idee verfolgen.

Angesichts dessen hat Reichs Arbeit für viele den gleichen lächerlichen Stellenwert, den für mich z.B. die Dianetik hat. Ich weiß überhaupt nichts über Dianetik; es mag eine großartige Sache sein. Millionen von Menschen lesen darüber, aber für mich hat die Dianetik keine unmittelbare Validität, d.h. es mangelt ihr auf den ersten Blick an Gültigkeit und Richtigkeit. Genauso geht es mir — entschuldigen Sie — mit der Astrologie. Ich kann keine Spur verfolgen, keine Kontrollexperimente durchführen, weil ich keine Zeit dafür habe. Aber ich würde nicht sagen, sie ist falsch; sie ist nur für mich kein Bereich, in den ich meine Energie hineinstecken will. Ganz ähnlich denken traditionelle Wissenschaftler über Reich.

Die Leute, die Reichs Arbeit für gut halten oder glauben, sie könnte gut sein, führen aus anderen Gründen keine Experimente durch. Viele von ihnen sind keine ausgebildeten Wissenschaftler und es scheint ein gewisser wissenschaftlicher

Hintergrund notwendig, um solche Tests zu machen. Aber ich glaube, es gibt noch einen wichtigeren Faktor: Wenn sich Reichs Arbeit als richtig herausstellt, hätten sie eine enorme Verantwortung, etwas dafür zu tun, denn sie könnte Leben retten. Wenn sie sich als falsch erweist, hätten Sie ihren Glauben oder ihre eher mystisch—vage Annahme, daß Reich wissenschaftlich bedeutend sei, verloren. Niemand kann also gewinnen, niemand will verlieren.

Das ist eine lange Präambel zu der Frage, warum so wenig empirische Arbeit geleistet wurde und das ist nur der Anfang. Es ist ein besonders schwieriges Thema, schwierig wie eine verlorene Liebe. Das hat zu tun mit unserer Unfähigkeit, tiefgehende Gefühle auszuhalten. Ich habe das immer wieder beobachtet und ich bin sicher, viele von Ihnen kennen das, sowohl an sich selbst als auch an anderen Menschen. Ich meine damit, daß Menschen in sehr tiefem Kontakt zu

ihren eigenen Gefühlen sein können, am Ende einer Therapiestunde z.B., und eine halbe Stunde später ist das weg, wie Puff, the magic dragon. Der Charakter der Anspielung, dieses Kommen und Gehen des Phänomens ist in vielerlei Hinsicht sehr wichtig.

Ich möchte jetzt über mein erstes Treffen mit Reich sprechen, denn viele Fragen, die er damals stellte, rührten gleichsam in Form eines Schocks viele Fragen auf, mit denen ich mich seither beschäftigte. Wenn Sie bedenken, daß das Treffen nur 20, 25 Minuten dauerte, ist das bemerkenswert. Nun ist es aber nicht so unverständlich, wenn Sie an Ihr erstes Zusammentreffen mit anderen Menschen denken. Da gibt es noch keine Vorurteile, keine Konflikte und wenn es eine Verbindung zwischen den zwei Personen gibt, wird das am Anfang besonders stark gefühlt.

Ich will nicht die ganze Vorgeschichte ausführen, die habe ich in meinem Buch „Fury on Earth“ beschrieben, und es ist für mich auch schmerzlich, manche dieser Dinge aufzurühren. Ich möchte nur sagen, daß ich mich mit etwa 17, 18 Jahren für Reichs Arbeit zu interessieren begann und darüber las. Irgendwie hatte ich die fixe Idee, daß ich mit Reich arbeiten, und daß dies mein Lebenswerk sein würde. Ich wußte nicht, was ich genau tun könnte, aber ich wollte – aus ideologischen Gründen sozusagen – bei dieser Arbeit dabei sein, obwohl ich damals keinerlei Ausbildung dafür hatte. Ich hatte gerade das College abgeschlossen und war an der Universität von Chikago, wenige Monate bevor ich ihn zum ersten Mal traf. Dann mußte ich zum Militär. Vorher noch – das muß im Dezember 1944 gewesen sein – rief ich Reich an, schrieb ihm und Reich akzeptierte ein Treffen.

Das war ungewöhnlich, aber interessant. Sie müssen bedenken, ich war ein Niemand. Ich war kein Arzt, kein Wissenschaftler, nur ein Collegestudent und trotzdem war er bereit, mich zu sehen. Das reflektierte zum Teil seine große Einsamkeit. Die meisten Studenten und Professoren, die ich in Chikago traf, waren an Reich nicht sehr interessiert. Er war damals kaum bekannt, erst ein Buch von ihm, „The Function of the Orgasm“, war 1942 erschienen. Die Herausgabe seiner Zeitschriften begann in dieser Zeit.

Ich fand die ganze Sache faszinierend. Da gab es ein System, das Mann und Frau und ihre Verbindung in Emotionen und Sexualität umfaßte. Es war wirklich in vielerlei Hinsicht eine nützliche Weltsicht, denn es betonte, was in der Jugend am stärksten erlebt wird: starke Gefühle, starke Sexualität und eine gewisse Rebellion gegen die bestehende Welt. Es schließt auch eine starke Kritik an bestehenden autoritären Institutionen mit ein; Reich war immerhin Marxist und stark politisch engagiert. Es schloß weiters eine Wissenschaft mit ein, die nichts mit der Bücherwissenschaft zu tun hatte. Die ganze Idee der Energie im Universum finden Sie bei D.H.Lawrence, die finden Sie bei vielen Schriftstellern, und die war identisch mit unserer emotionalen Energie. All das war ebenso schwierig wie aufregend.

Reich hatte ein schwieriges Leben, aber er hatte auch eine Tendenz, es als Drama der Verfolgung zu präsentieren: Daß er als Psychoanalytiker aus der Psychoanalytischen Gesellschaft hinausgeworfen worden war, daß er als Marxist aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war, daß er vor Hitler flüchten mußte, daß er – wegen Schwierigkeiten mit der Regierung – Oslo verlassen mußte und nach Amerika kam; er war ständig auf der Flucht.

Bei dem ersten Treffen mit Reich kam ich zu spät, denn ich war so aufgeregt, daß ich mich in der U-Bahn verirrte und ein Taxi nehmen mußte. Seine Sekretärin schickte mich in einen Keller hinunter, wo ich Doktor Reich sehen würde. Von und mit Reich sprach man immer als „Doktor Reich“, nicht mit Vornamen, selbst wenn man ihn zehn Jahre lang kannte. Das war zum Teil sein europäischer Hintergrund, der ihn Vornamen kaum benützen ließ. Ich selbst bin auch irritiert, wenn Leute, die ich noch nie getroffen habe, mich anrufen und „Hallo, Myron, hier spricht John.“ sagen. Ich finde das eher ärgerlich, aber im allgemeinen bin ich schnell bei Vornamen, während Reich das ablehnte. Außerdem hatte Reich, als er nach Amerika kam, begonnen, sich von den Menschen zurückzuziehen, er hatte viele Enttäuschungen erlebt. Das ist zum Teil durch sein eigenes Verhalten erklärbar, nicht nur durch das der anderen, obwohl er über seinen Anteil an dem Prozeß kaum sprach.

Jedenfalls kam ich ziemlich verspätet zu diesem Treffen und entschuldigte mich. Er reagierte sehr freundlich, indem er das Problem gleichsam wegwinkte. Er war eine ungewöhnliche Erscheinung, die mich sehr berührte. Er hatte ein rotes Gesicht, starkes weißes Haar und einen weißen Mantel. Sein Körper wirkte schwer, aber beweglich, so wie stärkere Menschen manchmal gute Tänzer sein können. In seinem Gesicht sah ich einen Zug von Leiden, nicht sehr auffällig, aber erkennbar.

Seine erste Frage war: „Wie sind Sie hierher gekommen?“ und ich nahm die Frage wörtlich und antwortete: „Mit dem Taxi“. Reich sagte: „Nein, nein, wie haben Sie von mir gehört?“ Ich denke, er war sehr interessiert an den Beziehungen seiner Arbeit mit der Außenwelt, zur Psychiatrie, zur Biologie, zur Soziologie.

Ich glaube, er wollte sich nicht eingestehen, daß es nur sehr wenige Akademiker gab, die empfehlen würden, ihn aufzusuchen. Es gab einige, aber nur sehr wenige. So sagte ich ihm, daß ich durch meine Mutter von ihm gehört hätte, was für ihn eine sehr enttäuschende Antwort war, denn er kannte meine Mutter, die sich für seine Arbeit interessiert hatte. Reich erhoffte einen wissenschaftlicheren Zugang, während meine Mutter nicht gebildet war. Er wollte keinen Kult, in dem die Leute ihn bewundern, ohne selbst zu arbeiten. So ließ er die Frage wieder fallen.

Seine nächste Frage war: „Sind Sie gesund?“ Ich erinnere mich, daß ich über diese Frage überrascht war, obwohl er sie in eher beiläufigem Ton äußerte, so wie man fragt: Wie geht’s?, ohne besonderes Interesse an der Antwort. Ich kannte Reichs Schriften so weit, daß ich verstand, daß er sich nicht auf meine Alltagsgesundheit bezog, sondern auf meine genitale Gesundheit, meine orgastische Potenz. Da ich zu dieser Zeit sehr unerfahren und gehemmt war, antwortete ich entsetzt: „Ich weiß nicht.“ Er ließ das Thema vorsichtig fallen.

Meine spezielles Interesse galt den sexuellen Problemen anderer Studenten an der Universität von Chikago — Sie wissen, wenn es schwierig ist über sich selbst zu sprechen, redet man über andere. — und ich begann darüber zu sprechen, wie krank die Studenten wären. Aber Reich unterbrach erneut, indem er meinte: „Ich weiß, ich weiß, ich habe in österreich und Deutschland viel mit Jugendlichen gearbeitet. Irgendjemand sollte diese Arbeit nun fortsetzen. Ich bin jetzt zu sehr mit Wissenschaft beschäftigt.“ Es war typisch für ihn, daß er sich nicht mit langen Beschreibungen von Problemen aufhalten wollte, die er kannte oder zu kennen glaubte und Die sexuellen Probleme von College—Studenten interessierten ihn jedenfalls nicht.

Er war jedoch an mir interessiert. So wie ich mich sehr für seine Arbeit interessierte, beschäftigte er sich sehr mit der Struktur der Person, die sich für ihn interessierte. Sie wissen, es ist schön, viele gute Ideen zu haben, aber wenn man voll von Blockaden und Gift ist, kann man keine gute Arbeit leisten, ganz egal welches intellektuelle Wissen man hat. Und diese Frage führt zu einer essentiellen Fragestellung.

Die essentielle Frage ist: Wie können Leute wie wir, die das, wovon Reich sprach, nicht voll leben können — sie mögen es zum kleineren oder zum größeren Teil leben, im großen und ganzen jedoch nicht —, wie können diese Menschen in Reichscher Körperarbeit tätig sein?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Reich selbst hatte verschiedene Positionen dazu. Eine Vorstellung, nämlich, daß man „gesund“ sein müsse, um als Therapeut arbeiten zu können, so wie er mich fragte: Bist du gesund?, mag ich nicht besonders. Reich hielt den Beobachter, die Charakterstruktur des Therapeuten, für sehr wichtig. Sie ist auch sehr wichtig.

Es ist schwierig, tiefe Emotionen zu begleiten, wenn man selbst keine kennt. Es ist sehr schwierig, sich mit dem sexuellen Leben der Patienten auseinander zu setzen, wenn man selbst kein sexuelles Leben hat. Aber das ist eine relative Frage, denn bis zu einem gewissen Grad können wir uns auch transzendieren, obwohl wir selbst begrenzt sind. Die Probleme, mit denen wir zu tun haben, machen uns gesünder als wir selbst sind, d.h. das Bemühen, den Patienten zu begleiten und die Arbeit mit Orgonenergie kann Gefühle, Kräfte und Disziplin in uns selbst wachrufen, die die Arbeit möglich machen, obwohl sie natürlich leichter wäre, wenn wir diese Probleme nicht hätten.

Eine große Gefahr besteht darin, daß wir, wenn wir nicht praktizieren, was wir predigen, letztlich das predigen, was wir praktizieren. Das heißt, wenn wir Selbstregulation, orgastische Potenz, genitalen Charakter, ungepanzertes, weiches und liebendes Leben nicht praktizieren, kommen wir nach einiger Zeit dahin, daß wir predigen, das alles existiere nicht, es sei nicht so wichtig, andere Dinge seien wichtiger. Es ist aber möglich, weder das eine noch das andere zu tun, nicht vollkommen zu praktizieren, was man predigt, es jedoch nicht aufzugeben als Ziel. Wir realisieren auch im politischen Bereich nicht voll, was wir anstreben. Meines Wissens gibt es keine Regierung, die demokratischen Sozialismus wirklich praktiziert. Trotzdem kann das ein Ziel sein, für das wir kämpfen. Wenn man natürlich glaubt, daß es morgen realisiert würde, kommt man in Schwierigkeiten. Aber wenn wir das Ziel ganz vergessen, verlieren wir unseren Idealismus, den zündenden Funken. Das heißt wir sind unvollkommene Menschen, die ein ziemlich vollkommenes Ziel anstreben und es gibt verschiedene Wege, sich damit auseinander zusetzen.

Eine Möglichkeit besteht darin, Gruppenkräfte zu nützen. Ich habe in gut geleiteten Gruppen-Workshops oft beobachtet, daß man im bodyreading zu besseren Antworten kommt, wenn eine Gruppe von Menschen eine Person betrachtet, als wenn nur einer sie ansieht. Denn ich bin vielleicht blockiert für einen Blick voll Ärger, Angst oder Traurigkeit, aber ein anderer mag es nicht sein, so daß ich, wenn ich dafür offen bin, seine Wahrnehmung aufgreifen kann. Ich kann versuchen, das auch zu sehen und genauso kann er oder sie sehen, was ich sehe. Gemeinsam kommen wir zu einer volleren Wahrnehmung.

Eine andere Möglichkeit liegt in dem Versuch, mit den eigenen Tiefen in Kontakt zu bleiben, auch wenn man gepanzert ist. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist es aber nicht. Künstler bleiben auch in Kontakt mit ihrem besten Selbst, Schriftsteller, Komponisten tun das und die sind nicht gepanzert. Es bedarf aber einer ganz speziellen Anstrengung, erkennen zu können, wo man, zu einer bestimmten Zeit wirklich ist, und achtzugeben auf die tiefen psychologischen Kräfte, die neben den körperlichen wirksam sind.

Drei wesentliche psychologische Kräfte sind: Projektion, Verleugnung und Verzerrung. Das bedeutet, in Konfliktsituationen zu glauben: Der andere kontrolliert, der andere dominiert, ist unehrlich. Durch diese Sichtweise verleugnet man, daß man selbst diese Dinge auch tun könnte, man schiebt das zur Seite und verzerrt die Realität. Mit Verzerrung meine ich, daß man übertreibt, man sieht nur noch, wie schrecklich kontrollierend der andere ist, man übersieht all seine guten Seiten.

– Das Kleinkind weint –

Ich finde das ein bißchen irritierend. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber ich frage mich, ob ich unterbrechen soll oder nicht. Das ist ein gutes Beispiel für eine Überprüfung der Wahrnehmung: Stört das Kind irgendjemand sonst? Es beunruhigt mich ein wenig, aber das könnte auch meine Tendenz zu Kontrolle und Konkurrenz sein. W.C. Field sagte: „Spiele niemals eine Szene mit einem Kleinkind; es wird dir immer die Show stehlen.“… Aber es stört die anderen Leute nicht? – Gut, dann ist das mein Problem.

Das meine ich mit Gruppenwahrnehmung. Auch die Anonymen Alkoholiker benutzen sie und nennen es Gruppengewissen. Die Gruppe kommt oft zu besseren

Entscheidungen, wenn die Gruppenprozesse affektiv sind. Oft bedarf es einiger Anstrengung herauszufinden, ob die Gruppe einfühlsam reagiert, aber ich habe das immer wieder beobachtet und es brachte wesentlich bessere Ergebnisse als wenn die Gruppe von Machtkämpfen beherrscht wird.

Ich habe über Gruppen gesprochen, über die Schwierigkeit, mit den eigenen Prozessen in Kontakt zu bleiben, besonders in interpersonalen Beziehungen und in der Körperarbeit, wobei Projektion, Verleugnung und Verzerrung involviert sind. Oft geht es schlimm zu im Bereich der Gruppen; eine Gruppe attackiert die andere, ich selbst habe das auch oft getan. Es beginnt mit einem scheinbar harmlosen Prozeß: Die Person X konzentriert sich auf eine Sache, die mir nicht so wichtig erscheint. Ich halte die Person außerdem für narzistisch und aggressiv, ich finde sie unmöglich und ihre Anhänger auch. Wenn diese Meinung dann zur X-Gruppe dringt, können sie das gleiche über mich oder eine Y-Gruppe sagen und damit haben wir schon jene Bedingungen, die zum Krieg führen. Ich meine, wenn in interpersonalen Konflikten beide Seiten Atombomben hätten, würden sie beginnen, sie zu werfen.

Das passiert nicht nur in Reichschen Zirkeln, ich habe das überall gesehen. Gruppen lösen sich häufig auf, Gruppen bekämpfen einander. Das ist sogar in psychiatrischen Gruppen so, die agieren gänzlich ohne Bewußtsein für ihre bzw. unsere Prinzipien. Sie ist schlecht – heißt es da -, werft sie hinaus. Nein, sie ist wunderbar, laßt sie bleiben, man sollte besser die anderen Leute loswerden … Sie kennen das.

Aber ich will zu meinem ersten Treffen mit Reich zurückkommen. Die Frage: Bist du gesund? ist eine Schlüsselfrage, denn sie führt zu zwei extremen Haltungen.

Das eine Extrem wäre Gleichgültigkeit. Wenn man beginnt zu predigen, was man praktiziert, handelt man, als ob es unwichtig wäre, ob man „gesund“ ist oder nicht. Das andere Extrem besteht darin, dieser Frage schrecklich viel Bedeutung zuzumessen, sodaß man – mit dem Argument, man wäre zu „krank“ -aufhört, Reichsche Körperarbeit zu praktizieren.

Diese beiden Extreme bilden Antithesen des In -Kontakt-Bleibens auch mit den eigenen neurotischen Strukturen, die ja oft bei allem, was wir tun, auch eine Hilfe sein können. Sie waren es für Reich. Für ihn waren sie Hilfe und Hemmnis zugleich. Wollen Sie wissen, inwiefern sie hilfreich waren? Das werde ich ihnen sagen. Später.

Ich erwähnte die Integration anderer Wissensgebiete. Auch Reich gegenüber bemerkte ich, daß ich an der Universität Chikago Korzybski gelesen hätte. Wer von Ihnen kennt Korgypski? Er schrieb in den 40er Jahren ein Buch mit dem Titel „Science and Sanity“, das sich mit Semantik, mit der Analyse von Worten beschäftigt. Korgypski war damals sehr bekannt und ich sagte zu Reich, daß es meiner Meinung nach viele Ähnlichkeiten zwischen seiner und Korgypskis Theorie gäbe.

Das gefiel Reich gar nicht. Er mochte es so wenig wie wir nicht gerne hören: Du siehst genauso aus wie jemand, den ich kenne. Wir alle wollen glauben, daß wir anders sind als andere und besonders Reich wollte das. Dann antwortete er: „Das (seine Arbeit) ist keine Theorie.“ Er ging nicht direkt auf Korgypski ein, er meinte, dieser könne ruhig eine Theorie entwerfen, er selbst aber beschäftige sich nicht mit Theorie (sondern mit erfahrbarer Realität). „Das Orgon brennt in der Luft und der Erde“, meinte er und illustrierte das Brennen, indem er die Finger aneinander rieb und auf seine Laborinstrumente zeigte, um die Konkretheit seiner Arbeit zu unterstreichen.

Reich verwendete viele Worte, die ein Set von Antonymen (Worten mit gegensätzlicher Bedeutung) bilden, das man analysieren könnte. Häufig benutzte er Kontraste wie warm – kalt, weich -hart, lebendig – tot und viele andere Kombinationen dieser Art. Ein Beispiel für einen positiven Ausdruck ist das Wort brennend, brennende Neugier u.dgl.m., das benutzte er sehr oft. Die Vorstellung von einem „Brennen“ in der Luft und im Boden ist eine sehr lebendige Metapher.

Das bringt mich zu einem Problem, mit dem wir oft konfrontiert sind, wenn wir uns vom Leben weg zu den Worten bewegen: der Jargon. Wir benützen Worte wie Panzer und Orgon oder diagnostische Begriffe wie Borderline, weil wir keine eigenen Begriffe dafür haben. Die sollten wir aber suchen, denn andernfalls langweilen wir uns zu Tode und verlieren die Verbindung zu den Phänomenen. Wenn man wirklich Kontakt hat mit einem konkreten Phänomen, benutzt man keine Abstraktion. Man tappt herum im eigenen Kopf und schaut nach, ob man das zur Empfindung oder Vorstellung passende Wort findet. Wenn ich mich mit deinen Augen (eyes) beschäftige und dabei den Begriff Augensegment (ocular segment) im Kopf habe, kann ich zu Jargon-Aussagen wie: Sie sind gepanzert, kommen. Wenn ich aber wirklich mit deinen Augen in Kontakt kommen will, werde ich meine eigenen Worte finden.

Was geschah noch bei meinem Treffen mit Reich? Es war ziemlich gegen Ende des Treffens, denke ich, als er sagte, seine Arbeit wäre keine Theorie und das Orgon brenne in der Luft und im Boden. Dann fragte ich ihn, wie ich mich vorbereiten könne, um an seiner Arbeit teilhaben zu können. Was solle ich studieren, was könne er mir empfehlen, wollte ich wissen. Reichs Antwort werde ich nie

vergessen. Er sagte, ich solle mich nicht in dieser Arbeit engagieren, es sei zu schwierig und zu gefährlich. Diese Antwort verstärkte natürlich meinen Wunsch nach Mitarbeit umso mehr. Ich habe mich oft gefragt, wieviel Manipulation in diesem Rat lag und ich glaube, daß es zum Teil Manipulation war, zum Teil meinte er es aber ernst. Reich hatte wirklich das Gefühl, daß seine Arbeit schwierig und gefährlich sei, und sie war es auch tatsächlich.‘

Heute ist Reichsche Körperarbeit weniger gefährlich im Sinne einer Bedrohung durch die Außenwelt. Die Leute reden zwar viel von Angriffen, aber die sind heute weniger tragisch wie früher. Gefährlich ist diese Arbeit immer noch in dem Sinne, daß es schwierig ist, der Sache gegenüber ehrlich zu bleiben. Es ist nicht leicht im tiefsten Sinne offen zu bleiben, d.h. sie auch zu leben. Und es ist schwierig, mit einer Sache, die man nicht voll lebt, in Kontakt zu bleiben. Man könnte eher rigid reagieren oder laissez faire praktizieren, man könnte aus den eigenen Problemen heraus verzerren und das kostet viel Kraft.

Es ist auch eine schwierige kollegiale Arbeit im Bereich der Zusammenarbeit von Gruppen, denn die Zirkel, die sich für Reichs Arbeit interessieren, sind untereinander oft sehr zerstritten. Wie Sie wissen, gibt es viele verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Begriffen, das ist wie im Turm zu Babel. Es gibt aber auch gute Seiten, es gibt gute Kontakte. Wolfram z.B. hat gute Kontakte zu einer Vielzahl von Leuten und ich greife ihn nicht heraus, weil er der einzige ist, sondern weil ich ihn als einzigen Anwesenden kenne. Man darf nicht doktrinär werden, aber man darf auch nicht zu locker werden. Das ist ein schwieriger Aspekt an dieser Arbeit.

Ein zweites Problem besteht darin, daß Reichs Arbeit von den großen Organisationen, den Mächten dieser Welt wie der Medizin, der Psychologie und den ganzen akademischen Kräften nicht allzu gut rezipiert wurde. Das bessert sich zum Teil. Ich hörte z.B. von Heiko Lassek in Berlin, daß er ganz gute Kontakte zu einigen Mitgliedern der psychiatrischen und medizinischen Fakultät in Berlin habe; ich selbst habe gute Kontakte in Cambridge.

Aber das sind sehr eingeschränkte Beziehungen. Ich vermittle Wissen über Körperarbeit, Charakteranalyse, viel über Literatur und den emotionalen Ausdruck des Organismus. Der Bereich der Erforschung von Konkretheit und Lebendigkeit der Sprache ist eines meiner Lieblingsthemen. Aber über Orgonenergie kann ich nicht sprechen. Wenn ich das versuche, verliere ich mein Publikum.

Dann reagieren die Zuhörer als ob ich vorübergehend halluziniere und warten bis ich wieder zu meinen „normalen“ Themen zurückkehre. Das behindert Gedanken und Handlungen; aber es behindert nicht allzu sehr. Ich meine, wenn Sie daran denken, was die Leute unter Hitler oder Stalin tun mußten, um sich dem System zu widersetzen – die riskierten ihr Leben. Wir riskieren höchsten einen Mangel an Unterstützung. Ich glaube, daß in diesem Sinne viel zu wenig riskiert wurde und wird.

Ich treffe bei Reich-Konferenzen viele Leute, die auf die Frage: „Was machen Sie?“ z.B. antworten: „Ich unterrichte Psychologie an der Universität von Kentucky.“ Gefragt, was die Kollegen dort von ihrem Reich-Interesse halten, erklären sie: „Die wissen nichts von unserer Beschäftigung mit Reich.“

– Das Kind meldet sich wieder und der Vater geht mit ihm hinaus –

Bleib, bleibt, jemand soll sie zurückholen. Es ist nicht mehr störend für mich, seit ich es ausgedrückt habe.

In einer meiner Gruppen war eine Person, die eine wundervolle Fähigkeit hatte, auszudrücken, was ihrer Meinung nach in der Gruppe vorging. Sie konnte jedoch auch sehr abschätzend werden. Als jemand von der Gruppe sie darauf aufmerksam machte, sagte sie: „Ich spreche die Dinge aus, sobald ich sie spüre und hebe die Trümmer später auf.“ Tatsächlich ist es gut, wenn Dinge ausgesprochen werden und diese Person machte auf viele wichtige Dinge aufmerksam. Aber manchmal wird dadurch viel zerbrochen und verdammt viele Scherben müssen wieder aufgelesen werden, wenn man alles ausdrückt. So muß man z.B. Leute zurückrufen und sagen: „Es tut mir leid, dich aus dem Vortrag vertrieben zu haben usw..“

Es ist schwierig, aber ich glaube, wenn die Leute einander mehr unterstützten, würden sich auch diese Schwierigkeiten verringern. Es gibt da ein sozialpsychologisches Experiment, das mir gut gefällt. Bei diesem Experiment gehen etwa zehn eingeweihte Leute und eine „naive“ Testperson in einen dunklen Raum. Die Aufgabe besteht darin, die Länge einer in der Dunkelheit leuchtenden Linie (die tatsächlich 6 inches lang ist) zu schätzen. Die naive Testperson sagt zunächst, es wären etwa 5, 6 inches, dann jedoch behaupten die anderen Teilnehmer, es wären mindesten 12 inches. Sie zermürben ihn gewissermaßen, bis er letztendlich nicht nur lügt, um den anderen zu gefallen, sondern auch selbst zu glauben beginnt, die Linie wäre 12 inches lang. Das Schöne an dem Experiment ist, daß wenn nur eine andere Person in dem Raum die Versuchsperson in der Meinung, es wären 6 inches unterstützt, der Betroffene sehr lange aushalten und bei seiner ursprünglichen Wahrnehmung bleiben kann.

Wir brauchen also die Unterstützung anderer Menschen, um zu unserer Meinung stehen zu können. Die meisten werden wahrscheinlich so sehr kritisiert für ihre eigenen Wahrnehmungen, daß es ihnen schwer fällt dazu zu stehen und daß sie leicht von ihrem angeblichen Fehlurteil überzeugt werden können. Oder sie gehen ins Gegenteil und fordern jeden mit ihrer radikalen Anschauung heraus.

Es gibt einen guten Ausspruch eines deutschsprachigen Philosophen, nämlich Lichtenberg, der sagt: „Das Gegenteil zu tun, ist auch eine Form von Imitation.“ Also entweder unterwerfen wir uns, oder wir rebellieren, aber in beiden Fällen werden wir eher von einer äußeren Instanz beeinflußt als von unseren eigenen Gefühlen.

Das Problem ist, daß wir eine Affirmation unserer Gefühle brauchen ohne daß diese erdrückt werden. Wenn Sie sagen: Ich gehe jetzt hinaus und mache das und das, und ich antworte: Wunderbar, hervorragend, wann wirst du es tun?, so ist das zu viel. Sie wissen, auch zu viel Wasser kann eine Pflanze sterben lassen, nicht nur zu wenig. Es ist schwierig, Balance zu halten, aber ich fühle, daß wir das, was man in Amerika „affirmative action“ nennt, brauchen, brauchen, brauchen … Das bedeutet, daß wenn eine Gruppe lange Zeit unterdrückt wurde, Schwarze z.B. oder Frauen, dann ist einfache Toleranz oder Nicht-Diskriminierung nicht genug, weil sie zu schwach sind für eine Entwicklung zur Eigenständigkeit. Dann braucht man affirmative Handlungen, das heißt, während manche Strukturen gleich bleiben, bekommen einzelne einen gewissen Vorsprung, werden in höhere Positionen befördert, um für jene, die noch nicht so weit sind, Wegweiser darzustellen.

Ich glaube, daß gerade Gefühle besonders stark unterdrückt werden; für deren Ausdruck gibt es zu wenig Toleranz. Daher brauchen wir gegenseitige Unterstützung in einer Form, die nicht besitzergreifend ist und die Gefühle der anderen Person nicht erdrückt.

Fortsetzung in Bukumatula 4/89

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