29 Jan
Bukumatula 6/1997
Eine Würdigung zum 100. Geburtstag von Wilhelm Reich.
Beatrix Teichmann-Wirth:
Wilhelm Reich: „Alone“
(Tonbandtranskription; Übersetzung aus dem Englischen: Beatrix Wirth, W. Ratz)
Es ist der 3. April 1952 in Orgonon, Rangely Maine.
Ich, Wilhelm Reich, sitze allein im großen Raum im unteren Haus. Alle Menschen sind gegangen. Am Morgen und den ganzen gestrigen Tag über fand ein Meeting von Mitgliedern der Foundation, die meinen Namen trägt, statt.
Alle sind nun gegangen und ich möchte ein paar Worte zu den Aufzeichnungen, die gestern über das Desaster, das Orgonon traf, gemacht wurden, hinzufügen. (Oranur-Experiment; Anm. d. Hsg.)
Niemand ist hier, der das, was ich nun sage, hören könnte. Das Tonbandgerät ist der einzige Zeuge. Ich hoffe, dass einmal jemand in der Zukunft der Aufzeichnung zuhören wird – mit großem Respekt – Respekt für den Mut, den Mut, der notwendig war, um die Forschungsarbeiten zur Orgon-Energie und Lebensenergie durch all diese Jahre hindurch zu betreiben.
Ich werde nicht auf Details eingehen wie auf die vielen schlaflosen Nächte, die Tränen und finanziellen Ausgaben, die Anstrengungen, die Geduld die ich mit allen meinen Mitarbeitern und Studenten haben musste. Ich möchte nur einen Tatbestand erwähnen: Dass niemand um mich war, weder hier, noch in New York, der voll und ganz, vom Grunde seiner Existenz, verstehen würde, was ich tue und zu mir und meiner Arbeit stehen würde. Sie sind alle gute Menschen; anständig, ehrlich, hart arbeitend. Ich traue ihnen, fast alle sind sehr gute Freunde von mir. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass alle, mit keiner Ausnahme, gegen das sind, was ich tue.
Obwohl sie es eigentlich nicht wollen, durchkreuzen sie meine Leistungen, streichen weg, löschen aus, walzen sie nieder.
Was immer es ist, es geht darum, die Ergebnisse meiner Anstrengungen zu vermindern, ihnen die Schärfe und Klarheit meiner Gedanken zu nehmen, sie bis zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren, was ich in nun fast 34 Jahren systematischen Denkens erarbeitet habe – und nun in 40 Jahren menschlichen Leidens, seit 1912 oder besser 1910, als meine Mutter starb. Es ist keine einzige menschliche Seele hier, die ganz und gar versteht oder nicht nein sagen würde zu alledem. Dieses „Nein“ ist identisch mit „Ich mag es nicht, ich liebe es nicht, ich verabscheue es, warum ist es hier, warum muss es existieren, warum setzt er sich nicht zurück und entspannt sich, warum musste er dieses Oranur-Experiment beginnen, das uns so viele Schwierigkeiten einbrachte“.
Sie sehen nur die Schwierigkeiten. Sie sehen nicht und wollen nicht erkennen, was das Oranur-Experiment für Biologie, Medizin und die ganze Wissenschaft und die Philosophie bedeutet. Für sie ist es vor allem ein Ärgernis, das zu Krankheit und Leid führt. Und von Zeit zu Zeit habe ich das Gefühl, dass sie glauben – obwohl sie es nicht zugeben würden, dass ich verrückt geworden bin.
Diese Reaktion von meinen engsten Freunden und Mitarbeitern auf diese Situation hier ist genau dieselbe, die die Menschheit für nun 8.000 – 10.000 Jahre belastet, seit das Patriarchat die Ziele vorgibt und die natürliche Liebe in den Neugeborenen ausgelöscht wurde. Ich werde nicht weiter darauf eingehen, es ist alles genau in meinen Publikationen nachzulesen. Wer diese kennt, weiß, was das bedeutet. Die Entdeckung der Lebensenergie wäre schon längst vollzogen worden, wäre da nicht das „Ich will es nicht, ich fürchte es, ich stoße es ab, ich töte es, ich werde es nicht existieren lassen“. Es ist in ihren Strukturen, nicht in ihrer Sehnsucht, nicht in ihren positiven, bewussten Wünschen – sie sind alle anständige und gute Menschen.
Es ist in ihrer Struktur, es ist irgendwie in ihrem Gewebe, in ihrem Blut. Sie können nichts ertragen, was mit Orgon-Energie zu tun hat oder mit Lebensenergie oder damit, was sie `Gott´ nennen oder mit ihren tiefsten Sehnsüchten nach Liebe und Erfüllung. Sie können es nicht ertragen und sie fürchten es aufgrund ihrer Strukturen; das Gewebe, das Blut kann sich nicht ausdehnen. Ich sage nicht, dass sie nicht ehrbare Menschen sind und ich schätze ihre Leistungen, ihre Liebe und ihr Leben. Ich sage es, weil es wahr ist. Weil es in jeder einzelnen Bewegung auftaucht, in jedem einzelnen Wort, in jeder einzelnen Meinung, in allen Zeitungen, in allem, was sie tun mit dem, was immer mit der Entdeckung der Genitalität, dem Leben, der Liebe zu tun hat. Das betrifft solche Persönlichkeiten wie den Heiligen Laurentius, Giordano Bruno, Jesus Christus und so fort.
Es ist ein trauriges, einsames Kapitel in der Menschheitsgeschichte. Ich fühle mich nicht verpflichtet, dies zu lösen. Ich habe die Lebensenergie zu entdecken. Ich habe das Oranur-Experiment stattfinden lassen. Ich weiß was es für die Zukunft der Medizin und Biologie bedeutet. Ich bin mir dessen voll bewusst, und in dieser Bewusstheit bin ich ganz allein. Da ist niemand, keine einzige Menschenseele weit und breit, um darüber zu sprechen, um Gefühle zulassen zu können, um zu sprechen, wie Freunde miteinander sprechen. Das ist alles.
Fünfeinhalb Jahre nach dieser Aufzeichnung ist Wilhelm Reich in einem amerikanischen Zuchthaus gestorben.
Gestorben an menschlichen Bedingungen, die er hier beschreibt – daran, dass ihm niemand folgen konnte, daran, dass er von verständnislosen Freunden und erbitterten Feinden umgeben war.
Nun, 40 Jahre nach seinem Tod, scheint diese Furcht vor der Freiheit, welche er oben beschreibt und für seine Verfolgung verantwortlich macht, noch immer wirksam zu sein, so dass sein Werk in den ihn würdigenden Zeitungen nach wie vor entweder ignoriert oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Wie zu Lebzeiten widmen sich die meisten Beiträge wenig seinen Erkenntnissen, um so mehr jedoch den Hinweisen für seinen „Wahnsinn“.
In all dem Kränkenden, Bösartigen, fand ich einen wahren Satz: „Er passte in kein Schema“.
Er passte nicht mehr in das Schema der Psychoanalytiker, als er dafür eintrat, dass die Kultur nicht durch Triebunterdrückung zu erhalten ist, sondern im Gegenteil, dass man für Bedingungen sorgen soll, die Kinder in Freiheit aufwachsen lassen im Vertrauen auf eine von innen kommende Moral, die im Einklang mit den Bedürfnissen des Individuums ist. Er verließ damit, wie Freud es im letzten gemeinsamen Gespräch aussprach, den „Mittelweg der Psychoanalyse“.
Er passte auch nicht in das Schema der dogmatischen Kommunisten, welchen er leidenschaftlich angehörte, als er immer mehr erkannte, dass große gesellschaftliche Veränderungen an der strukturellen Enge des Menschen scheitern, weshalb sich seine politische Arbeit immer am Privatesten, an den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiter orientierte.
Reich war groß.
Und so bin auch ich nun vor die Aufgabe gestellt, dieser Größe gerecht zu werden.- Der Größe des Menschen, der sich nicht erklären lässt (wie dies Biographen wie Sharaf oder Mulisch bespielsweise tun: „Weil er in seiner Kindheit …“).
Und der Größe des Werkes, das so viele Bereiche (Psychologie, Physiologie, Soziologie, Politik, Medizin, Biologie, Orgonomie) umspannt, so dass man nur staunen kann, wie man soviel in so kurzer Zeit erfassen kann.
So merkte ich, dass ich, wenn ich dem Anspruch gehorche, dies alles lückenlos und artig von A-Z darzustellen, wie dann die Enge in mir zunahm, die Verkrampfung war körperlich spürbar, und ich bekam Angst – ein Zusammenhang (Kontraktion und Angst), welchen Reich schon in seinen ersten Forschungsjahren eingehend beschrieb.
Ich musste also – und das ist konsequent „reichianisch“, das in mir aufsuchen, was kräftig ist und weit, einen Platz, wo Lust und Freude zu Hause sind.
So werde ich mir hier herausnehmen, über das zu sprechen, was bei mir in der Beschäftigung mit Reich wirklich angekommen ist, was mich bewegt und erschüttert hat und worüber ich von ganzem Herzen sprechen kann – ich werde also in Anlehnung an einen Buchtitel von Kazantzakis über „Meinen Wilhelm Reich“ sprechen.
Ich werde über das sprechen, was für mich essentiell ist.
Dies ist zunächst seine Genauigkeit. Diese Genauigkeit zeigt sich in der Begriffswahl – die Begriffe sind anschaulich und mit Leben erfüllt und Reich ist sehr genau in der Darstellung seiner Entdeckungen, in welcher er immer den Weg auch beschrieb. Dies macht die Lektüre seiner Werke so spannend und aufregend.
Er war auch bei anderen sehr darauf bedacht, dass diese ihn wirklich verstehen – ein sehr eindrückliches Beispiel ist das in seinen letzten Lebensjahren mit dem Analytiker Eissler geführte Interview, wo Reich seinen eigenen Redefluss immer wieder mit der Nachfrage nach dem Verständnis unterbricht („Verstehen Sie mich?“).
Reich war auch außerordentlich genau in seiner Wahrnehmung. Er schaute genau nach, wie sich ein Phänomen wirklich zeigt und was dahinter steckt.
Als Beispiel sei die Definition von sexueller Gesundheit erwähnt.
Reich ging konsequent – der Libidotheorie Freuds folgend – von der Hypothese aus, dass alle Neurotiker genital gestört sind, was auf empörten Widerspruch bei den Analytikern stieß. Viele Neurotiker litten nicht unter einer Erektionsunfähigkeit oder Frigidität. Erst bei genauerem Hinsehen (Fragen bezüglich der Erlebnisqualität der Sexualität, den Onaniepraktiken und -phantasien) zeigte sich, dass diese Sexualität nicht wirklich erfüllend war, erfüllend und befriedigend, da keine „Hingabe an das Strömen der biologischen Energie“ stattfand.
Dies ist im Gegensatz zum Verständnis von heutigen Sexualtherapeuten nicht durch Übung zu erlangen, sondern Ausdruck einer gesamtorganismischen Ausdehnung. Er nannte dies orgastische Potenz. Physiologisch findet sie im Orgasmusreflex – einer unwillkürlichen, sanften Bewegung, die, der Atemwelle folgend, den ganzen Körper erfasst – ihren Ausdruck.
Reichs Werk ist weitreichend.
Er bleibt nicht bei der individuellen Analyse des einzelnen, sondern beschreibt, vereinfacht ausgedrückt, wie alles mit allem zusammenhängt. Reich fand für die Art des Herstellens von Verbindungen den Begriff des funktionellen Denkens im Gegensatz zum kausal-mechanistischen der abendländischen Kultur.
Ausgangspunkt war die Psychoanalyse und damit der psychische Bereich des Menschen. Zunächst bemerkte er, dass bestimmte charakteristische Haltungen (Misstrauen, latente Feindseligkeit, etc.) sich auch körperlich zeigen (Zusammenkneifen der Augen, Verbissenheit des Kiefers, etc.). Beides ist Ausdruck eines gemeinsamen Funktionsprinzips – einer charakteristischen Blockierung des energetischen Flusses, Ausdruck der Panzerung. Aber Reich ist auch hier nicht stehen geblieben.
Er hat in der Zeit des Faschismus erfahren, wie dieses „Nein“ in den Körpern und Seelen der Menschen verheerende Folgen nach sich zieht. In seiner „Massenpsychologie des Faschismus“, eine Analyse, die man gut in Zeiten wie diesen heranziehen könnte, um den Anfängen zu wehren, zeigte er auf, wie Hitler fatalerweise die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, Größe und Lebendigkeit ansprach – Grundbedürfnisse von Menschen, wie das nach Gemeinschaftlichkeit und nach Emotionalität.
Die Mischung aus Sehnsucht nach Freiheit und gleichzeitiger Furcht davor fand ihren extremsten Ausdruck in der Verfolgung und Ausrottung der Juden. Dass die Sexualität hier eine zentrale Rolle spielt – Begriffe wie „Judensau“, die „Reinheit“ des arischen Blutes im Gegensatz zum „Dreck“ legen eine sexuelle Konnotation nahe – ist nicht zufällig.
Das Erkennen der Grundlage dafür, nämlich dass die Unterdrückung von vitalen (sexuellen) Impulsen die Basis für die Herausbildung einer autoritätshörigen Haltung ist, brachte ihn zunehmend dazu, sein Hauptinteresse der Neurosenprophylaxe zu widmen – denn, „wenn ein Baum einmal krumm gewachsen ist, kann man ihn nicht mehr gerade richten“.
Aber Reich blieb auch nicht bei der Menschenwelt stehen. Er erkannte, dass die Funktion des Orgasmus nicht nur im Menschen wirkt, sondern überall, wo Lebendiges lebt. Der hier wirksamen Energie verlieh er den Namen Orgonenergie.
Reich hob in seinem Werk Trennungen auf, die wohl etabliert waren und sind:
Nicht zuletzt – und dies ist ein wenig besprochenes Kapitel des Reichschen Werkes – die Trennung zwischen Forscher und seinem Forschungs-Gegenstand. Dies ist revolutionär.
Er schreibt: „Die Rede von der objektiven Wissenschaft wird völlig lächerlich, wenn man naturwissenschaftlich denkt. Denn die wissenschaftliche Forschung wird nicht von objektiven Wissenschaftlern, sondern von lebenden Organismen betrieben. Objektiv wird die Wissenschaft dann, wenn dieser Organismus keine Angst vor der Erkenntnis hat. Sonst wird der Streit um wissenschaftliche Fragen ein Kampf von Organismen gegen oder für Lust beziehungsweise Unlust. Dies ist bei Fragen, die Sex berühren, regelmäßig der Fall.“
Reich hob Trennungen auf und verlangt damit von uns, aus den Sicherheit verheißenden Kästen des Denkens und Handelns herauszutreten. Das macht Angst und dafür verfolgten sie ihn. So war Wilhelm Reich zeitlebens ein Gejagter.
Gejagt von den Psychoanalytikern, die ihn aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausschlossen, gejagt von den Nazis, gejagt von den Behörden. Und es verwundert, dass ein derart Gehetzter – Reich musste in fünf Ländern Heimat finden – ein derartiges Arbeitspensum vollbringen konnte.
Es berührt mich immer wieder zutiefst, wenn ich seine letzte Lebenszeit nachverfolge. Diese Zeit verbrachte er in Orgonon, im US-Bundesstaat Maine mit einer kleinen Anzahl von Personen, zu welchen seine Kinder Eva und Peter zählten, seine damalige Frau Ilse Ollendorf und einige wenige Mitarbeiter. Er widmete sich fast ausschließlich seinen Forschungen zum Krebs und den orgonomischen Wetterbedingungen. Er war sehr zurückgezogen – bereits ein gebranntes Kind, musste er doch auch aus dem liberalen Norwegen ausreisen.
Und es geschah, hier in den USA, in jenem Land, von welchem er so viel Liberalität erhoffte und das Gegenteil bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, dass gerade hier die Verfolgung ihren Höhepunkt und er sein bitteres Ende finden sollte. Es ist damit eine von Reich einmal getroffene Prophezeiung eingetroffen: „Die Sexualität haben sie mir noch verziehen, aber dass ich das Lebendige selbst berührte, dafür werden sie mich töten.“
Er kam in dieser Phase verstärkt mit einer Qualität von Menschen in Kontakt, die er in den Begriff der emotionalen Pest brachte – das Verbreiten von Gerüchten, um jemanden, der sich nicht dagegen wehren kann, zu schaden.
Anlass war ein nichtiger: Ein Artikel einer Journalistin rief die „Food and Drug Administration“ auf den Plan, die ihrerseits wegen der Vermietung von Orgonakkumulatoren eine gerichtliche Verfügung erwirkte, welche letztendlich zur Verurteilung führte.
Es zählt zu den berührendsten Momenten, Reich sich selbst verteidigend beim Prozess sprechen zu hören – hier wird deutlich, was „Countertruth“ ist. Reich spricht davon, dass er dem Leben dient, und sich dadurch nicht schuldig macht, überdies Naturwissenschaft betreibe, was nicht über das Gericht entschieden werden kann, während es für das Gericht allein um das Faktum des Verbots der Verbreitung von Orgonakkumulatoren geht.
Nochmals Countertruth – beim Abtransport ins Gefängnis: „Hinten im Auto saßen Reich und Silvert in Handschellen und unterhielten sich über die Wetterbedingungen und beobachteten den Zustand der Vegetation, durch die sie fuhren“.
Was veranlasst Menschen zu derart brutalen Aktionen, wie die Vernichtung der Orgon-Akkumulatoren (eigenhändig), und der Verbrennung seiner Bücher? Welcher fundamentale Hass ist da wirksam. Empörung, Sprachlosigkeit, Entsetzen.
Wilhelm Reich war ein Radikaler, im wahrsten Sinne des Wortes, auf der beständigen Suche nach der gemeinsamen Wurzel alles Lebendigen, nach der Beantwortung der Frage: „Was ist Leben?“,
Wilhelm Reich war ein leidenschaftlich Liebender, im ständigen Ringen um „ungestörten vegetativen Kontakt“ zu den Dingen, der Natur und den Menschen. Den meisten war diese Intensität unerträglich. Wilhelm Reich war ein Visionär:
– im Glauben an das Gute im Menschen („In der Tiefe fand ich ein Stück einfacher, anständiger Natur“), ist er ein Vorreiter der Humanistischen Psychologie.
Nicht zuletzt war Reich zutiefst Mensch,
mit all den Widersprüchlichkeiten, seinen Eifersuchtsszenen bei gleichzeitigen eigenen „experimentellen Affären“, was ihm als Doppelmoral angekreidet wurde; mit seinen Wutausbrüchen, wenn man nicht offen mit seiner Kritik ihm gegenüber war, mit einer rührenden Offenheit im Ausdruck seiner eigenen Gefühlen und im Wunsch dieselbe Offenheit und radikale Hingabe von den anderen entgegengebracht zu bekommen, mit seinem Optimismus und seiner, an ein Kind erinnernden Naivität, mit seinem bisweilen autoritären Gehabe bei gleichzeitiger Ablehnung desselben; in seiner Kindererziehung, die bisweilen so gar nicht seinen Prinzipien entsprach, mit seiner Sehnsucht nach einem ganz normalen Leben. Reich war ein Mann, der gerne Beethovens Musik hörte, Beethoven, den er in seiner Einsamkeit und seinem Kämpfertum sich selbst so ähnlich empfand.
Was er ist und was nicht, sei von ihm selbst ausgedrückt:
„Ich bin im Grunde ein ganz großer Mann, eine Seltenheit sozusagen. Ich weiß es nicht richtig. Deshalb kämpfe ich gegen das `Den-großen-Mann-Spielen´. Was habe ich entdeckt?
Viel, gut erarbeitet, dennoch – ich kann es nicht genießen – ich bange um meine Zukunft.“ (Jenseits der Psychologie, Seite 319)
Und später:
„Ich wusste trotz aller Geselligkeit, dass ich zu den Menschen schlecht passe. Und so ist es geblieben. Bis heute. Ich fühle mich nur bei meiner Arbeit wohl – und in der Umarmung lieber Frauen glücklich. Nichts, was dieser Welt lieb ist, kann mich erfreuen. Ich will zusammenstellen, was ich nicht mag und daher nicht tue:
Reich schonte sich selbst nicht und auch nicht die anderen.
Wilhelm Reich ist als Mensch und mit seinem Werk eine ständige Herausforderung:
Letztendlich und dies ist wohl die größte Herausforderung:
Aufrichtig zu leben ohne hartleibig zu sein!
Als Reich am 3. November 1957 im Bundesgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania, starb, war das Echo der Presse gering. Immerhin fand sich ein Nachruf im Magazin „Time“ mit folgendem Text:
„Gestorben: Wilhelm Reich, 60, einst namhafter Psychoanalytiker, Mitarbeiter und Anhänger Sigmund Freuds, Gründer der Wilhelm Reich-Foundation, zuletzt eher bekannt für unorthodoxe Sexual- und Energietheorien, erlag einem Herzanfall im Staatsgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania, wo er eine zweijährige Haftstrafe wegen des Vertriebs seiner Erfindung, dem `Orgon-Energie-Akkumulator´ absaß (ein Vergehen gegen den Food and Drug Act), ein Apparat von der Größe einer Telefonzelle, welcher angeblich Energie aus der Atmosphäre sammelt und den darin sitzenden Patienten von gewöhnlichen Erkältungen, von Krebs und Impotenz heilt.“
40 Jahre danach ist Reich nach wie vor bloß – oder vor allem – als Exote für die schreibende Öffentlichkeit attraktiv.
Mit geiferndem Interesse widmen sich die Zeitungsartikel seinem Wahnsinn. Seine Entdeckungen werden unhinterfragt ins esoterisch-schrullige und damit ins nicht ernstzunehmende Eck gedrängt. Auch die großformatige „Presse“ beweist hier keinen großen Horizont. Reich verkommt zum „seltsamen Alchimisten, der nackte Menschen in Schränken zum Orgasmus kommen lässt, Patienten verprügelt, in Steinen Leben entdeckt, Krebs zu heilen verspricht, Orkane steuert, Regen macht, seine Umgebung radioaktiv verseucht und Landschaften malt.“
Papier ist geduldig und ein toter Wilhelm Reich kann sich nicht mehr wehren. Auch dann nicht, wenn Reichs gesamtes Lebenswerk durch die Schlüssellochperspektive des elterlichen Schlafzimmers betrachtet wird. Verhängnisvoller Weise ist dieses Jahr ein zwanzig Jahre altes biographisches Büchlein vom Romanautor Harry Mulisch („Das sexuelle Bollwerk“, Hanser Verlag) in deutscher Sprache erschienen. Dies bekommt bei der geringen Anzahl der Veröffentlichungen anlässlich des einhundertsten Geburtstags doch einiges an Gewicht.
Mulischs These, aufgrund er die ganze Biographie aufzieht, ist:
„Ich wollte zeigen, dass alles, was Reich je gesagt und geschrieben hat, auf diese maximal acht Elemente zurückgeführt werden kann:
Der Entdecker hat alles entdeckt, außer dem einzigen, was es für ihn zu entdecken gab. Er hatte alles entdeckt, um dieses eine nicht entdecken zu müssen.“ Das tut weh. Vor allem, wenn man weiß, dass Reich schon zu einem frühen Zeitpunkt seines wissenschaftlichen Lebens die analytische Kausalität und ihre Erklärungs-Gültigkeit verlassen hat, um der Komplexität der Zusammenhänge auf allen Ebenen gerecht zu werden.
Da hilft es auch nichts, wenn Mulisch in einem nun aufgezeichneten Interview im „Profil“ sich rechtfertigt, indem er meint, „er hätte sich in seinem Buch nicht bedeckt gehalten und seinen persönlichen Bezug klargemacht“. Das Gewicht der grausamen und plumpen Analyse des Reichschen Lebensweges und -werkes ist zu groß.
Auch kann ich den Teil der Verbindung zur Person Mulisch nicht finden und schon gar nicht spüren. So war ich sehr überrascht, auf Seite 185 zu lesen: „Manchmal, wenn ich spät am Abend oder tief in der Nacht müde war vom Lesen und Schreiben und ich mich in einen bequemen Sessel setzte, um Reichs Leben zu überdenken, schossen mir die Tränen in die Augen. Mich muss niemand über die zahllosen Parallelen, die es zwischen Reichs und meinem Leben gibt, aufklären. (…) Ab und zu hatte ich das Gefühl, ich verstünde Reich besser als mich selbst. Auf jeden Fall aber verstehe ich mich, jetzt da ich ihn verstehe, selber besser. Er fiel mir zu.“
Wenn Mulisch sagt, dass Reich zu weit gegangen sei, so meine ich, dass Mulisch in seinem zum Buch gewordenem Massaker auch zu weit gegangen ist. Auch wenn er Reich zugesteht, dass er nicht dumm war Und er war ja nicht dumm. Selbst als er all den Blödsinn über das Weltall schrieb, da war er immer noch nicht dumm.“
Mulisch´ Gespräch mit der Profil-Autorin Eva Menasse, welche in einer allgemeinen Spalte über Reichs Werk sich auch nicht gerade als differenziert erweist (Beispiel: „Er begann nach allen Richtungen zu experimentieren, er wollte Orgasmen mit Elektroden messen und beobachtete Versuchspersonen beim Sex. Schließlich verfiel er auf der Suche nach der Lebensenergie der Bioenergetik“) beeindruckt durch unhinterfragte Sicherheit in seinen Behauptungen. Die Frage nach den Gründen von Reichs „Wahnsinn“ beantwortet Mulisch folgendermaßen: „Weil sich in Reichs Leben eines immer wiederholte. Er hatte seine Mutter dem Vater verraten, er wurde verstoßen, wie später auch von Freud, seinem Übervater. Da ist dann irgendetwas in ihm kaputtgegangen.“- So einfach ist das.
Und wenn ich nun nochmal den moralischen Zeigefinger heben darf, bevor ich mich anderen, nicht weniger ärgerlichen Kapiteln zuwende, so möchte ich Herrn Mulisch im Gegensatz zu seiner lapidaren Ansicht („Ich glaube nicht, dass einer Reich jetzt lesen soll, um etwas zu lernen. Was er Vernünftiges gesagt hat, ist längst ins allgemeine Bewusstsein übergegangen.“) zur gründlichen Lektüre raten, damit vielleicht etwas von der eigentlichen Essenz in sein Bewusstsein übergeht.
Sogar der „Falter“ würdigt „Das Bollwerk der Sexualität“ als „besten Beitrag zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers“ und bezeichnet es als herausragend.
Auch im Falter wird dem Reichschen Werk nur mehr eine Bedeutung als Bestandteil der zumindest intellektuellen Biographie der 68-er Generation zugestanden. Hier steht zu lesen, „dass Gesellschaft“ – wie Mulisch Reich paraphrasiert – „in ihrer Gesamtheit bis in ihre kleinsten Ausläufer auf sexuelle Unterdrückung basiert, kann nicht mehr behauptet werden“. Damit wird sexuelle (pornographische) Permissivität mit sexueller Freiheit, wie Reich sie beschrieben hat, gleichgesetzt. Dass es das nicht ist, hat Reich in der Annahme der orgastischen Potenz zum Ausgangspunkt seiner Fortentwicklung aus der Psycho-Analyse genommen. Wie überhaupt in den Rezensionen die psychologische Sicht überwiegt.
Zu groß und zu komplex und vielschichtig dürfte der weitaus größere Teil des Reichschen Werkes, nämlich die Untersuchung des biologischen Fundaments, auf welchem die Psyche als eine Ausdrucksform gilt, sein. Gar nicht zu sprechen von der funktionellen Denkmethode. Ob Analytiker, Psychotherapeuten, Journalisten, alle erachten sie den psychologischen Beitrag Reichs als wesentlich und werden dem Werk in seiner Gesamtheit damit überhaupt nicht gerecht. Auch die Ärzte beziehen sich in ihrer Zeitung „Ärzte-Woche“ auf den psychologisch zu betrachtenden Reich.
Das nicht Ernstnehmen seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse – und Reich verstand sich zuallererst als wissenschaftlicher Forscher – drückt sich durch die Ausdrucksweise in der Möglichkeitsform aus. Das klingt dann so: „Der Mensch habe einen Grundtrieb: die Sexualität. Seit etwa 6000 Jahren lasse er ihr aber nicht mehr freie Bahn. Seine Energie staue sich, und dieser Energiestau führe nicht nur zur sexuellen Unbefriedigtheit, sondern über sie hinaus zu schweren, endemisch gewordenen seelischen Schäden und Erkrankungen, auch alles antisoziale Verhalten gehe einzig auf ihn zurück“.
Armer Reich, der Du mit unermüdlicher Gründlichkeit jede These untersuchtest, um sie erst dann als Faktum hinzustellen. Wie überhaupt die Vereinfachung als stärkste Waffe den Journalisten zur Verfügung steht. So wird z.B. der komplexe Zusammenhang von Bedingungen für die Entstehung von Krebs in einem Satz zusammengefasst, der da lautet: „Warum sollte seelisches Leiden nicht auch Karzinome wachsen lassen?“
Wenn Reich anlässlich seines Prozesses schreibt, dass wissenschaftliche Fragen unter keinen Umständen von einem Gericht entschieden werden können, so könnte man dies ebenso gut, bezogen auf die Presse, folgendermaßen abwandeln: Über wissenschaftliche Erkenntnisse wie sie in jahrzehntelanger Forschung überprüft wurden, können nicht Journalisten urteilen, welche das Plakative, Spektakuläre, teilweise rücksichtslose Reißerische zur Grundlage ihrer Existenzsicherung machen. (Eine Ausnahme – das darf gerechterweise nicht vorenthalten bleiben, ist der Beitrag von Rene Freund im „Standard-Album“).
Was bleibt ist meine erschreckte Frage: „Wieso und woher soviel Hass?“- Denn Hass, Ignoranz und Lächerlichmachen fand ich zuhauf in den Artikeln. Im Gegensatz zu den Aussagen, dass das Reichsche Werk nicht mehr von Relevanz ist, hege ich den Verdacht, dass Reich nach wie vor ein „Stachel im Fleisch“ ist und Menschen auf einer Ebene berührt, wo sie mit emotionaler Pest und blindem Umsichschlagen antworten.
Bei Durchsicht der Artikel stellte sich mir oft die bange Frage, ob bis zum Jahr 2007 (dem Zeitpunkt der Testamentseröffnung) wohl die Voraussetzungen für eine gerechte Rezeption gegeben sein werden. Wären da nicht die medialen Gespräche, welche Jürgen Fischer mit Wilhelm Reich führte. Gerade rechtzeitig zur Weihnachtszeit leuchtet da ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Nachtrag zu Publikationen:
Neu erschienen ist 1997 das Buch „Der `Fall´ Wilhelm Reich“ von Karl Fallend und Bernd Nietzschke (Suhrkamp Verlag), welches sich den Umständen rund um Reichs Ausschluss aus der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ widmet.
Außerdem hat die Treuhänderin Mary Higgins eine Sammlung Reichscher Tagebuchaufzeichnungen und Briefe aus den Jahren 1934-1939 herausgegeben, was nicht ganz unproblematisch ist, da es erneut eine Handhabe sein kann, um Reich zu „verkleinern“ („Jenseits der Psychologie“, Kiepenheuer & Witsch).
Anmerkung des Herausgebers: In einer der nächsten BUKUMATULA-Ausgaben wird eine Zusammenstellung der lieferbaren Bücher bzw. Sekundärliteratur zu Leben und Werk Wilhelm Reichs erscheinen.
Gedenktafel für Wilhelm Reich
Am Sonntagabend des 30. Novembers wurde an Reichs ehemaliger Wohn- und Arbeitsstätte, in 1080 Wien, Blindengasse 46a, eine Reich-Gedenktafel, die von der Wiener Künstlerin Gundi Berghold gestaltet wurde, enthüllt. Die Festansprache von Dr. Beatrix Teichmann-Wirth ist nachfolgend abgedruckt:
Die heutigen Bedingungen entbehren nicht einer gewissen Symbolik. Es gibt keinen strahlenden Scheinwerfer, der auf das Werk strahlt – im abgedunkelten, aber warmen, lebendigen Licht, wo man genau hinsehen muss, ist die Tafel zu sehen. So wie auch bei Reichs Werk, welches man erst durch Nähertreten und genaues Betrachten erfassen und würdigen kann.
Das Wetter ist alles andere als gemütlich, so wie auch Reich zeit seines Lebens unter sehr ungemütlichen Bedingungen zu arbeiten und zu leben hatte – wiewohl er sich in diesem Hause hier – folgt man den Biographen – noch behaglich und mit – für ihn ungewöhnlich – persönlichem Luxus einrichtete. Oft war es so unbehaglich in Reichs Leben, dass ich mich oft wundere, über wieviel Kraft er verfügte, dennoch seine Arbeit zur Welt zu bringen.
Auch die Tafel ist, wie wir gleich sehen werden ein Symbol: sie ist nicht fest gepanzert, lässt etwas durchscheinen – Glas, das zerbrechlich ist, hoffentlich nicht zu sehr. Auf ihr findet sich das Reichsche Symbol und die Aufschrift „Arbeit, Liebe und Wissen sind die Quellen unseres Lebens. Sie sollten es auch beherrschen“.
Gerade in den letzten Tagen, im Zuge meiner Teilnahme am Symposium anlässlich Reichs 100. Geburtstags in der Stöbergasse, empfand ich eine große Dankbarkeit, was dieser große Mann alles auf die Welt gebracht hat.
Und indem ich diese drei Quellen des Lebens nochmals aufgreife, möchte ich jetzt schließen: Es war für mich ein großes Geschenk, dass die Vortragenden etwas von ihrem Wissen mit uns geteilt haben – und das mit soviel Liebe zur Sache.
Und es bleibt mir das wunderbare Gefühl, dass noch viel an Arbeit getan werden kann.
Aber vorerst bleibt wohl Zeit zu feiern.