31 Mai
Bukumatula 1/1994
Ich möchte dieses Buch nie geschrieben haben
Wolfram Ratz:
Wenn Bernd Nitzschke in seinem Artikel „Freuds Ungeduld wuchs“ („Die Zeit“, Oktober 1990) schreibt: „Was Freudianer gerne ‚der‘ Gesellschaft empfehlen – nämlich die Vergangenheit zu erinnern und durchzuarbeiten -, verweigerten ihre offiziellen Repräsentanten im ‚Fall‘ Reich bis heute. Und es sieht leider so aus, als werde diese Hartnäckigkeit auch Zukunft haben…“, dann hat das auch im Jahre 1994 noch Methode.
Im Text des Veranstaltungskataloges zur Ausstellung „Die Freudianer“ in Wien nimmt Elisabeth Brainin auch zu Wilhelm Reich Stellung: „Der Briefwechsel (zwischen Ernest Jones, und Anna Freud, damalige Zentralsekretärin der I.P.V.; Anm. der Redaktion) wirft auch ein neues Licht auf die Affäre Reich. Anna Freud zitierte ihren Vater, den ‚… die Vergewaltigung der Analyse ins Politische …“ beleidige.
Und Reich formulierte seine Auffassung in einem Brief an Anna Freud folgendermaßen: ‚… daß die Psychoanalyse ein Kernelement des Kulturbolschewismus ist und als solches von der politischen Reaktion bekämpft wird …-. Für Jones und die englische Gruppe war das politische Engagement Reichs weniger entscheidend, sie fanden ganz einfach, daß Reich ‚… in presenting psychoanalysis to a new audience, is seriously misrepresenting it and is not qualified to be an official exponent or teacher of it … that his Lehranalysen there, or any group he might found, would not receive official recognition …‘. Dies klingt nicht so, als ob es um eine gesellschaftliche Frage ginge, bei anderen politisch links stehenden Analytikern wurde die Frage eines Ausschlusses nie erörtert.
So wurde Friedjung 1934 von den Austrofaschisten inhaftiert, auch Edith Buxbaum kam für kurze Zeit ins Gefängnis, was keinerlei Konsequenzen für ihre Zugehörigkeit zur psychoanalytischen Vereinigung hatte. Bei der Debatte um Reich ging es unter anderem um den Aufbau einer neuen analytischen Gruppe, zuerst in Dänemark und dann in Norwegen. Dabei achtete man auf die psychoanalytische Qualifikation. Das Problem mit Reich war ja gerade, daß er die Psychoanalyse verwässerte, indem er sie als Teil des ‚Kulturbolschewismus“ betrachtete.“
Diese Art der Darstellung fügt sich nahtlos in die „Dokumentation“ von Volker Friedrich („Die Freudianer auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern“) ein, die von Bernd Nitzschke sehr präzise analysiert und kritisiert wurde; Rechtfertigungen seien nicht die Mittel der Wahl zur Aufarbeitung der Geschichte.
Da die Ausstellung auf den Grundlagen der Nachforschungen Friedrichs beruhen, heißt es dort auch dementsprechend: „In Luzern hielt Reich noch einen Vortrag, dann wurde er nicht mehr als Mitglied der I.P.V. geführt. Ob es sich um einen Ausschluß oder Austritt handelte, ist nicht geklärt.“
Wenn man sich mit den Hintergründen vertraut macht – etwa mit dem Briefwechsel über (bzw. mit Reich) zwischen Anna Freud und Ernest Jones und zwischen Martin Freud (Leiter des Internationalen Psychoanalytischen Verlages; Anm. d. Red. ) und Wilhelm Reich, und wenn man erfährt, auf welche Art und Weise man Reich in der DGP jedwede Solidarität aufgekündigt hatte – er wurde aufgefordert die Institutsräume des DGP in Berlin nicht mehr zu betreten – und das alles bereits im Jahr 1933, also einem Jahr vor dem Luzerner Kongreß – und wenn man dazu noch erfährt, daß Reich kurz vor dem Kongreß bei Anna Freud nachfragte, weshalb sein Name im Kongreßkalender nicht aufscheint und sie darauf antwortet, daß sie „nichts davon wisse“, dann ist man doch sehr versucht von einer wohlvorbereiteten Intrige zu sprechen. Unter dem Druck der politischen Ereignisse ergab sich die beste Gelegenheit den kommunistischen Sexualanarchisten Reich aus der psychoanalytischen Vereinigung loszuwerden.
Hier kann nicht versucht werden, Einzelheiten dieses verwickelten Vorganges darzustellen. Reichs Ausschluß aus der I.P.V. war der bezeichnende Abschluß eines Kampfes, der begonnen hatte, als Reich erstmals seine Thesen zur Genitalität vortrug.
Schon etwa zehn Jahre vor seinem Ausschluß fand sich Reich zwar von Freud und den anderen, wesentlich älteren Analytikerkollegen, als hervorragender Kliniker quasi „schulterbeklopft“ anerkannt. Die meisten aber standen ihm reserviert gegenüber; einige – Reich nennt dabei Federn und Nunberg – waren schon damals gegen ihn eingenommen. Seinen Tatendrang kanalisierte man in Posten mit viel Arbeit und wenig Einfluß (Technisches Seminar, Psychoanalytisches Ambulatorium). Spätestensaber 1927, mit dem Erscheinen seines Buches „Die Funktion des Orgasmus“, war Reichs Position innerhalb der psychoanalytischen Bewegung bereits im Abseits.
Als Reich Sigmund Freud zum 70. Geburtstag, am 26. Mai 1926 das Manuskript seines Buches überreichte, etwa 200 Seiten, meinte Freud lapidar: „So dick?“ – In dem Interview mit dem New Yorker Analytiker Eissler („Reich speaks of Freud“) erinnert sich Reich, daß Theodor Reik damals an ihn herangetreten sei, um ihm zu sagen: 11 … daß er den Vortrag hervorragend fand, aber: „Ich möchte dieses Buch nicht geschrieben haben.“ Das war sein Kommentar. Ich glaube das charakterisiert die ganze Situation.
Neben den inhaltlichen Differenzen mit der Psychoanalyse Freuds, haben auch Reichs politische Betätigungen nur vordergründig eine Rolle gespielt. Die Feindseligkeit war schon vor seinem politischen Engagement da und überdauerte es bis heute.
Schließen wir wieder mit Bernd Nitzschke:
„Der Fall ‚Reich‘ ist offensichtlich noch immer nicht ausgestanden, denn dabei geht es stets auch um die Politik der organisierten internationalen Psychoanalyse gegenüber Hitler-Deutschland. Der Luzerner Kongreß im Jahre 1834 war ein Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Psychoanalyse, denn hier wurden – zunächst nur auf organisatorischer Ebene – die Weichen für das künftige Schicksal der Psychoanalyse, scheinbar nur in Deutschland, gestellt. Tatsächlich aber geschah mehr: Die Psychoanalyse entschied sich für ein Bündnis mit den Herrschenden – und seither steht die Frage zur Debatte, welche organisatorischen, praktischen und wissenschaftlichen Auswirkungen dieses noch längst nicht aufgearbeitete Trauma für die Psychoanalyse noch immer hat.
Die düsteren Wolken, die auf manchen der Bilder Gidals über Luzern und auch in den Gesichtern einzelner Kongreßteilnehmer zu sehen sind, liegen also bis heute über der Psychoanalyse selbst. Was damals geschah, mag im Rückblick verständlich, vielleicht gar verzeihlich sein, denn es ging bei all dem immer auch um Leben und Tod, und es steht den Nachgeborenen, in vergleichsweise sicheren Verhältnissen Lebenden, schlecht an, sich in der Gewißheit zu wiegen, sie hätten wohl entschiedener Widerstand geleistet als jene, deren Entscheidungen äußerst fragwürdig waren – und sind.
Aber diese Mahnung, sich selbst zu bescheiden, bedeutet nicht, noch heute gruppenspezifische Rechtfertigungsstrategien gutzuheißen und weiterzupflegen, deren Sinn es war und ist, eigenes Versagen zu bemänteln und die Schuld bei anderen zu suchen. Es ist nicht unser Verdienst, in einem Land zu leben, in dem derzeit die freie Rede vergleichsweise wenig bedroht ist; um so mehr sollten wir davon Gebrauch machen.“
Da die Fakten, die zum Ausschluß Wilhelm Reichs aus der I.P.V. führten durch Geschichtsfälschung von offiziellen Dokumentatoren der Psychoanalyse wie Ernest Jones, Peter Gay oder Volker Friedrich nicht gänzlich rekonstruierbar sind, lassen wir Reich selbst dazu Stellung nehmen. Der nachfolgende Text erschien 1935 in der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“, Band 2, Seite 54 bis 61.
DER AUSSCHLUSS WILHELM REICHS AUS DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Im Bericht des Zentralvorstandes der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 1935/1) fehlt die Darstellung eines peinlichen Ereignisses. Wir ergänzen daher den offiziellen Kongreßbericht zur Orientierung der Mitglieder der I.P.V.
Auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern (26.-31. August 1934) wurde Wilhelm Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Damit ist die erste Etappe eines schweren, 11 Jahre lang andauernden Kampfes um die korrekte naturwissenschaftliche Psychologie und Sexualtheorie abgeschlossen worden.
Eine ausführliche Darstellung der Motive dieses Ausschlusses und der Differenzen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung kann hier nicht gegeben werden. Wir sparen sie uns für den Zeitpunkt auf, in dem weitere voraussehbare Katastrophen in der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychoanalyse eine genaue historische Begründung erfahren werden. Hier soll nur kurz dargestellt werden, wie sich heute bürgerliche wissenschaftliche Vereine gegen die Arbeit von Forschern wehren, die bestrebt sind, die wissenschaftliche Forschung unbekümmert ernst zu nehmen.
Die Art in der der Ausschluß Wilhelm Reichs erfolgte, ist derart grotesk, daß sie dem Außenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird. Die Sexpol hat es sich zum Grundsatz gemacht, groteske, scheinbar sinnlose Methoden des Kampfes nicht einzelnen Funktionären von Organisationen zuzuschreiben, sondern immer wieder auf die objektiven Verhältnisse hinzuweisen, die hinter derartigen Persönlichen Methoden wirken. Es ist notwendig, wenn man den Ausschluß begreifen will, sich klarzumachen, in welch peinlicher Situation sich der derzeitige Vorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung befindet. Als Organisation hat er eine ihrem Wesen und theoretischen Ursprung nach revolutionäre Wissenschaft zu vertreten.
Doch die Vertreter dieser Organisation sind derart verwachsen mit der Ideologie und dem Lebensmilieu der Groß- und Mittelbourgeoisie, sind selbst derart überzeugt von der Unveränderlichkeit des heutigen Seins, daß sie mit ihrer eigenen Theorie in Konflikt geraten mußten: dies geschah in dem gleichen Maße, in dem sich die politische Situation in der Welt reaktionär gestaltete und jede korrekte wissenschaftliche Arbeit mit der Vernichtung der Existenz der Wissenschaftler bedrohte. Darüber hinaus hatten die führenden Vertreter der psychoanalytischen Bewegung niemals die Konsequenzen aus der psychoanalytischen Sexualtheorie und klinischen Erfahrung ziehen wollen.
Die Leitung der I.P.V. konnte gegen Wilhelm Reichs wissenschaftliche und klinische Anschauungen nichts einwenden. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre wurde seine Arbeit (Genitalitätslehre und Charakteranalyse) von einer großen Anzahl von Mitgliedern der I.P.V. als konsequente Fortführung der ursprünglichen revolutionären Lehre Freuds betrachtet. Mit guter Begründung konnte man ihn also nicht ausschließen. Man forderte daher schon seit Jahren, daß er freiwillig austrete. Reich wies das zurück und erklärte, daß er niemals freiwillig austreten werde. Da bot sich in einem Durcheinander von Mißverständnissen die Gelegenheit, sich von der schweren Belastung, die Reich für die I.P.V. bedeutete, zu befreien. Die ursprüngliche Absicht, die Gesellschaftsfähigkeit der Psychoanalyse unauffällig und leise zu sichern, mißlang allerdings.
Reich erhielt vor dem Kongreß folgenden Brief:
Sehr geehrter Herr Kollege!
Der Verlag will zum Kongreß einen Kalender mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung herausbringen. Die Situation läßt es nun dringend geboten erscheinen, daß Ihr Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht enthalten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gegebenen Verständnis entgegenbringen, die etwaige persönliche Empfindlichkeit im Interesse unserer psychoanalytischen Sache in Deutschland zurückstellen und sich mit dieser Maßnahme einverstanden erklären würden. Sie sind als wissenschaftliche und schriftstellerische Potenz in der internationalen psychoanalytischen Gelehrtenwelt zu bekannt, als daß Ihnen, wie einem Neuling etwa, durch diesen Fortfall der geringste Schaden erwachsen könnte. Und überdies wird mit der Anerkennung der Skandinavier-Gruppe auf dem Kongreß und Ihrem zukünftigen Erscheinen in der Liste dieser neuen Gruppe das jetzige Problem gegenstandslos werden. Darf ich Sie um umgehende Äußerung bitten?
Reich antwortete mit einem ausdrücklichen Protest gegen die geplante Maßnahme und schrieb gleichzeitig an das Zentralsekretariat der I.P.V. folgenden Brief:
Sehr geehrtes Frl. Freud!
Ich erhalte heute die Mitteilung, daß im jetzt erscheinenden Taschenkalender mein Name ausgelassen wurde. Man gibt mir davon indirekt Kenntnis und erwartet, daß ich „sine ira auf Anführung verzichten“ werde. Mir ist dabei sehr vieles unverständlich und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären könnten, welchen Sinn diese Maßnahme hat.
Zunächst weiß ich nicht, ob der Akzent in der fraglichen Mitteilung auf „sine ira“ oder auf „verzichten“ liegt. Es ist mir auch ein Rätsel, weshalb man sich nicht direkt an mich in einer derart entscheidenden Frage wandte, vorausgesetzt, daß als Beweggrund nicht mehr in Frage kommt als gewisse taktische Rücksichten. Mir ist weiter unerklärlich, was man dadurch zu erzielen hoffte, da ich doch zum Kongreß einen Vortrag angemeldet habe und ich keine Möglichkeit sehe, mich dort vor der deutschen Öffentlichkeit zu verstecken.
Daß man, noch immer nur „gewisse“ Rücksichten vorausgesetzt, nicht zur Auskunft griff, mich in eine andere Gruppe zu übertragen, daß überhaupt derartiges ohne mein Wissen, hinter meinem Rücken geschieht, macht es mir wahrscheinlich, daß sehr Peinliches im Gange ist. Der Welt muß die Auslassung meines Namens ein Zeichen sein, daß ich entweder ausgeschlossen wurde oder selbst austrat. Da ich das Letzte nicht beabsichtige, das Erste meines Wissens nicht zutrifft, kann der eingeschlagene Weg, aus der Schwierigkeit herauszufinden, kaum zum Ziele ihrer Bereinigung führen.
Ich hatte schon im vergangenen Jahre Gelegenheit zu zeigen, daß ich tiefes Verständnis für die Verlegenheit, die ich darstelle, habe, trotzdem aber aus sachlichen Gründen nichts selbst dazutun kann, sie zu beheben. Ich bitte Sie daher mir mitzuteilen, ob die Auslassung meines Namens mit Wissen des Zentralvorstandes erfolgte, wenn ja, welche Gründe dafür sprachen und weshalb ich davon nicht verständigt wurde; es ist für mich auch wichtig zu erfahren, welche Beziehung diese Maßnahme zu meiner Mitgliedschaft in der I.P.V. hat.
Ich bitte Sie gleichzeitig, dem Vorstand der I.P.V. mitzuteilen, daß ich gegen diese Maßnahme protestiere und noch einmal ersuche, die bestehenden Differenzen und schwebenden Fragen wie üblich vor der Öffentlichkeit unserer Leser- und Mitgliedschaft auszutragen. So peinlich die Umstände und der Zwang der Verhältnisse auch sein mögen, und zwar für alle Teile: Ich muß mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden. Die uns alle bewegenden, in mancher Hinsicht sowohl für die Zukunft der Psychoanalyse wie die ihres Forschungsgebietes entscheidenden Erörterungen brauchen das Licht der Welt nicht zu scheuen.
Am 8. August erhielt Reich von Anna Freud folgenden Bescheid:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Das Kongreßprogramm ist eben in Druck und wird erst in den nächsten Tagen an die Mitglieder verschickt werden. Die Verständigung, wann Ihr eigener Vortrag angesetzt ist, haben Sie sicher inzwischen erhalten.
Ihre Beschwerde gegen die Deutsche Vereinigung leite ich mit gleicher Post an Dr. Jones weiter. Mir war von der ganzen Angelegenheit nicht das mindeste bekannt, ich frage Jones, ob er etwas davon gewußt hat. Er wird Ihen direkt Nachricht geben.
Am Vorabend des Kongresses traf Reich zufällig ein Mitglied des internationalen Vorstands in der Halle des Kongreßsaales. Dieser teilte Reich privat folgendes mit: Vor acht Tagen hatte die Deutsche Psychaoanalytische Vereinigung den Ausschluß Reichs beschlossen. Dieser Beschluß sei tatsächlich durchgeführt worden, bedeute aber „nur eine Formalität“, da man mit Bestimmtheit damit rechne, daß die Aufnahme der skandinavischen Gruppe auch die Frage der Mitgliedschaft Reichs in befriedigender Weise lösen werde. Kurz darauf erfuhr Reich, daß der frühere Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und des Internationalen Lehrausschusses, Max Eitingon, schon vor einem Jahr in einer geheimen Vorstandssitzung den Ausschluß Reichs aus der deutschen Vereinigung -und damit auch aus der internationalen – durchgesetzt hatte.
Von diesem Beschluß hatte bis zum Kongreß niemand etwas erfahren. Als der Ausschluß Reichs bekannt wurde, reagierten die anwesenden Kongreßteilnehmer teils mit Unglauben, teils mit Empörung, teils mit der tröstlichen Stellungnahme, das ganze wäre ja nur eine Formalität und Reich würde jederzeit in die skandinavische Gruppe aufgenommen werden. Niemand zweifelte daran, daß der Vorstand der I.P.V den Ausschluß nicht bestätigen werde. Doch es stellte sich sehr bald heraus, daß der Ausschluß Reichs durch den Vorstand der I.P.V. bestätigt war.
Entscheidend war in der ganzen Frage die Haltung der Norweger. Der Vorstand der I.P.V. versuchte die Aufnahme der norwegischen Gruppe mit der Bedingung zu verknüpfen, daß sie sich verpflichten sollte, Reich nicht als Mitglied aufzunehmen. Doch die Norweger vertraten den korrekten Standpunkt: „Wir lassen uns keine Bedingungen diktieren. Entscheidet, ob ihr uns aufnehmt oder nicht. Wenn ihr uns nicht aufnehmt, dann treten wir aus.“ Das scharfe und aufrechte Auftreten der anwesenden Norweger (Schjelderup, Hoel, Raknes) machte großen Eindruck und schüchterte den Vorstand ein. Sie wurden als Orstgruppe der I.P.V. ohne jede Bedingung eingegliedert; doch die schwedische Gruppe wurde von der norwegischen getrennt, um sie dem Einfluß Reichs zu entziehen. Reich hielt nach seinem Ausschluß sein Referat nur mehr als Gast.
Man darf ruhig sagen, daß der Kongreß völlig unter dem Eindrucke dieser peinlichen Affäre stand.
Am Vorabend der Geschäftssitzung wurde, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, eine gemeinsame Sitzung mit je einem Vertreter der verschiedenen Ortsgruppen und Reich unter dem Vorsitz von Anna Freud abgehalten, in der man „Reichs Argumente hören wollte“. Das ganze war eine Geste, denn man kannte seine Argumente sehr gut. Reich konnte dort nur wiederholen, was er in seinen Schriften und in seiner Korrespondenz mit den I.P.V-Funktionären seit Jahren vertreten hatte: Der Forderung des I.P.V.-Vorstandes, freiwillig auszutreten, könne er nicht Folge leisten. Wenn der I.P.V.-Vorstand ihn ausschloß, so könne er dagegen nichts unternehmen. Er verstände zwar den bereits vollzogenen Ausschluß vom Standpunkt der Todestrieb-Theoretiker durchaus, denn seine eigenen Anschauungen hätten sich so weit von den heutigen offiziellen Lehrmeinungen entfernt, daß ein gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich wäre.
Er erklärte aber gleichzeitig, daß er sich als den konsequentesten und legitimsten Vertreter und Fortsetzer der ursprünglichen klinisch-naturwissenschaftlichen Psychoanalyse betrachte und von diesem Standpunkt aus den Ausschluß nicht anerkennen könne. Die Nichtanerkennung des Ausschlusses durch ihn hätte zwar keinerlei organisatorisches Gewicht; doch er müsse darauf bestehen, daß die Gründe des Ausschlusses im offiziellen Organ der I.P.V. publiziert werden. Dies wurde zugesagt, aber nicht eingehalten. Daß sich später das Gerücht verbreitete, der Vorstand hätte sich mit Reich bezüglich „des Austritts geeinigt“, entsprach nur der tiefen Verlegenheit, die der bereits vor einem Jahr vollzogene Ausschluß für alle Beteiligten bildete.
Die meisten Kollegen in der I.P.V., mit denen Reich seit 16 Jahren in engem persönlichen bzw. sachlichen Kontakt gestanden hatte, trösteten sich über das ganze mit der bereits erwähnten Auskunft hinweg, daß es sich ja nur um eine formale Angelegenheit handle und der Wiedereintritt in die I.P.V. durch die norwegische Vereinigung möglich wäre. Die Vertreter der norwegischen Gruppe erklärten Reich gegenüber, daß er Mitglied ihrer Vereinigung werden könne. Reich entgegnete, daß er sich die Vor- und Nachteile eines Wiedereintrittes überlegen müßte, jetzt noch nichts sagen könne, daß er sich aber verpflichtet fühle, die norwegischen Mitglieder auf die Komplikation aufmerksam zu machen, die seine Wiederaufnahme für sie als Gruppe bedeuten würde. Es ist besonders hervorzuheben, daß zahlreiche Mitglieder sämtlicher Ortsgruppen der Welt, die am Kongreß anwesend waren, es für eine Selbstverständlichkeit hielten, daß Reich wieder Mitglied werde.
Zu erwähnen ist noch das komplette Versagen der Opposition, die sich auf Anregung Reichs unter Führung von Otto Fenichel gebildet hatte. Fenichel war den Anforderungen der Situation, die offenes und mutiges Auftreten erforderte, in keiner Weise gewachsen. Es zeigte sich, daß bürgerliche Psychoanalytiker, die keinen Anspruch erheben, dialektische Materialisten genannt zu werden und nur fachlich mit der heutigen Richtung der Psychoanalyse unzufrieden sind, viel eindeutiger waren als diejenigen, die sich dazu berufen fühlten, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Fenichel fiel später vollständig um, als er mit allen Mitteln gegen die Wiederaufnahme Reichs in die norwegische Gruppe agierte.
An dieser Stelle muß ausdrücklich betont werden, daß die dialektisch-materialistische Psychologie vollkommen identisch ist mit der personellen Sexualökonomie und daß niemand das Recht hat, sich dialektisch-materialistischer Psychoanalytiker zu nennen, wenn er nicht auch die Konsequenzen zu tragen bereit ist, die mit der Vertretung der Theorie der Sexualökonomie verknüpft sind. Die Sexpol lehnt jede Verantwortung für die von Fenichel unter der Bezeichnung „dialektisch-materialistische Psychologie“ vertretene Anschauung ab.
Die peinliche Rolle, die dabei Fenichel spielte, erfuhr noch eine Verschärfung. In der IMAGO (1934, 4. Heft) erschien von Redakteur ROBERT WÄLDER im Auftrage der Leitung der I.P.V. eine längere Besprechung der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ (Herausgeber Ernst Paroli), die mit folgenden Sätzen endet:
„Es hat schon viele Richtungen gegeben, welche sich der Psychoanalyse bedienen, ihr mehr oder weniger große Stücke unter Ablehnung anderer entnehmen, andere für ihre Zwecke modifizieren und präparieren, nach der Parole: ‚Herausbrechen und anderswo einfügen‘. Wie ist es zu rechtfertigen, gerade dem vorliegenden Unternehmen an dieser Stelle so viel Aufmerksamkeit zu widmen? Nun, an der Spitze steht ein Mann, der durch eine Reihe von Jahren durch seine klinischen Beiträge verdienstlich gewirkt hat. Seine Arbeiten haben, wenngleich vielfach schematisierend, doch insgesamt befruchtend gewirkt.
Die Wiederbelebung des allmählich in Vergessenheit geratenen Gedankens vom aktualneurotischen Kern der Psychoneurosen; der Rat, in der klinischen Analyse stets von der oberflächlichsten Schichte, vom behaviour, auszugehen und erst allmählich, ohne Kurzschluß, zum Unbewußten vorzudringen; die häufige Mahnung an das Vorkommen der im Bilde einer positiven Übertragung auftretenden latenten negativen Übertragung, die gewiß leicht übersehen wird; der – in dieser Form übertriebene – Rat, in Widerstandssituationen sich der Analyse der Widerstandsmotive zu widmen und das etwa gleichzeitig ausströmende Material beiseite zu lassen; dies und manches andere hat die Diskussionen zu Fragen der Technik vielfach belebt und es gibt viele, die diesen Anregungen Reichs für ihre technische Sicherheit viel zu danken haben.
Aber die Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muß denn in aller Klarheit gesagt werden, daß die hier vorliegenden ‚wissenschaftlichen‘ Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, daß niemand, der REICH auf seinem Wege folgt mehr das Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen, als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalytischen Gedankenguts, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für ihre Zwecke verwenden.“
In der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ hatte Otto Fenichel (1. Nummer) einen Aufsatz „Die Psychoanalyse als Keim einer dialektischen materialistischen Psychologie“ publiziert. In der scharfen Ablehnung der Zeitschrift und ihrer Autoren, die mit Namen angeführt werden, wie Reich und Parell, fehlt der Name Otto Fenichel, und auch sein Aufsatz war nicht erwähnt. Die Zukunft wird zeigen, ob die Anschauung, die die Sexpol über diese Tatsache gebildet hat, zurecht besteht.
Klar ist jedoch, daß die I.P.V.-Leitung mit ihrer Warnung, Reich auf seinem Weg zu folgen vollständig Recht hat. Denn Reich hat die Todestrieblehre, die bürgerlichen Moralanschauungen, die Inkonsequenz zwischen Theorie und Praxis, die Akademismen und die Grundeigenschaft jeder bürgerlichen Wissenschaft, von den Hauptproblemen durch spitzfindige Detailierung nebensächlicher Fragen abzulenken, über Bord geworfen. Er hat aus dem Gebäude der Psychoanalyse gerade das „herausgebrochen“, was ihr nicht nur die Feindschaft der Welt im Beginne eingetragen hatte, sondern ihr auch eine große Zukunft sichert: Die Lehre vom Unbewußten, die Lehre von der kindlichen Sexualität, die Lehre von der Verdrängung und vom Widerstand, die Lehre vom somatischen Kern der Neurose, die Lehre vom Gegensatz zwischen Trieb und Außenwelt etc. Diese aus dem Lehrgebäude der Psychoanalyse „herausgebrochenen“ Stücke erfahren durch die charakteranalytischen und sexualökonomischen
Spezialisten der Sexpol auf klarer dialektisch-materialistischer Basis gerade die konsequenteste theoretische und praktische Durchführung. Reichs Orgasmuslehre ergänzte diese Kernstücke einer revolutionär naturwissenschaftlichen Psychologie um den Gesichtspunkt der Ökonomie des Seelenlebens und schuf ein tragfähiges Gegengewicht gegen die metaphysischen Theorien vom biologischen Willen zum Leiden. Seine Theorie der Therapie und charakteranalytischen Technik legten die ersten Grundlagen der künftigen Neurosenprophylaxe. Seine Theorie der Sexualökonomie brach endgültig mit der sexuellen Verschämtheit der offiziellen Psychoanalyse, indem sie den Widerspruch zwischen Natur und Kultur theoretisch auflöst.
Der Auschluß Wilhelm Reichs erfolgte laut der Erklärung der Zentralsekretärin der I.P.V., Frl. Anna Freud, nicht wegen seiner eigenen wissenschaftlichen Entdeckungen und Anschauungen, die zu vielen Theorien und Anschauungen Freuds im Gegensatz stehen (Orgasmustheorie und Charakteranalyse), auch nicht wegen seiner revolutionären Gesinnung, denn es gäbe, wie gesagt wurde, viele Analytiker in der I.P.V. trotz abweichender wissenschaftlicher Theorien oder trotz kommunistischer Gesinnung.
Die Trennung von Reich sei notwendig wegen der spezifischen Art, in der er aus der wissenschaftlichen Arbeit politische Konsequenzen ziehe. Gemeint war die Sexualpolitik. Diese Konsequenzen und die Vereinigung von Wissenschaft und Politik wären für die I.P.V. untragbar. In der Kritik der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ hebt Wälder aus der Einführung der Redaktion der Sexpol folgenden Passus ablehnend hervor:
„Die Trennung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Weltanschauung oder Politik lehnen wir ab. Wir wollen der bewußt reaktionären Wissenschaft eine bewußt revolutionäre entgegenstellen, die sich zu den Zielen der Arbeiterbewegung offen bekennt und sich in deren Dienst stellt. Wir werden mit Leichtigkeit beweisen können, daß wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, nichts anderes zu tun haben, als voraussetzungslos wissenschaftliche Arbeit zu betreiben: dagegen muß der reaktionär gesinnte Wissenschaftler, um seine soziologische Rolle zu erfüllen, die Wahrheit verhüllen, abbiegen, mit Mystik durchsetzen, kurz solchermaßen die primitivsten Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeit verleugnen.
Wir werden mit der gleichen Leichtigkeit nachweisen können, daß die Trennung von Sein und Sollen künstlich ist, daß das Sollen mit Eigengesetzlichkeit aus der Erkenntnis des Seins hervorgeht, was nur durch Bruch mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit verhindert wird. Konsequente unbeirrte Wissenschaft ist an sich revolutionär, entwickelt automatisch praktische Konsequenzen, und die sozialistische Politik ist im Grunde nichts anderes als die Praxis der wissenschaftlichen Weltanschauung.“
WÄLDER ist offizieller Redakteur der „Imago“. Die I.P.V. trägt daher die Verantwortung für folgende Sätze:
„Politik und Psychologie sind hier in eine unklare Symbiose getreten. Wir sind sicher, daß die Psychologie dabei nicht zu gewinnen hat.
Wir treffen hier auf die zuerst vom Marxismus daß Erkenntnis stets Ausdruck eines Seins ist propagierte, später von anderen politischen Richtungen in ihrer Weise übernommene Formel, und auch Ausdruck eines Seins sein soll; die wahre, echte Erkenntnis ist dann im Sinne dieser Theorie diejenige, in der das eigene Sein zum Ausdruck kommt. In der marxistischen Literatur, zu der die vorliegende Zeitschrift zählt, ist die sogenannte proletarische Wissenschaft mit dem Index der Echtheit versehen.
In anderen, neueren Richtungen wird mit nicht geringer Sinnwidrigkeit jene Wissenschaft für die echte gehalten, welche Ausdruck eines anderen, nicht ökonomisch, sondern irgendwie anders, etwa national, angesetzten Seins ist_ All diesen Theorien fehlt die Einsicht in den Sachverhalt, daß es Wissenschaft, Erkenntnis vom Gegenstand, nur insoweit gibt, als das erkennende Subjekt sein Sein transzendiert. Wissenschaft ist, möchte man sagen, wesensmäßig bodenlos. Freilich bricht der Ausdruck des Subjektiven in die Erkenntnis des Objektiven, das Ausdrucksfeld in das Darstellungsfeld ein; aber das ist eine Fehlerquelle wissenschaftlicher Arbeit.“
Wie vornehm läßt sich doch derart transzendiert reden! Wie harmlos ersetzt der objektive, unpolitische Wissenschaftler Robert Wälder das Wörtchen „Sein“ durch „eigenes Sein“, um dann „bodenlose“ Wissenschaft betreiben zu können! Doch, reden wir nicht vom Transzendieren, sondern fragen wir Wälder, ob Aichhorn sein Sein transzendiert hatte, als er in einem grundlegenden Buche über die verwahrloste Jugend in geschicktester Weise die Frage der genitalen Konflikte und Nöte der Jugend umging; ob das Sein transzendiert war, als die Todestrieblehre geschaffen wurde; ob Laforgues Lehre, die Polizei diene der Befriedigung des Strafbedürfnisses der Masse, einer solchen Transzendieruns entspricht; oder die Lehre, daß „die Kultur“ die Sexualunterdrückung fordere; oder Glovers These, die Kriege könnten vermieden werden, wenn man die Diplomaten analysierte; oder Roheims Theorie, daß „die Frau eigentlich nur befriedigt wird, wenn sie nach dem Geschlechtsverkehr an einer Entzündung erkrankt“; oder ist es ein Zeichen bodenlos transzendierter Wissenschaft, wenn man nicht den Mut aufbringt, offen der Kritik Reichs an der heutigen Psychoanalyse entgegenzutreten und sich hinter geschäftsordnungsmäßigen Formalismen verschanzt?
Niemand ist es übelzunehmen, wenn er sich in dieser korrupten und gefährlichen Zeit schützt.
Doch gegen die Usurpation der wissenschaftlichen Kompetenz durch transzendierte Wissenschaftler muß man sich energisch wehren. Wissenschaft ist kein Bridgespiel in einem anheimelnden Salon. Wälder hole sich die Bestätigung dieser Ansicht bei Freud selbst!
Es ist nicht Ahnungslosigkeit, sondern entspricht völlig dem Geiste, der gegenwärtig die I.P.V. beherrscht, daß ein offizieller Redakteur einer sich radikal nennenden wissenschaftlichen Organisation Karl Marx in einem Atemzuge mit Hitler, Engels, Bebel, Karl Liebknecht, Lenin, Rosa Luxemburg in einem Atemzuge mit Göbbels, Göring, Julius Streicher zu nennen wagt. Es ist durchaus ein Problem der Sozialpathologie, daß die Richtung, deren Sprachrohr Wälder ist, sich ebenso benimmt, wie die Gruppe der sogenannten „deutschen Juden“. Man wird zwar geprügelt, bleibt aber vornehm dabei. Zwar wurden Freuds Bücher von Adolf Hitler verbrannt, zwar tritt die deutsche Psychotherapie unter der Führung C.G. Jungs in echt nationalsozialistischer Weise gegen den Juden und „Untermenschen“ Sigmund Freud auf, zwar findet die Psychoanalyse Freuds, soweit sie naturwissenschaftlich ist, immer mehr Anerkennung und echte, mehrhafte, verständnisvolle Vertretung im Lager der revolutionären Bewegung, aber man bleibt vornehm. Man sitzt zwischen den Stühlen und beruhigt sich mit objektivem Geist.
Die 1.P.V. ist die Organisation, die die Pflege der Freudschen Naturwissenschaft zur Aufgabe hat. Die sozialistische revolutionäre Bewegung der Welt muß sich zur Bewältigung ihrer riesenhaften Aufgaben im Kampf gegen Mystizismus, Borniertheit und Untertanentum alles zu eigen machen, was die bürgerliche Welt an Erkenntnissen produziert. Wir wissen, daß der Naturwissenschaftler Freud mit dem bürgerlichen Kulturphilosophen Freud in schwere Konflikte geriet. Es gilt jenen gegen diesen zu schützen, seine Arbeit fortzuführen und in den Dienst der sozialistischen Freiheitsbewegung zu stellen.
Es gilt, der sozialistischen Bewegung der Welt ein Heer klinisch gut geschulter, zum Kampfe gegen den Mystizismus in jeder Form entschlossener Psychologen, Pädagogen und Psychotherapeuten theoretisch und praktisch vorzubereiten; der künftigen Sexualhygiene der Masse der Erdbevölkerung eine sichere Basis zu schaffen; der nationalistischen und ethisierenden Psychologie a’la Jung eine dialektisch-materialistische, das heißt naturwissenschaftliche Psychologie entgegenzustellen; die Lustangst der Menschen zu begreifen und zu zerstören; die Strukturforschung zu derart brauchbaren Ergebnissen zu führen, daß sich daraus praktisch die sozialistische Umstrukturierung der Menschen ergibt; die antireligiösen Triebkräfte, d.h. die sexuellen Lebensansprüche gegen die mystischen, den Menschen beherrschenden Neigungen zu entfalten; kurz, es gibt reichlich wichtige und unerläßliche Aufgaben.
Darum geht es im wesentlichen und nicht etwa um die Borniertheit eines Redakteurs, der Karl Marx und Adolf Hitler auf eine Stufe stellt. Aus eben dem gleichen Grund mahnen wir die wenigen Psychoanalytiker, die sich Sozialisten nennen, nicht darauf zu vergessen, daß eine Naturwissenschaft für einen Sozialisten nur insofern Bedeutung hat, als sie – früher oder später – der rational bewußten Gestaltung des gesellschaftlichen Daseins zu dienen vermag. Denjenigen Psychoanalytikern, die erklären, Freunde der Sexpol zu sein, wollen wir hier in freundschaftlicher Weise, aber hoffentlich endgültig klarmachen, daß es nicht darauf ankommt, „freundschaftliche Gefühle“ zu hegen, sondern praktische Hilfe und Arbeit zu leisten, unbeirrt selbst als Naturwissenschaft jede Zukunft rauben.
Wer dies aus strukturellen oder sozialen Gründen nicht zu leisten vermag, der stehe still beiseite. Niemand wird ihm seine Passivität übel nehmen, aber wer unter der Maske der Freundschaft sabotiert, sich auf den berühmten „objektiven Standpunkt“ zurückzieht, um dann plötzlich gegen uns aggressiv zu werden, wer schließlich ein schlechtes Gewissen, das er der wissenschaftlichen Arbeit und der sozialistischen Bewegung gegenüber bekommt, mit Ausreden und „Theorien“ zu verhüllen versucht, wird von uns ohne jede Rücksicht bekämpft und vor der Öffentlichkeit bloßgestellt werden. Letzten Endes werden sie – wir fürchten zu spät – erkennen, daß ihnen die Vorsicht und das ebenso berühmte taktische Verhalten gar nichts genützt haben.
Sie werden erkennen, daß es in dieser Zeit, die von jedem alles erfordert, nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder im Lager der politischen Reaktion moralisch und wissenschaftlich zugrunde gerichtet weiterzubestehen, oder aber mit den Konsequenzen zu rechnen, die eine revolutionäre wissenschaftliche Arbeit heute mit sich bringt. Wir haben es‘ gelernt, von niemand mehr zu fordern, als er geben kann, aber man kann von uns nicht verlangen, daß wir uns die Unanständigkeiten und Feindseligkeiten zahm gefallen lassen, die sich aus einer unehrlichen Einstellung heute mit Notwendigkeit ergeben. Wer glaubt, die revolutionäre Bewegung täuschen zu können, irrt. Es gibt Situationen im Kampf, die den Unehrlichen unweigerlich entlarven und vernichten. Es ist daher auch im Interesse der Arbeiterbewegung gelegen, wenn jeder rechtzeitig die Grenzen seiner Möglichkeiten erkennt und sich danach richtet.
Die Leitung der I.P.V. hat die reaktionären Strömungen der heutigen Zeit auf ihrer Seite. Die Sexpol kämpft gegen den Strom. Doch die Geschichte lehrt, daß reaktionäre Zeitströmungen -und mögen sie noch so eindrucksvoll sein – auch vergehen. Eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform, wird die heutigen Vertreter der Wissenschaft und ihre ergebenen Funktionäre in nicht geringe Verlegenheit stürzen.
Hier besteht weiter zurecht, was Wilhelm Reich am 17.3.1933, wenige Wochen nach der Machtergreifung Hitlers an die Leitung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages schrieb:
„Gestern teilte mir der Verlagsleiter, Herr Dr. Freud, mit, daß auf Beschluß der Verlagskommission und der Verlagsinhaber der Vertrag, wonach mein Buch „Charakteranalyse“ im Verlag demnächst herauskommen sollte, rückgängig gemacht wird. Begründet wurde dieser Beschluß mit der Rücksicht auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, die es nicht angebracht erscheinen ließen, meinen kompromittierten Namen neuerdings offiziell zu vertreten. Ich sehe in meiner Stellungnahme dazu von meinen Rechten als eingeschriebenes und aktives Mitglied der I.P.V. vollkommen ab, vermag sogar den Standpunkt der Kommission und der Inhaber als Vorsichtsmaßnahme zu begreifen, wenn auch als wissenschaftlicher Arbeiter nicht zu billigen. Darüber hinaus sehe ich mich aber verpflichtet, im Namen der psychoanalytischen Bewegung bzw. eines Teiles dieser Bewegung auf die Illusionen aufmerksam zu machen, denen sich die Leitung und Verlagskommission hinzugeben scheinen:
1) Die politische Reaktion identifiziert schon lange die Psychoanalyse mit dem „Kulturbolschewismus“, und zwar mit Recht. Die Entdeckungen der Psychoanalyse widersprechen restlos der
nationalistischen Ideologien und bedeuten eine Gefahr für deren Bestand. Es ist vollkommen gleichgültig, ob die Vertreter der Psychoanalyse nunmehr diese oder jene Schutzmaßnahme ergreifen, ob sie sich von der wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen oder diese den herrschenden Verhältnissen anpassen werden. Der soziologisch-kulturpolitische Charakter der Psychoanalyse läßt sich durch keinerlei Maßnahme aus der Welt schaffen. Der Charakter ihrer Entdeckungen (kindliche Sexualität, Sexualverdrängung, Sexualität und Religion) macht sie vielmehr zu einem Todfeind der politischen Reaktion. Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben an eine „unpolitische“, das heißt der Politik völlig disparate Natur der Wissenschaft verstecken: Das wird nur der wissenschaftlichen Forschung schaden, aber die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo sie in der Tat liegen und dementsprechend zu bekämpfen (z.B. Verbrennung der Bücher Freuds).
2) Da die Psychoanalyse nach übereinstimmender Ansicht ihrer Vertreter über die medizinischen Aufgaben hinaus kulturpolitische Bedeutung hat und in den bevorstehenden gesellschaftlichen Kämpfen um die Neuordnung der Gesellschaft. eine entscheidende Rolle spielen wird, gewiß nicht auf Seite der politischen Reaktion, bedeutet jeder Versuch einer Anpassung oder Verhüllung des Wesens der Bewegung sinnlose Selbstaufopferung: Und dies umso mehr, als eine starke Gruppe von Analytikern entschlossen ist, den kulturpolitischen Kampf nicht aufzugeben, sondern weiterzuführen. Die Existenz dieser Gruppe, gleichgültig ob innerhalb oder außerhalb der I.P.V., ist politisch kompromittierend, auch wenn ihre Hauptvertreter physisch vernichtet werden sollten. Ich sehe keine Möglichkeit für die Leitung der I.P.V., sich von dieser Gruppe abzugrenzen, da sie vollständig und – im Gegensatz zu anderen Gruppen – in voller Konsequenz auf dem Boden der psychoanalytischen Entdeckungen steht.
3) So schwierig und kompliziert die Beziehungen der Psychoanalyse zur revolutionären Arbeiterbewegung sind, so ungewiß in ihrem Endausgang die Auseinandersetzung zwischen Psychoanalyse und Marxismus auch ist, – an der Tatsache, die objektiv und von persönlichen Stellungnahmen unabhängig ist, daß die analytische Theorie revolutionär und ihr Platz daher auf Seite der Arbeiterbewegung ist, läßt sich von niemand rütteln. Ich sehe daher die wichtigste Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern. Erste Voraussetzung dazu bleibt, sich keinen Illusionen hinzugeben, zu wissen, daß die oft genannten Güter der Kultur nur
eine Sachverwalterin haben, die Arbeiterklasse und die zu ihr stehende Intelligenz, die derzeit im deutschen Reiche schweres, blutiges Lehrgeld zahlen. Der geschichtliche Prozeß hat mit Hitler keineswegs seinen Abschluß gefunden. Wenn jemals der Nachweis der historischen Daseinsberechtigung der Psychoanalyse und ihrer soziologischen Funktion erforderlich war: Die jetzige Phase der geschichtlichen Entwicklung muß ihn erbringen.“
Das Buch zur Ausstellung:
1) Tim N. Gidal: „Die Freudianer auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern“. Mit einem dokumetarischen Anhang von Volker Friedrich; Verlag Internationale Psychoanalyse, München 1990, 184 S., Abb., DM 98.-
31 Mai
Bukumatula 2/1994
Ich war derjenige, der unbehaglich in der Kultur war
Beatrix Teichmann-Wirth:
Dr. Reich
Wie weit wollen Sie in die Geheimnisse der Psychoanalyse eindringen? Wollen Sie alles wissen?
Dr. Eissler
Sicher, ich meine …
Dr. Reich
Sie denken, es sollte keine Einschränkungen geben?
Dr. Eissler
Keine Einschränkungen.
Dr. Reich
Ich denke genauso.
Dr. Eissler
Ich glaube, es wird alles verständlicher, wenn Sie mit 1919 beginnen, als Sie Freud kennenlernten.
Dr. Reich
Einen Moment! Das geht von 1919 durchgängig bis 1950. Das ist alles aus einem Stück.
Dr. Eissler
Aber Sie sollten mit 1919 beginnen.
Dr. Reich
Ja, ich fange mit der Verzweiflung an.
* Zit. aus dem Buch „Reich Speaks of Freud“. Hrsg. Marv Higgins, Chester Raphael; New York, 1967.
Eindringlich und bisweilen drängend gestaltet sich das Interview über weite Passagen, welches Eissler mit Reich 1952 führte.
Reichs Bemühen um Genauigkeit in der Wortwahl und sein Bestreben, es nicht bei einer uneindeutigen Rezeption seiner Theorien und Aussagen zu belassen, sind erkennbar in den immer wiederkehrenden Fragen „Verstehen Sie mich?“, „Ist das jetzt klar?“. Seitenweise findet man vom Interviewer nur ein knappes „Ja“ bzw. kurze Einwürfe, was den Eindruck erwecken könnte, dieser sei durch die offensichtlich starke Präsenz Reichs an die Wand gespielt. Doch der/die Leserin versteht, wenn Eissler an einer Stelle sagt: „Sie sprechen so faszinierend, daß ich nicht merke, wie die Zeit vergeht“.
Das Buch ist eine Fundgrube. Ist das Interview doch zu einem späteren Zeitpunkt in Reichs Leben – fünf Jahre vor seinem Tod – geführt worden und läßt daher deutlich werden, wo Reich angekommen ist.
Es scheint, als habe er die Hoffnung auf Heilung der Menschen durch individuelle Therapie hinter sich gelassen, weiß darum, daß man bei der Durchsetzung von Lebensbedingungen nicht die Politik bemühen darf und hat auch die Psychoanalyse jenseits der Libidotheorie hinter sich gelassen.
Demgegenüber meint er, daß unsere Bemühungen der Neurosenprophylaxe in der Arbeit mit Müttern, Säuglingen und Kleinkindern gelten sollten und daß es auf naturwissenschaftlicher Basis um die Erforschung der Frage „Was ist Leben?“ gehen muß.
So gestaltet sich, unterstützt durch die knappe Form des Buches das Interview als eine Sammlung von Essenzen. Die Intensität wird durch die direkte Anwesenheit eines Gegenübers noch gefördert und die Aufregung übersteigt dadurch das Maß, welches mich bei der Lektüre Reichscher Werke, welche anonym adressiert sind, erfaßt.
Ich möchte im folgenden so weit wie möglich Reich für sich sprechen lassen, um auch die Spannung zu erhalten, werde die Zitate also nur dann kommentieren, um Verbindungen herzustellen, wenn dies um der Verständlichkeit willen angebracht erscheint bzw. dann, wenn – und dies geschah bisweilen -, ich meiner Empörung darüber Ausdruck verleihen mußte, daß so vieles von dem von Reich Gesagten mißverstanden, entstellt, mißachtet bzw. zumindest unberücksichtigt blieb. Und dies bis jetzt.
„Er war ein großer Mann, ein sehr großer Mann“
Reich über Freud
Im Zentrum des Interviews steht Sigmund Freud. Obwohl Reich darin viele andere Themen berührt, kehrt er immer wieder zur Person Freuds, seinem Werk und ihrer beider Beziehung zurück. Spricht Reich über Freud, so ist dies von Hochachtung, Liebe und jener Distanz geprägt, die ihn befähigt, wahr-zu-nehmen. Oftmals bezieht er sich auf den Ausdruck in Freuds Gesicht – kenntlich in einem Bild aus dem Jahre 1924 – „ein äußerst trauriger Ausdruck, wahre Hoffnungslosigkeit“. Reich lernte Freud als „eine sehr lebendige Person“ kennen. „Er lebte. Er ging aus sich heraus. Er war voller Begeisterung und Freude.“
„Es gab sofort Kontakt. Oh, ja! Sie sehen mich jetzt. Ich bin sehr lebendig, nicht wahr? Ich funkele, ja? Er hatte die gleichen Qualitäten. Er war von einer Lebendigkeit, die ein normaler Mensch nicht hat, wissen Sie. Seine Hände, ihre Bewegungen, waren sehr elegant. Seine Augen waren gut. Er sah einen direkt an. Er hatte keinerlei Pose. Andererseits war Federn ein Prophet mit einem Bart. Ein anderer, Eidelberg, z.B. saß da als ‚Denker‘. Aber Freud war nur ein einfaches Lebewesen. Würden Sie das akzeptieren? Nur ein einfaches Lebewesen. Das war Freud. Und dann zerbrach er.“
Den Bruch siedelt Reich 1924 an. In diesem Jahr entwickelte sich Freuds Rachenkrebs, im selben Jahr begann das Zerwürfnis zwischen Reich und Freud. Reich macht für diese Entwicklung von einem lebendigen zu einem
verzweifelten Menschen zwei Aspekte in Freuds Leben verantwortlich. Zum einen war es „die persönliche Seite der Angelegenheit, d.h. Freuds Hemmung die ihre Ursache in seiner persönlichen Struktur hat, in seiner Resignation, in seiner Gebundenheit an eine Familie, die er höchstwahrscheinlich nicht mochte“.
In Freuds Biographie finden sich Hinweise, daß Freuds Sexualleben unbefriedigend war. Er führte „ein ruhiges, stilles, sittsames Familienleben, aber es besteht kaum ein Zweifel, daß er genital außerordentlich unbefriedigt war“.
„Seine Resignation und seine Krebserkrankung beweisen, daß Freud als Person aufgeben mußte. Er mußte seine persönlichen Freuden, seine persönlichen Wonnen in den mittleren Jahren aufgeben. Was davor war, weiß ich nicht. Weil er eine weitgehende Erkenntnis dessen besaß, was Jugend ist und wofür Menschen leben, mußte er, für seine Person, aufgeben.“
Natürlich prägte Freuds persönliche Einschränkung auch seine Haltung zu Reichs Theorien, insbesondere zur Neurosenprophylaxe und zur Genitalität.
Die „merkwürdige Mischung aus einem fortschrittlichen Freidenker und einem Gentleman-Professor von 1860“ war zu eingegrenzt durch „seine Stellung, sein Judentum und vieles mehr, als daß er die gesellschaftlichen Implikationen von Genitalität uneingeschränkt begrüßen konnte“.
So schätzte er zunächst die neue Gesetzgebung in Rußland, war jedoch, was die Erleichterung von Scheidungen anbelangt, mehr als zurückhaltend. So war es letztendlich auch die Frage der Kleinfamilie, an welcher der Disput zwischen Reich und Freud zur Trennung wurde. „Es ging um Folgendes: Ich sagte, man müsse die natürliche Familie, die auf Liebe gegründet ist, von der Zwangsfamilie unterscheiden. Ich sagte, man müsse alles unternehmen, um Neurosen zu verhindern. Und er antwortete: ‚Ihr Standpunkt hat nichts mit dem mittleren Weg der Psychoanalyse zu tun.‘ “
“ ‚Ja, mit dem Mittelweg der Psychoanalyse‘. Das waren seine Worte. So sagte ich: ‚Tut mir leid. Das ist, was ich glaube. Das ist, was meine Überzeugung ist. Wenn Sie die Neurosen verhüten wollen. Wenn Sie das Elend wegbringen wollen.‘ Darauf antwortete er: ‚Es ist nicht unser Zweck oder der Zweck unserer Existenz, die Welt zu retten‘. Und Sie werden erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich jetzt den gleichen Punkt erreicht habe. Ich bin genau da, wo Freud 1930 war.“
Neben Freuds „persönlicher Hemmung“ waren es seine Anhänger und Gegner, welche nur „darauf warteten, Freud unmoralisch zu nennen“, die Freud von der Libidotheorie Abschied nehmen ließen.
Freud war zu einem gewissen Grad angewiesen auf seine Anhänger, da er es nicht ertragen konnte, allein zu sein: „Freud war sehr allein. Er war fünfzehn Jahre allein. Dann kamen die ersten Studenten, und er schlürfte das und es geschah, daß der Führer von Anhängern verführt wurde. Sie bewundern ihn, sitzen herum und schauen in seine Augen und sein Ich schwillt.“
„Also, um auf Freuds Verzweiflung zurückzukommen. Wie ich bereits sagte, kam die erste Hoffnungslosigkeit, nachdem er die kindliche Sexualität entdeckt hatte. Er bewegte sich jetzt ganz logisch in Richtung auf das Problem der Genitalität zu, wo ich mich so viel später befand, etwa fünfzehn Jahre später. Aber er konnte es nicht erreichen. Er versuchte, es in drei Abhandlungen in die Hand zu bekommen. Aber da kam bereits etwas ins Spiel, das nicht gut war. Nämlich daß Genitalität ‚Im Dienste der Zeugung‘ steht. Das schreibt er in drei Abhandlungen.
Das stimmt nicht, sehen Sie? Er ahnte es etwa. In unseren Diskussionen wurde es ganz deutlich, daß die Welt ihn behinderte, die nicht wollte, daß er zur Genitalität der Kleinkinder, Kinder und Jugendlichen vorstieß, weil das die ganze Welt auf den Kopf gestellt hätte. Ja, Freud wußte das, Aber er konnte aus gesellschaftlichen Gründen nicht dahingelangen. Die Sublimationstheorie, die er als Absolutum entwickelte, war die Konsequenz davon. Es war ein Drumherumgehen. Das mußte er. Er war tragischerweise gefangen. Wissen Sie, durch wen? Sie nahmen, was er hatte und machten es zu Geld. Ich bedaure, so etwas sagen zu müssen. Ich habe das schon früher öffentlich gesagt. Sie behinderten Freud.
Er war so behindert, daß er sich nicht weiterentwickeln konnte. Und von da ging es stracks in die Todestriebtheorie. Ich weiß nicht, ob Sie solche Details haben wollen … Jetzt möchte ich die Möglichkeit ausschließen, daß Sie denken, ich erzählte all das über die Studenten, weil ich Ärger mit ihnen hatte, oder weil ich eifersüchtig bin. Ich bin es nicht. Das hat nichts mit soetwas zu tun. Ich habe mein eigenes Leben. Ich schere mich nicht darum. Was wichtig ist, ist allerdings das, was sie taten, was Analytiker wie Adler, Stekel, Jung taten. Sie nahmen die Theorie, brachen die wichtigsten
Sachen heraus, zogen sie heraus, warfen sie weg und gingen nach Ruhm aus. Das taten sie, gewiß. Und jedesmal war es das gleiche, die Sexualität, die sie herauswarfen.“
Daran hat sich nichts geändert. Noch heute wird das Reichsche Werk jenseits der „Charakteranalyse“ den Studenten an Hochschulen und Psychotherapielehrgängen vorenthalten oder als Auswuchs der psychischen Situation Reichs betrachtet. Dies betrifft die wissenschaftliche Begründung der Orgonenergie ebenso, wie Reichs Beiträge zur Erforschung des Krebs wie auch den massenpsychologischen Hintergrund faschistischer Entwicklungen. Reich beschreibt die Entwicklung der Beziehung zu Freud vom ersten Kontakt („Warum ich zu Freud ging? – Weil ich seine Sachen las und sah, was er machte. Also ging ich zu ihm“) – über die hoffnungsvolle Zusammenarbeit der beiden bis zum Bruch.
‚Als ich Freud zum ersten Mal traf gab es sofort Kontakt, sofortigen Kontakt zweier Organismen, Lebendigkeit, Interesse, und ein Zur-Sache-Kommen. Die gleiche Erfahrung hatte ich mit Einstein, als ich ihn 1940 traf Es gibt bestimmte Leute, bei denen der emotionale Kontakt sofort einklickt. Sie kennen die ‚Charakteranalyse‘ gut genug um zu wissen, wovon ich rede. Ich wußte, daß Freud mich liebte. Ich fühlte es. Ich konnte es sehen. Er hatte Kontakt mit mir. Ich konnte geradeheraus mit ihm sprechen. Er verstand, was ich meinte, geradezu. Darüberhinaus war ich ein junger Psychiater, in der Klinik sehr vielversprechend, auch im Psychiatrischen Krankenhaus. Und zwischen meiner Ausdrucksweise, wie Sie sie jetzt fühlen, und der des Rests der Psychoanalytiker in Wien war ein großer Unterschied Es war da so langweilig. Etwa acht oder zehn Leute saßen da herum und es war schrecklich langweilig – wenn Sie wissen, was ich meine.“
Reich verweist auf die großen Erwartungen und Hoffnungen, welche Freud Reich gegenüber hegte; er bezeichnete ihn einmal als „den besten Kopf der Gesellschaft“, um die große Enttäuschung zu erklären.
Die Auseinandersetzungen begannen im Technischen Seminar:
„Von da an lautete die große Frage: ‚Woher kommt dieses Elend?‘ Und da begannen die Auseinandersetzungen. Und während Freud seine Todestriebtheorie entwickelte, die besagte ‚das Elend kommt von innen, ging ich nach draußen, nach draußen, wo das Volk war. Von 1927 bis zum September 1930 arbeitete ich draußen und leistete diese ganze soziologische Arbeit an den Wurzeln der Gesellschaft Hier kam Freuds Enttäuschung auf. “
Trotz des anfänglichen Enthusiasmus Freuds für „die geistig-seelische Hygienebewegung“, wandte sich Freud zunehmend ab, unterstützt durch „Verleumdungen von Seiten Federns“, dann als die politisch-soziologische Seite Reichs zunahm.
„Ich hatte die gesellschaftlichen Konsequenzen aus der Libidotheorie gezogen. Für Freud war das das schlimmste, was ich tun konnte.“
Das letzte Treffen fand im September 1930 in Grundelsee statt. Reich besuchte Freud auf seinem Weg nach Berlin.
‚Aber zurück zu unserem Treffen. Wir sprachen etwa eine Stunde lang, vielleicht anderthalb, und dann ging ich fort. Ich wußte, daß ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Irgendwie wußte ich, daß ich ihn nie wieder sehen werde. Ich ging die Treppe hinunter. Als ich das Haus verließ, schaute ich zu seinem Fenster hoch, und ich sah ihn in seinem Zimmer auf und ab gehen, auf und ab, schnell auf und ab. Ich weiß nicht, warum dieser Eindruck so lebendig geblieben ist, aber ich dachte ‚ein gefangenes Tier‘. Und das war er. Jeder Mann von seiner Größe, seiner Lebenskraft und seinem Geist, der wußte, was er wollte, und der dort gelandet war, wo er gelandet war, hätte sich so verhalten, wie ein gefangenes Tier. Ich habe ein sehr gutes Gefühl für Bewegung und Ausdruck, und das war mein Eindruck – ein gefangenes Tier. Ich weiß nicht, wie viele Psychoanalytiker sich darüber im Klaren waren. Ich glaube, nicht sehr viele. Ich weiß es nicht.“
„Jeder dachte ich sei psychotisch. Das war meine Strafe für die Entdeckung der Funktion des Orgasmus“
Reich über Psychoanalytiker
Mit einer in diesem Ausmaß nicht gekannten Offenheit spricht Reich über renommierte Psychoanalytiker, über deren Beitrag zur psychoanalytischen Theorie, über deren Persönlichkeitsstruktur und über ihre Haltung zu ihm
Er spricht von Adler, der „sich mit dem Machttrieb in einer sehr oberflächlichen Schicht verrannte“ – „einer Umgehung der Libidotheorie“ von Jung, der die Energie im Universum als eine universale Libido verstand und deshalb von Freud als unwissenschaftlich abqualifiziert wurde; er würdigt Rank, der mit dem Trauma der Geburt auf etwas „sehr Wahres gestoßen ist“, „einen sekundären, tertiären Vorgang jedoch zum einzig verantwortlichen Faktor erhob“. Und er scheut sich auch nicht, über die „Privatangelegenheiten“ von Psychoanalytikern zu sprechen, obwohl er zögert „Geschwätz“ zu erzählen:
„Sie fragten mich nach den privaten Affären der Psychoanalytiker. Nicht weil wir an den Privataffären als solchen interessiert wären – wir sind es natürlich als Ärzte und Wissenschaftler – sondern weil sie, wie ich bereits sagte, einigen Einfluß auf die Entwicklung der Psychoanalyse hatten. Es ist ein schwieriges Kapitel, ein sehr unangenehmes, aber ich glaube, es ist notwendig. Ich hoffe, daß es mir gelingt, darüber zu sprechen, ohne großen Schaden anzurichten.“
Um es auf den Punkt zu bringen:
„Ich weiß nicht weshalb ich zögere, aber ich zögere zu sagen: Die meisten Analytiker waren genital gestört, und deshalb haßten sie die Genitalität. Das ist es. Ich versichere Ihnen, daß ich das nicht sage, um irgend jemandem zu schaden.“
Reich hatte mit der Fortführung der Libidotheorie „etwas sehr Schmerzliches berührt“ – die Genitalität.
„Die Psychoanalytiker mochten sie nicht, und sie mögen sie auch heute noch nicht. Sie erwähnen es nicht. Sie wird nirgends erwähnt. Bis zum heutigen Tage wird Genitalität nicht als grundsätzliches Problem des Jugendalters und der ersten Pubertätszeit behandelt. Meines Wissens wagt niemand, das anzupacken.“
Dieses Phänomen ist übergreifend, Reich nimmt auch „seine“ Orgonotiker dabei nicht aus.
Bis zum heutigen Tag gibt es in der Psychoanalyse keine Genitalität. Es gibt sie nirgends, nicht einmal in meiner Organisation.“
Auch die Epigonen körpertherapeutischer Ausrichtung wie Lowen, Pierrakos und Boyesen haben den Reichschen Ansatz ebenda beschnitten – bei der Genitalität. So spricht Lowen in einer Videoaufzeichnung („Der Verrat am Körper“) davon, daß es nicht so sehr um eine freie Sexualität ginge, sondern um den Spaß am Leben als erstrebenswertes Ziel – welch ein Widerspruch!
So wird die Energiefunktion gesellschaftsfähig.
Reich macht genau jene Angst der Psychoanalytiker vor der Genitalität dafür verantwortlich, daß es zur Verbreitung von Gerüchten kam, darunter dies, daß Reich psychotisch war, welches bis jetzt, nahezu vierzig Jahre nach seinem Tod hartnäckig in Hochschulvorlesungen weitergetragen wird, immer dann, wenn Reichs Werk jenseits der Charakteranalyse zu disqualifizieren ist.
Er schildert hiezu ein Beispiel:
„Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel geben. Meine zweite Frau, Elsa Lindenberg, war sehr schön. Das ist ihr Bild da drüben. 1934 begleitete sie mich zu dem Luzerner Kongreß. Wenn ich heute daran denke, ist es sehr amüsant. Aber um Ihnen ein Bild von der damaligen Einstellung der Analytiker zu geben: sie wohnten in Hotels, saßen in verrauchten Hotelhallen herum usw. Ich nicht. Ich wohnte mit meiner Frau in einem Zelt am Luzerner See. Ich hatte ein Messer dabei, wie es beim Zelten üblich ist. Heute würde niemand etwas Besonderes dabei finden. Fünfzehn Jahre später tauchte in New York das Gerücht auf daß ich bei dem Luzerner Kongreß vollkommen verrückt geworden sei und in der Hotelhalle ein Zelt aufgeschlagen hätte und ständig mit einem
Messer herumgelaufen sei. Ich weiß nicht, wer das Gerücht aufgebracht hat, aber es sprach sich herum und kam schließlich auch mir zu Ohren. Es stimmt, daß ich in einem Zelt wohnte, aber nicht in der Hotelhalle. Und es stimmt, daß ich ein Messer hatte, aber nicht bei dem Kongreß. Sie wissen, wie das verdreht wird. Als meine Frau dort erschien, strömten viele Analytiker zu ihr, wie Männer es eben tun, und versuchten, mit ihr Kontakt zu gewinnen. Nur sexhungrige, verhungerte Individuen können so etwas tun. Ist das klar?“
Er erzählt von Tatsachen „welche aus der sexuellen Frustration einiger Psychoanalytiker entstammten“, von Fällen, wo Psychoanalytiker unter dem Vorwand einer genitalen Untersuchung, einer medizinischen Untersuchung, ihre Finger in die Vagina ihrer Patientinnen einführten, was „recht häufig geschah“.
Ebenso offenherzig spricht Reich über sein eigenes Sexualleben:
„Sie war krank Ich mußte sie verlassen. Und im Gegensatz zu Freud gab ich mein Privatleben nicht auf Ich lebte mein Liebesleben. Ich hatte keine Angst vor der öffentlichen Meinung. Als ich das Verhältnis mit meiner ersten Frau aufgelöst hatte, nahm ich eine andere Frau. Heute wird so etwas ohne weiteres akzeptiert. Aber in den ‚kultivierten‘ Wiener Kreisen war es etwas sehr Sonderbares. Nun, ich bewegte mich ganz offen. Jeder wußte davon.
Ich war nicht promiskuös, oder irgendwie amoralisch oder unmoralisch. Aber ich ließ es nie zu, daß mein Organismus stagnierte, oder beschmutzt wurde. Sie wissen was passiert, wenn man zu lange abstinent lebt. Man wird schmutzig, mit schmutzigen Phantasien, pornographisch, neurotisch usw. Ich ließ nie zu, daß das mit mir geschah. Man verkümmert, wird krank, auf die eine oder andere Weise. Ich ließ es nie geschehen. Mein Leben war ein offenes Geheimnis, oder soll ich sagen, es lag offen da.
Die Privatleben der anderen Psychoanalytiker dagegen waren verborgen und versteckt. Durch die Analyse jedoch wußten wir, was vorging Als Psychoanalytiker ist man sich der Tatsache bewußt, daß jemand, der ein frustriertes oder ein pathologisches Leben führt, denjenigen beneidet, der ein gerades und klares Leben führt. Ich habe daraus nie ein Hehl gemacht. Ich habe nicht darüber gesprochen, und ich habe es nicht vor mir hergetragen. Aber ich habe es nicht verborgen.
Ich hatte nichts zu verbergen. Als die Beziehung zu meiner ersten Frau abbrach, nahm ich mir eine zweite Frau. Wir waren nicht verheiratet, nicht legal verheiratet, aber sie war meine Frau. Das war Elsa Lindenberg. Sie sehen also, während ich mit meinen genitalen Beziehungen völlig offen war, blieben die anderen verborgen. Ich glaube, ich sollte keine Namen nennen, aber ich kann Ihnen versichern, daß viele Dinge heimlich vor sich gingen und manchmal auf eine schmutzige Art.“
Er berührt auch das Phänomen der emotionalen Pest, welche er als ein biologisches Problem begreift, nennt namentlich seine „Feinde“, zu allererst Fenichel und Federn, den er „Modju“ („Synonym für die Gefühlsseuche oder den pestilenten Charakter, der unter der Hand Verleumdung und Diffamierung in seinem Kampf gegen Leben und Wahrheit einsetzt“) bezeichnet und resümiert schließlich:
„Es gab also Neid. Die Eingeengten beneideten den, der sich nicht einengen ließ.“
„Wenn ein Baum einmal krumm gewachsen ist, kann man ihn nicht mehr gerade richten“
Wilhelm Reich über Neurose, Gesellschaft und Krebs
Reich betrachtet in konsequenter Weiterführung der Libidotheorie Freuds – und er würdigt ihn dafür oftmals im vorliegenden Interview den Energieaspekt als das zentrale Element bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheit. Die Traumatisierung beginnt schon vor der Geburt „es ist der verkrampfte, der zusammengezogene spastische Uterus, der das Kind erstickt“ und setzt sich während und nach der Geburt in dramatischer Weise fort. Ich zitiere an dieser Stelle den folgenden Abschnitt in voller Länge, führt er doch drastisch und damit schmerzlich vor Augen, was tagtäglich an tausenden Babys vollzogen wird.
Immer noch wird die Möglichkeit zur Sanften Geburt eigens erwähnt und nicht umgekehrt. Immer noch werden Frauen, welche an eine Hausgeburt zu denken wagen mit einer Vielzahl von lebensfeindlichen und Horrorvisionen bedacht, gegen die sich zu wehren schwer möglich ist, ohne sich selbst in Angst und Schrecken zu kontrahieren. Immer noch werden ärztliche Vertreter einer humanen Begleitung bei der Geburt diffamiert, Jahrzehnte nach dem geführten Interview.
„Wenn ein Kind geboren wird, so kommt es aus dem warmen Uterus, 37 Grad warm, in etwa 18 oder 20 Grad. Das ist schlimm genug. Aber das ließe sich überleben, wenn nicht Folgendes stattfände: Es kommt heraus, es wird an den Beinen aufgenommen und kriegt einen Klaps auf den Hintern. Der erste Gruß ist ein Klaps. Der nächste Gruß: Man nimmt es von der Mutter. Stimmts? Ich möchte, daß Sie hier zuhören.
Es wird in hundert Jahren unglaublich klingen. Es von der Mutter nehmen. Die Mutter darf das Kind nicht berühren oder sehen. Das Baby hat keinen Körperkontakt, nachdem es neun Monate lang bei sehr hoher Temperatur Körperkontakt gehabt hatte – was wir die orgonomische ‚Körperenergie-Berührung‘ nennen, das Feldverhalten zwischen beiden, die Wärme und die Hitze. Dann führten die Juden vor etwa sechs- oder siebentausend Jahren etwas ein, und das ist die Beschneidung. Ich weiß nicht, warum sie es einführten. Es ist noch ein Rätsel. Nimm den armen Penis.
Nimm ein Messer – nicht wahr? Und beginn zu schneiden. Und jeder sagt: ‚Das verletzt nichts.‘ Jedermann sagt: ‚Nein, das verletzt nichts.‘ Verstehen Sie? Das ist natürlich eine Entschuldigung, ein Vorwand. Sie sagen, die Nervenenden wären noch nicht entwickelt. Deshalb sind auch die Gefühle in den Nerven noch nicht entwickelt. Deshalb fühlt das Kind auch nichts. Nun, das ist Mord. Beschneidung ist eine der schlimmsten Behandlungen für das Kind. Und was geschieht mit ihnen? Sehen Sie sie sich an. Sie können nicht mit ihnen sprechen. Sie weinen nur. Was sie tun ist, daß sie zurückschrecken.
Sie ziehen sich zusammen, gehen in sich, fort von der hässlichen Welt. Ich drücke das sehr grob aus, aber Sie wissen, was ich meine, Doktor. Also das ist die Begrüßung: Es von der Mutter fortnehmen, die Mutter darf es nicht sehen. Vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden nichts essen. Nicht wahr? Der Penis beschnitten. Und dann kommt das Schlimmste: Dieses arme Kind, dieser Säugling, versucht immer, sich auszustrecken und etwas Wärme zu finden, irgendetwas, sich daran zu halten. Es kommt zur Mutter, legt seine Lippen auf die Brustwarze der Mutter. Was passiert? Die Brustwarze ist kalt, sie erigiert nicht, oder die Milch kommt nicht, oder die Milch ist schlecht. Und das ist das Übliche. Das ist nicht ein Fall unter tausend. Das ist allgemein.
Das ist der Durchschnitt. Was macht also das Baby? Wie reagiert es darauf? Wie muß es darauf bioenergetisch reagieren? Es kann nicht zu Ihnen kommen und sagen: ‚Hören Sie zu, ich leide so sehr, so sehr.‘ Es weint nur. Und endlich gibt es auf Es gibt auf und sagt: ‚Nein!‘. Es sagt nicht ’nein‘ in Worten, verstehen Sie, aber das ist die emotionale Situation. Und wir Orgonomisten wissen das. Wir lesen das aus unseren Patienten. Wir lesen es aus ihrer emotionalen Struktur, aus ihrem Verhalten, nicht aus ihren Worten. Worte können das nicht ausdrücken. Hier, gleich am Anfang, entwickelt sich die Bosheit. Hier entwickelt sich das ’nein‘, das große ’nein‘ der Menschheit. Und dann fragen Sie mich, warum die Welt in Unordnung ist.
Kann ich gleich etwas anschließen über die Lage der Welt heutzutage? Wie ist es zu erklären, daß ein einziger Hitler oder ein einziger Dshugaschwili achthundert Millionen Menschen kontrolliert? Wie ist das möglich? Das war die Frage, die ich 1927 in die Soziologie einführte. Und ich diskutierte die ganze Sache mit Freud. Wie ist das möglich? Niemand stellt diese Frage. Man hört nichts davon.
Wie ist es möglich, daß achthundert Millionen erwachsene, hart arbeitende, vernünftige Leute von einem einzigen Modju unterjocht werden können? Die Antwort ist, und sie ist ganz sicher und abgesichert, und in hundert Jahren werden die Menschen es wissen, hoffe ich, – weil die Säuglinge in ihren emotionalen Bedürfnissen ruiniert werden, in ihrem natürlichen, emotionalen Lebensausdruck: und zwar direkt vor der Geburt und nach der Geburt. Sie werden durch kalte, wie wir sagen ‚anorganische‘, d.h. biologisch gesehen tote, zusammengezogene Uteri vor der Geburt ruiniert. Wir haben das durch viele Fallgeschichten erhärtet.
Psychoanalytiker wollen darüber gar nichts wissen. Sie hören nicht zu. Die Welt hingegen hört bereits zu. Können Sie mir folgen? Die Schädigung erfolgt genau da, gleich am Anfang, gleich nach der Geburt. Da erfolgt die Disponierung für alles Weitere. Das ‚Nein, der Trotz, die Wunschlosigkeit, die Meinungslosigkeit, die Unfähigkeit, irgendetwas zu entwickeln. Die Leute sind stumpf Sie sind stumpf, tot, uninteressiert. Und dann entwickeln sie ihre Pseudokontakte, Ersatzfreuden, Ersatzintelligenz, oberflächliche Sachen, die Kriege usw. Das geht sehr weit.“
„Woher kommt dieses Elend?“- Die Suche nach den Ursachen für das massenhaft auftretende Leid der Menschen sollte, wie oben erwähnt, trennend für Reich und Freud wirken. Dort nämlich, wo Reich die Trennung zwischen Biologie und Soziologie überwand, dort, wo er
„Libido als Energie (begreift), die durch die Gesellschaft geformt wird“.
Reich führte die These „nicht Sexualität, sondern Gesellschaft“ auf die Verdrängung, die reine Furcht, mit dem größten Problem in Berührung zu kommen, mit der der Mensch zu tun hat, der sexuellen Neurose der Menschen, zurück. Ausgelöst durch den sozialen Aufstand in Wien 1927 begann Reich, seine Arbeit auf gesellschaftlicher Basis fortzusetzen:
„Ich wollte von den Krankenhäusern fort, von der individuellen Behandlung in das soziale Geschehen eingreifen“.
Er gründete die sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung. Politische Tätigkeit muß sich Reich zufolge zuallererst nach den Bedürfnissen der Säuglinge, der Kinder und der Heranwachsenden richten.
So waren seine Initiativen immer lebensnah. Der Kampf gegen die Wohnungsnot, um dem Elternpaar einen freien Ausdruck ihrer Sexualität zu ermöglichen, ebenso wie die Einrichtung von Sexualberatungsstellen, welche nicht wie heute so oft der Fall, ausschließlich die Beratung in Verhütungsfragen (dies auch) zum Ziele hatten, sondern dort ansetzten, wo die Verunsicherung der Jugendlichen lag: in der Frage der konkreten Gestaltung ihrer sexuellen Kontakte. Es sei an dieser Stelle auf den kleinen Band von Reich „Sexualerregung und Befriedigung; Beantwortung sexueller Fragen“ hingewiesen; er gibt einen faszinierenden Eindruck, wie gut es Reich gelang, über intime Fragen auch in größeren Gruppen zu sprechen:
„Einmal im Monat hatten wir eine öffentliche Versammlung, auf der wir uns mit einem besonderen Problem beschäftigten, etwa mit der Kindererziehung, dem Problem der Onanie, den Problemen der Heranwachsenden oder Verheirateten, oder mit sonstigen Themen. Dann stellten die Leute Fragen. Das war großartig. Ich zehre heute noch von der Erfahrung. Die Leute waren dabei völlig offen. Meine Aufgabe war jetzt sehr schwierig. Ich mußte die Schranken durchbrechen, die die Öffentlichkeit von ihrem eigenen Privatleben trennt.
Verstehen Sie? Niemand spricht darüber. Niemand erwähnt es. Niemand. Ich mußte also zuerst diese Schranke durchbrechen. Ich sagte den Leuten: ‚Ich werde konkrete Fragen an Sie richten, und ich werde Sie mit direkten Problemen konfrontieren.‘ Kein Herumgerede. Und das funktionierte wunderbar. Ich werde niemals die warmen, geröteten Gesichter vergessen, die leuchtenden Augen, die Spannung, den Kontakt. Es besteht kein Zweifel, Dr. Eissler, diese Sache ist nicht aufzuhalten.“
Diese Versammlungen fanden in großem Ausmaß statt; in Berlin vier bis fünfmal pro Woche mit zwei- bis dreitausend(!) Menschen. Dennoch schließt Reich, in Einbekenntnis einen großen Fehler gemacht zu haben, mit einer Warnung für jede zukünftige mentalhygienische Bewegung“:
„Hier möchte ich eine Warnung für jede zukünftige mentalhygienische Bewegung aussprechen: es kann nicht auf politischer Ebene gemacht werden. Die Leute werden begeistert sein. Sie werden Feuer und Flamme sein. Aber ihre Strukturen sind nicht so beschaffen, daß sie leicht folgen können. Die Charakterstrukturen können nicht folgen. Und dann fangen die Schwierigkeiten an.
Darin liegt die Gefahr und das besondere Problem der Mentalhygiene. Ich beschäftige mich zur Zeit sehr intensiv damit und versuche, das Problem zu lösen. Die Diskrepanz zwischen dem, was ein Menschenwesen will, wovon es träumt, und was es intellektuell als wahr und gut begreift, und dem, was es tatsächlich tun kann, d.h. was seine Struktur, seine Charakterstruktur ihm wirklich zu tun erlaubt, ist ein zentrales Problem der Mentalhygiene. Diese Lücken firnen die Religionen mit der Vorstellung des Paradieses.“
Ebenso wie der sozialistische Aufstand in Wien Anlaß für Reichs Aufbruch zu politischer Aktivität bot, war es Freuds Rachenkrebs, der am Anfang der Beschäftigung Reichs mit dem Krebs stand. Bezugnehmend auf den Berliner Kongerß 1922 sagt er: „Bei diesem Kongreß war er wunderbar, wie jedesmal, wenn er sprach. Und dann traf es ihn gerade dort, im Mund. Damals fing ich an, mich für Krebs zu interessieren. Ich begann meine Krebsstudien 1926 oder 1927.“
Oftmals spricht Reich von Freuds Verzweiflung und Resignation, welche in seinem Gesicht zu lesen ist und so deutet er auch Freuds Krebs als Ausdruck ebendieser emotionalen Resignation, eines Schrumpfungsprozesses, dessen Beginn er etwa mit dem Jahr 1924 ansetzt.
„Nun, wenn meine Theorie richtig ist, wenn meine Ansichten über den Krebs richtig sind, gibt man einfach auf, man resigniert und dann schrumpft man zusammen. Es ist sehr begreiflich, warum er seine ‚Epulis‘ entwickelte; er rauchte sehr viel, sehr viel. Ich hatte immer das Gefühl, er rauchte – nicht aus Nervosität, nicht aus Nervosität, sondern, weil er etwas sagen wollte, das er nie über die Lippen brachte … als ob er etwas ‚in sich hineinfressen müßte‘.
Ich weiß nicht, ob Sie mir folgen können. Beißen – ein Impuls, etwas in sich hineinfressen, etwas hinunterschlucken, sich niemals ausdrücken. Er war immer sehr höflich, von ‚beißender‘ Höflichkeit … ‚Beißend‘. Irgendwie kalt, aber nicht grausam. Und hier entwickelte er seinen Krebs. Wenn man mit einem Muskel Jahr um Jahr beißt, beginnt das Gewebe zu verderben, und Krebs entwickelt sich. Ja, das kann man in der psychoanalytischen Theorie nicht finden. Das folgert direkt aus meinem Werk, aus der Orgonomie.“
„Alles ist nutzlos bis auf die Säuglinge.
Sie müssen zum unverdorbenen Protoplasma zurück“
Wilhelm Reich über Neurosenprophylaxe
In Anerkennung der Tatsache, daß Störungen bereits im vorsprachlichen Bereich begründet liegen, galt Reichs Interesse in den letzten Lebensjahren insbesondere den Säuglingen und Kleinkindern. Er hatte bald erkannt, daß es ein mühsames und teilweise hoffnungsloses Unterfangen ist, beim Erwachsenen strukturelle Veränderungen zu bewirken.
„Ich möchte, daß Sie verstehen, daß individuelle Therapie nutzlos ist. Nutzlos! Oh ja, von großem Nutzen, um Geld zu machen und hie und da zu helfen. Aber vom Standpunkt des sozialen Problems, vom Standpunkt geistig-seelischer Hygiene aus ist das nutzlos. Deshalb gab ich es auf. “
Und er hat auch am Beispiel des Scheiterns der russischen Revolution erkannt, daß Maßnahmen, die der Freiheit dienen, wie liberale Ehegesetze und Erziehungsmaßnahmen in freiheitsungewohnten Menschen nichts fruchten, mehr noch, von diesen bekämpft werden. „Ehe nicht die Medizin, die Erziehung die soziale Hygiene es fertigbringen, in der Masse der Gesellschaft ein bio-energetisches Wirken in der Weise zu garantieren, daß die Uteri nicht mehr zusammengezogen werden, daß die Embryonen in gut funktionierenden Körpern wachsen, daß die Brustwarzen nicht zusammengezogen werden, und die Brüste der Mütter bio-energetisch und sexuell lebendig sind, wird sich nichts ändern.
Solange die Kinder mit aller Häßlichkeit verletzt und gekränkt werden, – mit Chemikalien der Chemie-Modjus, mit Injektionen aller Art, und mit dem Messer direkt nach der Geburt -, wird sich nichts ändern. Ich habe so manches Kind aus dem Schmutz gezogen. Solange das so weitergeht, wird nichts in die richtige Richtung laufen. Keine Verfassung, kein Parlament, nichts wird helfen. Nichts. Ich sage das. Nichts wird sich zum Besseren wenden. Man kann die Freiheit nicht auf dem zerstörten bio-energetischen System der Kinder errichten.“
Die Neurosenprophylaxe ist das logische Ergebnis der Weiterentwicklung der Libidotheorie. So meinte Reich zu Freud:
„Wenn Ihre eigene Theorie besagt, daß die Stauung, die Libidostauung oder Energiestauung der Kern der Neurose ist, der Kern des neurotischen Prozesses, und wenn die orgastische Potenz, die Sie nicht leugnen (er leugnete das nie) der Schlüssel zur Bewältigung der Stauung ist, oder wenigstens zur Beherrschung, dann ist meine Theorie der Neurosenprophylaxe richtig. Es ist Ihre eigene Theorie. Ich habe nur die Konsequenzen daraus gezogen.“
Und dennoch begannen zu dieser Frage auch die Konflikte mit Freud, welcher meinte, daß „die Kultur vorginge“. „Er wollte das nicht. Er war der alte Gentleman, durch die Schüler eingekreist, die besonders neurotisch waren und besonders durch die Familie gefesselt.“
Und wieder war es die „strukturelle, charakterologische Unfähigkeit zur Freiheit“, welche bewirkte, daß Reich etwa bei den Analytikern Jekels, Hitschmann, Federn, Nunberg und Deutsch auf kalte Ablehnung stieß, als er dabei blieb, daß von der Therapie zur Prophylaxe überzugehen sei.
„Ich bin kein Psychoanalytiker.“ oder „Dann schritt ich bis zum körperlichen Ausdruck, der ohne Worte ist“
Wilhelm Reich über therapeutische Werkzeuge
Gleich zu Beginn des Interviews macht Reich die grundlegende Differenz zwischen dem Ansatz der Psychoanalyse und seiner Arbeit klar:
„Die Psychoanalyse arbeitet, wie Sie sehr gut wissen, mit Worten und unbewußten Ideen. Das sind ihre Werkzeuge. Freud zufolge – wie ich es verstand, als er das veröffentlichte – kann das Unbewußte nur bis zu den Wortvorstellungen zurückverfolgt werden, wenn die ‚Wort-Bilder‘ entstehen. Mit anderen Worten: die Psychoanalyse kann nicht hinter das zweite oder dritte Lebensjahr zurückdringen.
Die Psychoanalyse wird durch ihre Methode gefesselt. Sie muß sich an die Methode halten, das heißt, an die Handhabung von Assoziationen und Wortbildern. Jetzt entwickelte die Charakteranalyse eine Möglichkeit, Gefühlsausdrücke zu lesen. Während Freud die Welt des Unbewußten öffnete, Gedanken, Wünsche usw., gelang es mir, Gefühlsausdrücke zu lesen.“
Und weiter:
„Während die psychoanalytische Organisation den qualitativen Gesichtspunkt entwickelte, d.h. die Ideen, ihre Wechselbeziehungen usw., beschäftigte ich mich mit der Energie. Ich mußte an der Libidotheorie festhalten, nicht nur, weil sie richtig war, sondern weil ich sie brauchte, verstehen Sie. Ich brauchte sie als Wekzeug. Sie ftührte in den physiologischen Bereich. Das heißt, das, was Freud Libido nannte, war keine chemische Substanz, sondern eine Bewegung des Protoplasmas.“
Im Zuge der Beschäftigung mit der Psychoanalyse erkannte Reich bald, daß die Methode der freien Assotiation nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllte. Auch Freud sei Reich zufolge enttäuscht gewesen über das Heilungspotential der Analyse:
„Er hatte sehr viel erwartet, und seine Erwartungen wurden nicht erfüllt. Als ich mit dem Analysieren anfing, sollte eine Behandlung normalerweise drei Monate oder im Höchstfall sechs Monate dauern. Dann wurde es immer länger, immer länger. Schließlich gab er die Therapie ganz auf Er wollte die Menschheit nicht mehr verbessern. Er war enttäuscht, deutlich enttäuscht. Und er hatte Recht. Man kann nichts tun. Man kann nichts tun. Aber ich glaube, daß er aufgab, bevor er überhaupt angefangen hatte.“
Reich führt die geringe Erfolgsrate zum einen auf den Mangel an theoretischer Untermauerung der Technik zurück und meint:
„Es gab keine Theorie der Technik seinerzeit. Nichts. Nur Assoziation. Sich hinsetzen. Assoziieren. Nichts passierte. Nichts. Und daß ’nichts passierte, war genau das Problem. Wie kann man von einem Patienten
Reaktionen erlangen? Es dauerte etwa acht Jahre, bis das Problem gelöst war, obwohl ich sagen muß, daß es noch immer nicht völlig gelöst ist. Und Freud liebte diese lebendige Art. Ich brachte Leben in einen toten Körper. Er schätzte meine Arbeit im Technischen Seminar.“
In diesem Sinne bot die charakteranalytische Technik erstmalig einen systematischen Zugang zur Auflösung von (Charakter-)Widerstand und Panzerung:
„Das orgonomische Bild der Neurose verschafft einem ein sehr praktisches Werkzeug für die Arbeit mit Patienten. Es ist ein bioenergetisches Werkzeug. Man kann den menschlichen Charakter nicht mit psychoanalytischen Mitteln erfassen. Man muß die Charakteranalyse und die Orgontherapie anwenden. Menschliche Wesen leben äußerst emotional in ihrer äußeren Erscheinung. Richtig? Um zum Zentrum zu gelangen, wo das Natürliche, das Gesunde liegt, muß man diese mittlere Schicht durchdringen.
Und in dieser mittleren Schicht ist Schrecken, nicht nur das – auch Mord. Alles das, was Freud unter dem Begriff des Todestriebes zusammenzufassen versuchte, findet man in dieser mittleren Schicht. Er glaubte, das sei biologisch bedingt. Aber das stimmt nicht. Es ist ein künstliches Produkt der Kultur. Es ist eine strukturelle Bösartigkeit des menschlichen Wesens. Deshalb muß man durch die Hölle gehen, bevor man das erreicht, was Freud Eros nannte, und was ich orgonotische Strömung oder plasmatische Erregung nenne (die grundlegende Plasmaaktion des bioenergetischen Systems). Durch die Hölle muß man! Das gilt sowohl für den Arzt als auch für den Patienten. In dieser Hölle ist Verwirrung, schizophrener Zusammenbruch, melancholische Depression. All das.
Ich habe es in der ‚Charakteranalyse‘ beschrieben. ich brauche es hier nicht zu wiederholen. Aber warum sprechen wir überhaupt von Lebenskraft? Es gibt nur einen Grund: um ihnen zu zeigen, warum niemand sich daran wagte oder versuchte, das biologische Zentrum zu erreichen, womit ich mich derzeit beschäftige. Bevor man dieses Zentrum erreichen kann, muß man sich mit Haß, Schrecken und Mord konfrontieren. Alle diese Kriege, all das Chaos jetzt – wissen Sie, was das für mich ist? Die Menschheit versucht, ihr Zentrum wiederzugewinnen, ihr lebendiges, gesundes Zentrum. Aber bevor es
erreicht werden kann, muß die Menschheit diese Phase des Mordes, des Todschlags und der Zerstörung überwinden. Das, was Freud den Destruktionstrieb nannte, findet man in der mittleren Schicht. Ein Stier ist verrückt und zerstörungswütig, wenn er frustriert wird. Mit den Menschen ist es genauso. Das heißt, bevor man zu den wahren Dingen gelangt – Liebe, Leben, Rationalität – muß die Hölle durchschritten werden. Das ist von großer Tragweite für die gesellschaftliche Entwicklung Ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen, aber ich wollte erklären, warum die Psychoanalytiker sich – unbewußt – weigerten, sich mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Wenn ich die Konsequenzen voll erkannt hätte, hätte ich selbst die Finger davon gelassen. Heute kann ich das nicht mehr. Die Brücken hinter mir habe ich abgebrochen. Wenn ich zurückschaue, begreife ich es. Es ist sehr gefährlich.“
Und es ist zuallererst die „genitale Gesundheit des Analytikers“, welche entscheidet, ob dieser vor der „Hölle“ der zweiten Schicht zurückschreckt, oder sich heranwagt, in dem (biologischen) Wissen, daß sich dahinter ein „Stück einfacher, anständiger Natur“ verbirgt.
Diesbezüglich hegte auch Freud Reich zufolge keine Illusionen über das Potential seiner Analytikerkollegen:
„Oh ja, ich erinnere mich an eine schöne Geschichte. Es war während des Berliner Kongresses, 1922. Ich war damals noch sehr jung. Ich analysierte erst seit drei oder vier Jahren. Es waren ungefähr einhundertfünfzig Teilnehmer da. Freud und ich und ein paar andere standen zusammen. Freud machte eine Geste und sagte: ‚Sehen Sie diese Menge hier? Wie viele davon, glauben Sie, können analysieren, wirklich analysieren?‘ Er hob fünf Finger. Das zeigte, daß er Bescheid wußte. Nicht daß die Leute schlechte Ärzte waren, aber das richtige Verständnis, der richtige Kontakt, das ‚Gefühl, wie ich es nenne, fehlte Ihnen.“
Und er selbst dazu: „Um es ganz deutlich zu machen: ein menschlicher Organismus wie der eines Analytikers kann unmöglich jahrelang kontinuierlich mit der menschlichen Struktur arbeiten, mit den Trieben, den perversen Trieben und den gesunden Trieben, er kann sich nicht
damit befassen, es akzeptieren, es auf sich bezogen finden und es aushalten, wenn er nicht selbst völlig sauber, klar und orgastisch befriedigt ist, wenn er nicht selbst ein gutes Leben führt. Nun, bei der Mehrheit der Analytiker war das nicht der Fall, und das ist entscheidend. Hier zeigt sich die Struktur, die Charakterstruktur, die dazu beitrug, die grundlegende Freudsche Theorie, die sexuelle Ätiologie der Neurosen, zu zerstören. Dafür war die Charakterstruktur verantwortlich. Die Psychoanalytiker entfernten sich von der natürlichen Genitalität. Und warum entfernten sie sich? Sie konnten es nicht ertragen; ihre Strukturen konnten es nicht ertragen. Ich glaube nicht, daß sie auf moralische Weise auswichen. Bei einigen war die Reaktion pornographisch, bei anderen abwehrend, zwangsneurotisch, bei wieder anderen bestand die Weigerung, damit in Berührung zu kommen, sich damit auseinanderzusetzen.“
Und letztlich:
„Die Tatsache, ob ein Psychoanalytiker ein neurotischer Charakter ist oder bis zu welchem Grade er es ist, bestimmt den Standpunkt, den er gegenüber meiner Arbeit einnimmt. Das entscheidet darüber, ob er mich verleumdet oder nicht, ob er mich für einen Psychopathen hält oder für ein normales, fröhliches Individuum, oder für ein Individuum, das aus sich herausgeht, natürlich ist, usw.“
„Man kann nur handeln: Kliniken gründen, den Heranwachsenden helfen, ihr Liebesleben in Freiheit zu führen, die Gesetze ändern, die im Weg sind“
Wilhelm Reich und wir
Was ist geschehen? Jetzt, vierzig Jahre danach, bleiben wir nach wie vor ausschließlich auf dem Terrain der Individualtherapie. Niemand wagt sich in den gesellschaftlichen Bereich, es gibt nach wie vor kein zweites Summerhill in Europa und auch wir Reichschen Eltern begnügen uns
mit Kompromissen in der Wahl von Kindergärten und Schulen für unsere Kinder, anstatt Initiativen zu setzen, die es unseren Kindern ermöglicht, in Freiheit heranzuwachsen. Warum?
Betrachte ich nun das in der Überschrift genannte Zitat in seiner Angemessenheit auf uns, jetzt, so meine ich, es könnte ohne moralische Überforderung durch ein „Reichsches Über-Ich“ (gesellschaftliche Initiativen setzen zu müssen), folgendermaßen lauten: Wir möchten, dürfen, könnten Initiativen wachsen lassen, welche aus unserem Bedürfnis zusammen zu sein ent-„strömen“ – miteinander kochen, ein Schloß kaufen, Lebensräume schaffen, unseren Kindern eine lebensbejahende Erziehung angedeihen lassen, usf.
Um nun mit Reich zu schließen:
„Die Verleumdungen werden noch lange dauern, die Verleumdung der Liebe, die Verleumdung der Genitalität, die Verleumdung des Lebens, der Haß auf das Leben – das wird noch lange dauern. Ein Teil der Arbeit besteht darin, sich dagegen zu schützen.“
Hinweis:
Das Buch „Wilhelm Reich über Sigmund Freud“ ist als broschürte Ausgabe (S 170,- + Versand) über Wolfram Ratz, c/o WRI, 1110 Wien, Simmeringer Hauptstraße 86 (Tel.: 7499131) beziehbar.
31 Mai
Bukumatula 3/1994
Zur Lage der Körperpsychotherapie in Österreich
Zusammenstellung Wolfram Ratz:
Das nachfolgende Interview mit dem in Wien praktizierenden Psychotherapeuten Christian Bartuska führte Teresa Perz. Teresa Perz ist Journalistin und freie ORF-Mitarbeiterin. In der ORF-Hörfunksendung „Moment, Leben heute“ wurden am 4. Jänner 1994 in ö1 Teile dieses Interviews gesendet.
Teresa Perz: Seit wann beschäftigen Sie sich mit Körpertherapie?
Christian Bartuska: Seit 1975.
P: Wie sind Sie dazgekommen?
B: Einerseits über die Literatur von Wilhelm Reich, die ich schon anfangs der siebziger Jahre gelesen habe und andererseits über Kollegen, die auch Körperpsychotherapie in Workshops, zum großen Teil im Ausland damals, kennengelernt hatten.
P: Was ist Körperpsychotherapie, können Sie das definieren?
B: Körperpsychotherapie ist eine Psychotherapieform, die den Körper als zentralen Ansatzpunkt verwendet, aber in einer sehr weit gefaßten Form. Wir brauchen unseren Körper, um zu sprechen, das heißt Worte, Stimme und auch der Inhalt unserer Worte und auch die Gedanken sind etwas Körperliches, oder zumindest, sie sind verkörpert. Wenn unser Körper versteift ist, dann sind auch unsere Gedanken versteift; in dem Sinn gibt es nicht nur eine Parallelität, sondern eine “funktionale Identität“, wie das Wilhelm Reich nennt, zwischen Psyche und Körper.
Es gibt sehr viele andere theoretische Ansätze, die im Prinzip dasselbe beschreiben. Allein aus unserem gängigen Sprachgebrauch ist bekannt, daß, wenn jemand halsstarrig ist, dann ist das einerseits eine ganz körperliche Beschreibung, aber gleichzeitig ist es ein psychischer Ausdruck. Jemand ist stur. Und das ist die Grundlage aller Körperpsychotherapieformen. Das Wissen darum, daß der Körper ausdrückt und zeigt und zugleich verkörpert, was die Seele an Schwierigkeiten, aber auch zugleich an Möglichkeiten hat.
P: Wann ist Körperpsychotherapie in Europa publik geworden?
B: Daß sie bekannt geworden ist, fällt etwa in den Anfang der siebziger Jahre. Zu diesem Zeitpunkt haben mehrere Lehrer begonnen Schulen aufzubauen, die eine große Schülerschaft angezogen haben; das hatte natürlich auch mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Die 68er Jahre waren vorbei, die revolutionäre Phase war irgendwie ausgelaufen und zum Teil als hoffnungslos zu sehen, und da war der Ansatz der Körperpsychotherapie eine echte Hilfe und eine echte Neuentwicklung für diese Leute.
Es hat eine große Gruppe von Linken gegeben, aber auch völlig unabhängig davon Leute, die mit Politik überhaupt nichts zu tun hatten, die aus der Meditation gekommen sind oder sich aus anderen Gründen mit dem Körper beschäftigt haben, bzw. eine Gruppe von Psychotherapeuten, die mit den Ergebnissen, die sie mit ihrer erlernten Methode bis dahin erzielt hatten, unzufrieden waren. Das war übrigens auch der Ansatz wie Wilhelm Reich auf Körperpsychotherapie gekommen ist.- Reich hat seine Arbeit nie so benannt. Damals wurde überhaupt nicht von Psychotherapie gesprochen sondern von Psychoanalyse. Es hat schon damals verschiedene psychoanalytische Richtungen gegeben. Wilhelm
Reich hat bemerkt, dass es bei etlichen Patienten keinen Erfolg gab, daß der Widerstand mit verbalen Methoden unüberwindbar war; und er hat bemerkt, daß in der körperlichen Spannung bzw. in der Veränderung der körperlichen Spannung ein Werkzeug zur Verfügung stand, mit dem man den normalen psychoanalytischen Therapievorgang beschleunigen konnte. Er hat bemerkt, daß Leute verkrampft waren, ihren Kopf z.B. im Nacken nicht bewegen konnten, und wenn er das durch Massage gelöst hat, ist die Therapie plötzlich weitergegangen. Das war der Beginn. Von dem aus hat er sehr viel weiterentwickelt.
P: Können Sie beschreiben, was Körperpsychotherapie alles kann und wo ihre Grenzen sind?
B: Körperpsychotherapie kann an erster Stelle Leuten ermöglichen, sich in ihrem Körper besser zuhause zu fühlen; sich vertraut zu machen mit ihren körperlichen Aspekten. Und das bezieht Gefühle mit ein. Gefühle sind die Nahtstelle zwischen Körper und Seele, wenn wir ein Modell einer getrennten Einheit von Körper und Seele verwenden. Die Körperpsychotherapeuten verwenden oft ein Modell, in dem die Seele, die Gefühle und der Körper die verschiedenen Schichten einer Einheit sind. Aber wenn wir es getrennt sehen, wie das bei uns noch üblich ist, dann brauchen wir ein gutes Körperbewußtsein, um unsere Gefühle wahrnehmen zu können und um sie leben zu können.
Wenn wir unseren Körper zu wenig intensiv wahrnehmen, dann kann es sein, daß die Gefühle uns überschwemmen, was noch einmal Probleme macht. Wenn unser Körper zu rigide ist, ist es umgekehrt; wir nehmen unsere Gefühle zu wenig wahr und fühlen uns leblos, leer, oder haben das Gefühl, das Leben geht an uns vorbei. Das wichtigste ist, daß wir mit unserem Körper mit allen Möglichkeiten, sowohl mit den Gefühlen als auch mit den Impulsen – die Impulse beziehen sich auf diesen ganzen Bereich von Hemmung und Angst -, umgehen können. Hemmung heißt, daß der Körper verkrampft ist und wir nicht in der Lage sind, spontan den inneren Impulsen zu folgen.
Und Angst hat mit Enge, schon von der Sprache her, zu tun. Die Enge erlaubt unserer inneren Erregung keinen freien Fluß, keinen Ausdruck und ist einfach zutiefst unangenehm. Wenn die Enge -weit“ wird, dann fließt die Erregung, und wir fühlen uns entweder frei oder erregt, im Sinne von positiv erregt, von angenehm aufgeregt, oder es tauchen Gefühle auf oder der Wunsch und die Möglichkeit zu handeln. Diese ganzen Bereiche, sowohl Gefühle als auch Hemmung und körperliche Beweglichkeit, berühren alle Formen der Neurosen, wie sie in der Psychotherapie bekannt und beschrieben sind, berühren aber auch die sogenannten Psychoneurosen, narzistische Borderline-Störungen, berühren natürlich auch schizoide und psychotische Zustände, wiewohl die Körperpsychotherapie im Moment kein Instrumentarium entwickelt hat, welches durchgängig und leicht die Arbeit mit Psychotikern ermöglicht.
Es gibt immer wieder Einzelfälle, die beschrieben sind, aber die meisten Körperpsychotherapeuten arbeiten mit dem, was im normalen Sprachgebrauch „Neurose“ heißt, aber auch mit sehr vielen sozialen Störungen. Es geht oft um Kontakt. Ober den Kontakt zu meinem Körper kann ich den Kontakt zur Umwelt – sowohl zur materiellen als auch zur sozialen Umwelt -finden. Die verschiedenen Körpertherapien haben dafür unterschiedliche Möglichkeiten. Aber es geht immer wieder um Kontakt. Wie ist zum Beispiel mein Gesichtsausdruck, und wie kann ich erreichen, daß Sie, wenn Sie mir jetzt zuhören, mich wahrnehmen, mitfühlen, mich verstehen, mich begreifen können – das sind alles körperliche Ausdrücke -, worum es mir geht.
P: Können Sie mir beschreiben, wie man das konkret anwendet, was für Leute kommen da zu Ihnen und was lernen sie hier? Können Sie ein paar konkrete Fälle schildern?
B: Im Moment ist es so, daß die meisten Leute
zu mir kommen, weil sie persönlich von meiner Arbeit gehört oder über Körperpsychotherapie gelesen haben und speziell an der Arbeit mit dem Körper interessiert sind. Ein Drittel davon hat andere Psychotherapieformen ausprobiert – mit Erfolg, ohne Erfolg oder mit Teilerfolg – und ist angezogen von den Möglichkeiten, die die Körperpsychotherapie bietet. Und ein geringerer Teil kommt einfach aus dem Wunsch heraus, psychotherapeutische Hilfe anzunehmen und hat von Körperpsychotherapie keine Ahnung. Ein Großteil der Klienten leidet an depressiven Zuständen. Sie fühlen sich elend, traurig, ausgeliefert, hilflos oder haben Angst vor bestimmten Dingen oder vagen Situationen, oft nicht einmal beschreibbar. Was ich anbieten kann ist einerseits ein offenes Ohr. Aber ich höre nicht nur mit meinen Ohren zu, sondern mit meinem ganzen Körper.
Mit meinen Ohren, mit meinen Augen, mit der Resonanz meines Körpers. Und ich versuche in diesem Zuhören herauszufinden, was an Wahrnehmung in der Existenz des Menschen, der mir da gegenübersitzt, fehlt. Also was blendet er aus seiner Wahrnehmung aus, was ignoriert er, was will er nicht wahrhaben, welchen Illusionen läuft er nach oder wo ist er ängstlich und wo braucht er Unterstützung, um sich erlauben zu können, das zu spüren. Als Beispiel: Wenn jemand in Illusionen schwebt -und Illusionen machen immer Probleme, vor allem, wenn sie zerbrechen – heißt das, daß seine Wahrnehmung hauptsächlich im Kopf, in seiner Vorstellung ist und nahezu immer viel zu wenig im Körper und in den Beinen, die ihn tragen und die ihn mit der Schwerkraft und dem Boden verbinden.
Was ich in diesem Fall neben dem Zuhören und dem Eingehen auf seine Problematik tue, ist, daß ich ihm vorschlage: „Steh auf und fang an Deine Beine zu bewegen und den Boden zu spüren“. Und in dem Maß, in dem das möglich ist, sagt jemand dann plötzlich: „Ah, jetzt spüre ich wieder wie ich stehen kann, wie ich standhalten kann, wie ich zu mir stehen kann oder wie ich eigene Schritte gehen kann, nicht mehr abhängig davon bin, was mir jemand anderer aufgezwungen hat“.
P: Werden da auch manchmal über den Körper Emotionen frei, die durch irgendwelche – also das sind Erfahrungen, die ich gemacht habe – ganz einfache Übungen wie z.B. den Arm in einer bestimmten Weise zu heben, manchmal recht heftig sein können?
B: Es gibt viele Menschen, die als Kinder gelernt haben, ihre Gefühle aus Not, aus Lebensnotwendigkeit zu unterdrücken.
In der Körperpsychotherapie gibt es bestimmte Übungen, die diese Spannungen lösen können, und in diesem Moment werden die Emotionen frei, werden lebbar, fühlbar und drücken sich aus. Oft völlig unwillkürlich, so wie ein kleines Kind einfach seinen Gefühlen folgen muß. Ein Erwachsener nicht. Und ein Teil unserer Arbeit ist sicher, ganz gezielt diese blockierten Emotionen zu befreien. Wenn zum Beispiel Wut im Hals steckt, dann erleben wir sie als Angst. Und wenn die Angst sich lösen soll, dann ist es notwendig, die Muskeln, die diese Spannung halten, zu lockern oder loszulassen, vom Klienten her gesprochen, und dann kann die Wut sich ausdrücken.
Jemand brüllt, jemand schreit, jemand zittert, jemand erlebt Lust, Liebe, Offenheit, alle möglichen Gefühle, die normal nicht unter Gefühl laufen, die aber Körpergefühle sind; das ist ein wesentliches Element in unserer Arbeit, aber es ist nicht das Ziel. Das reine Befreien von Emotionen bewirkt zwar, daß ich mich im Moment frei fühle, aber das hat – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie eine dauerhafte Wirkung.
P: Was hat dann eine dauerhafte Wirkung?
B: Eine dauerhafte Wirkung beruht darauf, daß ich mich in meiner Gesamtheit wahrnehme, annehme, und das bewußt in meinem Leben umsetze. Also z.B. wahrzunehmen, wie ich mich eng fühle und wie gut es ist, wenn ich loslassen kann.
P: Wann soll jetzt ein Klient zu Ihnen kommen und wann soll man eine verbal orientierte Therapieform wählen?
B: Das läßt sich schwer so allgemein sagen. Es ist sinnvoll, wenn sich jemand angesprochen fühlt von der Vorstellung, daß da mit dem Körper gearbeitet wird, in der weiten Form, wie ich es zuvor dargestellt habe; wo es möglich ist, daß jemand auch körperlich berührt wird, das heißt, daß ich mit meinen Händen den Körper des Klienten berühre, ihn halte, ihn massiere, ihn bewege, z.B. indem ich im Liegen seinen Kopf in die Hände nehme und den Kopf ganz langsam bewegen, was ja aus der Physiotherapie stammt, aber in diesem Zusammenhang, wie wir arbeiten, psychische Wirkung hat, dann ist das ein Kriterium.
Das zweite Kriterium ist, daß die körpertherapeutische Arbeit, wenn sie langfristig geplant ist, eine sehr tiefgreifende Wirkung hat und sehr frühe traumatische Ereignisse und chronische traumatische Situationen auflösen kann. Also nicht, wie es in der Psychoanalyse heißt, daß es die Grenze zum Verbalisieren mit zwei Jahren gibt, sondern wir gehen auch weiter zurück in die frühe orale Phase und in das Geburtstrauma und zum Teil in Traumen, die vor der Geburt stattgefunden haben, bis hin zur Zeugung.
Dies ist über körperbezogene Methoden zugänglich und auflösbar. Das passiert auch in anderen Psychotherapien. Otto Rank hat zum Beispiel auch an Geburtstraumen gearbeitet, rein verbal; das ist meiner Erfahrung nach aber schwerer zugänglich. Eine verbale Therapie würde ich jemandem empfehlen, der Probleme in seiner Vorstellungswelt hat und diese besprechen möchte und der es nicht mag, daß sein Körper miteinbezogen wird, dem das im Moment unangenehm ist.
Gleichzeitig ist diese Trennung aber gar nicht so kraß zu ziehen. Ich habe viele Stunden an Körperpsychotherapie gegeben, die so ausschauen, daß ich sitze und der Klient sitzt mir gegenüber und wir sprechen. Nichts sonst, oberflächlich betrachtet. Und umgekehrt passiert es in psychoanalytischen Sitzungen – jetzt nur als Beispiel -, daß der Klient liegt, über etwas spricht, berührt ist, weint, schreit, seinen Körper bewegt und dabei sehr viel an Spannung loswird. Und der Psychoanalytiker sitzt hinter ihm und nimmt den Körper des Klienten natürlich wahr und bezieht sich auch darauf in seinen Formulierungen, auch wenn er es nicht explizit tut. Also es passiert auch dort etwas mit dem Körper.
Unabhängig davon, was ich gerade gesagt habe, denke ich, daß es wichtiger ist, wie ich mich mit einem Therapeuten fühle, wie ich einen Arbeitskontrakt schließen kann, wie ich mich aufgehoben und angenommen fühle. Das ist wichtiger als die Therapieform. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, daß gute Therapeuten, gleichgültig welche Methode sie anbieten, gute Ergebnisse erzielen und schlechte Therapeuten, gleichgültig welche Methode sie verwenden, schlechte Ergebnisse erzielen bzw. Störungen bewirken.
Wichtig dabei ist, daß der Therapeut seine persönlichen Grenzen kennt, also spürt, wo es für ihn heikel wird, wo er nicht weitergehen kann und das entweder in seiner eigenen Supervision oder Therapie zum Aufarbeiten verwendet oder mit dem Klienten beschließt, hier aufzuhören. Eine Grenze der Körperpsychotherapie gibt es auch dort, wo eine Technik überdimensional angewendet wird. Es gibt Techniken, die sind sehr provozierend, und wenn jemand zu wenig Grenzen hat, zu überprovoziert ohnehin schon ist, dann ist das natürlich gefährlich, nicht gut für diesen Menschen. Es gibt auf der anderen Seite auch Techniken, die Grenzen aufbauen, die den Körper so stärken, daß jemand sagt, ah, jetzt fühle ich mich besser abgegrenzt, jetzt fühle ich mich sicherer in mir.
Die wären dann anzuwenden. Das ist keine allgemeine Grenze, sondern das ist eine Grenze der Körperpsychotherapie, die im Moment gerade entwickelt wird und in den letzten 5 bis 10 Jahren mehr Aufmerksamkeit bekommen hat; wie kann man jemandem helfen seine Gefühle zu halten, nicht festzuhalten, sondern einzubehalten, es gibt ein englisches Wort dafür, „containment“. In dem Sinn kann ein guter Körperpsychotherapeut mit einer großen Vielzahl von Klienten arbeiten, abhängig davon, wie er auf die Notwendigkeiten und die Bedürfnisse des Klienten konkret eingehen kann.
P: Es ist ja an und für sich doch eine ungewohnte, unübliche Vorgangsweise, wenn man im Zuge einer Therapie mit dem Körper zu arbeiten beginnt. Stoßen Sie da nicht auch auf viel Mißtrauen, Vorurteile usw.?
B: Es ist nur ungewöhnlich, wenn man von den Psychotherapieformen ausgeht, die in Österreich vor 20 Jahren das übliche waren. Es ist dann ungewöhnlich, wenn man aus einer längerfristigen psychoanalytischen Therapie heraus plötzlich mit dem Körper zu arbeiten beginnen würde. Es würde auch mir Probleme machen, wenn ich mit jemandem verbal arbeite und nach zwei Jahren bzw. 80 oder 100 Stunden sage, so und jetzt berühre ich dich. Es macht kaum Probleme, wenn jemand kommt und sagt, er ist an Körpertherapie interessiert. Er kommt deshalb, weil er weiß, daß ich das mache und wenn ich im Rahmen der ersten paar Stunden Körperübungen vorschlage, ist derjenige bereit, diese Übungen anzunehmen, weil das für ihn stimmt.
Es macht natürlich Probleme, wenn ich jemandem eine Übung vorschlage, die für ihn nicht paßt. Es kommen auch Leute in Therapie, die große Schwierigkeiten haben sich berühren zu lassen, die davor Angst haben, Ekelgefühle haben und die trotzdem kommen, gerade deshalb. Die meisten aber sind ausgehungert nach Kontakt und genießen es sehr, wenn sie berührt werden. Häufig ist es eine Schwierigkeit, wie sie das, was sie da bei mir zulasssen können, auch in ihrem Alltag sich erlauben können. Da gibt es natürlich sehr oft körperfeindliche Einstellungen , die heißen: benimm dich, halte dich so und so, beiß die Zähne zusammen usw., und das wird sozial zum Teil auch hart exekutiert.
Und da muß man lernen sich durchzusetzen oder sich abzugrenzen. Das ist eine Schwierigkeit, die bei mir herinnen in der direkten Arbeit oft nicht so auftaucht. Oft kommt dann nach vielen Monaten der Auflösung: aha, wenn ich das draußen mache, um Himmels willen, dann werde ich bestraft. Und dann bin ich im Zwiespalt. Die alten Verbote, die von den Eltern oft nie ausgesprochen wurden, kommen plötzlich ans Licht. Wir lernen sehr viel von den Eltern, indem wir sie einfach imitieren; ganz unbewußt, oder auch absichtlich. Und das aufzulösen ist oft schwierig. Aber das projiziert sich nicht auf meine Person oder auf meine Arbeit, nicht so direkt.
P: Kann man sagen, aus welchem Gedankenhintergrund diese Körperpsychotherapie den Menschen sieht?
B: Es gibt verschiedene Ansätze die zum Teil verbunden sind bzw. nebeneinander stehen. Einer davon ist sicher der von Hans Driesch mit seiner Theorie über den -Elan Vital“, auf Deutsch „Lebensenergie“: Lebenskraft durchfließt uns und erlaubt alle Aspekte unserer Existenz. Reich geht darin noch weiter: nicht nur die energetischen Aspekte – also Gefühle oder Impulse oder Gedanken – , sondern auch das Materielle ist eine Manifestation des Energetischen. Daneben gibt es Ansätze, die aus asiatischen Philosophien stammen: Energievorstellungen von verschiedenen Schichten.
Es gibt das höhere Selbst, die Seele, die sich verkörpert hat, so daß das tiefste Element die tiefste Schwingung wäre -das Physisch-Materielle -, die nächst höhere Ebene das Emotionale, die nächst höhere das Energetische, das nächst höhere das Mentale und dann die höheren Stufen, wie das in den indischen Weisheitslehren beschrieben wird. Es gibt viele Körperpsychotherapeuten, die mit der Vorstellung von aurischer Energie arbeiten; das ist etwas, was man nach relativ kurzer Übung ganz einfach wahrnehmen kann, die meisten Klienten auch an sich selber wahrnehmen können und in dieses Modell der Schichten sehr gut hineinpaßt. Die Aura ist die Schicht des materiellsten Energiefeldes. Das Energiefeld ist trotzdem immateriell. Diese Ausdrücke entsprechen nicht denen der Physik, wiewohl es Obereinstimmungen gibt. Es gibt Messungen vom menschlichen Energiefeld, die schon vor 50 Jahren von Saxon und Burr durchgeführt wurden.
Auch von japanischen Forschern gibt es eine Reihe von Untersuchungen darüber. Dieses Schichtenmodell impliziert, daß es ein nichtmaterielles Existenzfeld gibt, aus dem wir heraus gezeugt werden und in das wir wieder zurückkehren, bis hin zu Reinkarnationsvorstellungen; das fällt nicht mehr unter Körperpsychotherapie, schließt aber nahtlos daran an. Dann gibt es natürlich die ganzen philosophischen Hintergründe über die ‚primäre Persönlichkeit‘, z.B. daß der Mensch von Natur aus gut ist, was ein schwieriger Begriff ist. Was heißt gut? Von Natur aus ist der Mensch frei, lebendig und in der Lage völlig sinnvoll auf jedweden Umstand zu reagieren. Und sinnvoll reagieren kann auch heißen, daß ich mörderisch wütend werde und etwas zerstöre, wenn es etwas ist, was mein Leben bedroht.
P: Also so wie sie das erzählen, würde ich meinen, daß das Weltbild, das da dahinter steht in keiner Weise vergleichbar ist z.B. mit NLP, wo es um den ‚verwertbaren‘ Menschen geht, der möglichst auch im gesellschaftlichen Kontext erfolgreich sein soll. Ich würde meinen, daß es da mehr darum geht, daß man auf die Gefühle hört, etc. Wie kann man das beschreiben…?
B: Der zentrale Begriff, den ich immer wieder verwende, wenn ich es für mich formuliere, ist, wie authentisch ist ein Mensch oder wie ist er ‚da‘. Ist es möglich, diesen Menschen wirklich zu spüren, ist es möglich, diesen Menschen in seiner Gesamtheit, in seinen unendlich vielen Möglichkeiten, in seinen vielen sozialen Aspekten, in seinem Potential lebendig zu spüren, oder gibt es da Beschränkungen, Abgrenzungen, Probleme, Widerstände usw. Wie authentisch ist ein Mensch, wenn er sich mitteilt. Klingt das nach bla, bla oder berührt es mich wirklich, was er sagt?
P: Wohin versuchen Sie die Leute zu bringen? Zu einem spontaneren Ausdruck oder so?
B: Ja, also ich bringe niemanden irgendwo hin. Ich bin da, begleite jemanden und unterstütze ihn auf der Suche nach bzw. bei der Entwicklung nach dem, wo ich annehme, daß jeder Mensch sowieso dorthin will, nämlich zu seiner Ganzheit. Zur Gesamtheit aller seiner Existenzebenen und Möglichkeiten. Ich nehme an, daß jemand darunter leidet, daß er bestimmte Bereiche nicht wahr-’nimmt, nicht lebt. Das ist meine Arbeitshypothese. Und ich nehme an – das ist meine zweite Arbeitshypothese -, daß er wahrnehmen möchte, aber im Moment alleine dazu nicht in der Lage ist.
Und es ist meine Aufgabe ihn dabei zu begleiten, ihn zu unterstützen, ihm Mut zu machen, ihm es zu ermöglichen, z.B. über eine Provokation …, aber er selbst geht dorthin, er macht das, ich bringe ihn nicht dorthin, ich kann auch mit zehn Pferden niemanden dorthin bringen. Das Wesen der Ganzheit – Körper, Seele, höhere Existenz – bedeutet Einheit, und wenn jemand in dieser Einheit lebt, dann hat er keine Probleme in diesem Sinne. Dann gibt es natürlich Herausforderungen, Schwierigkeiten, dann gibt es Gefühle – viele Leute kommen in Therapie und sagen – ich bin so traurig“ oder ‚ich bin so wütend, und ich möchte das loswerden“, daß ist absurd. Man ist tot, wenn man die Gefühle los ist. Was er braucht, ist, daß er sie annehmen kann, um in Harmonie leben zu können.
Auch die indischen Meister werden von Zeit zu Zeit wütend oder leiden oder haben Angst, aber sie sehen es von einer Ganzheit aus, sie sind integer damit. Sie haben es nicht notwendig, jemanden zu beschuldigen, jemand anderen zu zwingen, daß er für sie was tut usw. Es macht uns leidend, wenn wir nach außen projizieren, wenn wir nicht sagen können, das bin ich auch. Dann bin ich es nicht los, aber ich bin eins mit mir, und das ist unglaublich beglückend. Eines der verblüffendsten Erlebnisse zu Beginn meiner Therapeutentätigkeit war, daß ich jemanden gesehen habe, der tief geschluchzt hat, wirklich tief. Und auf die Frage: „Wie fühlst du dich?“ kam die Antwort: „So gut wie nie zuvor!“. Und das war echt, das hat gestimmt. Wirklich frei zu fühlen ist unglaublich beglückend.
P: Ein Einwand, auf den ich Sie ansprechen möchte: Sie haben vorher angedeutet, daß hier in diesem geschützten Rahmen Platz für bestimmte Dinge ist. Wenn man dann aber konfrontiert wird mit der Außenwelt, mit den gesellschaftlichen Anforderungen, so wie sie sich normalerweise stellen, dann … das haben Sie auch gesagt, dann gibt es eine Diskrepanz, daß die Leute nicht wissen, wie sie-s integrieren sollen usw. Das sehe ich problematisch. Die Aufgabe der Psychotherapie liegt doch darin, die Menschen dahin zu bringen, daß sie das Leben möglichst gut bewältigen können und nicht sowas, was ein bißchen weltfremd ist, nicht?
B: Davon, daß wir etwas Weltfremdes fördern, davon sollte keine Rede sein, auch wenn das natürlich vereinzelt passieren kann. Psychotherapie soll helfen, daß der Mensch sein Leben möglichst gut bewältigen kann, und das beinhaltet, daß er in seinem Alltag, in seiner sozialen Situation, in seiner Arbeit, Dinge verändert. Daß er unter Umständen den Job kündigt oder zum Chef geht und auf den Tisch haut, daß er – zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben – seiner Ehefrau die Wahrheit über das, was in ihm vorgeht, sagt und daß er lernt, damit umzugehen. Daß er tatsächlich so viele Veränderungen durchführt, daß sein Leben für ihn stimmig wird. Und es mag viele Jahre brauchen
und er bedarf unter Umständen sehr viel an Unterstützung, sowohl vom Therapeuten als auch von anderen, ihm nahestehenden Menschen. In dem Rahmen, wie ich zum Beispiel mit den Leuten arbeite, kommen die Klienten immer wieder und sagen: „Ich habe das meiner Freundin erzählt, und es war so gut, dieser Abend“. Oder: „In der Arbeit ist es mir ganz mies gegangen, und plötzlich ist eine Kollegin zu mir gekommen und hat ihre Hand um meine Schultern gelegt. Und dann haben wir geredet“. Und aus dem heraus entwickelt sich etwas völlig Neues, was bisher nicht möglich war.
P: Hm, kommen auch Leute mit falschen Erwartungen zu Ihnen?
B: Wer kommt nicht mit falschen Erwartungen? Nahezu alle Leute erwarten mehr oder weniger stark, daß ich etwas für sie tun kann, und dann ist ihr Problem für sie gelöst; ich nehme es ihnen weg, sozusagen. Das ist meistens nicht bewußt. Früher oder später kommen sie zu dem Punkt, wo sie sich damit auseinandersetzen müssen, wo sie dann „negative Übertragung“ auf mich durchleben, böse auf mich sind, weil ich nicht das tue, was sie erwartet haben. Wenn dann herauskommt, was sie erwartet haben, dann können sie, wenn sie ihre Erwartungen selber betrachten, sehen, daß das eine Illusion ist, daß das nicht möglich ist.
P: Ja, Entschuldigung, aber das, was sie gerade gesagt haben, das sagen mir alle Psychotherapeuten. Was ist dann bei der Körperpsychotherapie ….
B: Es ist eine Illusion wenn man glaubt, daß sich über die körperliche Spannungslösung auch alles andere löst. Das ist im Prinzip dasselbe Thema, aber wenn jemand von mir erwartet, daß ich mit seinem Körper “tue“, ihn repariere wie ein Auto und die Sache hat sich, dann kommt das weitgehend
aus der Vorstellung der Schulmedizin, wo jemand eine „Krankheit“ hat und der Arzt diese oder jene Tablette verschreibt. Es ist oft schwer, jemandem zu ermöglichen, daß er seine innere Selbstregulation findet bzw. überhaupt begreift, worum es hierbei geht. Manche Menschen sind relativ frei aufgewachsen; wenn sie einen Impuls hatten, dann konnten sie dem als Kind folgen und spüren, daß das gut ist und wenn sie gestört wurden dabei, dann ist das eben eine Störung und muß irgendwie gelöst werden.
Aber viele von uns sind in einer Familienkultur aufgewachsen, wo es heißt: alle vier Stunden wird gefüttert, ich weiß, was für dich gut ist, Kind, dir ist doch kalt, du mußt dir was anziehen und jetzt gibt es was zu essen und du willst doch, usf. Die haben den Zugang zu den inneren Impulsen vollkommen verloren. Die wissen entweder nicht, was sie wollen oder sie wissen nicht, was sie im Moment zu tun brauchen, damit es ihnen gut geht. Und das von außen zu geben ist nicht möglich.
Es ist eine sehr schmerzliche Erfahrung, diesen Mangel zu spüren; das muß durchgelebt werden, bis jemand draufkommt, aha, jetzt brauche ich aufzustehen und mich zu bewegen, damit es mir gut geht. So absurd das klingt, aber es gibt Leute, die nehmen das nicht wahr. Und es gibt Leute, die nehmen nicht wahr, daß sie zu atmen brauchen. Sie atmen irgendwie auf einem Minimum dahin und sind völlig lufthungrig. Das ist es, was mir zu dieser Frage einfällt.
P: Ich würde annehmen – das habe ich Sie auch am Telefon schon gefragt -, daß die Gefahr sexueller Obergriffe relativ größer ist als bei anderen Psychotherapieformen. Wie grenzen Sie sich als Therapeut ab, bzw. hört man von anderen Kollegen, daß da Dinge in dieser Richtung häufiger passieren?
B: Ich sehe das zweiseitig. Einserseits ist die Gefahr von sexuellen Obergriffen größer, weil wir mit sexueller Energie, mit sexueller Problematik arbeiten, weil wir körperliche Nähe von vornherein akzeptieren und fördern; andererseits ist die Gefahr sehr viel geringer, weil es immer wieder darum geht, einen echten, realen Kontakt zuzulassen und ganz klar ist, daß in dem Moment, wo ich einen sexuellen Zyklus mit dem Klienten beginne, egal jetzt ob als Therapeut mit einer Klientin oder als Therapeutin mit einem Klienten, daß dies eine „eins zu eins gleichwertige Beziehung“ ist. Ich bin gleichermaßen beteiligt, gleichermaßen bedürftig, gleichermaßen ängstlich usw. – und daher abhängig.
Das macht jede Therapie unmöglich und ist, wenn es im Rahmen einer Therapie passiert, eine tiefe Verletzung, die sehr schwer heilbar ist. Es zeigt sich, daß solche Dinge fast immer dann passieren, wenn Klienten das mit ihren Eltern erlebt haben, wenn diese Verletzung also schon da ist, wird sie in der Therapie wiederholt. Und Psychotherapeuten, die anfällig sind oder dieses Problem nicht durchgearbeitet oder gelöst haben, können leicht in diesen Fehler verfallen. In der Körperpsychotherapie kommt dies aber nicht häufiger vor als in anderen Psychotherapien. Der Unterschied ist der: In der Körperpsychotherapie wird dieses Problem offen diskutiert.
Es gibt z.B. ein Buch „Verführung auf der Couch“, wo nur verbale Psychotherapien zitiert werden, wo hauptsächlich Klientinnen über sexuellen Mißbrauch in ihren Therapien berichten. Gerade durch die körperliche Distanz schaukelt sich die sexuelle Energie oft so auf, daß es dann zu Übersprungshandlungen kommt und die Sexualität ausagiert wird. Wenn ich jemanden real begreife, kann ich gar nicht daran vorübergehen, daß der ein erwachsener Mensch ist, der gerade fühlt wie ein kleines Kind und mich als Erwachsenen braucht.
Es ist nicht mein echtes Bedürfnis mit einem kleinen Mädchen zu schlafen; das ist ein neurotisches Bedürfnis. Das wird natürlich in unserer Gesellschaft immer wieder ausagiert. Daher ist die Gefahr in einer Psychotherapie dasselbe zu wiederholen auch gegeben. In der Körperpsychotherapie ist das als Problem sehr heftig diskutiert worden; es gibt in der EADP, in der Europäischen Vereinigung für Körperpsychotherapie, eine lange Liste von ethischen Regeln, die zum Großteil darauf Bezug nehmen. Meines Wissens nach wurde die Diskussion zu diesem Thema in den anderen Psychotherapierichtungen noch gar nicht geführt – ausgenommen die ethische und pragmatische Ebene.
In der Körperpsychotherapie wird sehr oft in Gruppen gearbeitet, und in der Gruppe kann ich als Therapeut bestimmt Fehler machen, aber die Gruppe hat ein ganz anderes Gegengewicht mich zu kritisieren bzw. mich auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen. Diese Auseinandersetzung wurde in Gruppen begonnen und geführt. In der Einzeltherapie ist das Risiko verwickelt zu werden natürlich größer, aber so wie ich das jetzt von den Kollegen sehe bzw. höre, ist das Problem in den Grundlagen weitgehend gelöst. Viele von uns arbeiten individuell nach wie vor daran, und ich würde allen Psychotherapeuten sehr empfehlen, das auch zu tun, weil es enorm bereichernd ist, genau dieses Thema von Mißbrauch, das sich ja nicht nur auf Sexualität beschränkt, sondern vor allem ein Machtmißbrauch ist, durchzuarbeiten.
Machtmißbrauch ist etwas, was sich in unserer Kultur von A bis Z durchzieht, aber nicht wirklich wahrgenommen wird. Wir Psychotherapeuten haben da auch einen Auftrag an die Gesellschaft. Etwa offenzulegen wie z.B. Werbung, wie die gängige Art, Politik zu betreiben, wie das Schulsystem etc. in unser Leben in mißbräuchlicher Art eingreifen und wie wir geneigt sind mit der Macht, die wir haben, mißbräuchlich zu antworten. Jemanden zu konfrontieren, jemandem die Wahrheit ins Gesicht zu sagen ist ungeheuer mächtig, macht mich auch offen für die echte Antwort, aber macht mich auch verletzlich, wenn der andere weiter auf seinen Machtmißbrauch besteht. Darum ist die offene Auseinandersetzung der einzige Weg, um zu einer echten, liebevollen Beziehung zu kommen.
P: Wie war die Entwicklung der Körperpsychotherapie in den siebziger Jahren, wenn Sie das mit heute vergleichen.
Hat sich da der Aufgabenbereich geändert?
B: Die Körperpsychotherapie ist vielfältiger geworden. Es gibt mehr Techniken, um mit verschiedenen Neurosenformen umgehen zu können, das heißt, daß wir jetzt auch mit Borderline Störungen und narzißtischen Syndromen gut arbeiten können. Die Körperpsychotherapie ist wissenschaftlicher geworden, die einzelnen Schulen fangen an sich auseinanderzusetzen und die Erfahrungen auszutauschen. Es gibt langsam aber doch mehr Untersuchungen über die Wirksamkeit, über die Vorgehensweisen, über Beobachtungen etc. Es ist natürlich eine sehr junge Wissenschaft.
Wilhelm Reich hat sehr viel geforscht, war aber ein monomanischer Einzelgänger. Erst ab den siebziger Jahren hat es Leute gegeben, die Untersuchungen parallel bzw. Nachuntersuchungen gemacht haben, die wissenschaftlich nachgearbeitet haben.- Neu ist auch, daß die Ausbildungslehrgänge einen stabileren Rahmen bekommen, sodaß man ungefähr vergleichen kann, diese Ausbildung ist gleichwertig mit jener. In den Beginnjahren war die Entwicklung so rasch, daß jeder Ausbildungslehrgang fast immer was Neues gelernt hat. Die Situation ist übersichtlicher geworden, auch durch den EABP. Man weiß, welche Schulen es gibt und wer die Lehrer bzw. Ausbildner sind.
Es gibt zum Teil ganz krasse Unterschiede in den körperpsychotherapeutischen Schulen, sowohl die Theorie, als auch die praktische Vorgehensweise betreffend, wobei aber der Hintergrund bei allen gleich ist, in der Weise, daß sie den Körper im Zentrum der Aufmerksamkeit sehen. Und was auch neu ist, ist eine Verknüpfung mit anderen psychotherapeutischen Schulen, was zum Teil damit zu tun hat, daß viele ausgebildete Psychotherapeuten anderer Schulen Körperpsychotherapie erlernen und das wieder in ihre alten Schulen zurücktragen. Es besteht zum Teil großes Interesse an diesem Austausch.
P: Was sind die häufigsten Vorurteile, die der Körperpsychotherapie entgegengebracht werden?
B: Was ich in letzter Zeit höre, ist, daß es doch unmöglich sei, jemanden zu berühren, weil, das hätte nur mit Sexualität zu tun. Das zweite Vorurteil lautet, man würde Menschen manipulieren. Da sehe ich aber keinen Unterschied, weil ich mit Worten genauso gut manipulieren kann; natürlich kann ich, aber warum sollte ich, das ist nicht meine Aufgabe als Therapeut.
Das nächste Vorurteil, die Körperpsychotherapie sei nicht wissenschaftlich, besteht aus Unkenntnis. Sie ist genauso wissenschaftlich oder unwissenschaftlich wie die meisten anderen Psychotherapierichtungen auch, wiewohl vielleicht die Meter an Literatur unterschiedlich sind; aber das ist kein Kriterium. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit kommt vielleicht auch von daher, ( daß wir Begriffe anders verwenden. Das kann geschehen, wenn sich eine Gruppe eigenständig entwickelt, dann variieren die Bedeutungen von Begriffen, und es ist dann schwer zu kommunizieren. Ich sage A und der andere sagt A und meint aber etwa anderes.
Es ist notwendig das zu klären, und erst dann können wir weiter diskutieren. Das hat aber nichts mit meiner Wissenschaftlichkeit zu tun und nichts mit seiner. Aber es hat mit Wissenschaftlichkeit zu tun, diese Diskrepanz zu überbrücken. Ich kann nicht etwas, das sich aus der Tradition bei uns entwickelt hat, über Bord werfen, nur weil eine andere Gruppe denselben Begriff anders verwendet. Obwohl die Grundbegriffe sehr ähnlich in der Psychoanalyse, genauso wie bei den Jungianern oder den Gesprächspsychotherapeuten verwendet werden, gibt es krasse Unterschiede.- Der Vorwurf der Manipulation, der Vorwurf des sexuellen Ausagierens kommt immer wieder, zum Teil weil das tatsächlich passiert ist; ich kann nur offen zugeben, daß einzelne Gruppenleiter das getan haben.
Aber da gibt es keinen Unterschied zu anderen Psychotherapierichtungen, wo das genauso passiert ist. Ich kann Ihnen ad hoc einige Gruppierungen aufzählen, wo ich das persönlich weiß, daß es passiert ist und aus der damaligen sozio-kulturellen Entwicklung zu verstehen ist. Das war in den siebziger Jahren einfach üblich in der Humanistischen Psychologie. Es ist aber auch in den nicht-humanistischen Psychotherapierichtungen passiert, schon zwanzig oder fünfzig Jahre früher. Freud selbst schreibt, daß er nur mit Glück und Geschick dem Problem entkommen ist, wie es etwa Jung passiert ist, der zweimal mit Klientinnen sexuelle Beziehungen hatte. Wichtig scheint mir unsere heutige Einstellung dazu und wie wir es bearbeiten und durcharbeiten.
P: Noch ein paar Zahlen: es gibt derzeit drei Richtungen in der Körperpsychotherapie?
B: In Österreich sind mir derzeit vier Ausbildungseinrichtungen bekannt, die alle nicht anerkannt sind. Die einen sind die Bioenergetiker, im Prinzip Schüler von Alexander Lowen, dann die Konzentrative Bewegungstherapie, die Emotionale Reintegration von Dr. Peter Bolen, und es gibt unser Institut, das AIK, das an sich ein Dachverband für mehrere Ausbildungen ist, aber im Moment nur die Biodynamische Körperpsychotherapie, die im wesentlichen von Gerda Boyesen entwickelt worden ist, als Ausbildung anbietet.
P: Ist das dasselbe wie Bioenergetik?
B: Nein, Bioenergetik ist vom Stil her sehr unterschiedlich, vom Verständnis ist 50% dasselbe und 50% anders. Die Bioenergetik ist eine Analyse, die immer wieder therapeutenzentriert arbeitet, während die Biodynamische Körpertherapie eine Förderung der inneren Selbstheilungskräfte ist, also klientenzentriert arbeitet, sehr nach dem Modell von Rogers
P: Ist jetzt Biodynamik und Bioenergetik einer einzigen Richtung zuzuordnen?
B: Nein. Bioenergetik ist einerseits ein Sammelbegriff – viele Leute, die irgendeine Körperpsychotherapie machen, nennen sich Bioenergetiker, aber andererseits ist es ein Fachausdruck, der sich auf die Arbeiten Alexander Lowens bezieht. Und das ist etwas Spezifisches. Die Biodynamik ist naturgemäß auch vielfältig, weil jeder von uns einen anderen Stil hat, aber es ist die Methode, die Gerda Boyesen entwickelt hat. Das, was sie im Moment lehrt nennt sie allerdings Gerda Boyesen-Methode, um sich deutlicher abzugrenzen von Leuten, die sich auch Biodynamiker nennen, aber verschiedene andere Sachen dazugenommen haben.
P: Wie viele Menschen nehmen an so einer Ausbildung teil; können Sie da Zahlen nennen?
B: Die Ausbildungsgruppen beginnen in unregelmäßigen Abständen; einmal ist eineinhalb Jahre Abstand, einmal vier Jahre. In so einer Ausbildungsgruppe sind vielleicht einmal 15, 25, oder 30 Teilnehmer.
P: Wie viele anerkannte Psychotherapeuten haben heute Erfahrung bzw. eine Ausbildung in Körperpsychotherapie?
B: Da ist die Frage „anerkannt von wem?“. Anerkannt von einer Ausbildungseinrichtung oder vom Staat? Das ist ein Unterschied.
P: Also sagen wir so: wie groß ist der Anteil von Körperpsychotherapeuten am österreichischen Psychotherapiemarkt?
B: Ich würde sagen ungefähr 15%, einfach um die Zahl von 50 bis 150 zu nennen, die mit Körperpsychotherapie primär arbeiten.
P: Letzte Frage: was interessiert Sie persönlich an Ihrer Arbeit, was macht Ihnen da besonderen Spaß, was ist für Sie das Schöne an der Arbeit?
B: Ich hatte verschiedene berufliche Tätigkeiten vorher und diese ist die einzige, die mich wirklich erfüllt. Es ist die einzige Tätigkeit, wo ich in der Arbeit mit Menschen direkt sehe, was diesem Menschen das nützt, wo er sagt, ah ja, das ist mir wirklich recht, und wo ich mich unglaublich glücklich schätze, daß Leute so vertrauensvoll sein können, so intensive Erfahrungen mit mir zu teilen; das ist etwas, was in der normalen Gesellschaft kaum vorkommt
P: Bitte, was kommt in der normalen Gesellschaft nicht vor?
B: Daß jemand tiefe Erfahrungen mit jemanden teilt. Das kommt in Beziehungen vor und das beschränkt, weil die meiste Zeit ist man mit Arbeit und Haushalt etc. beschäftigt; in der Verliebtheit kommt das vielleicht vor. Es ist schön mitzuverfolgen, was sich in einem Menschen entwickeln kann; darin sehe ich auch einen Sinn für mein Leben. Natürlich ist es auch sinnvoll Kartoffeln zu pflanzen oder Wasserleitungsrohre zusammenzuschrauben, und die Leute sind auch dankbar und brauchen das, aber es ist in keiner Weise vergleichbar mit einer Erfahrung, wenn jemand ein altes Trauma wirklich auflöst.
Für mich ist die Körperpsychotherapie, mehr noch als die anderen Psychotherapierichtungen, die ich vorher gelernt und ausgeübt hatte, das, worin ich meine Lebensaufgabe sehe, wo ich sagen kann, es lohnt. Ich könnte mir vorstellen, so wie ich es heute sehe, genauso gut in einer Umweltschutzorganisation zu arbeiten, vom inhaltlichen her. Aber das Organisatorische liegt mir nicht so.
P: Gut. Danke für das Gespräch.
31 Mai
Bukumatula 4/1994
Wolfram Ratz:
„War es einfach Zufall, daß die Anfänge der Zwölftonmusik, der modernen Architektur, des Rechtspositivismus, der abstrakten Malerei und der Psychoanalyse oder auch des Wiederauflebens des Interesses an Schopenhauer und Kirkegaard alle in der gleichen Zeit entstanden und daß sie so weitgehend auf Wien konzentriert waren?‘ (Alan Janik, Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien, München 1984, S.21.). Auch soziale und politische Bewegungen von so großer Gegensätzlichkeit wie Nationalsozialismus und Antisemitismus auf der einen Seite und der Zionismus auf der anderen hatten ihre Wurzeln im damaligen Wien ebenso wie wesentliche Elemente der modernen katholischen Soziallehre oder jene originelle Adaption der Marxschen Theorie, die als Austromarxismus bekannt wurde.
Wien um die Jahrhundertwende – das späte habsburgische, das neue Wien der aufkeimenden Großbourgeoisie und der gebildeten Mittelschichten: hier war kulturelles Leben die Angelegenheit eng kommuniziernder Gruppen von Künstlern, Musikern und Schriftstellern. Das Wien der Jahrhundertwende: ein Kraftfeld, das von so unterschiedlichen Persönlichkeiten gebildet wurde wie etwa Hofmannsthal und Schnitzler, Musil und Broch, Freud, Klimt und Moser, umrahmt von der zelebrierenden Ausstellungsarchitektur eines Urban, Ulbrich und Hoffmann, während gleichzeitig Kokoschka und Schiele, Gerstl und Schönberg, letzterer als Komponist und Maler, Loos und Otto Wagner, ein Rilke oder Kraus auftraten, die das „Ungeborgen-Sein“ des Künstlers in ihrer Zeit und Gesellschaft betonten.
Dieses alte Österreich war ein Fundus, von dem nicht nur die Erste Republik zehrte, sondern auch heute noch Anregungen aufgenommen werden. Die wehmütige Nostalgie, mit der Chronisten und Kulturinteressierte diese so bedeutende, aber auch schicksalsschwere Epoche beweihräuchern, bezieht sich tatsächlich auf eine Glanzzeit Wiens.“
Dieses Vorwort entstammt dem im Juni dieses Jahres erschienenen Buch „Wien, wo sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Schulen“ (Hrsg. Oskar Frischenschlager, 254 S., Böhlau Verlag, öS 398.-).- Vorgestellt werden darin 26 Psychoanalytikerinnen, die in Wien (und Budapest) um und nach der Jahrhundertwende tätig waren. In dem Kapitel „Auf den Spuren der ersten Psychoanalytiker“ werden auch Spaziergänge zu deren ehemaligen Wohn- und Wirkungsstätten angeboten. Nachfolgend ist aus diesem Buch der Beitrag über Wilhelm Reich nachzulesen:
WILHELM REICH (Wolfram Ratz)
Wie zu seinen Lebzeiten lösen Wilhelm Reichs Schriften, aber auch er selbst heftige Reaktionen aus. Er wird geliebt oder verehrt, gehaßt oder abgelehnt, nur gleichgültig bleibt niemand, der auf ihn stößt. Mit seinem Leben sind wissenschaftliche Entdeckungen und gesellschaftliche Niederlagen verbunden, die eigentümlich und faszinierend erscheinen. Er entdeckte das organische Fundament der Neurose, die muskuläre Panzerung und wurde damit zum Vater der modernen körperorientierten Psychotherapie. Er entdeckte die Mechanismen, durch die die Gesellschaft neurotische und unterwürfige Bürger produziert, er war auf der Suche nach gesellschaftsverändernden politischen Mitteln und erforschte die Existenz einer „Lebensenergie“ (Orgon).
Seine wissenschaftlichen Thesen waren provokant und seine politischen Forderungen radikal. In Österreich wurde er aus der Sozialistischen Partei, in Deutschland aus der Kommunistischen Partei und in der Schweiz aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Zweimal wurden seine Bücher verbrannt: nach Hitlers Machtergreifung im nationalsozialistischen Deutschland und 1956 in den USA. Fünfmal war er gezwungen, seinen Wohnsitz zu wechseln.
Wilhelm Reich wurde am 24. März 1897 im deutschukrainischen Teil Österreichs, in der Ortschaft Dobrcanica, als Sohn wohlhabender Gutsbesitzer geboren. 1909 beging seine Mutter, Cecilia Reich, Selbstmord. Als fünf Jahre später sein Vater, Leon Reich, an Tuberkulose starb, übernahm Wilhelm Reich, gerade siebzehn, die Leitung des Gutes. Im Jahr seines Abiturs, 1915, wurde auch der Familienbesitz durch Kriegseinflüsse zerstört.- Von 1916 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges diente Reich als Leutnant in der österreichischen Armee an der Italienfront.
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg begann er sein Studium an der medizinischen Fakultät an der Universität Wien. 1922 legte er mit überwiegend. hervorragenden Noten das Staatsexamen ab und promovierte im Juli 1922 zum Doktor der Medizin. Reich zeigte sich in jener Zeit vor allem von Friedrich Nietzsche beeindruckt, „dessen Ahnungen und Einsichten“ mit den Worten Freuds „sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken“.1) Des weiteren interessierten ihn die Schriften Albert Langes, Henri Bergsons und Henrik Ibsens.
Der bei weitem stärkste Einfluß auf Wilhelm Reich, bestimmend für sein ganzes Leben, ging jedoch von Sigmund Freud aus. Seine erste Begegnung mit Freud fand 1919 statt, als sich Reich Literatur für das von ihm organisierte und geleitete „Wiener Studentenseminar für Sexologie“ besorgte. In diesem Zusammenhang begann sich Reich für die Psychoanalyse zu interessieren. „Man muß die Atmosphäre in der Sexologie und Psychiatrie vor Freud kennen, um die Begeisterung und Erleichterung zu begreifen, die mich erfaßte, als ich ihm begegnete. Freud hatte eine Straße zum klinischen Verständnis der Sexualität gebahnt.“2) Wilhelm Reich warentschlossen mit „Liebe, Arbeit und Wissen“ in Wien sein Glück zu machen.
Zunächst hatte er ein armseliges Studentendasein gefristet. Mit seinem um drei Jahre jüngeren Bruder Robert und einem anderen Studenten teilte er eine kleine Wohnung in der Berggasse 4. Er besaß keine Zivilkleidung und ging mit seiner Uniform und seinem Militärmantel in die Vorlesungen. Von Paul Federn, seinem späteren Lehranalytiker, wurde Reich damals häufig zum Essen in dessen Haus eingeladen. Schon zu dieser Zeit machte sich eine Eigenschaft Reichs bemerkbar, von der seine Frau und Biographin Ilse 011endorff schreibt, daß sie in all ihren Gesprächen mit Freunden und Gegnern immer an erster Stelle genannt wurde, „seine große Vitalität, sein Elan, seine Energie, seine fast überwältigende Kraft. Wenn er in einer Idee, einer Bewegung, einer Theorie aufging, galt für ihn nur das Absolute als Möglichkeit. Die Dinge waren entweder schwarz oder weiß; man war entweder für ihn oder gegen ihn, kein Kompromiß war erlaubt. „3)
Nach einer kurzen Lehranalyse bei Isidore Sadger und Paul Federn wurde Reich 1920 aufgrund seiner klinischen und theoretischen Beiträge als weitaus jüngstes Mitglied in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. „Sie wirkte wie eine Gemeinde von Menschen, die geschlossen gegen eine Welt von Feinden kämpfen mußte. Es war schön. Man mußte Achtung vor solcher Wissenschaft haben. Ich war der einzige junge Mediziner unter den um zehn bis zwanzig Jahre älteren „Erwachsenen“.“4) Bald galt Reich – neben Otto Fenichel – als die Begabung der Vereinigung. Nach dem frühen Umzug Fenichels nach Berlin 1922, wußte Reich diesen Ruf auch alleine einzulösen.
Er selbst bezeichnete sich als „Hecht im Karpfenteich“. Freud faszinierte Reich nicht nur als Mensch: „… er war anders, vor allem einfach im Auftreten. Die anderen spielten im Gehaben irgendeine Rolle, den Professor, den großen Menschenkenner, den distinguierten Wissenschaftler“5) -, sondern auch als Theoretiker: „Den Trieb können wir eigentlich nicht fassen. Was wir erleben sind nur Triebabkömmlinge: sexuelle Vorstellungen und Affekte. Der Trieb selbst ruht tief im biologischen Grunde des Organismus. Dieser Gedanke blieb von den Freunden und Feinden der Psychoanalyse unverstanden und bildete das naturwissenschaftliche Denkfundament, auf dem man sicher bauen konnte.“6)
Nach seiner Promotion begann Reich als Assistenzarzt an der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie unter Wagner-Jauregg zu arbeiten. Gleichzeitig nahm er regelmäßig an Biologieseminaren und -vorlesungen von Kammerer teil. Von Anfang an widmete er seine Aufmerksamkeit der Triebenergetik von Lust und Angst; sein Interesse galt der naturwissenschaftlichen Untermauerung der Freudschen Libidotheorie. Noch vor seiner Promotion hatte Reich begonnen, als Psychoanalytiker zu praktizieren. Als 1922 Freuds Psychoanalytische Poliklinik seine Arbeit aufnahm, wurde er dort erster Assistent und 1928 klinischer Direktor. Unter seinen damaligen Studenten waren auch viele Psychiater aus Amerika. Bei Reich studierten sie die Technik der Psychoanalyse und der‘ Charakteranalyse.
1922 nahm das von Freud initiierte „Technische Seminar“ seine Arbeit auf. Im ersten Jahr wurde es von Edbard . Hitschmann und im zweiten von Hermann Nunberg geleitet. 1924 wurde Reich zum Leiter. gewählt und blieb in dieser Funktion bis 1930. Freuds Problemstellung, an deren Lösung man im Seminar arbeiten wollte läßt sich in zwei Fragen kleiden. Die erste war: Was bedeutet eigentlich Heilung in der psychoanalytischen Therapie? Die zweite: Wann gelingt die Heilung? Oder besser: Warum gelingt die Heilung oft nicht? Etwa zehn Jahre dauerte es, bis eine neuentwickelte Therapietechnik, Reichs Charakteranalyse, diese Probleme zugänglich machte.
Die Entwicklung von Orgasmustheorie und charakteranalytischer Therapie, die zeitlich parallel stattgefunden hat, führte Reich nicht unerwartet in den somatischen Bereich. Die von ihm nun „Vegetotherapie“ genannte Technik bezeichnete er als „… die Antwort auf die Fragestellung der Psychoanalyse von 1922“.7)
1924 begann Reich an der Psychoanalytischen Poliklinik seine Forschungen über die soziale Ätiologie der Neurosen. Später führte er diese Arbeiten an den Sexualberatungsstellen fort, die er zwischen 1928 und 1930 in verschiedenen Bezirken Wiens gründete. Reichs Familienleben verlief in dieser Zeit geordnet. Drei Jahre nach seiner Heirat mit der Medizinstudentin Annie Pink kam 1924 deren erstes Kind, Eva, und 1928 Lore zur Welt_ Mit seiner Familie zog er in eine größere Wohnung in den achten Wiener Gemeindebezirk, in die Blindengasse 46a, die er aufwendig mit eleganten Möbeln einrichten ließ.- Wilhelm Reich war „pushy“ und liebte das offene Wort. Er selbst hielt sich für eine therapeutische Begabung. Die Psychoanalytische Therapie sei in dem von ihm geleiteten Seminar kollektiv erarbeitet worden.
Reich lehnte Freuds Theorie vom Todestrieb ab und hielt konsequent an dessen Libidotheorie fest. Er trat nicht nur für eine aktivere Rolle des Therapeuten gegenüber den Patienten ein, sondern auch für die Notwendigkeit eines politischen Engagements zur Änderung der krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse. 1928 schrieb Freud an Lou Andreas-Salome über Reich: „Wir haben hier einen braven, aber impetuösen jungen passionierten Steckenpferdreiter, der jetzt im genitalen Orgasmus das Gegengift jeder Neurose verehrt. Vielleicht könnte er aus Ihrer Analyse der K. etwas Respekt vor den Komplikationen des Seelischen lernen.“
Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit machte die aufregende politische Stimmung jener Zeit einen tiefen Eindruck auf Wilhelm Reich. Der Einfluß der Russischen Revolution auf die österreichischen Sozialisten und die vielen hochbegabten Intellektuellen, die über Marxismus schrieben und diskutierten, ließen den aktiven und forschenden Geist Reichs nicht unberührt. Er begann mit der ihm eigenen Gründlichkeit Marx und die marxistische Philosophie zu studieren. Seine Erfahrungen aus den Sexualberatungsstellen überzeugten ihn immer mehr, daß die Psychoanalyse eine an bürgerliche Verhältnisse gebundene Therapie sei. Reich trat der Sozialdemokratischen Partei österreichs bei.
Als 1927 Reichs Buch „Die Funktion des Orgasmus“ erschien, war seine Position innerhalb der psychoanalytischen Bewegung bereits umetritten. Er ließ sich aber von Freud nichts sagen und befolgte auch den Rat der Parteigenossen nicht, sich des Umgangs mit Kommunisten zu enthalten. Nach dem Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 trat Reich in die Kommunistische Partei Österreichs ein und agitierte öffentlich für sie und für den Gewaltgebrauch gegen den aufziehenden Faschismus. Nach dem Erscheinen von Reichs Zeitung „Der revolutionäre Sozialdemokrat“, erfolgte am 16. Jänner 1930 sein Ausschluß aus der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Im selben Jahr übersiedelte Wilhelm Reich nach Berlin. Reich hatte sich bis dahin stets um das Ver- ständnis Freuds bemüht. Ihre Wege hatten sich aber nun endgültig getrennt.
Reich trat der Kommunistischen Partei Deutschlands bei, erhielt deren Unterstützung und eröffnete eine Arbeitersexualklinik, gründete den Sexpol-Verlag sowie den „Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik“. Er deckte damals die psychologische Basis des Faschismus auf und verwies in diesem Zusammenhang warnend auf die anfällige seelische Struktur des Durchschnittsmenschen (siehe „Massenpsychologie des Faschismus“). Durch diese Analyse, wegen seiner Forderung nach einem Primat der sexuellen
Befreiung und einer ständig wachsenden Anhängerschar wurde Reich sowohl zu einer Gefahr für die Kommunisten, die ihn aus der Partei ausschlossen, als auch für die Nazis, die ihn gleich nach der Machtübernahme auf die Fahndungsliste setzten.
Auf dem 13. Internationalen Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934 in Luzern wartete eine gut vorbereitete Intrige auf ihn. Aus Rücksicht auf die politische Entwicklung in Deutschland wurde Reichs „Verdrängung“ in Form seines Ausschlusses durchgesetzt. Während seines Exils in Skandinavien faßte Reich sein Konzept der Funktionsweise des Organismus zusammen; er formulierte die Vegetotherapie, untersuchte die elektrophysiologischen Zusammenhänge von Sexualität und Angst und begann mit seiner Krebsforschung. Die Veröffentlichung seiner Bionversuche lösten neue Diffamierungskampagnen aus.
Der Anthropologe Bronislaw Malinowski erlöste Reich von seiner insgesamt sechs Jahre dauernden Reise durch die Angst und holte ihn nach Amerika. 1939 nahm Reich an der New School for Social Research in New York einen Lehrauftrag für medizinische Psychologie an. 1942 erwarb er ein Grundstück im Bundesstaat Maine, wo er sein neues Forschungslaboratorium etablierte, das er „Orgonon“ nannte. Reichs Forschungsarbeiten nahmen hier eine stürmische Entwicklung. Neben der Fortsetzung seiner psychotherapeutischen Unterrichtstätigkeit, führte er eine Vielzahl von Versuchen mit der von ihm so benannten „OrgonEnergie“ durch_ Die letzten acht Monate seines Lebens verbrachte Reich im Gefängnis.
Die staatliche „Food and Drug Administration“ hatte gegen Reich bezüglich der von ihm postulierten Heilwirkung des Orgon-Akkumulators und dessen Einsatzes Anklage erhoben. Reich lehnte es ab, sich vor Gericht gegen diese Klage zu verteidigen und wurde dafür zu zwei Jahren Haft verurteilt. Per Gerichtsbeschluß wurden sämtliche Orgon-Akkumulatoren zerstört und alle Bücher, die von der Orgon-Institut-Press vei öffentlicht worden waren, tonnenweise verbrannt Wilhelm Reich verstarb am 3. November 1957 staatlichen Gefängnis von Lewisburg.- In seine Testament verfügte er über seinen wissenschaftlichen und dokumentarischen Nachlaß, daß diese erst im Jahre 2007 geöffnet werden dürfe.
Quellenverzeichnis:
Sigmund Freud, Selbstdarstellung, Frankfurt/M. 1989, S_87
Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, Köln 1969, S.38
Ilse 011endorff-Reich, Wilhelm Reich, München 1975, S.19
Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, Köln 1969, S.51
Ders., S.42
Dere., S.38
Dere., S.61
31 Mai
Bukumatula 5/1994
Ein Abendgespräch mit Brigitta Bacher-Bolen
Beatrix Teichmann-Wirth und Bernhard Hubacek:
Begin as creation, become a creator.
Never wait at a barrier.
In this kitchen stocked with fresh food,
why sit content with a cup of warm water?
RUMI
Reich: „… der Mensch braucht wie alles Lebende zunächst Stillung des Hungers und sexuelle Befriedigung“
und
Mutter Bacher zu Peter Holen: „… sie ist schwer zu ernähren …“
Beatrix: Brigitta, kannst du erklären, was unter Makrobiotik zu verstehen ist?
Brigitta: Ich kann nur sagen, was es für mich ist und wo ich merke, daß es so gut zur Arbeit Wilhelm Reichs paßt, daß in der Makrobiotik der energetische Aspekt der Ernährung berücksichtigt wird. Daß es eine Ernährung ist, die darauf Rücksicht nimmt und das auch unmittelbar erfahrbar macht. Für mich ist es das wichtige zu erfahren, daß Ernährung den ganzen Körper energetisch beeinflußt. Und daß ich über Ernährung, und vor allem über die Zubereitung und Auswahl der Ernährung, den energetischen Zustand meines Körpers beeinflussen kann.
Beatrix: Und wie ist das dann konkret?- Also ich habe auch schon Erfahrungen gemacht, zum Beispiel mit den thermischen Qualitäten von Nahrung.
Brigitta: Natürlich, das ist die Erfahrung, die ich ganz unmittelbar und ganz eindeutig als allererstes gemacht habe: Wenn ich beispielsweise im Spital, wo eine Klimaanlage ist, einen Nachtdienst gehabt habe, wenn ich über eine bestimmte Zeit dort war, ist mir so kalt geworden bis in die Knochen, daß ich auch regelmäßig krank geworden bin. Und da habe ich dann wirklich die gegenteilige Erfahrung gemacht, daß ich seither nicht mehr friere dort, die Klimaanlage kann mir nichts mehr anhaben. Das war einfach eindeutig.
Beatrix: Ich merke das auch beim Arbeiten. Wir trinken jetzt regelmäßig Mu- oder Bancha-Tee statt Kaffee am Nachmittag in der Praxis. Früher habe ich viel Kaffee getrunken und habe gemerkt, ich bin „kälter und kälter“ geworden, energetisch immer mehr in die obere Körperhälfte gewandert. Aufgeregter und aufgeregter und immer mehr nach „oben“ und in der Peripherie ganz kalt. Und jetzt merke ich, ich trinke Mu-Tee und es geht total in die Hände.
Bernhard: Das geht mir auch so.
Brigitta: Wenn du sagst, daß es bei dir immer mehr nach oben gegangen ist. Das macht für mich total Sinn, weil ich mich als ganzes als jemanden sehe, der nach oben tendiert; Ich habe mein Leben lang Kaffee überhaupt nicht vertragen, das hebt mich dermaßen aus, daß das über meine Grenze geht, von dem, was ich überhaupt noch ausgehalten habe an Ying und „Nach oben gehen“.
Beatrix: Und ich habe gemerkt, das hat einen Einfluß auf meine Wärmeempfindungen und es hat auch noch auf andere körperliche und seelische Befindlichkeiten Einfluß. Wenn ich zum Beispiel eher Yang-Qualitäten zu mir nehme, wird sogar meine Stimme tiefer, das ist mir auch aufgefallen und ich rede weniger (lacht); also es wird langsamer, eindeutiger und klarer. Es sind nur wenige Sätze zu sagen …
Brigitta: … kürzer, simpler, es ist nichts so Gescheites, es wird „normaler“. Das habe ich bemerkt. Ich weiß natürlich nicht, ob das jetzt nur durch die Ernährung bedingt ist Die Umstellung der Ernährung erlebte ich in meinem therapeutischen-, oder besser Entwicklungs- oder Entfaltungsprozeß als ganz entscheidenden Schritt oder Beitrag.
Der von uns angestrebte freie Fluß der Energie im Körper und im Kontakt mit der Umwelt – und das habe ich wirklich so erlebt – wird durch eben diese „falsche“ Ernährung, diesem unbewußten, unsensiblen Umgang mit Ernährung energetisch nicht nur nicht unterstützt, sondern durch das Anhäufen von Schlacken – gegen die der Körper unbewußt – solange unbewußt bis man eben anfängt es zu spüren, in ständiger Abwehr lebt -, auf physiologischer und energetischer Ebene dauernd boykottiert. Ich habe durch die Umstellung der Ernährung erlebt, daß ich diese oben beschriebene Grundhaltung einer ständigen Abwehr plötzlich – ja, fast plötzlich ablegen konnte. Der Körper panzert sich gegen falsche Ernährung. Ich kann es mir nicht mehr vorstellen, daß es möglich ist ein ungepanzerter Mensch zu sein und ständig Kaffee, Schokolade und Schweinefleisch zu „fressen“. So ist es für mich.
Das ist das eine: der Boykott – und sein Wegfall. Der andere Aspekt: die Unterstützung: die energetische Unterstützung – und ihr Mangel. Ich habe diesen Mangel vorher immer so stark erlebt – aus meinem therapeutischen Prozeß heraus vorerst vor allem als diesen Mangel an energetischer Unterstützung durch meine Mutter von Anfang an – es schien für diesen Mangel keine Kompensation mehr zu geben. So war ich schon lange auf der Suche: Was kann mir in meinem Leben das „Nicht getragen worden sein“ ersetzen? Ein Therapeut, eine Gruppe, Freunde können das zeitweise – doch nicht in ausreichendem Maße. In dieser Art mich zu ernähren fand ich für mich den „Schlüssel“.
Beatrix: Ich glaube, es müßte auch das sein, was bei Gerda Boyesen geschrieben ist. Man sagt ja, daß bei Reich – obwohl das in der Arbeit tatsächlich ja nicht so ist -, sehr viel am Muskelpanzer ansetzt. Das empfinde ich gar nicht so in dieser Eindeutigkeit, aber die Boyesen geht den Verdauungstrakt sehr stark an und das habe ich auch gemerkt irgendwie, daß, wenn man ausgewogene Nahrung, also Nahrung in der Mitte, – nicht extrem Yang, nicht extrem Yin – zu sich nimmt, dieser Bereich eine Entpanzerung erfährt. Das gefällt mir sehr gut, was Kushi schreibt, daß die meisten Leute zu stark Yang essen und dann zu stark Yin essen müssen und daß sie aus dem heraus innerlich ganz stark kontrahiert werden und gleichzeitig äußerlich aus den Fugen geraten. Mit dem kann ich viel anfangen.
Bernhard: Vielleicht sollte man an dem Punkt klären, was typische Yang- bzw. Yin-Qualitäten sind, jetzt von der energetischen Seite her.
Beatrix: Ja, genau, ich komme mit der Ohsawa-Definition von Yang ist gleich Kontraktion nicht ganz zurecht …
Brigitta: …Yang, die Zentripetalkraft.
Beatrix: Ja, aber es ist das Wort Kontraktion im Gegensatz zu Yin, Ausdehnen, und so gesehen müßte nach Reich Yin gut sein und deshalb interessiert mich, wie du das siehst.
Brigitta: Ja das ist ein interessanter Aspekt. Ich habe gerade in der „Funktion des Orgasmus“ gelesen. Reich schreibt von der chronischen Kontraktion des Masochisten, die verknüpft ist mit dem Wunsch nach, und der Angst vor dem „Zerplatzen“. Kommt daher das Gefühl, daß bei Reich die Ausdehnung (Yin) das Gute, Erwünschte doch nicht Vorhandene, weil so sehr Gefürchtete ist?- Was ist „Orgasmusangst“, was ist überhaupt ein „Orgasmus“ in Hinblick auf Yin und Yang?- So wie ich das verstanden habe, setzt sich die Orgasmusformel „Spannung – Ladung – Entladung – Entspannung“ aus beiden Komponenten zusammen, aus Yin und Yang. Und: Die Orgasmusangst bezieht sich auf die Angst vor der völligen Hingabe an beide Teile – wahrscheinlich von Mensch zu Mensch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Zusammensetzung.
Das ist das eine. Das zu Reich.- Jetzt zu Ohsawa und seiner Vorliebe für Yang: Ohsawa sagt bei seiner Beschreibung der Lebensmittel in Hinblick auf Yin- und Yang-Qualitäten: Zucker ist so sehr yin, daß er gar nicht balanciert werden kann. Er sagt weiters, daß das Gleichgewicht der meisten von uns zur Yin-Seite hin unausgeglichen ist, obwohl wir in mancher Hinsicht ebenso zu yang sein mögen -sodaß wir aus diesem Grund versuchen sollten, mehr yang zu werden. Also: Sowohl Kontraktion als auch Expansion können nicht a priori etwas Schlechtes sein. Leben geschieht im Wechsel beider – in der Pulsation. Das wissen und beschreiben sowohl Reich als auch Ohsawa.
Oder aus einem anderen Blickwinkel: Die Lustangst, die Angst vor Ausdehnung, Loslassen, totaler Passivität, Hingabe, Auflösung im sexuellen Kontakt, Orgasmus – ausgehend von einem, wie Ohsawa es beschrieben hat, in Richtung Yin verschobenen Gleichgewicht: es muß sozusagen Angst bestehen vor weiterer Ausdehnung, Passivität; im täglichen Leben ganz allgemein ein Mangel an Yang-Qualitäten – führt als Reaktion zu chronischer Kontraktion und der Unfähigkeit zu vollständiger Expansion beim Orgasmus – dagegen ist Reich, ja?
Beatrix: So wie Ohsawa extreme Yin-Qualitäten in der westlichen Zivilisation beschreibt – Zerstreuung, Fettsucht, Unkonzentriertheit …, dann kann das auch nicht das sein, was Reich mit Expansion gemeint hat, weil er ja die Richtung des Energieflusses beschreibt und nicht ein chaotisches, richtungsloses Zerstreuen. Ich würde das so vergleichen: wenn jemand auf der Matte liegt und es steigt die Ladung und die Energie hat noch keine Richtung, so unterstützen wir dies, indem wir zum Beispiel sagen, der Klient soll die Beine aufgestellt lassen, beziehungsweise durch Interventionen, welche dem Energiefluß eine Richtung geben. Damit wäre Yang-Qualität – richtungsgebend, gebündelt … repräsentiert.
Brigitta: Die Yin-Qualität ist ja das absolut Passive und indem ich den Patienten auffordere beim Atmen zu bleiben, fordere ich ihn ja immer auch auf in die Aktivität zu gehen; ihn aufzufordern die Beine aufzustellen statt sie nur hinzulegen, ist ja auch etwas in Richtung Aktivität.
Bernhard: Vielleicht können wir noch mehr sammeln von diesen Qualitäten von Yin und Yang. Es kommt mir wichtig vor diese Qualitäten von Ohsawa und Reich zu vergleichen, das finde ich total interessant.
Brigitta: Ja, was ist Yin?- Kühl, kalt, wäßrig …
Beatrix: Gerade dazu habe ich auch eine Frage. Ohsawa schreibt oft, daß man wenig trinken soll. Nun hat Michael Smith zum Beispiel das Wassertrinken unheimlich betont in der Zeit von Tschernobyl, um die Entladung zu unterstützen.
Brigitta: Für die böse Energie.
Bernhard: Ja, überhaupt zum Reinigen.
Brigitta: Ja, aber Reinigen tut man immer von etwas.. Die gesamte makrobiotische Ernährung ist eigentlich „Reinigen“. Da tut man dann nicht mehr extra reinigen.
Beatrix: Das was mir dabei aufstößt ist das Aufstellen der Regel, wie es bei Ohsawa durchklingt, „wenig trinken“. So wie du es beschreibst kann ich es verstehen und so kann ich es auch nehmen, daß es sich sozusagen von selbst ergibt, daß man, wenn man ausgewogen ißt, dann zum Beispiel keine extremen Gelüste auftreten, wozu auch vieles Trinken gehört.
Bernhard: Aber sag das noch mal, in welchem Zusammenhang der Michael Smith das mit dem Wassertrinken gemeint hat.
Beatrix: Der Michael hat das zu uns nach Tschernobyl gesagt und hat gemeint, daß es wichtig ist, sich durch Wassertrinken von der DOREnergie zu reinigen, damit sie nicht eine Verstärkung der Panzerung bewirkt. Das soll man von innen und von außen, durch Duschen und durch Wasser trinken.
Brigitta: Das macht Wasser sowieso. Es nimmt Energie auf und es leitet sie ab. So, und was ist das jetzt für eine Energie? Ah, OrgonEnergie. Und wie ist das jetzt mit dem Yang? …
Beatrix: Ich finde gut, wenn du sagst, daß, wenn du dich – das klingt so blöd – gesund ernährst, also ausgewogen ernährst, dann mußt du dich nicht mehr so viel reinigen …
Brigitta: Du wirst einfach beweglich und das sagt Reich auch, daß ein gesunder Organismus beweglich ist.
Bernhard: Aber ist nicht auch das Wassertrinken und das Reinigen etwas Energetisches? Da geht es ja nicht nur um das Reinigen von schlechter Ernährung, sondern was du auch so abkriegst von der Umwelt und so …
Brigitta: Ja, das will ich ja gerade sagen, das war ja meine erstaunliche Erfahrung. Wenn ich früher aus dem Spital gekommen bin, dann mußte ich mich in die Badewanne setzen, mich duschen. Das muß ich nicht mehr, das muß ich nicht mehr, Bernhard. Und das ist genau das, was ich jetzt sagen will. (Beatrix lacht) Ich habe das Gefühl, daß ich diesen Dingen, die genauso schädlich sind, nicht mehr ausgesetzt bin. Ich fühle mich nicht geschützt, sondern ich fühle mich so beweglich, daß es mich nicht mehr tangiert.
Es ist nicht so, daß das nie vorkommt, aber es ist wirklich selten. Und ich tu mich viel weniger duschen und baden überhaupt kaum mehr. Nach einem Dienst dusche ich in der Früh sehr gerne dort, das stimmt. Aber nicht so wie es früher war, daß ich dann heimgekommen bin und lange irgendwie in der Badewanne gelegen bin. Ich würde das niemals als Reinigen bezeichnen, sondern schlicht und einfach als Reagieren. Einfach als Antworten, und zwar direkt. Selbst wenn ich mich jetzt nachher dusche, dann würde ich das nicht so wie früher sagen, jetzt tue ich das weg was war, sondern o.k., das war so und jetzt ist es ganz gut zu duschen.
Das Schöne an der Makrobiotik ist, zu sehen, daß es um beides geht und daß nichts pfui ist und daß es immer darauf ankommt, wann, wo und wie die Dinge in Bewegung sind. Daß es eben das nicht gibt, „wogegen man sich schützen muß“. Das hat Reich in seinem eigenen Charakter sehr stark und daher kommt das eben mit Reinigung und dann kommt das mit der bösen Mischung von Energie. Seit ich mich mit der Makrobiotik beschäftige und mich auch so ernähre, habe ich das Gefühl, das ist nicht mehr so.
Ich habe früher geglaubt, ich halte es nimmer aus in der Stadt, ich halt’s nimmer aus, den Lärm, den Gestank, die vielen Menschen. Ich stehe jetzt in meiner Küche und ich habe das Gefühl, ich bin in der Natur, ich bin im Garten, ich habe da alles, was lebt um mich, habe es in mir und merke, so kann ich hier leben. Es macht mir wirklich nichts mehr. Ich kann seither wirklich da leben. Und zwar gut. Und ich empfinde es nicht mehr als Bedrohung und mich als irgendwie wehrend; es ist einfach nicht mehr so. Das ist schon sehr spannend.
Bernhard: Ich denke mir einfach dazu, wie lebendig Nahrung ist und wie stark in der Wirkung.
Beatrix: Ja, diese starke Wirkung habe ich schon gemerkt, jetzt gerade im Sommer. Ich war zunächst wirklich irgendwie verliebt in die Makrobiotik und nachdem ich eine Zeit lang damit gelebt habe, habe ich gemerkt, haltaus, da fängt jetzt was zu Schmelzen an. Ich kann mich genau erinnern: Ich bin im Zug gefahren von Kärnten nach Wien und habe richtig gespürt, mah, da schmilzt was in mir, ahhh, so auf einer ganz tiefen Ebene, wie ich es nicht einmal in Körperarbeiten je so erlebt habe und das hat mir natürlich auch ein bißchen Angst gemacht. Das war so ein Schmelzen in die Tiefe und ein Langsamwerden und ein „Nicht mehr so draußen sein“. Und da habe ich schon bemerkt, wie eingreifend das ist.
Bernhard: Charakter angegriffen …
Beatrix: Ja, total, bei mir total.
Brigitta: Dies als Schmelzen zu bezeichnen ist wunderschön. Und es
ist auch das, was meiner Erfahrung entspricht. Das ist auch das Schöne an dieser Art von Diät, die ja keine Diät ist, und wo ich glaube, daß sie sich unterscheidet von jeder Art von anderer gesunder Ernährung. Daß es überhaupt nicht darum geht, weil das auch nicht funktioniert, irgend etwas sofort und radikal aufgrund einer Erkenntnis zu verändern, sondern diese Veränderung geschieht wie Schmelzen.
Beatrix: Auf der anderen Seite habe ich jedoch auch erlebt, also dann im August, als es mir nicht so gut gegangen ist, daß ich es gemäß einer meiner Charakterhaltungen auch gegen mich benutze. Nämlich in einer asketischen, rigiden Interpretation. Nicht mit einer lebensfreundlichen Haltung, sondern verbietend und damit lebensfeindlich. Und im Zuge davon habe ich mir überlegt, ob das vielleicht so ist, daß man diese Form der Ernährung erst machen kann, wenn man schon nicht mehr ganz mit dem Charakter identifiziert ist.
Wenn man ganz im Charakter ist, dann macht man es im Sinne des Charakters und das finde ich wenig heilsam. Ich habe mich in der Zeit genauso daran gehalten (das sagt es ja schon), ich habe nichts geändert an meiner Ernährung, und es ist mir trotzdem schlecht gegangen. Ganz im Gegensatz zu dieser Phase, wo ich so verliebt war und so in Freiheit und entdeckend. Das war dann das Gegenteil irgendwie, also ich bin deprimiert gewesen trotz meiner ausgewogenen Getreidekost.
Brigitta: Das war dann zu ausgewogen. Und das beschreibt ja auch Aihara als er als Student angefangen hat mit der Makrobiotik und wie er dabei total in die Sackgasse gekommen ist. Daß er plötzlich nicht mehr gut lernen konnte, er dünn und komisch wurde. Er hat total in Begeisterung übertrieben. Das geschieht einfach auch. Es kommen die Punkte, an denen man immer wieder erhärtet, erstarrt. Das kennen wir ja aus der Körperarbeit genauso.
Der Panzer löst sich und es kommt dann die Gegenbewegung wieder und es verkrustet wieder und es ist jetzt einfach wichtig wieder im Fließen und lebendig zu bleiben, zu atmen und zu schauen, was ist jetzt eigentlich. Irgendwo habe ich auch gelesen, daß dieses Schmelzen auf verschiedenen Schichten hintereinander passiert, daß man immer wieder an Punkte kommt, wo man dann wieder ansteht und wo man sich dann auf das Schmelzen der nächsten Schicht wiederum einlassen muß. Sehr schnell verändert sich die Qualität des Blutes. Die nächsten Schichten entsprechen
Geweben, die sich weniger schnell verändern. Zum Beispiel die Muskulatur oder letztlich die Uraltreserven, wo man dreißigjährige Fettgewebe irgendwo hat. So ist das jetzt auf der körperlichen Ebene beschrieben. Ich denke, damit verknüpft sind dann auch alle Charakterschichten, die man durch die Umstellung genauso ankratzt. Je nach dem, wie du dann damit umgehst, wirst du weitergehen oder aussteigen – auch aus dieser Art dich zu ernähren; das hängt schon total eng zusammen. Dazu Alk mir noch ein Zitat von Ohsawa ein: „Aber um dahin (mehr Yang ) zu kommen, müssen wir zuweilen Yin Umwege gehen: Fünf Schritte rückwärts, sechs Schritte vorwärts -Beschränkung, Gelingen. Bittere Beschränkung darf man nicht beharrlich üben“.
Beatrix: Aber das ist auch interessant, wenn du sagst, da steigen dann die Leute aus. Das ist in der Körperarbeit genauso, daß die Leute an einem gewissen Punkt aussteigen, wenn sie in die Nähe eines „Ausgangs“ kommen und niemanden haben, der imstande ist, sie an diesem Punkt weiterzubegleiten. Das war es für mich, glaube ich, daß ich dich zum Beispiel nicht kontaktiert habe. Das kommt mir jetzt erst.
Beim ersten Mal, wo ich so ein bißchen angefangen habe, und es ist mir nicht gut gegangen, habe ich ein Gespräch mit dir gehabt und da hast du mich gefragt, was ich denn gegessen hätte in der letzten Woche. Und dann habe ich aufgezählt also Kohlrabi und Spargel und solche Sachen, und ich bin total gereizt geworden und habe nicht mehr gewußt wohin mit meinen Energien sozusagen, und dann hast du gesagt, na ja, das ist ja alles yin, da mußt du schauen ausgewogener zu sein …
Brigitta: … ein bißchen mehr in Richtung Yang, wobei es bei mir umgekehrt ist. Ich frage mich immer wieder, wie das wirklich zusammenhängt, aber ich merke, immer wieder, daß es für mich darum geht, mich sanft mehr in Richtung Yin zu bringen. Ich esse irrsinnig gerne diese knusprigen Yang-Sachen und ich liebe auch diesen Zustand an sich, diese Hellheit, Klarheit, Wärme. Das war ursprünglich auch wichtig für mich, daß das irgendwie hineingekommen ist, wie ich schon gesagt habe, mir war früher immer kalt. Nun kam in die Richtung zu viel …
Beatrix: Was zu viel?
Brigitta: Ja, in die Richtung, zum Beispiel in das Yang. Man verliebt sich in den Zustand und lebt so und lebt so und lebt so. Das ist dann eine Art von Gewohnheit.
Bernhard: Was passiert dann, wenn du zuviel im Yang bist?
Brigitta: (stöhnt) Was dann passiert ist, daß ich unheimlich effizient bin, irrsinnig viel weiterkrieg, das ist toll, nie müde bin und das geht eine Zeitlang so. Und irgendwann kommt dann der Punkt, wo du einfach merkst, he, du powerst deinen Körper in Wirklichkeit total aus, du kannst das total mißbrauchen und du merkst, daß das einfach nicht mehr stimmt. Und dann sind wir wieder bei der Pulsation. Es ist total schön effizient zu sein, es ist total schön so klar zu sein, total schön Dinge weiterzubringen, die Zeit zu nützen, aktiv zu sein, in Kontakt zu sein und wenn das nicht abwechselnd ist mit dem anderen, drehst du durch, „brennst“ ab.
Beatrix: Ich habe die Erfahrung gemacht, als ich sehr stark Yang gegessen habe, also nur geröstetes Getreide und häufig Buchweizen, daß ich in einen Zustand gekommen bin, den ich sehr gerne möchte. Nämlich wirklich so in mich zu kommen, runterzukommen und das war für mich gut und das war vor allem für die Körperarbeiten gut; also erstens habe ich immer warme Hände gehabt und zweitens waren die Interventionen ganz gezielt und ich war nicht verführbar.
Ich bin so fest in mir gesessen und es hat einen Ernst gehabt, es war nicht so diese freundliche, geneigte Haltung. Es hat auch mit dem Gesicht zu tun; das Gesicht ist mir im besten Sinne des Wortes „hinuntergefallen“, also nicht mehr das gewogene, nette Gesicht, sondern ernster und gerader, auch entspannter. Was ich auch gemerkt habe war, daß meine sexuellen Bedürfnisse nachgelassen haben. Das war so eigenartig.
Brigitta: Das finde ich interessant. Meine Erfahrung ist da total anders.
Beatrix: Ich bin total selbstgenügsam geworden dadurch, ich brauchte nichts; Wie erklärst du dir das, das daß so unterschiedlich ist?
Brigitta: Vielleicht eine andere Qualität. Ich habe mich schon auch
nicht so brauchend erlebt wie früher, jedoch mit viel mehr „Appetit“ –
auch auf Sex. Und mit diesem Appetit schmeckt‘ s mir einfach besser –
dadurch bin dabei nicht mehr so von äußeren Gegebenheiten, Stimmungen und Eigenheiten des Partners abhängig, dadurch werde ich auch leichter satt. So ist es bei mir jetzt. Und: aus der Erfahrung heraus unabhängiger zu sein im Leben (mehr Yang) habe ich mehr Fähigkeit zur und mehr Spaß an Hingabe.- Na, weißt du, was ich noch sagen wollte: wenn ich zuviel im Yang bin, komme ich zu einem Punkt, wo ich anfange Süßigkeiten zu fressen.
Beatrix: Das beschreibt Ohsawa ja auch, wie die Leute sich normalerweise ernähren. Sie trinken Kaffee und brauchen eine Zigarette dazu, weil Zigaretten yangisieren und Kaffee yinisiert. Kaffee mit Zigarette, rotes Fleisch mit Wein, immer so, daß ein Ausgleich stattfindet. Und ich habe die selbe Erfahrung mit makrobiotischer Kost gemacht. Nach dem Genuß von Buchweizen, der sehr yang ist, hatte ich oft das Bedürfnis, etwas Süßes zu essen. Ich darf Buchweizen nicht zu häufig zu mir nehmen, weil es zu extrem ist, ich werde grantig und gereizt und süßigkeitenhungrig.
Bernhard: Also mir tut’s gut.
Brigitta: Ja, das glaube ich auch, für Männer ist das unterstützend.
Beatrix: Das ist zum Beispiel auch etwas, was mich interessiert, daß es sicher einen Unterschied gibt, was ein Mann essen sollte und eine Frau.
Brigitta: Und das hängt noch einmal davon ab, welcher Mann und welche Frau.
Beatrix: Und was würdest du da sagen?
Brigitta: Ein Mann braucht mehr Yang, eine Frau verträgt mehr Yin. Frauen brauchen einfach mehr Süßes. Männer können wieder mehr Fleisch essen, brauchen mehr Angebratenes, mehr Trockenes, Warmes, Salziges, Frauen weniger. Kinder, die an sich sehr yang sind, brauchen überhaupt nicht viel Yang, die müssen mehr Yin essen, damit sie sich ausbreiten und wachsen können.
Bernhard: Wie ist das bei den Kindern mit der Lust auf Süßes?
Brigitta: Ja, ja, wobei es wiederum um das extreme Süße geht. Das extreme Süße haben sie nur, weil sie erstens kein anderes adäquates Süßes kriegen und weil sie auf der anderen Seite wahrscheinlich zu viel Yang kriegen, also viel Fleisch essen. Das höre ich oft in letzter Zeit von Eltern, daß ihre Kinder unheimlich gern Fleisch essen. Andererseits sagen mir wieder viele Eltern, ihre Kinder mögen überhaupt kein Fleisch. Das ist sehr unterschiedlich und hängt wahrscheinlich damit zusammen, wie sich die Mutter während der Schwangerschaft ernährt hat.
Beatrix: Ich glaube, daß Kinder auch konstitutionell unterschiedlich sind, glaubst du nicht?
Brigitta: Schon, auch, aber was ich auch glaube ist, daß Kinder, die „ruhig gehalten“ werden, wie Al Bauman in einem Artikel schreibt, sich das erleichtern, indem sie Süßes essen, und sich selber unterstützen das auch durchzuhalten, was von ihnen verlangt wird, nämlich nicht yang zu sein, also aktiv, herausgehend. Wenn sie schön Süßes fressen, dann halten sie das besser aus, weil das die Passivität unterstützt, das macht eben angepaßtere Kinder. Der Zuckerkonsum ist das größte Gift.
Beatrix: Das steht auch bei Aveline Kushi so, daß früher Zucker in den Apotheken in den Giftkästen aufbewahrt wurde.
Brigitta: Das ist kein Gift von dem man Lähmungen bekommt und sofort daran stirbt, sondern es ist ein Gift auf einer ganz globalen Ebene. Ich meine auf der, daß Menschen passiv gemacht werden und angepaßt werden und nicht mehr lebendig sind.
Bernhard: Was würdest du jemandem raten – ich habe zum Beispiel eine zuckersüchtige Klientin, was soll die essen? Sie kommt in eine ausgesprochene Unausgewogenheit hinein, wenn sie nicht eine bestimmte Menge Süßes bekommt.
Brigitta: Es geht nicht darum jemandem zu sagen, das Gegenteil zu sich zu nehmen, um das zu balancieren, sondern er muß dort bleiben, wo er ist und schön langsam ausgewogenere Süßigkeiten und eine andere Art von Süß entwickeln.
Beatrix: Zum Beispiel Süßigkeiten, die von der Zubereitung her gekocht sind, wo durch die Hitze Yang zugeführt wird, bzw. wo sie zum Beispiel kauen muß, das ist schon ein wichtiger Übergang. Es kann trotzdem die Qualität süß haben, aber es muß verarbeitet werden.
Brigitta: Du sagst, sie hat andere Süchte auch, da muß man sich die anderen Süchte einmal anschauen, wo die extremen Yang-Dinge sind die sie da treibt mit sich selber. Sie geht wirklich ins extreme Yin.
Beatrix: Was meinst du da, daß sie Yang-Sachen treibt? Brigitta: Weiß ich nicht.- Raucht sie auch?
Bernhard: Nein. Sie trinkt sehr viel, sie ißt sehr viel.
Brigitta: Also dann geht sie wirklich ins extreme Yin. Wie sieht es mit ihrer Aggressivität aus?
Bernhard: Sie beißt sich im wahrsten Sinn die Zähne aus.
Brigitta: Sie ist extrem aggressiv und kontrahiert. Das ist der Versuch ihre Kontraktion loszuwerden. Indem sie so ins Extreme geht, betoniert sie das ganze. Das ist verständlich.
Beatrix: Ich habe eine extrem übergewichtige Frau, bei der fällt mir der Aspekt des „Aushaltens“ ein. Die ißt Schokobananen aus Großpackungen und das ermöglicht es ihr, daß sie ganz symbiotisch mit ihrer Mutter lebt. Niemals irgendwas entgegensetzt. Aber ich glaube es gibt einen Unterschied. Es gibt bulimische Frauen, die in den Bulimie-Attacken nur Süßes essen und die, würde ich sagen, sind extrem kontrahiert und setzen auf diese Art etwas entgegen. Allerdings, wenn sie erbrechen, kontrahieren sie sich wieder …
Brigitta: Reich beschreibt in dem Masochismus-Kapitel, daß der masochistische Charakter der Versuch ist, die quälende innere Spannung in der chronischen Kontraktion mit dem Wunsch nach „Zerplatzen“ loszuwerden. Das Essen von extrem viel Zucker – extremem Yin, hat da sehr was ähnliches. Und er schreibt auch, daß dadurch, daß die Fähigkeit zur selbständigen, aktiven Herbeiführung einer Befriedigung durch die Lustangst gesperrt ist, sich die Masochisten die orgastische Lösung, die sie am tiefsten fürchten, als eine Erlösung von außen, passiv, durch einen anderen – oder etwas anderes – erwarten. Auch das paßt dazu.
Das zeigt auch, wie sich die Katze auf diese Art in den Schwanz beißt. Mir ist noch ein Aspekt eingefallen. Etwas mit der Aggressivität, dem Herangehen, Herausgehen und dem Aktiv-sein-können. Warum funktioniert das bei den meisten Leuten denn nicht wirklich? Das was sich durch die makrobiotische Ernährung auch verändert, ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Realität, so wie sie ist. Und das ist eine wichtige Voraussetzung. Du kannst nicht aktiv sein und dich bewegen, wenn du dein Gegenüber nicht wahrnimmst, weil dann rennst du an und dann hörst du wieder auf damit.
Beatrix: Also das habe ich schon bemerkt. Seit der Umstellung meiner Ernährung war eine große Veränderung zum Beispiel, daß Ordnung in einem gewissen Sinn wichtig wird, daß die Dinge ihren Platz haben; ich habe das wunderbar gefunden, was Aveline Kushi über die Reiszubereitung schreibt. Da schreibt sie, daß es nicht gleichgültig ist, wie man den Reis wäscht und daß es keine Musik beim Kochen geben soll und keine Parfums. Also ich merke das, es ist so toll den Reis beim Anrösten zu riechen. Das finde ich so wunderbar.
Brigitta: (hauchend) Ja, jetzt sind wir bei der sinnlichen Qualität.
Beatrix: Ja, und das ist auch sinnlich, was die Wahrnehmung betrifft, daß man schaut, wo es einen hinzieht, also, wo es „gut“ ist.
Brigitta: In der Körperarbeit nennt man das vegetative Identifikation, ich würde das ebenso nennen auf der Ebene der Ernährung. Es ist zum Beispiel auch nicht gleichgültig, wie ich die Dinge schneide. Nämlich jetzt nicht für irgendwen, sondern einfach aus meinem Körper heraus. Aus dem Körper heraus zu spüren, wenn ich die Karotte nehme, wie will ich das heute und zwar genau. Und ich setze das Messer so und so und so und ich schneide Stücke, die genau dem entsprechen, wie es heute für mich paßt. In der Größe, in der Form etc. Das ist für mich die „Disziplin der Lust“.
Dieser Begriff paßt sehr gut dazu. Im Japanischen haben sie tatsächlich verschiedene Namen für diese unterschiedlichen Arten, die Dinge zu schneiden. Die haben das schon immer so gemacht und es hat eine Rolle gespielt. Und es spielt eine Rolle. Und es macht Spaß. Unlängst habe ich Fisolen geschnitten, große, kleine, lange, breite und bei jeder einzelnen habe ich geschaut, wie stimmt das jetzt mit der Balance, zu dem wie dick die ist. Einmal mache ich die Abstände kürzer und bei einer dünneren dann länger, und das ist dann insgesamt homogen in dieser Inhomogenität. Und das macht so viel Spaß. Jedes einzelne Mal, wo ich das genauso mache, wie es für mich stimmt, befriedige ich mich selbst.
Und damit führe ich auch wahrscheinlich dem Körper das zu, was für ihn paßt. Daher zerkleinere ich praktisch nichts mit der Maschine. Ich mahle auch das Getreide mit der Hand. Und das mache ich nicht um Strom zu sparen, sondern weil es mir Vergnügen macht, weil das Mahlen an sich eine wunderschöne Bewegung ist; da stehe ich mit den Füßen am Boden, es ist eine Bewegung für den ganzen Körper, ich spüre den Brustmuskel und gleichzeitig riecht’s total gut, das geröstete Getreide, das ist toll.
Beatrix: Der Begriff „Disziplin der Lust“ paßt wirklich sehr gut dazu.
Brigitta: Ich glaube bei Al Bauman ist das ja kein Zufall. Er hat Ohsawa persönlich gekannt.
Beatrix: Mir hat das auch gut gefallen, wie du einmal gesagt hast, man fügt dem Reis so viele Tassen Wasser hinzu, wie es grad für dich stimmt an dem heutigen Tag. Einmal ist es ein wässeriger Reis ein anderes Mal ein trockener, kömiger und auch bezüglich der Salzmenge, und deshalb ist es ja auch wichtig, das Salz nicht mit einem Löffel zu nehmen, sondern mit den Fingerspitzen, weil das ja auch sehr unterschiedliche Qualitäten hat. In der Makrobiotik ist die Frage, was wann bei wem gut ist, sehr wenig aufgezeigt, zumindest schriftlich. Dies ist alles selbst zu entdecken. Nach der chinesischen Ernährungslehre ist das sehr differenziert ausgearbeitet.
Also das ist etwas, was ich vermisse in makrobiotischen Büchern, so eine differenzierte Aufstellung, was, wann, wie gut ist . Es wird ein bißchen eingegangen auf den Unterschied zwischen Frauen und Männer und auf Kinder aber nicht, ob ein Mensch mehr Feuer braucht oder abkühlende, erfrischende Qualitäten, weil er überhitzt ist, oder z. B. wenn wir das in Bezug auf die Reichsche Charakterlehre anschauen, dann kann es doch nicht gleichgültig sein, ob jemand eher schizoid ist oder hysterisch.
Brigitta: Ich glaube, Ohsawa schreibt das in einem Nebensatz, daß es wichtig ist zu erkennen, was für wen richtig ist. Daß also er als makrobiotischer Arzt, so sehe ich das, in Wirklichkeit aus seiner Wahrnehmung, seiner Fähigkeit zur „vegetativen Identifikation“ heraus das sehr wohl unterscheidet. Makrobiotik ist keine allgemeingültige Diät, sondern eine Ernährungslehre und nicht nur das, die befähigt, dem Individuum – jedem einzelnen die zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort richtige Ernährung zu geben.
Bernhard: Es ist sehr schwierig, sich zu orientieren, für jemanden, der sich nicht total damit beschäftigt, vor allem auch, was der richtige Zeitpunkt für ein bestimmtes Nahrungsmittel ist. Auch wenn ich weiß, daß ich dieses oder jenes Getreide grundsätzlich von der Yin- oder Yang-Qualität brauche, ist das ja noch keine Orientierung für den Zeitpunkt.
Brigitta: Da spielen aber andere Dinge auch eine Rolle. Beatrix: Was meinst Du?
Brigitta: Naja, psychische, in welcher Situation bin ich z.B. in meiner Arbeit.
Beatrix: Ja schon, aber darauf wird nicht eingegangen, und das ist etwas, was ich kritisiere z.B. in dem Buch von Kushi. Da stehen dann zu jeder Nahrungsmittelkategorie Listen. Und da steht: geeignet zum regelmäßigen Verzehr, zum gelegentlichen Verzehr, zu vermeiden. Und das, denke ich, fördert eine undifferenzierte und auch strenge Haltung. Ich frage mich beispielsweise, wieso etwas, was in unseren Breiten wächst, zu vermeiden ist. Das kann ich nicht verstehen. Tomaten zum Beispiel soll man nicht essen, keine Kartoffel …
Brigitta: Das ist auch nicht gut, weil sie extrem Yin sind. Und – es geht nicht darum, daß etwas verboten ist – es geht darum, daß bestimmte Nahrungsmittel eine bestimmte Wirkung auf deinen Energiekörper haben und du kannst das spüren, vor allem dann, wenn du nicht in der totalen Abwehr dagegen bist (unter dem Motto: „ich lasse mir keine Vorschriften machen“). Solche Tabellen sind für mich eine Anregung auf der Suche nach dem Fühlen und nur so verstehe und verwende ich sie.
Bernhard: Ja, wenn man jetzt davon ausgeht, daß diese einen Ausgleich brauchen …
Brigitta: Nein, weil sie extrem sind, es ist im Grund alles, was extrem ist, nicht gut.
Bernhard: Also Tomaten mit Buchweizen sollte man dann nicht essen.
Beatrix: (lacht) Dann haut‘ s Dich von Yang zu Yin.
Brigitta: Zuerst habe ich auch gedacht, es geht nur um die Balance, aber das ist gar nicht gut. Und diese extremen Dinge soll man, wenn überhaupt, nur wie Gewürze verwenden, nur in geringen Mengen.
Bernhard: Angeblich machen Tomaten lustig.
Beatrix: Von Bananen sagt man auch, daß sie lustig machen.
Brigitta: Der Herbert hat mir erzählt, er hat gelernt in seinem Europakurs, Deutschland sei der weltgrößte Bananenimporteur. Das habe ich sehr witzig gefunden. Da könnte man sich was dazu denken.
Beatrix: Bananen sind ganz kalt von der thermischen Qualität her und sie wachsen auch nicht bei uns. Das ist etwas, was ich wirklich sehr schön finde, aber das findet sich auch in der anthroposophischen Ernährungslehre, daß man nur in der Jahreszeit das essen sollte, was hier angebaut wird und gerade reif ist, wo man lebt.
Brigitta: Und Tomaten esse ich, wenn überhaupt, wenn sie bei uns reif sind, aus einem Garten, wo sie normal wachsen und bei der Witterung – ich meine im heurigen Sommer, wo es so heiß war, war es sicher o.k. Tomaten zu essen. Die Frau Aihara, die in Kalifornien lebt, verwendet Tomaten. Und Kushi schreibt wahrscheinlich aus dem japanischen Standpunkt heraus.
Bernhard: Ist das nicht auch ein Prinzip, daß man immer die Sachen essen soll, die in der Gegend wachsen?
Brigitta: Ja, ja, und auch zu dem Zeitpunkt wo sie reif sind.
Bernhard: Das ist ein Punkt, der mir nicht ganz klar ist. Da gibt es einerseits das Prinzip, man soll das nehmen, was in der unmittelbaren Umgebung wächst, auf der anderen Seite gibt es eine Menge von Basismittel …
Brigitta: Was zum Beispiel? Reis? Reis scheint eine Ausnahme zu sein, abgesehen davon, daß auch in Frankreich Reis wächst. Das weiß ich nicht, ich kann dazu nichts sagen. Wovon ich immer ausgegangen bin ist, daß Japan schon unserer Klimazone entspricht. Und zu den Meeresalgen ist zu sagen, daß das Meer etwas ist, das uns alle universal umgibt.
Beatrix: Das gefällt mir sehr gut, daß der Aufbau der Mahlzeit nicht zufällig ist. So schreibt z.B. Aveline Kushi, daß wenn man eine Algenmisosuppe ißt, und damit eintaucht in dieses kosmische Ganze und von dem weitergeht über Yang-Getreidenahrungsmittel und dann in die Gemüsefrüchte hinein, daß man eine Evolution durchmacht in jeder Mahlzeit. Und was mir auch sehr gut gefällt ist, daß es wichtig ist, daß verschiedene Farben am Tisch sind, also auch darin eine Balance vorhanden ist.
Brigitta: Von den Farben her ist Yang in Richtung rot und Yin Richtung grün. Das, was letztlich die Qualität eines Nahrungsmittels ausmacht in Bezug auf Yin bzw. Yang setzt sich aus verschiedenen Teilaspekten zusammen. Die Rübe, z.B. ist Yang, weil sie in der Erde ist.
Beatrix: Das ist auch eine Yang-Qualität, die Erde. Und je weiter es nach oben geht, in das Blättrige, Grüne, desto mehr wird es Yin. Es geht also um Ausgewogenheit und trotzdem bin ich depressiv geworden wie schon lange nicht mehr, habe eine Blasenentzündung bekommen, trotz Bancha-Tee usw., und du hast gesagt, dann war das zu ausgewogen. Wie hast du das gemeint?
Brigitta: Das klingt schon so das „Ausgewogen“, wie du das sagst. Da ist’s das primäre Prinzip, daß es in irgendeiner Form ausgewogen ist, und darum geht es nicht. Es geht darum, daß du auf deine wechselnden Bedürfnisse antwortest. Und ausgewogen klingt so gleichbleibend, das ist es aber nicht.
Beatrix: Das ist vielleicht das Wichtige, das ist die Aufgabe die sich durch die Makrobiotik für mich stellt, weil sie ja schon eine Tendenz zum Strengen hin hat und man es auch so verwenden könnte.
Brigitta: Al Bauman hat mir erzählt, daß Ohsawa absolut nicht streng und ernst war, sondern daß er Humor gehabt hat.
Beatrix: Ja, als Person kann das schon sein, aber wenn man es so
gebannt sieht auf Papier, dann wirkt das so festlegend und verallgemeinernd. Das ist eben die Crux dabei, daß all dies eigentlich den persönlichen Kontakt braucht. Und da muß ich schon sagen, daß Aveline Kushi mehr aus dem Kontakt heraus schreibt.
Brigitta: Ja, weil sie aus einem Umfeld heraus schreibt, das eben für dich stimmt. Wenn ich mich in einer gewissen Umgebung heimisch fühle, dann kann ich auch für mich sorgen. Ich habe z.B. immer ein Problem gehabt am Übergang vom Winter zum Frühling. Plötzlich habe ich nicht mehr gewußt, was ich mir jetzt kochen soll. Im Winter geht es ganz gut und dann ist da echt was, woran ich arbeiten muß, wo ich Dinge entdecken muß, die für mich neu sind. Es tut da einfach Veränderung not. Das was einem im Winter sehr gut schmeckt, das paßt dann einfach nicht mehr. Dann muß man eben etwas Neues finden. Das sind die Punkte, an die man immer wieder kommt. Du hast gesagt, daß es gut ist mit jemandem Kontakt zu haben, der einem hilft. Ich habe mich halt hingesetzt und habe gelesen und habe gesucht, gesucht, gesucht, wo finde ich das.
Bernhard: Und den Mangel, den du gespürt hast war, daß es sowenig Frisches gibt in dieser Zeit?
Brigitta: Das was es im Winter gegeben hat, das paßt dann nicht mehr, wonach ich einen Gusto habe, ja das finde ich nicht. Ich bin jetzt auch draufgekommen, auf das was es wirklich ist. Vor allem habe ich im Frühling zunehmend Gusto auf kräftige grüne Dinge, etwa auf Wildkräuter, austreibende Kräuter wie Löwenzahn, Farne, Schachtelhalm. Und da geht es auch darum, daß sie gerade in einem bestimmten Stadium sind. Inzwischen weiß ich, ich muß im nächsten Jahr Plätze finden, ich muß wissen, wo was wann wächst. Die Dinge gibt es nicht am Markt, da ist der Kontakt zur Natur schon wichtig.
Bernhard: Man kann sich in dieser Zeit mit Keimen sehr gut helfen.
Brigitta: Keime, ja, gut. Das ist zum Beispiel etwas, das ist mir einfach nicht eingefallen, das war ich nicht gewohnt zu machen. Man muß rein praktische Ideen haben, Fähigkeiten und Wissen dazugewinnen, man muß organisieren, muß lernen, wie ich etwas mache, wie lange es dauert, bis ich es bereit habe. Das braucht schon eine Art von Disziplin und Dranbleiben und nicht aufgeben an diesen Punkten, wo man gewisse äußere wie auch innere Strukturen verändern muß.
Drum glaube ich auch, daß diese Erkenntnis, was ist Struktur, was ist Panzerung, und was bringt es, sich einfach nicht damit zu identifizieren, sondern weiterzugehen und sich zu bewegen, absolut wichtig ist. Einer, der keine Ahnung davon hat, bleibt schon wieder stecken an so einem Punkt und dann haut er es hin. Das ist für mich total verständlich. Aus dem Grund verstehe ich es, warum Leute es nicht einhalten, wenn man ihnen sagt, das wäre gut für sie, abgesehen davon, daß vieles was den Leuten gesagt wird, was für sie gut ist, ohnehin nicht wirklich stimmt.
Es ist für mich ganz spannend, auch unter diesem Aspekt zusammen mit der Körperarbeit mit Leuten zu arbeiten. Da spielen diese Dinge eine Rolle: Immer wieder beim Würstelstand – dieser Geruch und ich meine – ich weiß ja wie das ist mit einer Frankfurter (ich habe nie sehr viel Frankfurter gegessen), aber das kennt doch jeder, das hat eine gewisse Qualität, ja – oder eine Leberkässemmel. Das hat eine gewisse Qualität. Und das wirkt so tief. Und ich mag kein Fleisch. Wenn ich mir vorstelle, ich stopfe mir das wirklich hinein, dann wird mir schlecht. Und trotzdem, wie ich dort vorbeigegangen bin, hat es mich wie magisch hingezogen, um diese Qualität für mich zu befriedigen.
Und gleichzeitig habe ich gemerkt, wenn es da ein anderes Standl gäbe, wo irgend etwas auch so gut herausriecht, was wirklich gut ist für mich, dann nehme ich wahrscheinlich eh das andere. Nur die Realität ist, ich gehe am Würstelstand vorbei, andere gibt es nicht, die so gut riechen. Das sind Dinge, gegen die muß man echt ankämpfen. Und zwar nicht indem du sagt, Würsteln sind pfui, sondern indem du gleichzeitig das Bedürfnis deines Körpers anerkennst, das ein reales ist in diesem Moment; du möchtest etwas für dich tun, eben da auf der Straße, wo du gerade vorbeigehst und wo du jetzt einen Gusto hast.
Bernhard: Das ist interessant, weil ich das oft sehr unterschiedlich erlebe. Beispielsweise gibt es Nahrung, die oberflächlich betrachtet, also optisch oder durch Geruch und sogar auch durch Geschmack attraktiv erscheint, und bei genauerer Aufmerksamkeit, wenn ich tiefer schaue und mich frage, ob ich das wirklich brauche, dann kommt ein klares Nein.
Beatrix: Das empfinde ich als eine Aufgabe, gegen meine Struktur sozusagen, das zu riskieren, dem die Stimme zu geben, dieser tieferen Stimme. Ich finde, es bewegt etwas in einer tiefen Schicht, weil es auch heißt, ich bin unabhängig.
Bernhard: Ich habe heute so ein Erlebnis gehabt mit dir, wie du mir erzählt hast, daß heute der Eissalon den letzten Tag geöffnet hat. Mein erster Gedanken war: ich möchte ein Eis. Und dann habe ich kurz innegehalten und gespürt, eigentlich brauche ich heute überhaupt kein Eis. Aber der erste Impuls war, ja, ein Eis.
Beatrix: Na, und mir ist es ähnlich gegangen, nur daß ich dem nicht so radikal gefolgt, bin und ich merke für mich ist das wirklich ein Risiko, dem so nachzugeben. Das heißt nicht nachgeben, nachgeben ist nicht das richtige Wort, sondern dem eine Stimme zu geben und dabei zu bleiben.
Brigitta: Ich finde, daß es schlicht und einfach blöde Gewohnheiten sind. Ich würde das gar nicht so dramatisieren.
Beatrix: Man muß nicht dramatisieren, aber ich habe ganz deutlich gespürt, es steht heute für mich kein Eis an.
Brigitta: Auf die Idee zu kommen, daß man am letzten Öffnungstag ein Eis essen muß ist einfach eine blöde Gewohnheit.
Bernhard: Das ist manchmal eine blöde Gewohnheit und manchmal ist es auch Lust.
Beatrix: Es ist eine „Mundlust“.
Bernhard: Es ist eine Mundlust und es ist halt auch so, daß ich oft Lust auf Blödheiten habe. Wo ich auch weiß, das tut mir nicht gut, aber trotzdem macht mir das dann Freude, eine alte teuflische Lust, ja, was Verbotenes zu machen, was mir nicht gut tun sollte, wie zum Beispiel Zigaretten zu rauchen oder so …
Brigitta: Das ist ja keine Blödheit. Ich habe zuerst was anderes gemeint. Für mich gibt es schon den Aspekt, daß es da eine Lust gibt und daß ich nicht nur dem Nein eine Stimme gebe, sondern auch dieser Lust, obwohl sie jetzt geknüpft ist an etwas, was mir in Wirklichkeit nicht gut tut, daß in dem Moment sehr wohl ein bestimmtes annehmbares Bedürfnis da ist, für das es nur nicht die richtige Befriedigung gibt. So wie ich gesagt habe, daß ich die Kräuter nicht neben mir habe, ja?
Bernhard: Ja.
Beatrix: Vielleicht war das einfach, daß ich eine Stunde auf dich warten habe müssen (lacht) und ich habe wirklich gedacht, was mache ich da. Zum Lesen habe ich nichts mitgehabt und allein in meinem Zimmer, in dem vier Therapiestunden stattgefunden haben zu bleiben, wär’s auch nicht gewesen.
Brigitta: Und Eis fällt einem dann halt ein, das hat man oft in solchen Situationen gemacht. Was gibt es statt dessen, was einem gut tun könnte.
Bernhard: Das ist eine total gute Schule.
Beatrix: Und das ist so wie bei dir was du sagst über das Auffinden von Kräutern und über die Sprossen. Auf dieser Ebene bedeutet es für mich gegen meine Struktur anzugehen. Ich verbinde es mit radikaler Unabhängigkeit, irgendwie Verbindung aber Unabhängigkeit. Es schaudert mich fast bei dem Gedanken, daß ich mich anders entscheiden kann und das dann auch tue, und wie lebe ich dann damit. Das ist so ungewohnt für mich. Da wird ja was frei, wenn ich mich jetzt dazu entschieden habe, gib dieser inneren Stimme einen Platz, beantworte die, dann wird was frei. Und ich spüre, ich weiß, ich bin nicht mehr gebunden, es sind nicht mehr meine Bedürfnisse, bin auch nicht mehr identifiziert mit ihnen und dennoch ist es ein großer Schritt, das in mein Leben zu integrieren, mich das zu trauen. Das ist echt ein Risiko für mich. Das ist Disziplin.
Brigitta: Und das ist nicht nur ein Schritt, wie man früher immer geglaubt hat, den macht man und dann ist man auf einem anderen Level. Man muß immer wieder diesen Schritt machen, immer wieder, jeden Tag.
Bernhard: Sehr schön darüber zu reden.
Beatrix: (feierlich) Ja, sehr schön, es ist in einer sehr guten Art aufregend.
Brigitta: Jetzt kommt der makrobiotische Zwetschkenstrudel.
Wolfram: (gerade dazugekommen) Ist dieser Aufstrich makrobiotisch?
Beatrix: (lacht) Das nimmst du aber auch ins Interview auf- Und wir haben schon einen gefunden, Wolfram Ratz ist zum Makrobioten geworden.
Beatrix: Aber was mir am besten gefallen hat an dem ganzen ist, wie du das geschildert hast mit dem Schneiden, wie diese Harmonie entsteht; von sich, dem Nahrungsmittel, von der Art der Zubereitung, wo es ist, wie du es siehst, wie du dir wirklich sehr viel geben kannst.
Bernhard: Mit anderen Worten, es ist ein wirkliches Kontaktaufnehmen mit der Welt.
Beatrix: Ja, vegetative Identifikation ist das.
Bernhard: Das ist schön herausgekommen. Es ist sehr gut da eine Unterstützung zu haben, das ist alleine oft sehr schwer.
Brigitta: Ich habe es allein gemacht, nur mit meinen Büchern.
Beatrix: Ich habe gemerkt, das ist auch ein Ergebnis dieses Gespräches, ich brauche wirklichen Kontakt, menschlichen Kontakt.
Bernhard: Brigitta, wie lange ernährst du dich schon so? Brigitta: Etwa zweieinhalb Jahre.
Bernhard: Ich merke, daß ich immer ein bißchen Scheu habe, so ein „Extra-Essen“ mitzunehmen, wenn ich auswärts bin.
Brigitta: Und da muß ich euch wieder sagen, ich nehme mir Reis mit. Reis und Gomasio, damit ist man gerettet.
Beatrix: Es macht mich auch verschämt vielleicht zur Exotin zu werden.
Brigitta: Das ist ein Aspekt, über den ich reden will. Das ist genau das, was ich im Spital mache. Ich habe gewußt, ich muß mich entscheiden dabei, daß ich mir das mitnehme jeden Tag. Ich hätte es echt nicht machen können wenn ich jetzt bleib mit dem eben. Dann komme ich in das verschrobene, schrullige Eck. Wenn ich mich jetzt nicht mit dem identifiziere, sondern einfach sage, he, ich mache was Gutes für mich und ich brauche mich auch dort nicht hineinmanövrieren lassen.
Ich merke, es passiert nicht. Ich renne herum mit meinen Gläsern, ich wärme mein Essen überall auf der Station, manche fragen „Was essen’s denn da Frau Doktor?“, aber es ist nicht so, weil ich einfach kein schrulliger verschrobener Mensch bin. Und ich komme jeden Tag mit einer riesigen Tasche und anfangs wurde ich oft gefragt „Frau Doktor haben Sie Dienst?“ und dann sage ich: „Nein, ich habe nur mein Essen mit“. Ich meine, sicher denken sich manche, die Bolen, aber im Grund wird das akzeptiert. Einmal kommt da einer herein, einer von den Oberärzten und erzählt über die Müsli-Bräute und ich sitze da und esse mein Müsli. Irgendwie habe ich auch in dem Moment gespürt, daß er mich damit gar nicht meinen kann.
Bernhard: In der Zeit, wo ich das intensiver gelebt habe, habe ich schon gespürt, daß man ein Außenseiter ist.
Beatrix: Na, aber vielleicht warst du damals noch Außenseiter, an sich Außenseiter, Bernhard.
Brigitta: In dem Moment wo du dich auch so fühlst, manövrierst du dich auch dahinein. Und ich rede mit allen ganz normal, ich meine das fällt jedem auf.
Beatrix: „Reden ganz normal“ ist eigentlich ein gutes Schlußwort.
Beatrix: Jetzt bin ich neugierig, was da draus wird.
Brigitta: Wieder so etwas Kompliziertes mit der Bolen…
31 Mai
Bukumatula 6/1994
Das Lima Ohsawa Kochbuch Heinrich Hugendubel Verlag, München: 1986
Brigitta Bolen, Beatrix Teichmann-Wirth:
EINLEITUNG
Inochi heißen im japanischen Leben die vitalen biologischen und physiologischen Vorgänge, die unser tägliches Dasein ermöglichen. In Japan wie in anderen Teilen der Welt war es immer selbstverständlich, daß Leben sich aus der Substanz und Energie der Nahrung aufbaut. Obwohl es oft übersehen wird, läßt sich die offensichtliche Tatsache, daß die menschliche Existenz hauptsächlich von der Nahrung abhängt, keine Entschuldigung zu für Sorglosigkeit in der Wahl der Zubereitung unserer Nahrung und unserer Eß- und Trinkgewohnheiten Dennoch betrachten nicht viele von uns diesen Bereich als selbstverständlich, als reine Gewohnheit, oder nur als Quelle der Sinnesbefriedigung? Die Ernährung spendet zwar die lebendige Energie für unser Leben, aber sie kann, und das vergessen wir oft, nachlässig oder ausschweifend angewandt, ihm auch ein Ende bereiten.
Praktische Makrobiotik beginnt mit dem Verstehenlernen der Nahrung. Unsere Philosophie unterscheidet zunächst in der vorhandenen Vielfalt zwischen den zwei Kategorien des Tierischen (yang) und des Pflanzlichen (yin). Es ist ein ökologisches Gesetz, daß alles tierische Leben für seine Existenz vom Pflanzenreich abhängig ist, denn die Pflanzen verwandeln die Grundstoffe der Natur in verdaubare Nahrung. Eine „Nahrungskette“, eine Hierarchie des Essenden und des Gegessenen schreibt vor, daß große Fische kleine fressen, während die kleinen sich vom Meer oder Flußpflanzen ernähren. Die fleischfressenden Geschöpfe der Welt verschlingen die Pflanzenfresser.
Auch wir Menschen, entwicklungsgeschichtlich das jüngste Glied in der Nahrungskette, sind entweder direkt oder indirekt auf das pflanzliche Leben für unsere Ernährung angewiesen. Die auf Erfahrung beruhende makrobiotische Philosophie lehrt, daß der Mensch, obwohl er immer wieder beweist, daß er essen kann was er will, (wobei er allerdings Konsequenzen tragen muß), seine Gesundheit und Lebenskraft verbessern kann, je mehr er sich gänzlich und direkt von Pflanzen ernährt.
Denn wenn wir unsere Nahrung aus dem Tierreich holen, sind die lebensaufbauenden Grundstoffe ungeformt und unausgewogen, einige sind verstärkt, andere sind verschwunden. Außerdem nehmen wir giftige tierische Abfallstoffe ebenso auf wie künstliche Zusätze der Industrie. Die Makrobiotik bedeutet jedoch nicht eine strikt vegetarische Lebensweise. Wir glauben nicht, daß jemand, der ausschließlich pflanzliche Nahrung ißt, notwendigerweise Gesundheit und Lebenskraft erlangt, und in Harmonie mit der Umgebung lebt; beziehungsweise, daß jedermann sich auf den Pflanzenbereich beschränken muß, wenn er seine Natur verwirklichen möchte.
Die natürliche Ordnung in der Natur ist genauer und auch anpassungsfähiger. Die unterschiedliche Anzahl und Form unserer Zähne, das Tor der Nahrung in unseren Körper, sagt uns mehr über das Verhältnis in der menschlichen Ernährung. Von den insgesamt zweiunddreißig Zähnen sind acht (ein Viertel davon) zum Zerkleinern von Gemüse bestimmt, vier (ein Achtel) sind Eckzähne zum Zerreißen von Fleisch und zwanzig (fünf Achtel) sind Backenzähne, vorgesehen zum Zermahlen von Getreidekörnern. Nach dem Vorbild unseres Verdauungssystems legt die Makrobiotik das Hauptgewicht auf Getreide und Gemüse, und wie bei den Zähnen überwiegt das erstere. Georges Ohsawa widmete 50 Jahre seines Lebens dem Beweis, daß für den Menschen Getreide das Hauptnahrungsmittel ist. Es ist jedoch sowohl im Teller als auch im Mund ein wenig Platz fair eine verhältnismäßig kleine Menge tierischer Nahrung, falls nötig oder erwünscht.
Wir empfehlen zur Nahrung die niedrigeren tierischen Lebensformen, oder solche, die vom modernen Menschen am wenigsten gezüchtet oder behandelt wurden. Aber ich kann nicht genug betonen, daß mangelhafte Auswahl und unrichtige Zubereitung von guter Nahrung, sogar wenn sie im richtigen Mengenverhältnis steht, ihre gesunde und stärkende Wirkung vermindern können. Es gibt eine Grundordnung, die bei der Auswahl, beim Schneiden, bei der Zusammenstellung und beim Kochen beachtet werden sollte. Die Makrobiotik ist eine sehr verfeinerte Lebensweise, die mit einer möglichst großen Auswahl von verfügbaren Zutaten arbeitet. Sie ist der kulinarische Ausdruck
der reichhaltigen Individualität der Menschheit, und sie glaubt an eine Erziehung und Verfeinerung dieser Individualität. Um die Makrobiotik in richtiger Weise zu praktizieren, muß sich ein jeder von uns selbst kennen und die Dynamik der Nahrung verstehen lernen, um zu entdecken, wie er seinen persönlichen, speziellen Bedürfnissen am besten entspricht. Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich, je nach ihrer täglichen Arbeit, ihrem Wohnort und dem Wechsel der Jahreszeiten. Eine Frau und Mutter muß nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse. sondern auch die der Familienmitglieder verstehen, die ihr die Verantwortung fair die Zubereitung der Mahlzeiten anvertraut haben.
Die makrobiotischen Geheimnisse fair ein gesundes Leben und Essen sind Gleichgewicht und Mäßigkeit. Mann kann Vegetarier sein und alle Vitamine, Minerale, Kohlehydrate, Öle und Proteine, die fair Energie, Wachstum und Gewebserneuerung notwendig sind durch eine wohlausgeglichene Ernährung aus Getreide, frischem Gemüse. Früchten und Nüssen erhalten. Aber auch tierische Nahrung und Milchprodukte können ihren Platz in der makrobiotischen Mahlzeit finden, wenn wir sie richtig zubereiten und sie mit den anderen Bestandteilen unseres Menüs harmonisch kombinieren. Wir haben die Freiheit zu essen, was immer wir wollen; nichts ist verboten, außer Unkenntnis und Nachlässigkeit.
KOCHEN ALS SELBSTENTFALTUNG
Nach der Entdeckung des Feuers vor vielen tausend Jahren erfand die Menschheit zahlreiche Kochmethoden, aus denen sich langsam all die verschiedenen Formen, die wir heute kennen, entwickelten. Hauptanliegen des Kochens ist es, Nahrung so zuzubereiten, daß sie unser körperliches und seelisches Wohlbefinden unterstützt, unsere menschliche Natur ernährt und die Qualität unseres Lebens verbessert. Durch makrobiotische Kochmethoden werden die lebenswichtigen Nährstoffe deshalb erhalten und sogar verbessert.
Wir glauben, daß Kochen niemals nur der Befriedigung unserer sinnlichen Begierden dienen sollte, aber ich möchte nicht mißverstanden werden. Wir dürfen niemals die Bedeutung von Geschmack, Aroma, Beschaffenheit und Aussehen vernachlässigen oder geringschätzen. Der Idealfall ist, daß ein guter Koch wahrhaft köstliche und ansprechende Mahlzeiten zubereitet, aber es sollte ihm auch gelingen, jeder Zutat ihren eigenen natürlichen Geschmack zu erhalten. Die astronomische Ordnung der Natur, die im großen Maßstab am Himmel erscheint, findet ihre Entsprechung in der kleinen feinen Ordnung, die in den Zutaten beim Kochen enthalten ist. Jeder natürliche Geschmack, – bitter, süß, sauer, salzig, scharf und all die zahlreichen Abwandlungen – hat eine charakteristische Wirkung auf uns, auf Körper und Geist.
Zutaten verändern, verstärken oder mildern sich gegenseitig, wenn sie miteinander kombiniert werden. Beim Kochen können wir diesen natürlichen Geschmack (und seine Wirkung) nach Belieben hervorrufen, verstärken oder aufheben. Dies ist unser schöpferisches Vorrecht als Menschenwesen, ein erster Schritt zur Bestimmung unseres Schicksals. Falls wir ihn mit künstlichen Gewürzen oder durch falsche Zubereitung zerstören, verfälschen wir das „Natürliche an sich“ auf schädliche Weise und leiden beständig durch unsere Willkür. Ein guter Koch hat die Natur studiert, kennt den natürlichen Geschmack, und weiß ihn zu erhalten, – zum Wohle derer, die er ernährt.
KOCHEN ALS KUNST
Durch Nahrung wird der menschliche Körper erhalten, und durch Nahrung wird die Qualität und Richtung unseres Lebens bestimmt. Die Zubereitung der Nahrung, die unser künftiges Leben in Gang hält, ist eine schöpferische Handlung. Um in dieser Kunst erfolgreich zu sein, braucht man tiefes Verständnis, Feinfühligkeit und wahre Hingabe.
Kochen ist deshalb eine Handlung, die Geschick erfordert, für Männer sowie für Frauen. Es ist besonders wichtig fair Frauen und Mütter und alle, die jeden Tag Ar das Wohlergehen anderer kochen. Makrobiotisches Kochen schafft die Möglichkeit für eine Selbstverwirklichung und ein Verstehen und Anwenden der Naturgesetze durch die selbstlose Erhaltung des Lebens. Kochen ist eine vielschichtige Tätigkeit, die das Zusammenwirken von Farbe, Geschmack, Form, Konsistenz und Aroma zu einem einheitlichen harmonischen Ganzen beinhaltet. Wenn Musik und Malerei als schöne Künste gelten, so sollte diese Kunst einen besonderen Rang einnehmen, erstere bereiten Freude, das Kochen jedoch erhält die Menschheit. Wir betrachten es als die höchste aller Künste, und wer sie mit Hingabe ausübt, verdient die höchste Anerkennung.
KOCHEN IN HARMONIE
Makrobiotisches Kochen ist die Zubereitung von Nahrungsmitteln gemäß dem Prinzip, das wir die Ordnung des Universums nennen, unserer im Laufe der Zeit veränderten heutigen Auffassung des alten östlichen Prinzips von yin und yang. Das Prinzip veranschaulicht die harmonische Wechselwirkung der Gegensätze, die die Entwicklung von Pflanzen und Menschen steuert. Wenn wir das Gesetz kennen und es anzuwenden wissen, können wir unsere Nahrung ins Gleichgewicht bringen, ihre Qualität ändern, um sie leichter verdaulich zu machen und in einer einfachen Zutat eine Vielfalt an Geschmack und Aroma entdecken. Wir können unsere Mahlzeiten schmackhaft und gesund gestalten, ob unsere Zutaten nun kostspielig sind oder nicht.
Wir denken an diese Harmonie, wenn wir den täglichen Speiseplan zusammenstellen. Speisen aus dem Meer kombinieren wir mit der entsprechenden Nahrung vom Land. Tierische Nahrung (yang) sollte durch Gemüse oder Früchte (yin) ausgeglichen werden; kaliumreiche Nahrung (yin) harmoniert am besten mit salziger (yang). Keine Sorge. man muß kein Wissenschaftler sein. Das makrobiotische System beruht auf gesundem Menschenverstand und wenn die Intuition einmal neu belebt ist, werden wir feststellen, daß wir sie, wenn auch nur zögernd, schon die ganze Zeit gekannt und benützt haben. Mit ein bißchen Übung wird makrobiotisches Kochen zur zweiten Natur; mit mehr Übung könnte es vielleicht sogar zur ersten Natur werden. Die Rezepte in diesem Buch sind für den Anfang gedacht, bald werden Sie eigene erfinden können.
DIE HARMONIE DES GESCHMACKS
Mit Feinfühligkeit und zarter Hand können Mahlzeiten zubereitet werden, die durchwegs köstlich und verführerisch sind Niemals drauflos würzen. Es kommt bei der Zubereitung einer Speise auf den richtigen Moment zu würzen an. Salz zum Beispiel kann man ziemlich früh zugeben, damit das Gemüse beim Kochen fest bleibt, während Miso (Sojabohnenpaste) später zugegeben werden sollte. Wenn es zu lange gekocht wird, verliert es viel von seinem Nährwert und Geschmack
Um Geschicklichkeit im Umgang mit der Nahrung zu erlangen, muß man wieder Verständnis und ein Gefühl für den natürlichen Geschmack unserer Zutaten entwickeln. Diese harmonisch miteinander zu kombinieren ist eine aufregende Herausforderung. Wenn der Gaumen durch chemisch aufbereitete oder zuckerreiche Nahrung abgestumpft ist, dauert es ein oder zwei Wochen, bis wir wieder feine Nuancen schmecken können. Geduld – es ist der Mühe wert.
HARMONIE AUCH FÜR DAS AUGE
Speisen sollten immer so gereicht werden, daß sie reizvoll für das Auge sind, und daß Farbe, Konsistenz und Form eine harmonische Einheit bilden. Leichte Speisen sollten mit schweren zusammen serviert werden. Die Schärfe eines feingeriebenen Rettichs zum Beispiel, belebt gebratene Omochi (Reiskuchen), während die kühlen grünen Stengel von geschnittenen Schalotten einer Schale Soba (Buchweizennudeln) leuchtende Frische geben.
DIE HARMONIE DER FORM
Wir sollten Gemüse nicht wie Brennholz hacken. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, natürliche Zutaten so zu schneiden, daß jedes Stück die Harmonie von yin und yang beibehält.
DAS ALLUMFASSENDE GESETZ
Unser Rüstzeug für das Verständnis der Natur und für die Kunst der Speisenzubereitung ist das Gesetz der einander ergänzenden Gegensätze. Yin und Yang sind die Pole von Ausdehnung und Zusammenziehen, weiblich und männlich. Winter und Sommer, Passivität und Aktivität. Wir teilen Nahrungsmittel ein entsprechend der unten angeführten Eigenschaften.
Yin Yang
Jede natürliche Nahrung enthält ein einzigartiges Gleichgewicht von Yin und Yang. Es sind immer beide Elemente vorhanden. Das Verhältnis von Yin zu Yang in braunem Reis (5:1) kommt dem idealen Gleichgewicht des Menschen nahe, und jemand, der diesen vollkommenen gesunden Zustand erreicht hat, kann sich theoretisch gänzlich aus diesem einen Getreide ernähren, wenn es richtig gekocht wird. Er müßte nichts anderes hinzufügen. Alle anderen Lebensmittel sind entweder mehr yin oder mehr yang im Verhältnis zum idealen Gleichgewicht des Menschen.
Wenn wir das Prinzip bei der Zubereitung und Zusammenstellung der Nahrung anwenden, erweitern wir den Horizont des Menschen durch „yangisieren“ von Lebensmitteln, die im rohen Zustand yin sind, und ungünstig für das natürliche Gleichgewicht, und „yinisieren“ von Lebensmitteln, die im rohen Zustand zu yang sind. Durch Kochen verwandeln wir die Natur sanft, um sie unseren Bedürfnissen anzupassen; wir vergrößern unsere Freiheit, und bleiben doch innerhalb der Grenzen der biologischen und ökologischen Gesetze.
Die Yin- und Yang-Eigenschaften von Nahrungsmitteln sind niemals an sich gut oder schlecht. Es ist das Gleichgewicht, worauf es ankommt. Das Gleichgewicht ist abhängig von der Quantität und der Qualität unserer Zutaten und am meisten von unserem Geschick bei der Zubereitung. Wir müssen unsere Nahrungsmittel kennenlernen und die Zubereitungsarten entdecken, die unseren persönlichen Bedürfnissen am besten entsprechen.
Die vier Grundtechniken des makrobiotischen Kochens – der Gebrauch von Salz, Feuer, Druck und Zeit – neutralisieren den Säuregehalt oder ziehen überschüssige Flüssigkeit aus der rohen Nahrung. Mit anderen Worten: Kochen macht unsere Kost mehr yang. Wir wenden unsere Kenntnis der Yin- und Yang-Qualitäten einer Zutat an, wenn wir darüber entscheiden, wie wir sie zubereiten und würzen und bei der Wahl der Zusammenstellung mit anderen Nahrungsmitteln. Yang-Gemüse (Wurzeln, zum Beispiel) brauchen weniger Salz und weniger Hitze, als Yin-Gemüse.
Durch zu langes Kochen wird unser Essen zu yang; wenn wir nicht lange genug kochen, bleibt es zu yin. Das Würzen mit Salz, Miso oder Shoyu „yangisiert“ unser Essen, während es „yinisiert“ wird, wenn wir Salz weglassen und die Wassermenge erhöhen. Yang-Gemüse vertragen sich allgemein am besten mit Yin-Gemüsen; sie ergänzen einander. Wenn wir diese einfachen Grundsätze in unserer Küche anwenden, verändern wir die Qualität der rohen Nahrung und machen Yin-Zusätze mehr yang und Yang-Zutaten mehr yin.
Wir essen ausgeglichene Mahlzeiten, um in einer gesunden Harmonie mit unserer Umgebung zu bleiben und unser tägliches Leben mit Freude erftillen zu können. Winter und trübes Wetter sind yin; wir bleiben damit im Gleichgewicht, wenn wir selbst verhältnismäßig yang werden, indem wir die entsprechenden Zutaten fair unsere Kost wählen und sie gut kochen und würzen. 50 bis 70 Prozent unserer täglichen Kost kann Getreide sein.
Eine sommerliche, heiße und trockene Umgebung ist yang, wir müssen unser Gleichgewicht nach Yin ausrichten und feuchte, leicht gekochte und sparsam gesalzene Gerichte essen. In diesem Fall verwenden wir 20 – 30 Prozent Getreide flir unser tägliches Menü, mit leichten Blattgemüsen und Früchten. Wir beobachten den Wandel der Jahreszeiten und die täglichen Veränderungen des Wetters, sowie auch des körperlichen Zustands, um die Zutaten und die Zubereitungsart richtig auszuwählen.
LEBENDIGE ÖKOLOGIE
Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt heißt „Makrobiotik“ das große Leben. Makro bezieht sich auf das makrokosmische Universum, den unendlichen Schoß, aus dem der Bios oder die biologische Evolution entsteht. Makro-bios beinhaltet das Gesetz, das das gesamte Universum zu einer Ganzheit zusammenfügt. Nach diesem Gesetz leben (ausgedrückt durch Yin und Yang), ist der Weg, um Gesundheit, Freude und Erfüllung zu erlangen. Praktische Makrobiotik ist der Versuch, diese schwer faßbare Ordnung der Natur zu begreifen, und es jedem Menschen zu ermöglichen, sie im täglichen Leben anzuwenden.
Dadurch bemühen wir uns, eine Zivilisation von freien und glücklichen Menschen zu schaffen, die in Harmonie mit ihrer Umgebung leben. Wir glauben, daß der Mensch, zusätzlich zu den Pflanzen, die direkt vom Verdauungssystem aufgenommen werden, vom Licht der Sonne, von Luft, Wasser und der Erde ernährt wird. Wir betonen die Wichtigkeit der Nahrung, die in unserer Umgebung und unserem Klima wächst, d.h. in einem Radius von etwa 1000 km. Es folgen sieben einfache Richtlinien, die die makrobiotische Auffassung zusammenfassen. Sie basieren alle auf dem östlichen Umweltverständnis, das ausgedrückt ist in dem überlieferten Satz: Der Mensch und die Erde sind Nicht-Zwei.
1. Hauptnahrungsmittel
Getreide ist unsere Grundnahrung. Rundkörniger brauner Reis ist
optimal ausgewogen, besonders für Menschen in gemäßigten
Klimazonen und auf Meereshöhe. In Gebirgsgegenden essen wir mehr Weizen oder Buchweizen. Wir haben eine reichhaltige Auswahl von Grundnahrungsmitteln zur Verfiigung (Reis, Buchweizen, Weizen, Hirse, Gerste, Roggen, Hafer und Mais), wir wählen, was in der Gegend wächst, und was in unserem Land der Tradition nach gegessen wurde. Am besten sollte das Getreide biologisch angebaut und frei von chemischem Dünger und giftigen Spritzmitteln sein.
Welches Korn wir auch wählen, es sollte ganz verwendet werden. Die reich vorkommenden Vitamine und Mineralien in seinen äußeren Schalen spielen eine wichtige Rolle bei der Verdauung der Kohlehydrate, aus denen seine Masse besteht. Gemahlen oder anders bearbeitet ergibt Getreide eine unvollkommene Nahrung, die ihres vollen Wertes beraubt ist, den feinen Anpassungsmechanismus des Körpers belastet und ökologisch unwirtschaftlich ist. Außer den Vitaminen und Mineralien verlieren wir die nicht analysierbare Essenz der Ganzheit. Pflanzt man ein ganzes Korn in die Erde, wird ein Halm wachsen, der viele weitere hervorbringt. Vergräbt man ein gemahlenes Korn, kann man es pflegen, wie man will, es wird niemals keimen, es hat sein Leben verloren.
2. Zusätzliche Nahrungsmittel
Unsere zweite Grundnahrung besteht aus frischen, örtlich angebauten Gemüsen und Früchten. Sie ist zweitrangig in Bezug darauf daß ihre Bemessung sich nach der Menge des Getreides, der Hauptnahrung richtet. Wir verwenden alle Teile des Gemüses, und achten, wenn möglich, darauf daß es natürlich gedüngt und gepflegt wurde. Wir wählen unter angebautem und wildwachsendem Gemüse, das in unserer Gegend heimisch ist. Meeresgemüse sind reich an Jod und anderen wichtigen Mineralien und können in die Kost miteingeschlossen werden, sogar dann, wenn man weit vom Meer entfernt wohnt. Jeder von uns hat in Form des Blutes und der Körperflüssigkeit ein Meer in sich. Es mag eine kleine Weile dauern, aber wenn man sich einmal an den einzigartigen Geschmack der verschiedenen Algen gewöhnt hat, erscheinen sie einem immer köstlicher. Wir können lernen, sie jeden Tag zu verwenden.
Unser täglicher Speisezettel dreht sich hauptsächlich um Getreide und Gemüse. Aber wir wünschen in unserer Mahlzeit vielleicht eine Suppe oder einen Salat, etwas vom Tier oder Früchte miteinzubeziehen. Suppen sind eine gute Art, Flüssigkeit zu sich zu nehmen, und besonders Miso-Suppe ist eine hervorragende Quelle von Eiweiß und Energie. Auch Bohnen sind voll wertvollem Eiweiß und ergänzen das aus dem Getreide. Frische Salate sind köstlich erfrischend im Sommer und können zu jeder Jahreszeit eine Beilage von Fisch oder Geflügel ausgleichen.
Man bedenke, daß alle Nahrungsmittel erlaubt sind, außer der Körper verbietet sie. Wir müssen lernen, seine Zeichen zu erkennen. Wenn wir tierische Nahrung zubereiten möchten, denken wir daran, daß ihr Verhältnis zur übrigen Mahlzeit zweitrangig sein sollte. Am wichtigsten dabei ist, daß wir sie richtig zubereiten und mit den dazupassenden Speisen zu Tisch bringen. Weil Fisch und andere Meerestiere im Vergleich zu am Land lebenden Tieren yin sind, sind sie leichter auszugleichen, und deshalb ziehen wir sie dem Fleisch vor. Wenn solche tierische Nahrung einen kleinen Teil einer Mahlzeit ausmacht, die hauptsächlich aus Getreide und Gemüse besteht, dann ist das kräftigend.
Wenn wir Eier verwenden, versuchen wir darauf zu achten, daß sie von Hühnern kommen, die mit natürlichem Futter aufwachsen. Geflügel kann wohl gelegentlich genossen werden, aber da es sehr yang ist, muß man es sorgsam ausgleichen. Fleisch und Eier sollten so sehr wie nur möglich ohne chemische Verunreinigungen sein. Und auch Milchprodukte, besonders Ziegenkäse und Ziegenmilch – beide Yang, während Milchprodukte im allgemeinen Yin sind – können ihren Platz in einer makrobiotischen Mahlzeit haben, wenn sie entsprechend eingepaßt werden.
Frische einheimische Früchte essen wir zu ihrer Erntezeit. Äpfel und Erdbeeren sind ideal, auch andere Beeren und Melonen können an einem heißen Sommertag wunderbar erfrischend sein.
Gewürze
Makrobiotische Gewürze bestehen vorwiegend aus natürlichem Meersalz, Miso (Sojabohnenpaste), Shoyu (natürliche Sojasoße) und unraffinierten pflanzlichen Ölen. Ein ideales ausgewogenes Verhältnis in unseren Mahlzeiten ist fünf Teile Öl zu einem Teil Salz. Die Einnahme von zwei Eßlöffeln Öl pro Tag ist das empfohlene Maximum. Der Gebrauch von Gewürzen muß in Übereinstimmung sein mit dem Wetter, der geographischen Lage, unserer individuellen Arbeitsleistung und unseren Bedürfnissen – in nördlichen Gegenden würzen wir mit ein klein wenig mehr Salz und Öl als in warmen südlichen Klimazonen.
Wir brauchen mehr Salz und Öl, wenn wir schwere körperliche Arbeit leisten. Erwachsene, deren Körper zuviel Kalium und einen Mangel an Natrium haben, brauchen mehr Salz, während die, die zuviel Natrium und nicht genug Kalium haben, wenig, oder in extremen Fällen sogar gar kein Salz brauchen. Man unterschätze nie die Bedeutung von Salz in der Ernährung, besonders natürliches Meersalz, das viel stärker ist, als gewöhnliches Kochsalz. Ein Mangel kann zu Müdigkeit flihren, ein Überschuß zu einem starren nervösen Gefühl von Schlaflosigkeit.
Die Zubereitung von Gemüsen und Früchten
Natürlich gedüngte und ungespritzte Gemüse und Früchte brauchen nur unter fließendem kalten Wasser gereinigt werden. Wir bürsten sie dabei mit einer Naturborstenbürste (Tawasha Wir schälen sie nur dann, wenn sie gewachst worden sind, um damit ihr Leben auf Supermarktregalen zu verlängern. Wir verwenden alles, verschwenden nichts. Wir schneiden und kochen Gemüse mit einem Sinn für Harmonie.
Das Tao des Essens
Essen muß gut gekaut werden, jeder Mundvoll zwischen 50 bis hundertmal. Richtige Einspeichelung ist zur Verdauung von Getreiden unerläßlich, weil Kohlehydrate, der Hauptbestandteil, durch ein Enzym (Ptyalin) verdaut wird, das im Mund vorkommt. Zur besseren Verdauung geht man vor von yang und yin. Wir beginnen mit der Suppe, und/oder ein paar Bissen Getreide, dann nehmen wir abwechselnd Getreide und die Beilagen, die am meisten yang sind. Wenn wir das ausgekostet haben, gehen wir zum nächsten über und kehren immer zum Getreide als dem Schwerpunkt zurück Wir beenden die Mahlzeit mit dem Dessert und Getränk. Wir sollten niemals essen, bis wir ganz satt sind. Wenn wir vom Tisch aufstehen, sollte immer noch Platz für ein kleines bißchen mehr sein.
Auf dem Pfad der Natur
Die modernen Methoden des Anbaus, der Verarbeitung, Konservierung und Verteilung von Nahrungsmitteln haben unser Bewußtsein von der Bedeutung der Jahreszeiten und unserer Verbindung mit der Erde und dem Wasser geschwächt. Aus dem ursprünglichen Veredeln von Nahrung wurde ein Entfernen von lebenswichtigen Nährstoffen, bei abgepackter Nahrung werden Chemikalien zugefügt, um ihr Leben zu verlängern (nicht notwendigerweise das unsrige). Und Farbstoffe, um sie für das Auge gefälliger zu machen. Es ist möglich, auf einer Neujahrsparty Tomaten und Gurken zu servieren, obwohl diese in gemäßigten Zonen Sommerfrüchte sind. Sie wurden entweder von weit her geholt oder unter künstlichen Bedingungen gezogen. Ich wundere mich immer wieder, wie viele Menschen in Bergen und Wäldern „zurück zur Natur“ kehren wollen, und dann tiefgefrorenes Gemüse, Fleisch und Schokolade aus ihren Rucksäcken holen.
Um Gesundheit und Glück zu erhalten, vermeide man Industrienahrung, Auszugsmehle und raffinierten Zucker. Diese denaturierten Nahrungsmittel beanspruchen und erschöpfen die Reserven des Körpers in seinem Bestreben. ein basisches Gleichgewicht im Blut aufrechtzuerhalten und sie seinen wirklichen Bedürfnissen anzupassen. Man halte sich in der Regel fern von den Extremen von Yin und Yang: raffiniertem Zucker, künstlichen Chemikalien, Drogen auf der einen, und Fleisch auf der anderen Seite. Es stimmt, daß sie zusammengenommen ein Gleichgewicht bilden, aber dies ist kein ideales oder gesundes. Wenn man von Kaffee abhängig ist, befreie man sich davon, da er nur stimulierend wirkt, und keinen Nährwert hat, und man vermeide kommerziellen Tee, der künstliche Farbstoffe enthält, die krebserregend sein können.
Ob man auf dem Land oder in der Stadt wohnt, es ist erstaunlich wie schnell und ganz von selbst Körper und Geist mit den Zyklen der Natur wieder in Einklang kommen, einfach dadurch, daß man einheimische vollwertige Nahrung zu sich nimmt, die auf makrobiotische Weise ausgewählt und zubereitet wird.
7. Freude am Essen
Das Gesetz der Natur heißt Wandlung. Makrobiotisches Leben, Essen und Kochen muß im Fluß sein mit dem Lauf der Zeit. Unser Körper und eine jede seiner Zellen wandelt sich mit den Jahreszeiten, von Tag zu Tag, ja mit jedem Augenblick. Unsere Nahrungsbedürfnisse wandeln sich mit ihnen. Jede Mahlzeit ist den Bedürfnissen entsprechend anders zu gestalten. Man soll beim Kochen und Essen nicht unbeweglich sein. Laßt uns schöpferisch sein und das Leben genießen. Nützen wir die Freiheit, im Einklang mit der Natur zu uns selbst zu finden.
BUECHER UND REZEPTE:
Michel Abehsera: Das makrobiotische Kochbuch. Scherz Verlag, Bem 1990 (leider vergriffen)
Buchbesprechung und Rezeptempfehlung von Brigitta Bolen
Mein erstes Buch zur Makrobiotik. Das Buch, das mir Appetit gemacht hat. Ich verwendete es zunächst auch vorwiegend als das, was es auch ist: einfach ein gutes Kochbuch mit leckeren vegetarischen und gar nicht wenigen Fischrezepten.
Die Besonderheiten dieses Buches, im Vergleich zu den drei anderen näher beschriebenen, sind:
Es ist ein wirklich europäisches makrobiotisches Kochbuch: es werden ausschließlich europäische, d.h. in Europa im engeren Sinne in Frankreich ursprünglich beheimatete Zutaten und zum Teil auch Rezepte der regionalen französischen Küche verwendet, kaum Algen -und: der in Frankreich lebende gebürtige Nordafrikaner bricht – was sehr sympathisch ist – eine Lanze für das „unmakrobiobisch“ scheinende gelegentliche Glas Wein und ein Stückchen Käse: „Köstlich ist ein Stück Ziegenkäse oder Roquefort zusammen mit einem Glas alten Weins“.- Er verwendet Wein gelegentlich auch in Rezepten.
Es ist von einem Mann geschrieben und das ist deutlich spürbar. Es ist mehr „yang“: kürzer, knapper, sehr dicht – das Buch ist auch weniger dick – wenn auch nicht so extrem wie George Ohsawas Buch „Zen Makrobiotik“ im „Telegrammstil“ – auf das sich Abehsera als Grundlage seines Buches bezieht.
Die „Theorie-Kapitel“ am Anfang und zwischen den einzelnen Rezeptteilen (Getreide, untergeordnete Nahrungsmittel – Nituke bzw. Tempura was speziell zubereitetes Gemüse ist, Hors D6uvres und Beigaben, Suppen!, Saucen und Desserts) sind überwiegend eine Aneinanderreihung schlagwortartig vermittelter, sehr einprägsamer „Grund-Sätze“. Ich habe viele davon nie vergessen und nach wie vor im Ohr wie z.B. einen wichtigen Kommentar vom Autor selbst zu einem Problem, das in Zusammenhang mit Makrobiotik rasch und relativ oft eintritt
„Ich weiß, dies alles klingt diktatorisch und der Speiseplan hört sich an wie eine disziplinarische Vorschrift. Man lasse sich ja nicht dadurch zu Extremen verleiten! Vor allem lasse man jede Furcht von Anfang an beiseite. Nichts auf der Welt ist absolut ausgenommen die Gesetze der Relativität und des Wechsels. Ich bitte meine Leser daher herzlich alle Ängste zu vergessen und zunächst einmal sich selbst und die eigenen Bedürfnisse kennen zu lernen.“
Dieses Kennenlernen der eigenen Bedürfnisse und die Beurteilung der vielleicht gelegentlich diktatorisch erscheinenden Behauptungen, erfolgte bei mir aus meinem Körper heraus mit der Frage: ist die Befolgung derselben geeignet, Strömungsgefühle im Körper zu erleichtern oder nicht?
So ungefähr ging ich an die Sache heran und habe inzwischen unglaublich viel Freude damit.
Dazu auch noch ein Zitat aus dem nachfolgend beschriebenen Buch von Lima Ohsawa:
„Ein Gaumen, der die Bedürfnisse des Körpers erspürt, ist eines der größten Geschenke der Natur. Ein gesunder Gaumen ist für jeden erreichbar, aber er muß gehegt und gepflegt werden. Wenn wir mit der allmählichen Änderung unserer Eßgewohnheiten einen ersten Schritt machen, wird dieser kostbare Sinn wiedererwachen für die unendliche Feinheit der Natur und uns wie ein zuverlässiger Kompaß durch die Welt der Nahrung führen.“
Nach einer Weile der Benützung dieses Buches von Abehsera fiel vielleicht v.a. mir als Frau, – die für mich als deutlich männlich erlebbare „Herbheit“ als Mangel auf, der wohltuend behoben bzw. bei Bedarf ergänzt werden konnte durch die im folgenden beschriebenen, von Frauen geschriebenen Bücher.
REZEPT: CHOUFARCI
(Im ländlichen Frankreich gilt dies als Kohlrouladen.) Alltägliches Gericht in der Bretagne, wo Buchweizen zu Hauptnahrungsmitteln zählt
Zutaten:
Das Lima Ohsawa Kochbuch. Heinrich Hugendubel Verlag, München 1986 (dzt. vergriffen)
Buchbesprechung und Rezeptempfehlung von Brigitta Boten
Ich lasse nur das „Klima“ dieses Buches, das ich besonders liebe, spürbar werden, und im übrigen die vorhin als Einführung in die Makrobiotik zitierte Einleitung dieses Buches für sich selbst sprechen. Ich habe gerade diese Einleitung gewählt, weil ich sie für so kostbar halte und das Buch derzeit nicht erhältlich ist. Ich kann’s nicht genau sagen, woran es liegt – aber dieses Buch ist für mich das zarteste und gleichzeitig „molligste“ – ich liebe es.
Die Rezepte sind asiatischer und zum Teil amerikanisch angehaucht. Hier, wie in allen „weiblichen“ Kochbüchern, sind ausführlich und liebevoll die vielen praktischen Details dieser Koch-Kunst beschrieben. An Zutaten kommen dazu: Algen, Bohnen und Sojaprodukte, Mais, Erbsen, Seitan, ein paar bei uns nicht so bekannte und „exotische“ Gemüsearten wie z.B. Melanzani, Süßkartoffeln, aber auch Tomaten und Kartoffeln (die bei Abehseraz.B. absolut „verboten“ wären, was natürlich auch mit den unterschiedlichen Lebens- und Klimabedingungen zu tun hat. Jedenfalls – alles ist relativ …) und Produkte aus Süßreis v.a. Reiskuchen (Mochi) und Süßreiscreme (Amasake), die ich sehr liebe, v.a. im Winter.
Sie verwendet auch gerne Zitrusschalen als Geschmackskomponente, Blütenblätter als Verzierung, und es gibt eine ganze Rubrik von Rezepten mit Wildgemüse und Salaten.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat Abesheras zum Thema tierisches Eiweiß: „Unser Speiseplan verbietet nichts, nur der Körper lehnt ab, was er nicht braucht. Als Wegweiser müssen die eigenen Sinne dienen. Auch Fleisch ist bei festlichen Anlässen, bei Mahlzeiten mit Freunden usw. nicht geradezu verboten. Angeraten wird dann: Fasan, Eier (befruchtet), Truthahn, Ente, Rebhuhn, Taube, Huhn, Lamm, Schaf.“
REZEPT: KOKOH-SUPPE (für 5 Personen)
Zutaten:
Aihara Cornellia: Die Hohe Kunst des makrobiotischen Kochens Ryori-Do. Mit Rezepten speziell für die vierJahreszeiten und einem kompletten Menüplan für das ganze Jahr. Verlag Mahavija, Münster 1992/93.
Buchbesprechung und Rezeptempfehlung: Beatrix Teichmann-Wirth
Eigentlich ist das Buch ein Widerspruch. Zeichnet sich Ryori-Do, die Hohe Kunst des Kochens doch durch das Selbst-Erfahren von Prinzipien aus und nicht durch das über Bücher erworbene Wissen von Techniken
Und so findet sich im ersten Teil des Buches ein Kapitel über die Zen-Küche, über Haltungen und Einstellungen, über den Prozeß der Veränderung durch Makrobiotik und auch über die Anpassungsvorgänge, welche für uns „Westler“ an der „strengen“ Makrobiotik Oshawas vorzunehmen sind.
Nein, es ist kein Widerspruch, wenn sodann die verschiedenen Arten zu schneiden sehr genau beschrieben werden und auch darauf hingewiesen wird, daß die Rezepte zunächst einmal genau zu befolgen sind, um sie dann in einer mir gemäßen Art zu verändern, in dem Wissen, „daß jeder und alles verschieden ist“.
Dieser Respekt vor der Verschiedenheit drückt sich auch in der Vielfalt der Nahrungsmittel, die in den Rezepten zur Anwendung gelangen aus, worunter sich auch Geflügel und sehr viele Fischrezepte finden.
Sehr hilfreich ist die Einteilung des Rezeptteils in die 4 Jahreszeiten, welches jeweils durch die Beschreibung der Qualität der Jahreszeit und Besonderheiten des Kochens, auf die zu achten ist, eingeleitet wird. (Im Anhang findet sich auch eine Rezeptsammlung zu jedem Tag im Jahreslauf.)
Das Buch ist Balsam für meine „strenge Seite“. Klingt doch ein Satz Aiharas durch: „Seien Sie locker. Lassen Sie sich Zeit, sich zu verändern.“
REZEPT: GEMÜSE NABE 1
Die traditionelle japanische Art, Nabe zu servieren, ist, den Eintopf mitten auf den Tisch zu stellen; er wird in einzelnen Schalen serviert, und man kann nach Belieben zusätzliche Brühe zugeben.
Aveline Kushi mit Alex Jack: Aveline Kushi’s großes Buch der makrobiotischen Küche. Verlag Ost-West Bund, Völklingen 1987
Buchbesprechung und Rezeptempfehlung: Beatrix Teichmann-Wirth
Zeichnet sich das oben beschriebene Buch im übertragenen Sinn durch kräftige Farbtöne aus, so gestaltet sich Aveline Kushis Kochbuch leiser und zarter.
Die Beschreibung der japanischen Traditionen, dem eigenen Aufwachsen in einem kleinen japanischen Dorf von Reisbauem, vermittelt eine stille Atmosphäre der Sinnlichkeit, welche das Buch durchtönt.
Unweit von Hiroshima aufgewachsen, hat sich Aveline Kushi zeitlebens für den Frieden eingesetzt und die Nahrungsenergie als „einzigartiges Werkzeug für die Schaffung des Friedens“ erkannt. Und so charakterisiert auch eine friedliche Atmosphäre Aveline Kushis Küche, die weder durch Düfte und Geräusche, welche nicht durch die Nahrungszubereitung entstehen, gestört ist.
Auch wenn sich im Buch die auch anderorts erscheinenden Kapitel über Kochgeschirr, jahreszeitenabhängigem Kochen, Erörterung des Kochens für Säuglinge, Kleinkinder, ältere Menschen und Kochen nach medizinischem Bedarf wiederfinden, so dreht sich das Buch im wesentlichen um den Reis, denn wie Kushi meint: „Hat man erst die verschiedenen Elemente des Reiskochens gemeistert: Salz, Feuer, Wasser, Druck und ein ruhiges Gemüt, findet die Familie dauerhafte Gesundheit und Freude.“
Ein Buch, das im Gegensatz zu den von Aveline Kushis Mann verfaßten Bücher, welche den „westlichen“ Bedürfnissen nach Analyse und Ordnung gerecht werden (Nährwerttabellen, Listen von geeigneten und zu meidenden Nahrungsmitteln usw.), sicher jene Menschen gewinnt, welche sich von der östlichen Kultur der Stille anziehen lassen.
GRUNDREZEPT FÜR NATURREIS:
Auf diese Weise zubereitet, hat Reis einen delikaten, nussigen und natürlich süßlichen Geschmack und verleiht ein starkes, friedvolles Gefühl.