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Bukumatula 1/1996

SKAN vs. Psychotherapie: Nichts geht mehr?

Bernhard Hubacek:

In BUKUMATULA 3/95 bin ich gerne der Einladung der Redaktion gefolgt und habe zum Thema „Mythos und Realität von Genitalität“ einige persönliche Auswirkungen auf mein Leben, die mir in Zusammenhang mit dem therapeutischen Prozeß bedeutsam erschienen, darzustellen versucht.

Dies geschah vor dem Hintergrund meiner gerade zu Ende gehenden SKAN-Ausbildungsgruppe. Das Reflexionsbedürfnis in unserer Gruppe darüber war erfreulich groß, und die persönlichen Beschreibungen vom „Weg zur Genitalität“ sollten, so habe ich es ver-standen, einer breiteren Debatte erst mal vorangestellt werden.

Im Folgenden soll daher nicht nur von Themen die Rede sein, die mein Verständnis von SKAN heute betreffen, sondern auch von Fragen, die das therapeutische Selbstverständnis berühren und von denen ich meine, daß sie im SKAN-Kreis zu Unrecht in ihrer Bedeutung herabgewürdigt oder überhaupt vernachlässigt werden. Es sind im wesentlichen Fragen, die das Verhältnis von SKAN zur Psycho-therapie betreffen, und hier wiederum vor allem den Umgang mit (sexuellen) Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen in der Gruppe.

Ich hoffe, daß eine Diskussion dieser Fragen auch dem WRI nützlich sein kann, das ja überwiegend von Psychotherapeuten getragen wird, heute aber in der Öffentlichkeit gerade mit den SKAN-Ausbildungen in Verbindung gebracht wird (siehe das neuerschienene Buch von Gerhard Stumm über die Ausbildungssituation psychotherapeutischer Schulen in Österreich).1)

Zum Verhältnis SKAN – Psychotherapie

Voranzustellen ist die vielfach sicherlich bekannte Tatsache, daß Loil Neidhöfer, Mitbegründer von SKAN, seine Arbeit bewußt außerhalb jeder Form konventioneller Psychotherapie, „einschließlich der soge-nannten humanistischen Verfahren“, positioniert. Ich glaube, Loil hat in den letzten Jahren kaum eine Gelegenheit ausgelassen, diese Abschottung voranzutreiben, seine Haltung diesbezüglich läßt da keinerlei Zweifel aufkommen: „Psychotherapie ist heute de facto in den allermeisten Fällen immer noch ein Instrument der sozialen Kontrolle. Das fällt oft nicht weiter auf. Aber sobald Leute in der Therapie wirklich mit ihrem Kern, ihrer Natur in Berührung kommen, ist Psychotherapie keine Unterstützung mehr, sondern kontrapro-duktiv.“2)

Da ich selbst aus der körperpsychotherapeutischen und familien-therapeutischen Tradition komme, also auch Leute wie Alexander Lowen, Virginia Satir, Carl Rogers oder Tilmann Moser achte und schätze, hatte ich es in diesem Punkt mit SKAN immer schon schwer. Dennoch habe ich es zunächst einmal auch als Attraktion und Herausforderung betrachtet, mich einer Richtung zuzuwenden, die sich so radikal verweigert. Zwar war mir das damit verbundene elitäre Gehabe von Anfang an etwas peinlich, doch überwogen in der ersten Phase, Anfang der Neunziger, doch die attraktiven Seiten dieses Angebotes bei weitem.

Ich vermute, dies hat auch damit zu tun, daß ich damals rund um die Beschlußfassung des Psychotherapiegesetzes Zeuge einer Unmenge von verletzenden und teilweise schon entwürdigend anmutenden Anpassungs- und Ausgrenzungsritualen unter Kollegen wurde. Da kam mir die polemisch übersteigerte Abgrenzung vom etablierten Psychobetrieb, wie Loil sie beschreibt und lebt, gerade recht. Es hatte fast etwas von einem „gerechten, heiligen Zorn“ an sich.

Dazu war meine Sehnsucht nach einem kontaktvolleren Zusammen-Sein angesprochen und aber auch mein Freigeist, der sich neue Inspirationen erhoffte.

Sätze von Loil wie: „Jede Therapie, die ihren Namen verdient, ist im Grunde eine Liebesgeschichte“, wirkten auf mich damals sehr anziehend und einladend. Heute verstehe ich sie – auch – als verführerisch. Dies bezieht sich vor allem auf den Mangel an Sorgfalt im Umgang mit der Übertragung.

Zum fehlenden Umgang mit der Übertragung

Ich vermute, meine positiven Übertragungsgefühle zu Loil begannen schon beim Lesen seines wunderschönen Buches „Intuitive Körper-arbeit“3), das ich auch vielen Leuten empfohlen oder geschenkt habe. Gesichert bewußt sind sie mir vom ersten Moment unserer Begegnung beim Auswahlworkshop. Diese ideale Übertragung wurde vor allem durch Einzelsitzungen auf der Matte gefördert, wo ich öfter einen, in der Tat idealen Zustand von uneingeschränktem Angenommensein in Verbindung mit liebevollen, aber doch konsequenten Hinweisen auf meine charakterlichen Verengungen erlebt habe.

Viele meiner daraus resultierenden kindlichen Gefühle gegenüber dieser guten Elternfigur blieben den größten Teil der Ausbildung aufrecht, manchmal mehr, manchmal weniger. Es spielt dabei auch keine Rolle, daß sich diese Gefühle mit fortschreitender Aus-bildungsdauer und beginnender Entfremdung in ihrer Färbung verändert haben. Sie blieben, da sie nicht bearbeitet werden konnten das was sie waren: aufrichtige, aber überwiegend ängstliche Gefühle eines heranwachsenden Kindes gegenüber einem Erwachsenen, der freilich mit der „kitschigen Verliebtheit, die fast zwangsläufig aus jeder Übertragung und Gegenübertragung resultiert“, nichts zu tun haben wollte.

Das persönliche Resümee meiner SKAN-Zeit sieht demnach heute ungefähr so aus: Sehr viel Innovation und Inspiration für die tägliche Arbeit, viele liebevolle und herausfordernde Begegnungen unter Freunden, aber als mögliche Folgetherapie für einen Therapie- geschädigten wie mich, der schon einmal mit Mißbrauch und sexuellen Übergriffen in einer Ausbildung zu kämpfen hatte, eine glatte Fehlbesetzung.

Der fehlende therapeutische Umgang mit der Übertragung in der SKAN-Arbeit, wie ich sie kennengelernt habe, bedingt natürlich auch ein schlampiges, teilweise sogar deutlich agierendes Verhalten in der Gegenübertragung.

Mit der Psychotherapie als Wissenschaft räumt Loil auch gleich in einem Aufwasch mit Begriffen und Haltungen wie etwa „Therapeut/Klient-Verhältnis“, „Projektion“, „Widerstand“, „Ausbildung“ und „Supervision“ auf. All dies wird kategorisch und konsequent als Ausdruck von Abpanzerung abgewertet. Die grundsätzliche Asymmetrie der Therapeut/Klienten-Beziehung wird nicht anerkannt.

Zuletzt ging Loil in diesem Punkt sogar noch ein Stück weiter und ließ der Reich-Forscherin Dorothea Fuckert via SKAN-Reader 4/95 ausrichten: „Wer mit den Vokabeln des konventionellen Ausbildungs-Betriebes in unserem Berufsfeld so identifiziert ist (Anm.: gemeint ist Dorothea Fuckert; genauso gut aber könnte ich gemeint sein), will letztlich auch Reichs `Arbeit am Lebendigen´ im Rahmen konventioneller Institutionalisierungen wie `Ausbildung´, `Supervision´, `Therapeut-Patient-Verhältnis´ oder grundsätzlich im Rahmen von `Therapie´ stattfinden lassen, was letztlich ein unauflöslicher Gegensatz ist.“

Ich halte dem die psychotherapeutische Haltung gegenüber, daß das Wissen, Erkennen und Durcharbeiten des grundsätzlich asymmetrischen Therapeut/Klienten-Verhältnisses selbstverständlicher Teil unserer Arbeit ist und bleibt. Glücklicherweise kann ich auch aus eigener Erfahrung bestätigen, daß diese Arbeit durchaus in liebevollem Beziehungskontakt stattfinden kann und nicht Ausdruck von Panzerung zu sein braucht. Das gleiche gilt natürlich auch für Supervision: Eine fachlich fundierte kollegiale Supervision steht selbstverständlich nicht im Gegensatz zu natürlicher Autorität, Liebenswürdigkeit und Respektabilität.

Diese Sicherheit fehlt mir leider zur Zeit bei SKAN völlig – und auch die Bereitschaft zur gründlichen Reflexion darüber. Da sind die wach-gerüttelten Psychotherapeuten ein gutes Stück voraus, finde ich.

Virginia Wink-Hilton gibt in ihrem Aufsatz über sexuelle Übertragung anläßlich der 8. Konferenz des Instituts für Bioenergetische Analyse ein gutes Beispiel dafür, wie man so etwas merkt: „Wir … stellten fest, daß wir unseren Studenten zwar beigebracht hatten, wie man das Becken öffnet und mit den daraus direkt entstehenden Reaktionen arbeitet, aber kaum, wie mit dem Durcharbeitungsprozeß sexueller Themen umzugehen ist. Außerdem schienen wir zu nachlässig darin, die Probleme der Gegenübertragung und des Ausagierens von Therapeuten anzusprechen. Weil diese Themen so schwierig und so komplex sind und so tiefe Gefühle der Angst und Wut und Scham aufwühlen, ist es kein Wunder, daß sie von beträchtlicher Vermeidung umgeben sind. Wenn wir ihnen jedoch in unseren Ausbildungsprogrammen und Fortbildungen nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken, geben wir die ganze Unklarheit und `Unbewußtheit´ weiter, was nur allzu oft wiederum zu einem Mißbrauch der Patienten führt und manchmal auch der Studenten. Außerdem müssen sich Therapeuten ja geradezu isoliert und alleingelassen fühlen, wenn sie mit entsprechenden Fragen und Problemen konfrontiert sind. Das ähnelt der Behandlung von Inzest in der Familie: das Gefühl ist da, aber keiner wagt es, darüber zu reden.“4)

Wer aber Supervision nur mehr unter Anführungszeichen zu setzen vermag, muß sich auch die Frage gefallen lassen, wie es mit der eigenen Reflexionsbereitschaft beschaffen ist. Selbstzweifel habe ich jedenfalls in all den Jahren bei Loil nie erkennen können.

Schlüssig erscheint mir aber auch, daß jemand, der so wenig mit der therapeutischen Profession identifiziert werden will, auch nicht mehr mit den üblichen Maßstäben bei seiner therapeutischen Verantwortung genommen werden kann, wenn Fehlentwicklungen offensichtlich werden. Ich kann nur hoffen, daß dies nicht der Weg ist, wo SKAN sich künftig hinbewegen soll.

Letztlich bin ich überzeugt, daß wir diese schöne Arbeit „durch Himmel und Hölle“ sehr wohl in therapeutisch abgesicherten Räumen tun können und tun sollen. Nirgendwo sonst gibt es für den Klienten die nötige Sicherheit vor neuen Verletzungen und Übergriffen. Da helfen auch alle Hinweise auf die Eigenverantwortlichkeit des Klienten nichts.

Ein „strömender“ Therapeut, der sich nur auf sein Strömen verläßt und keine sichernden Grenzen setzt, ist auch ein gefährlicher Therapeut, denn: keiner strömt ständig!

Virginia Wink-Hilton, eine bedeutende amerikanische Bioenergetikerin, die sich viel mit dem Thema Sexualität im Rahmen des therapeutischen Prozesses beschäftigt hat, kommt zu folgendem Schluß: „Patienten können ihre frühen Konflikte nicht durcharbeiten, wenn es keine völlige Sicherheit gibt. Sicherheit bedeutet, daß der Therapeut unzweideutig und absolut als Sexualobjekt nicht zur Verfügung steht, genauso wenig wie der Elternteil unzweideutig nicht zur Verfügung hätte stehen sollen.“4)

Anzumerken wäre hier lediglich, daß das Lehrer/Schülerverhältnis in einer Ausbildung durchaus dem Therapeut/Klienten-Verhältnis seiner Dynamik nach gleichzusetzen ist. (Vgl. hierzu den Beitrag des Wiener Psychotherapeuten W. Wladika in: „Psychotherapieforum“, Suppl. 3/95.)5)

Literaturhinweise:

1) Stumm, G. (Hrsg.): Psychotherapie in Österreich, Falter Verlag

2) SKAN-Reader 2, 4: erschienen und zu bestellen bei: endless sky publications, D-22559 Hamburg, Marschweg 45

3) Neidhöfer Loil: Intuitive Körperarbeit, Transform Verlag

4) Wink-Hilton Virginia: Aufsatz zur Arbeit mit der sexuellen Übertragung; erschienen in: „Verführung in Kindheit und Psychotherapie“, Transform Verlag

5) Wladika W.: Übergriff und Mißbrauch in der fachspezifischen Psychotherapieausbildung; erschienen in: Psychotherapie Forum (Suppl.) 3, S.127-130.

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    Bukumatula 1/1996

    Jede Therapiestunde ist eine Form von Tanz

    Interview mit Ingeborg Hildebrandt
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Für BUKUMATULA führte Beatrix Teichmann-Wirth im Jänner dieses Jahres ein Gespräch mit Ingeborg Hildebrandt. Ingeborg Hildebrandt, Gründungsmitglied des WRI und ausgebildet in Vegetotherapie und Personenzentrierter Gesprächstherapie, arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis als Supervisorin und Lehrtherapeutin in Wien.

    Beatrix: Ingeborg, ich möchte in diesem Gespräch über zwei Dinge mit Dir sprechen: Zum einen bist Du eine der meisterfahrenen Körper(Psycho)therapeutinnen in Österreich, und wir würden gerne etwas über Deine Erfahrungen bzw. Veränderungen in Deiner Arbeit erfahren. Außerdem bist Du Gründungsmitglied des WRI, und so wollen wir Dir eine Möglichkeit geben Dich zu äußern, was Dich in Bezug auf das Institut bewegt und was Du über Entwicklungen bei uns denkst. Also zu ersterem: Was würdest Du als Deine Pfeiler in der Arbeit bezeichnen?

    Ingeborg: Ich glaube, daß im Laufe der Zeit der „wirkliche“ Ansatz der Gesprächstherapie immer stärker für mich spürbar wird. Das ist nicht etwas, was ich bewußt in die Arbeit hineingebracht habe, sondern wo ich zu Anfang auf eine, sagen wir mal, sehr komische Art und Weise versucht habe, die Grundvariablen zu „verwenden“. Und irgendwann einmal habe ich ganz damit aufgehört, und jetzt merk´ ich immer wieder, wie stark sie in meiner Arbeit eine Rolle spielen und wie sehr sie sich mit Körperansätzen verbinden. Ich merke oft bei den jungen Kollegen das Defizit im Verbalen – aber es ist nicht nur das Verbale – es geht um eine innere Haltung.

    B: Vielleicht kannst Du etwas mehr über diese „Grundhaltung“ sagen. Es ist ja meines Empfindens nach auch nicht richtig von „Gesprächstherapie“ zu sprechen. Mir tut es beispielsweise gut, „personzentrierte Psychotherapie“ zu sagen, weil da alles drinnen ist, d.h. die Person des Klienten in ihrer ganzen Komplexität und das Darauf-Antworten des Therapeuten in seiner Person.

    I: Ja, die Kommunikation und Interaktion ist in dieser Definition viel mehr präsent. Zunächst ist es sicher die Empathie dafür, was der Klient als wichtig erachtet und auch wie er es bewertet, wie er es formuliert. Ich werde immer hellhöriger auf Formulierungen, die dann oft wie eine Sonde in die Tiefe führen zu dem ursprünglichen Geschehen. Wenn man genau bei diesen Formulierungen bleibt, sind es sehr oft Symbole, die wie Schlüssel sperren. Es ist auch die Kongruenz, die eine große Rolle spielt, d.h., daß ich als Therapeutin mit meinem Fühlen und meiner Wahrnehmung, auch körperlich, in Kontakt gehe, wenn es für die Beziehung zum Klienten wichtig ist.

    B: Also, daß Du als Therapeutin wirklich authentisch anwesend bist mit all dem, was Dich ausmacht.
    I: Und das ist sicher nicht so leicht zu lernen und ist auch ein Prozeß, der Zeit erfordert, dieses Hin- und Hergehen zwischen sich und dem Klienten, dem Nachspüren und auch dem Reflektieren darüber – was spielt sich in mir ab und was zeige ich dem Klienten. Das scheint mir das Schwierigste am Anfang. Zu zeigen, auszusprechen, was passiert und zu entscheiden, ob das jetzt Relevanz hat, oder ob es bedeutet, daß ich ihn – indem ich ihn damit konfrontiere -, nur in seinem Prozeß störe.

    B: Das wäre eigentlich vergleichbar mit einem bestimmten Verständnis von Abstinenz, d.h., daß Abstinenz nicht als Berührung-tabu gesehen wird, sondern als angemessene Authentizität, als Abgestimmtsein. Manchmal kann auch radikale Authentizität das hilfreiche Medium sein.

    I: Mir fällt die Geschichte von Prof. Erwin Ringel ein, der eine Supervision machen sollte mit einem Patienten. Ein Kollege schickt ihm diesen, weil er mit dessen Suizidabsichten nicht klar kommt. Er fängt also an in seiner depressiven Art zu erzählen, warum er sich umbringen will. Ringel hört ihm eine Weile zu. Plötzlich richtet er sich auf und schreit ihn an: „Was, und deswegen wollen Sie sich umbringen!“- Eine solche Spontanreaktion ist ja oft ein Aufrütteln und stellt damit auch eine Relation her.

    Wahrscheinlich ist es nicht so wichtig, mit welcher therapeutischen Schule man zu arbeiten beginnt, und ich sage das jetzt ein bißchen provokant, das hebt sehr viel von dem Schulenstreit und der Konkurrenz auf.- Wenn der Prozeß, an sich zu arbeiten, mit dem, was man erlernt hat, in Verbindung bleibt und sich immer mehr verknüpft, dann wird daraus so etwas wie eine therapeutische Persönlichkeit. Und das ist das eigentlich Wirksame im Kontakt mit dem Klienten. Daß überzeugend spürbar ist, wer einem da gegenüber sitzt.

    B: Das ist natürlich ein Weg, den man wirklich gehen muß. Also ich habe gefunden, daß es gut ist, wenn man sich am Anfang treu an das Gelernte hält. Man sichert sich damit auch ab. Damit meine ich beispielsweise in der Gesprächstherapie das komisch anmutende „Spiegeln“ oder in der Reichianischen Therapie das „Aufladen-Entladen“. Mit zunehmender Erfahrung und dem Fortschreiten des eigenen Prozesses wird man immer freier und riskiert auch immer mehr. Es ist wie eine Art Tanz…

    I: Ja, unbedingt. Jede Therapiestunde ist eine Form von Tanz, der ganz unterschiedlichen Charakter hat, vom Walzer, dem Menuett bis zur Polka, und das ist nicht nur unterschiedlich von Person zu Person, sondern auch von Stunde zu Stunde, d.h. es ist einmal der Walzer und einmal das Menuett und einmal die Polka dran.

    B: Das heißt, um das wahrzunehmen braucht man zweierlei: Einerseits ist es eine Energiearbeit, wo ich spüren muß, welche „Musik“ heute gespielt wird, d.h. welcher Rhythmus bei mir ankommt. Das zweite ist, daß ich eine hohe Flexibilität brauche, um darauf antworten zu können, d.h., daß ich viele „Tanzformen“ integriert haben muß.

    I: Ja, das ist ganz sicher so und hat auch damit zu tun wo Ladung „gehalten“ wird. Wo finde ich mein Gegenüber zu diesem Zeitpunkt. Sitzt er irgendwo in einem Loch unten drinnen, wo es ganz finster ist, so ist angesagt mit ihm einen Weg zu gehen, wo er sich vitaler, lebendiger und heller spüren kann, mehr „oben“ sozusagen. Ist er irgendwie nicht ganz da, „oben“ irgendwie unterwegs und möchte nicht so gerne mit der Erde und den Menschen in Kontakt kommen, dann werde ich mit ihm Polka tanzen oder Trommeln schlagen.- Aber Du bist ja ohnedies auch Tanztherapeutin. Das ist ja auch Deine Richtung, wenn wir das jetzt so auf Tanz und Instrumente umlegen.

    B: Es geht also darum, daß ich vieles zur Verfügung habe, daß ich mitschwingen kann; das bedarf auch der Pflege.- Aber nun interessiert mich, was für einen Stellenwert die „klassische“ Reichi-anische Therapie dabei für Dich hat. Ich weiß, daß Du eine Zeitlang mit diesem Setting gearbeitet hast. Ich kann mich erinnern, als ich damals bei Dir in Therapie war, hat mir diese Arbeit sehr gut getan und sie war richtig für mich. Wie ist es jetzt? Gibt es Klienten, mit denen Du ausschließlich mit diesem Setting arbeitest?

    I: Weißt Du, es klingt vielleicht banal, aber es ist so, daß wir zum richtigen Zeitpunkt immer die Klienten bekommen, die wir „brauchen“ und die uns zu diesem Zeitpunkt brauchen. Natürlich wächst das Repertoire im Laufe der Zeit. D.h. man sitzt in einer Stunde und hat die Möglichkeit mit allen Sensoren einfach zu schauen, welches Instrumentarium heute angesagt ist. Und dann kann man das auch anbieten.

    Am Anfang ist die Auswahl eingeschränkter; sie wird aber immer größer. Die Möglichkeit Interventionen untereinander zu verknüpfen, für diese eine Situation, und dadurch ein ganz neues Bukett zu kreieren, ist eine Herausforderung an die Kreativität des Therapeuten. Eine lustvolle, will ich sagen, die ich nicht missen möchte. Und die den Klienten neugierig macht auf einer sehr grundsätzlichen Ebene: nämlich offener zu sein für seine Wahrnehmungen für seinen Körper und seine Gefühle und für die Bereitschaft, Veränderungen vertrauensvoll anzugehen.

    B: Dann ist es also so, daß Du die klassische Arbeit – also die Arbeit auf der Matte – nicht mehr in dieser reinen Form anwendest?

    I: (Pause) Die klassische Form spielt punktueller, über weite Strecken verfeinerter eine Rolle. Verfeinerter nicht im Sinne einer Wertung, sondern im Sinne einer noch stärkeren Differenzierung.

    B: Sag mehr darüber, über dieses „verfeinert“, „differenziert“ oder vielleicht auch, wie Du es früher verstanden und gemacht hast.

    I: Ja. Es ist nicht mehr so sehr notwendig das Rahmensetting einzuhalten, also „Zieh dich aus, leg dich hin, atme“, sondern sehr oft fängt es in einer Form des Berührens durch meine Wahrnehmung schon an, wenn der Klient hereinkommt und sich hinsetzt. Seine verbalen Informationen sind dabei ein Stück noch mehr an Bestätigung. Ich nehme ihn einmal wahr, er erzählt von sich, und ich bekomme eine Bestätigung und noch eine genauere Differenzierung dazu, worum es heute geht, was Thema ist, und ich fange schon an, das zu verbinden mit einer Form körperlicher Arbeit – er macht z.B. Bewegungen, die ich mit einbeziehe. Ich gehe energetisch damit um und begleite ihn dabei. Und gleichzeitig läuft schon oft ein Stück Kognitives und Gefühlswahrnehmung natürlich und Gefühlsausdruck. Das alles spielt sich in einem Wechsel von Sitzen, Liegen, Stehen, Gehen, Halten ab. Das geht ineinander über.

    B: Das heißt, es ist nicht mehr so, daß der Klient weiß, daß, wenn er hier herein kommt, er sich auszieht und hinlegt…

    I: Nicht mehr so, aber nicht immer. Ich erlebe es auch für die meisten Klienten – zumindest am Anfang – viel zu stressig. Irgendwann habe ich entdeckt, daß ich genauso gut arbeiten kann, wenn ich sie durch die Kleider berühre. Sich ausziehen heißt sich auch ein Stück mehr zeigen – nackt sein ist nun mal eine andere Qualität. Aber meine Erfahrung ist, es macht in der Regel mehr Streß und das Mitgehen im Prozeß bleibt flüssiger, wenn ich diesen Streß nicht forciere. Es kommt dann schon bisweilen vor, daß es konkret um eine Massage bzw. um eine Berührung an der Haut in irgendeinem Bereich geht – zur Vitalisierung oder um den Hautkontakt intensiver zu haben. Dann ist das Ausziehen ein Thema; sehr klar und explizit im Kontext zur Arbeit.

    B: Mhm… Das ist interessant, weil ich eine umgekehrte Entwicklung gemacht habe. Ich komme von diesem, in dieser Art differenzierten „Interventionstanz“. Und da war es wirklich für mich so, daß ich mir damals gedacht hab´, nein, das ist jetzt wirklich zuviel, daß sich der auszieht. Meine Haltung dazu hat sich sehr verändert, und damit hat sie sich auch beim Klienten verändert. Es ist sehr selten wirklich ein Streß. Solange es ein Streß ist, würde ich auf den „richtigen“ Zeitpunkt warten, damit das Ausziehen nicht noch mehr Kontraktion erzeugt. Was ich damit ansprechen möchte ist, daß das vielleicht auch etwas mit Deiner veränderten Haltung zu tun hat. Daß anderes für Dich wichtig geworden ist und Dir das auch von den Klienten entgegenkommt. Ich kann mir aber auch vorstellen, daß, wenn man sich selbst darin selbstverständlich bewegt, diese Selbstverständlichkeit auch für den Klienten gilt.

    I: Mhm. Ja. In dem Ausmaß, in dem sich meine Arbeit in einem energetischen Feld abspielt, das sehr oft unmittelbar über dem Körper, aber nicht am Körper ist, hat sich das mitverändert. Es ist aber auch eine Frage der Störung.

    B: Ich hab jetzt beim Zuhören gespürt, da bewegt sich sehr viel. Also Du bewegst Dich sehr viel, auch innerlich. Und ein bißchen hab´ ich mir gedacht, was ist denn das, was hier hält, das Feste, nicht im Sinne von Unbewegt, aber sozusagen der Grund, die Basis, das, wovon Du Dich auch theoretisch leiten läßt. Das ist es, was ich an der Reichschen Arbeit so schätze und genieße, daß es hier sehr wohl eine Orientierung gibt: die der Pulsation, der Energiefluß und die Richtung davon. Das ist meine Leitlinie, und da hilft mir auch das klassische Setting mit seiner Sparsamkeit, mich darauf zu fokus-sieren. Durch die scheinbare Einschränkung kann ich mit meiner Aufmerksamkeit voll und ganz auf die energetische Bewegung orientiert sein und schauen, wo geht das jetzt hin.- Und da ist jetzt auch meine Frage, was im Sinne von Reich bei Dir in Deiner Arbeit geblieben ist.

    I: Also ganz sicher geblieben ist diese unmittelbare Wahrnehmung: was passiert im Körper und mit dem Körper, ob es jetzt die Bewegung ist, die Atmung, der Ausdruck, etc. – und das Arbeiten damit. Es gibt ein Grundthema, das sich von Anbeginn der Arbeit im Körper, in den Gefühlen und in der Geschichte dieses Menschen durchzieht. Das ist sozusagen der Rahmen. Und mit diesem Rahmen arbeite ich auf allen drei Ebenen. Es ist also ein Thema mit Variationen wie bei einer Symphonie, aber es taucht immer wieder das Grundthema auf. Und wir erledigen es, indem wir es integrieren und es als Ressourcen erkennen. Aber es gibt ein Grundthema, und das ist am Schluß genauso da, nur ist dieses Grundthema am Schluß dann etwas, das akzeptiert und gut lebbar im weiteren Leben ist.

    B: Also auch in dem Sinne, wie es Michael Smith gesagt hat: Der Unterschied ist, ob du den Panzer hast oder ob der Panzer dich hat.- Also die charakterliche Disposition bleibt, und es ist ja auch ein Potential drinnen, eine Kapazität.

    I: Ja, es ist wichtig, das auch als ein Potential zu erkennen, das ich dankbar annehmen kann und mir zur Verfügung steht.

    B: Da gibt es übrigens, das fällt mir gerade ein, ein interessant zu lesendes Buch von einem österreichischen Bioenergetiker – Dietrich heißt er -, mit dem Titel „Bioenergetische Analyse“, wo er anhand von Mythen, Märchen aber auch Beispielen aus der Kunst bioenergetische Charaktertypologien beschreibt. Und das Schöne daran ist daß er zu jeder Struktur – also z.B. zur schizoiden, der oralen oder psychopathischen – jeweils ein Interview mit einem österreichischen Lehranalytiker gemacht hat, der diese Struktur hat; und die sind naturgemäß sehr versöhnlich mit ihrer Struktur, d.h. es tönen auch jeweils deren Potentiale durch. Ich finde, das ist eigentlich ein sehr schöner Umgang damit, wo vielleicht der Reichschen Sicht eine größere Strenge anhaftet; hier gibt es aber auch den Gesundheitsbegriff der „Genitalität“, der dem neurotischen Charakter gegen-übergestellt ist.

    I: Wobei mir auffällt, daß wir von der Reichschen Arbeit einen Eindruck haben, der nicht in seine letzte Zeit hineinreicht. Da hat Eva Reich sicher eine Menge dazu beigetragen. Zum Teil hat das Formen angenommen, die halt sehr schwierig nachzuvollziehen sind und sehr skurril gewirkt haben. Aber ich denke, daß Reich auch in die „Verfeinerung“ hineingegangen ist in seiner Arbeit, mit Klienten. In der Zeit in Rangley, in Maine, hat sich seine Arbeit mit Klienten, soweit er sie überhaupt noch gemacht hat, sehr viel subtiler abgspielt, als wir es von seinen früheren Arbeiten her kennen.

    B: Was verstehst Du unter „subtiler“?

    I: Daß der Therapeut noch mehr von seinem persönlichen Instrumentarium mit einbeziehen kann, das aus seiner eigenen Entwicklung und Erfahrung gewachsen ist.

    B: Das heißt, es muß gar nicht so sein, daß man körperlich interveniert – im Sinne von Eingreifen und Lösen der Muskelpanzerung durch direkte Intervention -, sondern der Therapeut wirkt als Ener-giekörper an sich.

    I: Ganz genau. Die Interventionen werden gezielter und sparsamer.

    B: Das ist es, was Du unter „subtiler“ verstehst?

    I: Ja. Es geht um die eigene Präsenz – und es ist eine ständige „Arbeit“, daß das So-da-Sein wirksam werden kann.

    B: Da wären wir eigentlich wieder bei dem, was Du am Anfang gesagt hast – bei der Verbindung zur personzentrierten Therapie. Carl Rogers hat so gearbeitet. Ich habe ihn ja noch miterleben können. Meine Erfahrung dabei war, daß er tief energetisch gearbeitet hat, ohne daß er den Klienten auch nur irgendwie berühren mußte. Das hat auch seine Wirksamkeit ausgemacht. Und es war auch ein Grad an Intimität da, ohne eine spektakuläre Geschichte, innerhalb von Minuten. Er hat es riskieren können ohne technische Mittel zu wirken. Das ist vielleicht auch so ein Weg, die Mittel zu transzendieren und als Person selbst wirksam zu werden.

    I: Ja. Mitzugehen in eigenen Lebensabschnitten, um in diesem Prozeß der Transzendenz auch unterwegs zu sein. Und jeder Abschnitt davon hat andere Qualitäten. Und ich denke mir manchmal, es ist kein Zufall, daß wir zu einem Zeitpunkt, wo wir älter werden und unsere Kapazität auf einer sehr manifesten körperlichen Ebene ja auch ein Stück nachläßt – wie ich es ja auch an mir selbst merke -, stärker in diese Bereiche gehen können und die Möglichkeit haben, von daher wirksam zu werden.

    B: Was mich auch noch interessiert, Ingeborg: Du hast vom „Grundthema“ eines Klienten gesprochen. In welchem theoretischen Gebäude lokalisierst Du diese Themen? Ich meine, das kann man analytisch sehen oder eher humanistisch oder auch charakter-analytisch. Was sind z.B. diese Themen, welche fallen Dir da ein?
    I: Für mich ist der analytische Hintergrund in der Arbeit in dem Bereich ein sehr wichtiger, wo es um die Aufarbeitung geht.

    B: Wie geschieht diese Aufarbeitung? In jeder Therapie wird die Kindheit berührt, es kommt nur darauf an, ob ich das intendiere, die Vergangenheit also aufsuche, oder ob ich, wenn sie auftaucht, dem einfach Raum gebe. In der klassischen Vegetotherapie tauchen beispielsweise ohnedies Erinnerungen auf, welche ich dann sich ausdehnen lasse; damit ist dann ein größeres Verständnis dafür da, und die Integration findet so statt. Und das reicht meiner Meinung nach auch schon. Die Frage ist jetzt, warum ist für Dich das ganz bewußte Ansprechen, das direkte verbale Heranführen des Klienten an die Vergangenheit so wichtig?

    I: Die Bezugnahme zur Vergangenheit entsteht über einen körper-orientierten Ansatz oder aus der Übertragungssituation, in der Interaktion zwischen mir und dem Klienten. Das wäre so der Ursprung davon. Der nächste Schritt ist, mit den Gefühlen zu gehen. Der ist in beiden Fällen gleich: der Ausdruck von Gefühlen. Und im dritten Schritt dann kommen entweder Erinnerungen, Phantasien oder Symbole, die bearbeitet werden, und hier spreche ich es auch an, einfach um es auch erkennbar zu machen, es noch einmal zu verdeutlichen.

    B: Und das findest Du als unabdingbar, genauso wie das Peter Bolen mit seiner „Emotionalen Reintegration“ intendiert, daß es also notwendig ist, daß Erlebnisse sehr bewußt auch auf einer kogni-tiven Ebene aufgegriffen werden und Bezüge zur Kindheit hergestellt werden?

    I: Ja. Ich glaube, daß Menschen, die zu uns in Therapie kommen einmal von vornherein etwas mitbringen, was wie eine Schachtel von Puzzlesteinen ist, mit denen sie nicht klar kommen, wie die eigentlich zusammengehören. Und daß ein Teil der therapeutischen Arbeit darin besteht, sich persönlich kennenzulernen und zu erfahren, daß dieses Puzzle ein Bild ergeben kann, ein Bild der eigenen Geschichte und der eigenen Persönlichkeit.

    B: Ja. In der Vegetotherapie zeigen sich diese Puzzleteile, die anfangs noch kein klar erkennbares Bild abgeben ja darin, daß – sagen wir einmal so -, die Energie „noch nicht weiß wie sie fließen soll“, weil sie eben zu Zerstreuung und Ballungen und zu Mangel an bestimmten Stellen neigt – zu Anfang der Therapie. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß, je mehr diese Energie ihren eigenen Weg findet – und da gibt es ja auch durchaus energetische Gesetzmäßigkeiten vom Energiefluß im ungepanzerten Organismus, die ja Wilhelm Reich eingehend beschrieben hat -, also je mehr sie diesen Fluß findet, um so mehr findet Integration und damit Vervollständigung statt. Und meine Erfahrung ist, daß dies genügt, d.h. es braucht nicht immer und unbedingt diese kognitiv ausgerichtete Zuwendung, um das Bild zu vervollständigen, wenngleich diese kognitive Zuwendung ja auch in Reichschen Therapien stattfindet, wenn es ansteht, nur nicht mit System sozusagen. Die Integration aber geschieht.

    I: Mir fällt gerade auf, wo wir hier miteinander reden: das ist der Unterschied zwischen der Arbeit mit Kollegen und der Arbeit mit Klienten. Ich rede, merke ich gerade, von der Arbeit mit Kollegen in der Ausbildungssituation und da ist es natürlich ein wirklich wichtiges Thema. Aber bei Klienten, da gebe ich Dir vollkommen recht, ist das ausreichend. Für den Klienten reicht der Teil, wo er sagt, da kann ich damit glücklich leben. Dagegen ist es für die Aus- und Weiterbildung wichtig, möglichst umfassend sich zu erkennen und zu erfahren.

    B: Da ist für mich ein Haken dabei. Da kann Energie zu fließen beginnen, und dann kommt es zu einem Schnitt. So und jetzt gehen wir dazu über, die Puzzleteile zusammenzufügen. Da ist für mich etwas unterbrochen. Ich erlebe das jetzt sehr stark, wenn ich Artikel von Peter Geissler oder Peter Bolen lese, wo ich die Empfindung habe, irgendwann hört das Vertrauen auf, in das, was ich als die Essenz des Reichschen Ansatzes verstehe: nämlich daß es da eine funktionelle Identität gibt, daß es eben nicht notwendig ist, das noch gesondert aufzugreifen, daß auch ich als Kollegin in meinem Lern-prozeß das nicht so bewußt zusammenbringen muß. Wenn es nicht ein akademisches Interesse ist, brauche ich mich nicht dafür zu interessieren, was da alles in meiner Kindheit stattgefunden hat.

    I: Jetzt wird es ein bißchen deutlicher. Das, was Du sagst würde bedeuten, daß der Stop durch meine Intervention entsteht.

    B: Ja genau, so wie ein Absetzen, so und jetzt…

    I: Nein, nein, es ist umgekehrt. Wenn ein Stop im Prozeß entsteht, dann gehe ich auf diese Ebene, d.h., nicht ich stoppe, sondern der Prozeß hat einen Stop, und dann greife ich das auf.

    B: Gut, das hat ja Reich auch am Beginn seiner vegetotherapeutischen Arbeit gesagt, daß, wenn Panzerung nicht über den Körper aufzulösen ist, er dann charakteranalytisch ansetzt. D.h. es geht darum, zu sehen, wo sind jetzt im Moment Zugänge, um die Panzerung aufzulösen.

    I: Ja, das ist sicher ein starker Teil meiner Arbeit – immer wieder auf die Arbeit mit dem Charakter zurückzugreifen und immer wieder dem Prozeß energetisch zu folgen – in dieser Balance.

    B: Du hast die Übertragung angesprochen. Nun hast Du aber eine starke humanistische Tradition. Wie gestaltet sich Deine Arbeit mit der Übertragung jetzt genau? Ich meine, da gibt es das eine Extrem bei den Analytikern, die durch ihre Abstinenz die Übertragung fördern. Ich nehme nicht an, daß das bei Dir so ist.- Ist es so, daß Du einfach sehr sensibel darauf bist, was auf Dich übertragen wird?

    I: Genau. Es wird sehr bald deutlich für mich spürbar, was da in der Interaktion an Gefühlen und Phantasien auf mich zu laufen beginnt und mit dem gehe ich dann, und zwar auf allen Ebenen.

    B: „Damit Gehen“ heißt, Du beantwortest es auch. Wenn Du zum Beispiel, eine Übertragung auf Dich als gute Mutter spürst, dann „gehst“ Du damit, indem Du das gibst?

    I: Nein, das wäre voreilig. Ich lasse zunächst einmal Klarheit und Ausdruck entstehen über all die Gefühle, die in Richtung einer „guten Mutter“ gehen, und erst wenn diese Palette vom Ausdruck her aufgefächert ist, dann kommt meine Antwort darauf in Form von „Geben“. Und dann kann man schauen, wie kann er umgehen mit dem, was er gekriegt hat, jetzt. Kann er damit umgehen, gut, wenn nicht, was fehlt noch. Und erst dann, am Schluß, erfolgt die Auflösung der Übertragung.

    B: Mhm… Und die Auflösung der Übertragung – was kann man sich da darunter vorstellen?

    I: Es ist das Erkennen, daß in dem Fall minimal meine Person daran beteiligt ist – im Sinne von Gemeintsein – und daß es wirklich um die Kindheitsgeschichte und deren Erledigung geht.

    B: Freiwerden davon, meinst Du?

    I: Ja, …und das, wenn Du so willst, zu erinnern, wem es wirklich gegolten hat, d.h. an den Ursprung zurückzugehen und dann auch klar für sich herauszufinden: ja, wie kann ich denn jetzt damit umgehen, was ist mir jetzt möglich, und wie läßt sich das verbinden. Also aus der These und Antithese eine Synthese zu finden.

    B: Ich merke gerade, was meine Schwierigkeit jetzt auch im Gespräch ist, daß wir uns in unterschiedlichen Denkwelten bewegen. Ich denke in anderen Begrifflichkeiten und Kategorien. Für mich ist es so: wenn etwas von einer Person mich wirklich erreicht, weil es aus dem Kern kommt, dann habe ich nicht die Erfahrung gemacht, daß – auch wenn jemand sich ausstreckt, um Halt zu finden, und ich gebe das und ich es nicht genau analysiere -, ich etwas zudecke, sondern daß das ohnedies auch an dessen frühkindliche Versagungen anklopft und daß es dann ohnehin so gelöst wird. Das heißt, es braucht diesen Zwischenschritt des Nachfragens nicht, was da jetzt auf mich übertragen wird. Ich tue mir schwer das richtig auszudrücken, weil sich das alles für mich in der energetischen Arbeit in einer größeren Unmittelbarkeit abspielt.

    I: Ja, da gibt es schon diesen abwägenden Anteil, wo ich für mich differenziere – ist es jetzt von meiner Wahrnehmung, meiner Erfahrung und meinem Gefühl her angesagt einfach zu geben, oder zuerst kommen zu lassen, was damit verbunden ist, etwa mit der Körperhaltung.

    B: Ja. Das ist wahrscheinlich auch ein energetisches Wahrnehmen. D.h. wahrzunehmen, ob dies ein Impuls ist, der einen anderen Impuls überdeckt, z.B. sexuelle Verführung die von jemandem ausgeht, wie das bei mißbrauchten Frauen oft der Fall ist und wo das Verführerische ein Schutzsuchen und Bedürfnis nach oraler Nahrung überdeckt. Ich glaube nur nicht, daß dies in erster Linie über die Überlegung geht, sondern vertraue darauf, daß, wenn ich – sagen wir mal so -, in mir selbst verankert bin, daß ich das dann auch nicht beantworten würde. Aber die Frage stellt sich natürlich immer, in jedem Moment.

    I: Ja, es ist völlig richtig was Du sagst. Und junge Kollegen fragen dann oft: wie erkenne ich denn das, wie tue ich denn da? Wir beide sind uns jetzt sehr einig, daß das nicht wirklich ein Prozeß ist, der über den Kopf läuft, sondern aus einer energetischen Ebene sehr wohl seine Reaktion bekommt.

    B: Jetzt möchte ich Dich gerne etwas Einfacheres fragen. Und zwar hätte ich gerne, daß Du uns etwas über Deine wichtigsten Lehrer erzählst.

    I: Ja. …Eva Reich ist für mich zuerst als Freundin, aber auch in ihrer bedingungslosen Zuwendung, mit der sie mit Menschen arbeitet, ein Vorbild gewesen. Ebenso wichtig und anregend war in der Zu-sammenarbeit mit ihr die von ihr entwickelte Form des Umgangs mit frühen Störungen. Darüber erscheint dieses Jahr übrigens ein Buch von ihr im Kösel-Verlag.- Agnes Wild-Missong hat mir mit dem Focusing wichtige Zugänge zur symbolhaften Verknüpfung mit körperorientierter Arbeit eröffnet. Sehr wichtig am Beginn meiner therapeutischen Ausbildung war Wolfgang Keil. Vom körperorientier-ten Ansatz war es Peter Bolen… Ah. Ich merke, es fällt mir schwer, weil ich eigentlich jede Begegnung als wichtig erlebe, auch wenn jemand nicht explizit mir als Lehrer begegnet, d.h. auch wie wir zwei z.B. jetzt zusammen sind – ein Stück bist Du für mich jetzt auch in diesem Sinn wichtig.

    B: Ja. Alles, was „wirklich“ geschieht ist bedeutsam und bereichernd.- Ich habe gemerkt, jetzt beim Zuhören, daß zuerst einmal sehr unmittelbar Eva Reich gekommen ist und dann hast Du angefangen zu überlegen, und damit ist es auch „überlegter“ geworden und hat weniger Kraft gehabt.- Für mich war es sicher Michael Smith – und was vor allem von ihm bei mir angekommen ist, war zuallererst die-ses ungeheure Ausmaß an Liebe, die einfach durch ihn anwesend war und auch die Intimität, mit der er da war. Mich würde interessieren, was da bei Dir angekommen ist durch Eva.

    I: Du hast es eigentlich schon gesagt. Es ist diese Fülle an Liebe, die sie für Menschen grundsätzlich hat und die ich speziell im freundschaftlichen Kontakt, aber auch im Kontakt als meine Lehrerin immer wieder von ihr erfahren habe.- In der Zusammenarbeit mit Männern ist es ganz sicher auch Christian Bartuska. Er ist einer der liebevollsten männlichen Therapeuten, die mir begegnet sind, reich an Erfahrung und Kompetenz, auch bei sehr frühen Störungen.

    B: Um gleich anzuschließen: was würdest Du sagen ist heilsam, was heilt?

    I: Liebe und Akzeptanz.

    B: Du meinst das so als ganz grundsätzliche Haltung dem Leben gegenüber…

    I: Ja. Das schließt überhaupt nicht aus, daß ich Dinge wahrnehme, die mich stören, die mich irritieren, die ich nicht mag…

    B: Und weil ich auch die Frage gehabt habe, was macht einen guten Therapeuten aus, wäre das eines dieser Kriterien – Liebesfähigkeit?

    I: Ja.

    B: Fällt Dir noch etwas anderes auch ein?

    I: Ich glaube, es ist wirklich eine Herausforderung, diesen Weg zu gehen als Mensch und im besonderen als Therapeut. Wir begegnen immer wieder Menschen, wo wir sagen, den mag ich nicht so gerne, mit dem kann ich nicht – und es geht darum, daß dieser Kreis kleiner werden kann. Ganz wird es nicht gelingen, wir sind Menschen und haben unsere Bewertungen und Grenzen. Aber daß aus diesem Akzeptierenkönnen, daß dieser Mensch so ist wie er geworden ist und ihn trotzdem grundsätzlich mögen können, das scheint mir erstrebenswert zu sein.

    B: Ja. Daß man selbst „weiter“ wird und damit auch die Grenzen weiter werden…

    I: Und jeder, bei dem ich spüre, daß ich ihn nicht mag und der mich dazu bringt, an meine Grenzen zu gehen, daß ich weiter werden kann, dem bin ich dafür dankbar.

    B: Und dennoch, und das ist die andere Seite davon, gibt es Leute, mit denen Du gerne arbeitest. Welche sind das denn?

    I: Vermutlich stimmt es schon, daß man mit den Leuten, die die eigene Störung haben, am liebsten arbeitet…
    B: Na, welche sind das denn bei Dir?

    I: Na, …das sind sicher gespaltene und hysterische Strukturen, also frühe Störungen und ödipale Störungen. Das ist lebendig für mich und ich kann hier in weite Bereiche hinein mitgehen, wo andere schon sagen, wo ist er da, was tut er da, was soll das sein, wo ich mir denke, ja, ja…

    B: (lacht) Aha, deswegen haben wir uns damals so gut verstanden in der Arbeit…

    I: Ich liebe diese Arbeit, da ist so viel Buntheit und Lebendigkeit drinnen.

    B: Was ich so faszinierend finde an der Arbeit mit diesen Menschen ist die Nähe zur Wahrhaftigkeit, wie ich sie empfinde und auch das Ringen darum und nicht in der Verblendung bleiben zu wollen, auch wenn ein Leiden damit verbunden ist.

    I: Und die Dünnhäutigkeit, die es inkludiert und die Antennen, …wenn die frei werden, welche Pracht sich dann entfaltet, das ist einfach so schön…

    B: Als Stichwort die Pracht, die sich entfaltet. Eine abschließende Frage, was diesen Teil des Gesprächs betrifft: Da gibt es doch in der Reichschen Therapie das Ziel der „Genitalität“, und nun ist meine Frage: hat das für Dich eine Realität, so wie Du es erfährst an Dir selbst und in der Arbeit, oder ist das etwas, was im Gegenteil etwas von einer differenzierten Sicht wegnimmt, wohin sich Menschen individuell entwickeln können, also im Sinne eines Dogmas, eines Mythos, der drückt?

    I: Mhm… Ich glaube, daß unser ganzes Potential an Kraft und unsere Pracht in Vollendung erst wirklich durch die Orgasmusfähigkeit sichtbar und fühlbar werden kann. Es gibt eine Ausstrahlung und ein Wahrnehmen in sich selbst, das viel mit dem Leben ganz grundsätzlich zu tun hat, mit der Lust am Leben…

    B: Ist das auch das, was Du konkret immer wieder erlebst? Daß, wenn sich der Orgasmusreflex ausbilden kann, dann die Fülle des Lebens zugänglicher wird, und daß vielleicht die Menschen mit größerer Kraft im Leben stehen?
    I: Nicht nur innerlich, das Feld dieser Menschen fängt an sich auszudehnen, …du spürst es relativ weit, die Farben fangen an sich zu verändern…

    B: Mhm (lacht). Das beruhigt mich jetzt, weil es so eine starke Tendenz gibt, den Reichschen Ansatz zu kastrieren, finde ich…

    I: Das ist auch eine Lebensfeindlichkeit.

    B: Ja, Lebensfeindlichkeit. Aber auch wirklich Kastration im Sinne, dem Ansatz die Potenz zu nehmen. Das wird dann so gesehen: man hat ein bißchen Spaß am Leben, wie Alexander Lowen das beispiels-weise sagt. Der spricht von „Spaß“, alleine das Wort ist schon ganz anders als „genitale Potenz“.

    I: Ja, da kommt die Kraft nicht durch, Spaß ist keine Kraft.

    B: Und damit ist auch das Radikale und Gefährliche weg, denn wenn ich mit dieser genitalen Kraft in die Welt gehe, dann rüttelt das auch an Grundfesten.

    I: Ja, das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb Du sagst, Du spürst diese Kastrationsversuche so stark, daß nämlich die Angst vor der Potenz – die Leute werden ja nicht bequemer dadurch -, immer wieder da ist.

    B: Gut, kommen wir nun zum Reich-Institut. Du bist ja Gründungsmitglied. Was siehst Du, sozusagen als eine Mutter von uns, an Entwicklungen von Leuten, die beim WRI sind? Jetzt war ja SKAN sehr stark das Thema in den letzten Jahren. Welche Gefühle berührt das in Dir?

    I: Also ich hab´ einige Erinnerungen. Weißt Du, es ist wie mit einem Kind, das immer wieder schwere Krankheiten hat.
    B: (lacht) Würdest Du SKAN als eine Krankheit bezeichnen?

    I: Nein, ich rede vom WRI.

    B: Ja, aber SKAN hat sehr viel ausgemacht, weil viele von uns sich darin bewegt haben.

    I: Ja, es ist ein bißchen für mich wie mit einem Kind, das immer wieder schwere Krankheiten hat. Trotzdem, und das berührt mich sehr, erlebe ich, daß es lebt, wächst und kräftiger wird.

    B: Und welche Krankheiten hast Du schon miterlebt?

    I: Für mich waren das Situationen, in denen es um Machtkämpfe gegangen ist und wo ich den Eindruck hatte, es besteht wirklich die Gefahr, daß das Institut daran zugrunde geht.

    B: Du meinst ganz zu Anfang war das so…

    I: Auch. Und es ist schön zu sehen, daß sich immer wieder ein Kreis schließt; es ist wie eine Krise vor einem neuen Lebensabschnitt, Wachstumsabschnitt. Also ich denke, jetzt habe ich nicht mehr wirklich eine Angst darum. Es lebt und wächst, und es findet immer wieder Menschen, die es tragen, wobei ich Wolfram Ratz für einen Menschen halte, der viel davon auf seinen Schultern getragen hat.

    B: Das stimmt.

    I: Es ist sehr eindrucksvoll, mit welcher Konsequenz und Treue er das tut, das ist es, was mich berührt, …auch die Treue zu einer Idee und zu einer Arbeit.

    B: Mhm. Das wird uns auch daran hindern, daß BUKUMATULA mit anderen Zeitschriften zusammengelegt wird.
    I: Ich weiß gar nicht, ob das schlecht ist. Wichtig ist, daß es seine Eigenständigkeit bewahrt. Solange es etwas sehr Individuelles ist, sind viele Verbindungen möglich. Eine Verbindung kann auch eine Be-fruchtung und Bereicherung sein.
    B: Ich meine das ohnedies so, aber nur dann, wenn es seine Identität behält, die meiner Ansicht nach darin besteht, daß es nicht Verpflichtungen wie wissenschaftlicher Reputation genügen muß oder irgendwelche sekundäre Interessen berücksichtigen muß, wie z.B. Anerkennungsanliegen, d.h., wenn man uns so nimmt, wie wir sind….

    I: Das hat etwas mit dieser Lebendigkeit und Treue zu tun, die ich meine. Sich wirklich in seinem „So-Sein“ treu bleiben, …was nicht heißt, sich zu verschließen.

    B: Und wie hast Du das empfunden – ich meine, Du hast ja sehr viel mitbekommen durch Leute, die beispielsweise bei Dir in Supervision sind -, wie hast du diese starke SKAN-Ausrichtung der letzten Jahre erlebt?

    I: Ich kann das gegenwärtiger sagen: Ich habe die Form, die SKAN hineingebracht hat, als einen frischen Wind erlebt, der eine Menge Impulse und Anregungen bringt.- Ich hoffe, daß Klarheit und ent-sprechender Umgang mit Verführung da auch wirksam werden kann. Und ich denke, daß ein liebevoller Umgang, die Entwicklung des Herzens auch in der Arbeit in einer Institution ganz wichtig ist. Wenn das verloren geht, zieht Kälte und Kampf ein. Man kann das Aller-beste vertreten, wenn das aber verloren ist, ist alles verloren.

    B: Das wäre ein gutes Schlußwort, findest Du nicht?

    I: Ja, Danke, es war schön, das auf diese Weise mit Dir zu tun.

    B: Was heißt auf diese Weise?

    I: Ich brauche Kontakt, den Austausch …

    B: …ist doch gut, auch hier den energetischen Weg zu gehen, nicht?

    I: Ja.- Worüber wir noch nicht gesprochen haben, ist die Spiritualität.

    B: Ja, genau. Das habe ich mir nämlich noch notiert. Deshalb nämlich, weil in unserer Gruppe, nach so langer Zeit der Körperarbeit, das Interesse an Spiritualität und Meditation jetzt zu wachsen beginnt, und es fühlt sich gut an, weil es eine Sehnsucht danach gibt, im Sinne eines konsequenten Weitergehens.

    I: Ja das erlebe ich auch so.

    B: Und welchen Weg gehst Du da?

    I: Ich glaube, daß jeder Mensch seinen ganz eigenen spirituellen Weg finden muß. Wenn das Interesse daran zu wachsen beginnt – und das erlebe ich sehr unterschiedlich bei Menschen, geht es darum, sie dabei zu begleiten, ihre ganz individuelle Spiritualität und ihren Umgang damit zu finden. Ich glaube, daß das mit zu den grundsätzlichen Bedürfnissen jedes Menschen gehört.

    B: Und Du hast Deinen Weg gefunden?

    I: Ja, ich glaube, ich habe meinen Weg gefunden in diese Richtung, der viel mit Meditation zu tun hat, viel mit einem Erkennen und Glücksgefühlen über die ganzheitliche Verbundenheit in dieser Welt, in diesem Leben zu sein und mit dem Spüren, daß es da eine Form des Ordnens und Funktionierens gibt, die sich meiner Begrifflichkeit entzieht, die ich einfach als solche wahrnehmen kann und damit gehen kann oder mich dagegen stellen und daran zerbrechen oder krank werden kann, …und von der aber spürbar ist, daß von daher wichtige Impulse ausgehen, die mich fördern, unterstützen und entwickeln, letztendlich zum Tod hin.

    B: Das ist so schön beschrieben in dem Buch „Der Traumfänger“. Die australischen Aborigines unterscheiden ja zwischen den sogenannten „Wahren Menschen“ und den „Veränderten“ und sie sagen,“Veränderte“ erleiden so große Angst, weil sie die Verbindung verloren haben, zeitlich und räumlich. Damit sind sie immer verloren, immer bedroht, man muß sich vor dem Tod fürchten…

    I: …vor dem Leben, vor den Menschen, vor allem, …kann ich voll unterstreichen…

    B: …daß die Angst aus der Trennung kommt, die ihrerseits wieder Angst bewirkt.

    I: Ja. Es ist das Herausfallen aus der Einheit; und im Grunde genommen ist es ja das, woran wir arbeiten: diese Einheit wieder herstellen zu helfen.

    B: Das ist ja wirklich das Geniale an Reich, daß er das geschafft hat – verbunden zu denken, so umfassend und so weit zu denken. Und deshalb hab´ ich so Schwierigkeiten damit, wenn es heißt, man fügt etwas hinzu, also man erweitert es oder so. Ich denke, da ist alles drin´, ich kann nur meine persönliche Form finden, aber grundsätzlich, was will man da noch hinzufügen…?

    I: Du, ja. Ich denke, er hat sicher den großen Wurf gemacht, aber wie immer bei solchen Ideen ist es wichtig, diesem Umfassenden gerecht zu werden. Es ist etwas sehr Weitgreifendes geworden, und was wir tun ist nichts anderes als es auf individuelle Weise differenziert auszuformulieren. Und ich finde es schön, daß auch das Raum hat – und daß Reich es so groß gespannt hat…

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    Bukumatula 2/1996

    Den Prozeß der Schöpfung offenhalten

    Lesebegleitung zum „Christusmord“1)
    Heiko Lassek/b>:

    „Das Philosophieren über den Sinn des Lebens nützt nichts, solange wir nicht wissen, was das Leben ist. Und weil „Gott“ das Leben ist – das ist für alle Menschen unmittelbare Gewißheit – hat es wenig Zweck, Gott zu suchen oder ihm zu dienen, wenn man nicht weiß, was man sucht bzw. wem man dient.“ (Reich, Ch. S.32)

    „Was sie beflügelt (die Gnosis), ist die charismatische Erinnerung an ein vor-ursprüngliches Recht auf Vollkommenheit.“
    (Slo, Weltrevolution der Seele, S.36)

    Wilhelm Reich schreibt in den Monaten Juni, Juli und August des Jahres 1951 sein Werk „The Murder of Christ“, das in der deutschen Ausgabe unter dem Titel „Christusmord“ erschien. Es ist ein in kurzer Zeit verfasster Text; entstanden in der Einsamkeit von Orgonon, seinem Forschungsgelände nahe der Stadt Rangeley im US-Staat Maine. Nach seinem Buch des Hasses – wie es sein Freund A.S. Neill in seinem Briefwechsel mit Reich bezeichnet – „Listen, Little Man“ („Hör zu, kleiner Mann“) ist es ein Buch der Liebe zum Kern des Menschen in der Sichtweise Reichs, verfasst in den Sommermonaten, in denen Orgonon einen der schönsten vorstellbaren Orte darstellt.

    Von vielen seinen Schülern nach einem zunächst missglückten Experiment mit radioaktiven Substanzen verlassen, mit verbliebenen Freunden aufgrund der zumeist interkontinentalen Distanzen nur in brieflichen Kontakt, legt der späte Reich seine Grundgedanken zur menschlichen Existenz in diesem Zentralgestirn seines Spätwerkes nieder. Seine Bibliothek füllen nun philosophische und religionswissenschaftliche Werke. Reich, der frühere Marxist, ist durch seine lebenslange Forschung an einer Lebensenergie und deren Erscheinungen in der biologischen, medizinischen, physikalischen und atmosphärischen Fach-Welt an der Tür der letzten Fragen angekommen. Er klopft in seiner Art und Weise an und diese enthüllt (wie in seinen Therapieformen) mehr über seinen Weg und die ihn leitenden Einflüsse als alles, was in einem ausgereifteren Werke seinen Platz gefunden hätte.

    Ohne es zu wissen, reiht sich Reich mit diesem Spätwerk in eine jahrtausendealte Tradition des Erfassens der Wirklichkeit ein, die man als gnostische Strömung bezeichnen kann – viele der herausforderndsten und umstrittensten Denker des Abendlandes sind ihr zuzurechnen. Gnosis, ihre Grundbestimmungen sind die der Weltfremdheit und der Aufruf zur Vereigentlichung der Existenz. Reich, der sich – wie aus seinen Tagebüchern „Passion of Youth“ und „Beyond Psychology“ ersichtlich – immer als Fremder empfunden hat, als Einzelgänger in einer feindlichen Welt, die es zu ändern galt, ist in den letzten Jahren seiner selbstbestimmten Existenz. Sein letztes, später in der Haft verfasstes Manuskript wird den Titel „Creation“ – Schöpfung – tragen. Ein Fremder in einem fremden Land. Gedanken darüber, ob er der Sohn eines außerirdischen Vaters und einer irdischen Mutter sein könne, finden sich in seinen letzten Schriften.

    Das Menschenbild im Christusmord

    Es finden sich drei Gestalten der Gottbezogenheit des Menschen im Christusmord:

    „Der Mensch als verwirklichter Gott, gleichbedeutend mit der
    vollkommenen Verwirklichung des Menschseins,
    der Mensch als Verberger Gottes,
    der Mensch als verborgener Gott.

    Diesem entsprechen drei Gestalten des Menschseins:

    der Mensch im Status ungebrochener Schöpfung,
    der Mensch im Status gebrochener Schöpfung,
    der Mensch der neuen Verantwortung.“
    (Eidam, „Verleiblichung“, S.259)

    Jesus ist für Reich die Verkörperung des Lebens selbst. Leben ist für Reich eine besondere Erscheinungsform der von ihm entdeckten Orgonenergie – Leben, wie wir es als Menschen erfahren, untersuchen und beschreiben können, beruht auf dem Wirken kosmischer Gesetze dieser Energie in membranumspannten Grenzen: Körpern. Alle Organismen unseres Planeten haben diese Grenze zu einer äußeren Welt: von den Viren, Bakterien, Einzellern über die Wirbellosen bis hin zu den Wirbeltieren, zu denen der Mensch gehört. Wie Reichs Forschungen in den dreißiger Jahren an den Universitäten von Kopenhagen und Oslo zeigten, reichen die Funktionen dieser kosmischen Energie bis in den nur mikroskopisch sichtbaren Bereich des Lebendigen; die Pulsationsfunktion der Orgonenergie durchdringt den gesamten organismischen Bereich.

    Ohne Begrenzung durch Membranen sind die Funktionsgesetze dieser Energie offensichtlicher wahrnehmbar: in atmosphärischen und astrophysikalischen Prozessen zeigen sich die Strömungserscheinungen und Überlagerungen der von Reich beschriebenen Orgonenergie in aller Deutlichkeit. Im Menschentier – und als solches sieht Reich den Homo sapiens sapiens – ist durch die Entwicklung der Selbstwahrnehmung und/oder durch planetarische Katastrophen eine neue Naturfunktion entstanden: die der Panzerung. Eine zweite Begrenzung, diesmal gegen die Strömungsimpulse der Innenwahrnehmung des Organismus, hat sich zu der ersten, der Begrenzung gegen die Außenwelt, dazuentwickelt.


    Unfähig, diese, die gesamte wahrnehmbare Welt durchdringenden Energiefunktionen in seinem eigenen Körper ungehindert wahrzunehmen, ist der Mensch nicht mehr in der Lage, die grundlegenden Energieprozesse in der ihn umgebenden Wirklichkeit wahrzunehmen und zu erforschen. Er erfasst nunmehr ausschließlich eine materielle Welt; ihre von ihm untersuchten Gesetzmäßigkeiten (welche eine nachgeordnete Kategorie ihrer Funktionen bilden) zu erforschen, wird sein Dasein bestimmen. Es ergibt sich eine scheinbare Macht über diese Überstruktur, die materielle Welt.- Wissenschaft gehört zu den Derivaten des Bewusstseins, einer evolutionär wahrscheinlich erst mit dem Homo sapiens sapiens auftretenden Struktur.

    Wahrscheinlich ist es ein Fehler, von der Wissenschaft zu viel zu erwarten. Um mit Merleau-Ponty zu sprechen, könnte ihre Stärke gerade darin liegen, dass sie es unterlässt, in den Dingen zu leben und sie statt dessen lieber manipuliert. Aber wenn dies ihre Vorliebe ist, so ist dies auch gleichzeitig ihre größte Schwäche. Das Hiersein des Menschen ist nun vermindert und jede nachfolgende Generation wird die Konstituiva dieser Verminderung in den ersten Minuten, Stunden und Tagen des Ankommens auf dieser Welt erleiden müssen.

    Begegnet ein derartig in der Fülle seiner Existenz eingeschränktes Lebewesen nun den verkörperten Funktionen des ursprünglichen Naturprinzips, so wird es an seine eigene Unvollkommenheit erinnert, an diejenige, dieses Leben in seiner Bewegung, Entwicklung in Hingabe zu leben. Diese Unfähigkeit des Menschen benannte Wilhelm Reich orgastische Impotenz, als nicht vorhandene Möglichkeit, hingebungsvoll sich den Funktionen den kosmischen Energiefunktionen zu ergeben. Im Menschen fand Reich den Indikator für orgastische Impotenz in dem Unterbleiben der unwillkürlichen, rein lustvollen Strömungsempfindungen in der Sexualität und den autonomen, nicht der Bewusstseinssteuerung unterliegenden Zuckungen kurz vor, während und nach dem Orgasmus.

    Reich wählte für die ätiologische Bestimmung der gehemmten Hingabefähigkeit die anschauliche Metapher „menschliche Panzerung“. In Jesus sieht Reich das Inbild des ungepanzerten, orgastisch potenten Menschen – in dem Prinzip, das er verkörpert, die Funktionen der kosmischen Orgonenergie unter den Gesetzen dieser Welt. Der personifizierte Gott der Auslegung des Christentums bleibt ihm fremd. Christliche Dogmatik steht der conditio humaine, ein gottgegebenes Heilversprechen dem irdischen Leiden und Glücksverlangen unvereinbar gegenüber. Mit der Hoffnung auf ein eigentlicheres Leben lebt der Mensch das uneigentliche bis zu seinem Tode.

    „Wohin wir uns auch wenden, wir sehen den Menschen im Kreis umherlaufen, wie in einer Falle, deren Ausgang er in Verzweiflung vergeblich sucht.

    Es ist aber möglich, aus einer Falle herauszukommen. Um jedoch aus einem Gefängnis ausbrechen zu können, muss man erst einmal zugeben, dass man in einem Gefängnis sitzt. Die Falle ist die emotionale Struktur des Menschen, seine Charakterstruktur. Es hat wenig Sinn, Denksysteme über das Wesen der Falle zu entwerfen, wenn das einzige, was man zu tun hätte, um aus der Falle herauszukommen, darin besteht, dass man die Falle erkennt und ihren Ausgang finde.“ (Reich, Ch. S.33)

    Hier ist eine Welt, in der die Gesetze der Abschirmung, der Panzerung, gegen die in jedem Lebewesen sich verkörpernden Funktionen der Orgoenergie die Oberhand erreicht haben.

    „Das Christusproblem ist weitaus umfassender. Es betrifft den Kampf von Bewegung gegen erstarrte Struktur. Nur Bewegung ist unendlich. Struktur ist endlich und abgeschlossen. Im Prinzip sind Handeln und Schicksal der Menschheit dasselbe. Irgendwie ist die Geschichte auf der Stelle geblieben, eben, weil der Mensch, der seine eigene Geschichte schreibt, auf der Stelle sitzen geblieben ist.“ (Reich, Ch. S.123)

    „Um den Mord an Christus zu verstehen, muss man die Dinge aus der Perspektive des normalen Lebens sehen, das – selbst völlig verdreckt – auch ewige Wahrheiten zu einem sozialen Verbrechen zu verdrehen vermag. Das ist in einem derartigen Ausmaße wahr, dass jeder, der eine ähnliche Funktion wie Christus hat, gut daran täte, die Welt vor seinen eigenen Lehren zu warnen. Nicht nur er selbst passt nicht in diese Welt, sondern seine Lehre auch nicht. Nicht nur seine engen Freunde, seine Verwandten und seine Schüler verstehen nicht, wovon er redet; die ganze Welt des Menschen kann ihn nicht verstehen; sie wagt es nicht, ihn zu verstehen. Und das ist die wirkliche Tragödie der Wahrheit selbst; sie kann auf keinen Fall akzeptiert werden, ohne dass sie verwässert, entstellt, verflacht und ihrer Schärfe beraubt würde.

    Oh ja, eine kleine Wahrheit, eine nützliche Wahrheit, wie etwa die Verbesserung der Weinanbaumethoden oder des Radioempfanges oder der Ballistik von Geschossen – all das ist gut und schön, annehmbar und respektabel. Nicht aber die fundamentale Wahrheit Christi! Sie könnte vor keinem Gericht bestehen. Vom Standpunkt des gepanzerten, unbeweglichen, etablierten Menschen aus gesehen ist sie ein Verbrechen, ein gefährliches Aufwühlen des Lebens. Ohne solch eine Wahrheit kann sich zwar niemals etwas ändern, nichts Schlechtes kann wirklich ausgerottet werden, das Elend bleibt erhalten. Aber die Wahrheit ist ein Verbrechen, ein Verbrechen gegen das Leben einer jeden Nation, das so auf die Dinge eingespielt ist, wie sie nun einmal sind.

    Dies stimmt in einem erschreckenden Ausmaß. Der betrügerische Umgang mit Problemen sozialer Verbesserung durch bösartige Politiker ist trotz deren entsetzlicher innerer Leere notwendig; das geht sogar soweit, dass es schlimmer als Hochverrat wäre, nicht den Advokaten des Teufels zu spielen und gegen ein Reich Gottes zu sein.“ (Reich, Ch. S.213f)

    Wie oben erwähnt, reiht sich Reich mit seinem Denken – und seinen Forschungen – in die jahrtausend ealte Strömung der Gnosis ein. Erkenntnis. Erkenntnis gegen die vorherrschenden Auffassungen und vermeintlichen Gesetze dieser Welt. Der von uns in den Evangelien beschriebene Schöpfer ist nicht ein hohes Prinzip der Schöpfung. Er konstituiert eine Auffassung der Bewertung, Beherrschung und Unterwerfung dieser Welt durch unseren eigenen, durch unsere Einschränkung bedingten Spiegel der menschlichen Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit.

    In der Gnosis wird er als Jaldabaoth, als ein niederer Demiurg bezeichnet.

    Noli mentiri Jaldabaoth, est super te pater omnium primus Anthropus. (lat.)
    „Täusche dich nicht, Jaldabaoth, über dir steht der erste Mensch (Anthropus), der Vater von allem.“

    Dieser erste Mensch ist für Reich Jesus, Verkörperung eines Menschen einer anderen Welt.

    „Die Kinder sind noch nicht geboren, die einmal die Gesetze des Lebens leben werden, wie sie in den Bäumen im Wald oder in den Vögeln oder im Getreide auf den Feldern wirken.“ (Reich, Ch. S.311)
    „Bis jetzt gab es weder Kultur noch Zivilisation. Beide sind gerade dabei in das gesellschaftliche Leben einzudringen. Das ist der Anfang vom Ende des chronischen Christusmordes.“ (Reich, Ch. S.391)

    „Jesus ist die Verkörperung, die Inkarnation des Lebens selbst. Er ist ganz Mensch und als dieser Mensch ist er Körper. Daher gelten für ihn die mit dem Körpersein des Menschen verbundenen Implikate. Das Sein Jesu ist daher naturwissenschaftlich (hier orgonomisch) beschreibbar. Er ist den Gesetzen des natürlichen Lebens unterworfen, er ist Teil der Natur, er lebt in biologischen Rhythmen; sein Leben ist sexuell; er ist für sein Selbst verantwortlich, usw. Das heißt also, dass Reich einerseits Jesus und die Menschen gleichstellt, Christologie und Anthropologie miteinander identifiziert. Ein Satz über Jesus ist gleichzeitig ein Satz über den Menschen.“
    (Eidam, „Verleiblichung“, S.257)

    (…)
    „Der Mensch der neuen Verantwortung ist derjenige, der die schmerzhafte Erkenntnis des eigenen Seins als gebrochene Schöpfung leibhaftig vollzogen hat und sich selbst und seine Mitmenschen wie die ganze Schöpfung als Verborgenheit Gottes wahrnimmt und in solcher Ehrfurcht sich zur Schöpfung in Beziehung setzt.“ (a.a.O., S.259) (…) „Der menschliche Körper wird hier also zum Medium der Gottbezogenheit. Sowohl Verbergung als auch Verwirklichung Gottes zeigen sich am Körper des Menschen. Deutlich wird hier, dass damit für Reich die Vorstellung der Personheit Gottes keinen Platz hat.“ (a.a.O., S.260)

    Nur in der konkreten, leiblichen, körperlichen, sexuellen Beziehung zu einem anderen Menschen ist danach die Erfahrung des Prinzips „Gott“ erlebbar.

    Oder in dem Bezugssystem einer der umstrittenen und Einfluss tragenden Gestalten der gnostischen Strömung im zwanzigsten Jahrhundert, Gregor Iwanowitsch Gurdjieff:

    „Es gibt keinen Gott außer der Wirklichkeit. Ihn anderswo zu suchen ist der Sündenfall.“

    Reich suchte dies alldurchdringende Prinzip der Wirklichkeit in seinem gesamten Lebenswerk: in der Energie der Triebe, in der naturwissenschaftlichen Untermauerung der Libidotheorie Sigmund Freuds, in der Bioelektrizität des menschlichen Organismus, in der Plasmaströmung im Bereich der mikroskopischen Welt der Einzeller in Skandinavien, in der biologischen Energie des Lebens in New York, in der kosmischen Energie „Orgon“ in seiner letzten Lebensperiode auf Orgonon.

    Reich vereigenheitlichte seine Existenz zunehmends, in seinen Haltungen und Handlungen gegenüber der wissenschaftlichen und politischen Welt wurde er immer mehr ein Weltfremder bezogen auf diese Wirklichkeit. Sein Sohn Peter Reich sagte im Juni 1995, anlässlich eines Vortrags über seine Erinnerungen an seinen Vater in Berlin:

    „Denkt an ihn, morgens im gleißenden Sonnenlicht unter der Dusche auf dem Dach seines Observatoriums stehend, das vierte Klavierkonzert von Beethoven laut auf einem Grammophon spielend. Denkt an ihn, Donnerstags zwischen der Nachmittags- und Abendvorstellung des einzigen Kinos in der Umgebung in der Reihe bis zur Kartenausgabe stehend, Augenkontakt suchend mit irgendeinem Menschen, der gerade aus der Frühvorstellung heraus kommt.- Alle senkten den Blick vor der Intensität und Einsamkeit dieses Menschen, der mit ihnen Kontakt suchte.“

    Seinen letzten Studenten sagte Reich:

    „But I think there is a deeper function there. And that is the constant feeling of human beings, which is hidden in neurotics and biopathic, armored individuals, but quite manifest in what we call `healthy people´. (We should get away from that term, too. It becomes a religion again.) And that is a feeling of a separation from something. It is most clearly expressed in the pain, in the aching pain of being separated from the beloved, whether child, or wife, or husband, with a longing to unite again, to be together again, to be in contact again. But I think this love experience is one of the functions, one of the variants of a much deeper thing (kursiv vom Verfasser). Somehow, you think such thoughts on very quiet nights, no noises around except the high wind, thoughts of being separated from the cosmic orgone energy ocean, of being singled out, so to say.“ (Reich, „Mans Roots in Nature“, 26.08.1956, Orgonon; Vortragstranskript veröffentlicht in „Orgonomic Functionalism“, Vol.II. S.68, Rangeley 1991)

    Und an anderer Stelle im gleichen Vortrag:

    „There is developement, there is functioning, there is process. What we have to do is to think in the direction of where does the pulsating system, the closed system, develop out of the orgone energy ocean and, with that, where does self-awareness begin to develop? (…) I learned to respect religious thought. I have to confess that. I did not twenty years ago. I began to see how deep the religious probing goes, how deep down…“ (a.a.O., S.66)

    „Gnosis ist ein möglicher Name für die Zukunft dessen, was an den Religionen mehr sein mag als Religion.“ (Sloterdijk, S.27)

    „Contact with Space“, Reichs letzte veröffentlichte Schrift – vor seinem Antritt der gegen ihn verhängten Haftstrafe in geringer Auflage an Mitarbeiter verteilt – zeigt in einer einfachen graphischen Darstellung seine Vorstellung der Schöpfung:

    „Each single unit passes, accordingly, through four typical phases:

    1. Birth through concentration of a certain amount of primordial energy.
    2. Rise in energy level through further concentration: „Growth“.
    3. A sharply luminating peak, most closely allied to a point of light.
    4. Decline and death; the unit merges again with the substratum. Thus, birth and death, growth and decline, the CFP (Common Functioning Principle, Anm. des Verfassers) of all living and non-living nature, seem to be preformed already in the basic functioning of the single, tiny OR (Orgone Energy, Anm. des Verfassers) energy unit. Each unit is a unique, unrepeatable event. Yet all energy units follow a common law of functioning. Lawfulness and endless variation are thus not incompatible opposites; they are paired functions of the CFP of nature in general.- May 1950.“
    (The Oranur Experiment, First Report, 1947-1951)

    „I wish, I wish you could swim, like dolphins, like dolphins can swim.“ (Bowie, „Heroes“, 1976)

    ____________________________

    1) Redaktioneller Hinweis: Die deutschsprachige Augabe von Wilhelm Reichs „Christusmord“ wird mit Begleittexten voraussichtlich im kommenden Jahr im Verlag 2001 neu erscheinen.

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    Bukumatula 2/1996

    Das Lebendige funktioniert einfach – Teil 1

    Ein Beitrag zur Auf-Klärung
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Im Mai letzten Jahres nahm ich an einem eintägigen Workshop mit Tilmann Moser teil, wo dieser seine Methode körperorientierter Psychoanalyse vorstellte.

    Auf die von ihm mit uns durchgeführten Übungen reagierte ich vor allem im nachhinein sehr heftig mit Symptomen energetischer Überladung die sich in einem Erregungszustand bis hin zur Empfindung von Angst und auf körperlicher Ebene in einer Enge im Hals und Kopfschmerzen äußerten. Ich wertete diese Erscheinungen als Ausdruck einer Kontraktion, die ihrerseits durch den Umstand begründet war, dass zuviel Energie mobilisiert wurde, ohne dass diese einen adäquaten Ausdruck finden konnte, wobei ich meine, dass dieser Ausdruck ein körperlicher zu sein hat – nicht unbedingt lautstarker Art (durch Schreien, Stampfen, Schlagen) sondern auch durch das Raumgeben für „Verdauungsprozesse“. Die jeweils nachfolgenden verbalen Integrationsversuche führten jedenfalls nicht zu ausreichender Entladung.

    Jedoch – keine Angst, es wird kein weiterer „Abgrenzungs-“ Artikel. Ich schätze Tilmann Moser als Therapeut und glaube auch an seine – kraft seiner Integrität und Herzenswärme – therapeutische Potenz. Vielmehr möchte ich zunächst nur den Anlass beschreiben, anhand welchem mir klar wurde, dass Tilmann Moser – wie viele andere körperorientierte Therapeuten – den Körper zwar in die Therapie einbeziehen, z.B. in Form von erlebnisaktivierenden Übungen bzw., wie in diesem Fall, um Übertragungsgefühle zu unterstützen. Das Vorgehen jedoch ist nicht von einem Verständnis für körperliche Prozesse und damit auch Erregungsabläufe getragen.

    Da ich dies aber für nötig erachte, wollte ich diese Aspekte in Form von Vorträgen verschiedenen Personen näherbringen. Hier stieß ich selbst erneut auf einen spannenden Aspekt, nämlich den der Denktechnik – den orgonomischen Funktionalismus – der der Reichschen Forschung zugrunde liegt und welchen ich selbst bislang zuwenig würdigte.
    Das Beheimatetsein in unterschiedlichen Denkwelten scheint mir auch der Grund für die im Gespräch mit Vertretern körperpsychotherapeutischer Schulen auftretenden Verständigungsschwierigkeiten zu sein.

    So „funktioniert“ es beispielsweise nicht, wenn man therapeutische Beziehungsmodelle wie die Arbeit mit der Übertragung aus der Psychoanalyse auf den Reichschen Ansatz anwendet und dann, nachdem man festgestellt hat, dass in diesem die Übertragung nicht das Agens im therapeutischen Wirkungsprozess ist, meint, die Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn fände keine Beachtung.

    Eine Methode ist dann einheitlich und damit potent, wenn zwischen theoretischen Annahmen z.B. über Gesundheit und Krankheit auf der einen Seite und den Werkzeugen die man anwendet, auf der anderen Seite, eine Kohärenz besteht. Reichsche Körperarbeit ist in ihrer Essenz – seit Reich durch die Entdeckung des Orgasmusreflexes und der Beschreibung der orgastischen Potenz das biologische Fundament setzte, auf welchem die Therapie fortan stattfand – jenseits von Psychologie und Psychoanalyse angesiedelt.

    Und in dieser „Welt des Lebendigen“ gelten andere Gesetzmäßigkeiten, die es aus sich heraus zu verstehen gilt, wo es jedoch unzulässig ist, von außen, d.h. aus der Psychologie Maßstäbe anzulegen. Es geht vielmehr um ein „Denkwerkzeug, das man gebrauchen lernen muss, wenn man das Lebendige erforschen und handhaben will (Hervorhebung durch die Autorin). Der energetische Funktionalismus ist also kein Luxusgegenstand, den man beliebig tragen oder ablegen kann.“ (Ä.G.T., S.7)

    Der Artikel nun stellt den Versuch dar, das theoretische Fundament des Reichschen Ansatzes vorzustellen.
    Er ist eine erweiterte Zusammenfassung der Inhalte, welche ich in den oben erwähnten Vorträgen referierte, wird also für einige LeserInnen vielleicht bereits Gehörtes wiederholen.

    Der vorliegende Teil ist als eine Art „Vorspiel“ oder Annäherung anzusehen, in welchem ein Überblick über die Entwicklung der Reichschen Therapie gegeben werden soll. In der Folge will ich dann zum „Eigentlichen“ kommen, indem ich die Denkmethode des orgonomischen Funktionalismus vorstelle und ihn auf das Beschriebene anwende.

    Wilhelm Reichs Weg zum Körper

    Liest man Reichs Bücher so beeindruckt die Konsequenz, mit welcher er immer mehr ins „biologische Fundament“ vordrang.- Besonders deutlich wird dies in seinem Buch „Die Funktion des Orgasmus“, sein „Vorstellungsbuch“ für Amerika, in welchem er seinen Forschungsweg bis zum Jahre 1942 beschreibt.

    Mit nahezu detektivischer Genauigkeit beschreibt er, wie seine Erkenntnisse sich aus der Erforschung der Praxis herleiteten, zunächst aus der analytischen Arbeit, dann in der Erforschung von Bionen, bis hin zur Überprüfung der Ergebnisse für den Bereich des Kosmos.

    Neben, oder gerade wegen dieser Verankerung seiner Theorie in Wirklichkeiten – oder wie es Koestler (1966) ausdrückt durch die „Fähigkeit, theoretische Höhenflüge mit einem wachen Sinn für das Praktische – Alltägliche zu verbinden“ -, beeindrucken Reichs Schriften durch Einfachheit. Eine Einfachheit, die bisweilen bei mir Zweifel auslöste und Impulse etwas hinzuzufügen, zu verkomplizieren, weil „so einfach kann es doch wohl nicht sein“.

    Reich sagt dazu an einer Stelle in Bezug auf die Sexualität: „Manche Dinge sind zu einfach, um sie anzuerkennen“.
    So will ich anhand einiger Meilensteine in seinem Leben zunächst erläutern, wie aus der Psychoanalyse die Charakteranalyse und aus dieser die Vegetotherapie wurde.

    Im Zuge des sogenannten Technischen Seminars – Reich war, obwohl sehr jung schon damals von Freud in den inneren Kreis eingeladen -, befasste man sich mit dem „Problem Widerstand“.

    Erachteten die meisten Analytiker eine positive Übertragung als förderlich, um dem Widerstand der Analysanden beizukommen, wurde Reich darauf aufmerksam, dass hinter der offensichtlich bekundeten Bereitschaft, frei zu assoziieren, verhaltener Widerstand lauerte. Um an diesen Widerstand heranzukommen, war es notwendig, weg von den Inhalten (weil die wurden ja geboten) hin zur Art und Weise, wie jemand etwas ausdrückt, zu kommen. Nicht das Was sondern das Wie wurde also von Bedeutung.

    Dies schlägt die erste Brücke zur Beachtung körperlicher Prozesse. Zunächst griff Reich, da er ja nach wie vor als Analytiker arbeitete, diese Signale (z.B. ein lachendes Gesicht bei gleichzeitig traurigen Inhalten) verbal auf und konfrontierte den Analysanden mit seinen Beobachtungen, was eine Veränderung des Settings notwendig machte, da der Analysand sichtbar sein musste.

    Reich erkannte auch, dass dieser Widerstand individuell verschieden ist, und dass es nicht mit einem einmaligen Durchbrechen von Unbewusstem zu Bewusstem getan ist, sondern dass es eine jeweils spezifische Schichtung von Widerstand gibt – dieses Charakteristische des Widerstands fasste er in den Begriff des Charakterpanzers und erkannte auch, dass sich die Widerstandsform nicht nur im Verhalten, in der Einschränkung des Erlebens und der Kontaktfähigkeit ausdrückt, sondern ebenso in körperlichen Muskelverspannungen. Die chronischen Muskelverspannungen nannte er Muskelpanzer.

    In der ersten Zeit machte Reich die Erfahrung, dass man sowohl an der Panzerung über die Konfrontation mit charakterlichen Haltungen arbeiten kann – ebenso, und das ist wichtig, effektiver über die Lösung von muskulärer Panzerung durch tatsächliches Eingreifen, zumeist über Druck auf die Verspannungen. Effektiver deshalb, weil die Wirksamkeit in Bezug auf Heilung und Veränderung davon abhängt, mit welcher Erlebnisintensität etwas zu Bewusstsein kommt. So meint Reich, dass es nicht darum geht, Erinnerungen zu berichten, dies bleibt unwirksam, wenn dieses Erinnern nicht mit einem Affektbetrag ausgestattet ist.

    Über den Weg zur Vegetotherapie – besser zur Orgontherapie – und den Umstand, dass für die weitere Arbeit nicht einmal mehr der Begriff Körperarbeit oder Körpertherapie angemessen scheint, findet sie doch direkt am biologischen Kern statt, werde ich später zurückkommen.

    Vorwegnehmen will ich an dieser Stelle nur, dass Reich von der funktionellen Identität von Körper- und Charakterpanzer ausgeht, das heißt, dass beide jeweils dieselbe Funktion erfüllen, nämlich in einer bestimmten Form den Fluss der Energie behindern. Die muskuläre Verkrampfung ist „…wo immer sie auftritt, nicht etwa eine `Folge´, ein `Ausdruck´ oder eine `Begleiterscheinung´ des Verdrängungsmechanismus“ sondern „die körperliche Verkrampfung (stellt) das wesentlichste Stück am Verdrängungsvorgang“ (dar). – Und weiter: „Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung“. (F.d.O., S.226-227)

    Im oben ausgedrückten Denken ist es nicht notwendig, den körperlichen Interventionen psychologisch etwas nachzureichen. Die Arbeit – auch in ihrer Wirkung auf das Psychische – wird getan, und ebenso ist eine explizite Bezugnahme auf die Geschichte nicht notwendig, denn auch diese ist im Hier und Jetzt „anwesend“.

    So erfolgt beispielsweise mit der Arbeit am Körperpanzer durch Lösen des Augenblocks, was sich vielleicht in Weinen äußert, gleichzeitig eine Arbeit am Charakterpanzer. Das Erleben des Weinens wird in das Selbstbild integriert und wirkt dem Charakterpanzer, beispielsweise mit der eingefrorenen Haltung „Männer weinen nicht“, entgegen.

    Der energetische Aspekt

    Nun aber zum zweiten Pfeiler: Zur Energie, die Reich letztlich Orgon nannte.
    Schon Freud hat von „Seelenenergie“ und „Libido“ gesprochen, hat sich jedoch zunehmend der Psychologie und den inner-psychischen Konflikten zugewandt.

    Reich hat hingegen dem energetischen Beitrag der Neurose sein Hauptaugenmerk gewidmet und diesen in den Mittelpunkt seiner Forschungen gestellt. Er postuliert, dass man durch die Psychoanalyse zwar die Ursache für eine Neurose erklären kann, nicht jedoch das „chronische Festhalten“ am Symptom, die Chronifizierung. Dafür sei die energetische Stauung verantwortlich. Er meint: „Es kann nicht anders sein, als dass ein geringer Konflikt, an sich normal, eine kleine Störung des sexuellen Energieausgleichs herbeiführt. Diese kleine Störung verstärkt den Konflikt und dieser wiederum die Stauung. Derart heben psychischer Konflikt und körperliche Erregungsstauung einander gegenseitig in die Höhe.“ (F.d.O., S.89)

    Der Angst liegt nun nicht – wie Freud dies annahm – eine Verwandlung von sexueller Energie zugrunde. Dieselbe Erregung wird als Angst erlebt, wenn ihr die Wahrnehmung und Abfuhr verwehrt ist („Stauungsangst“).

    Konsequenterweise geht es demnach in der Therapie darum, der Neurose „die Nahrung zu entziehen“. Gelingt dies, so steht die Energie dort zur Verfügung, wo sie gebraucht wird.
    Die Genitalstörung ist das herausragende Symptom oder wie Reich schreibt: „Die Schwere jeder Art seelischer Erkrankung steht in direktem Verhältnis zur Schwere der Genitalstörung.“ Und: „Die Heilungsaussicht und die Heilungserfolge hängen direkt von der Möglichkeit ab, die volle genitale Befriedigungsfähigkeit herzustellen.“ (F.d.O., S.77)

    Um dies schlüssig zu argumentieren, war ein Infragestellen des Wesens von gesunder Sexualität notwendig, da ja nicht alle Neurotiker frigide bzw. impotent sind. Es musste der Frage nachgegangen werden, wo sich die Stauung herleitet, wenn die sexuelle Potenz „normal funktioniert“.

    Und wie so oft, gab sich Reich nicht mit den Äußerlichkeiten, mit dem Anschein zufrieden, sondern untersuchte vielmehr genauestens die energetischen, ökonomischen und erlebnismässigen Aspekte der scheinbar gesunden Sexualität.
    Er fand, dass die erektive Potenz häufig von einem Mangel an Lustgefühl, vom Vorhandensein von (sadistischen) Phantasien und dem Fehlen von Unwillkürlichkeit in körperlichen Reaktionen gekennzeichnet war.

    Das heißt, der Liebesakt war häufig nicht geeignet, die „hochgestaute Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckungen zu entladen“, der energetische Beitrag der Neurose blieb somit erhalten und hielt diese aufrecht.
    Im Gegensatz zu anderen Forschern und Therapeuten, wie beispielsweise Masters und Johnson, ist gesunde Sexualität bei Reich nicht etwas, was es durch Übungen zu erreichen gilt, sondern sie ist ein Ausdruck des Gesamtorganismus, die Fähigkeit zur Hingabe an das „Strömen der sexuellen Energie ohne jede Hemmung“, was Reich in den Begriff der „orgastischen Potenz“ fasste.

    Als Grundzeichen von Gesundheit gilt, wenn der Organismus ganz und gar der Ladungs-Entladungsformel folgt, wie es sich im Orgasmusreflex, einer der Atemwelle synchron verlaufenden Wellenbewegung des ganzen Körpers äußert.

    Auf der psychischen Ebene drückt sich dieser ungehinderte vegetative Fluss in einem Gefühl von Einheitlichkeit, Ganzheit und Verbundenheit aus; oder wie es ein Patient von Reich ausdrückt: „Ich bin wie mit der Welt unmittelbar verbunden. Es ist, als ob alles in mir und außerhalb von mir schwingen würde. Es ist, als ob alle Reize viel langsamer wie in Wellen herauskämen. Es ist wie eine schützende Hülle um ein Kind herum. Es ist unglaublich, wie ich die Tiefe der Welt jetzt spüre.“

    Reich hat mit der orgastischen Potenz und der Beschreibung des genitalen gegenüber des neurotischen Charakters dem Krankheitsbegriff einen Gesundheitsbegriff gegenübergestellt.

    Wird beim neurotischen Charakter der Organismus von einem starren Panzer beherrscht, der autonom funktioniert und damit nicht beeinflussbar ist, so sind beim genitalen Charakter die emotionalen Reaktionen nicht durch Automatismen eingeschränkt sondern es ist durch die Flexibilität eine jeweils adäquate Antwort möglich.

    Ein zweites wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist das Auftreten von Strömungsempfindungen: „Der gepanzerte Organismus empfindet keine plasmatischen Strömungen, im strengen Gegensatz zum ungepanzerten Organismus. In demselben Maße, in der die Panzerung sich löst, stellen sich Strömungsempfindungen ein, die der Gepanzerte zunächst als Angst erlebt. Ist die Panzerung völlig gelöst, so werden orgonotische Strömungsempfindungen lustvoll erlebt. Dadurch verändert sich alles Reagieren in so grundsätzlicher Weise, dass man von zwei einander fremden und wesentlich andersartigen Zuständen sprechen kann. (…) Mit den Organempfindungen verändert sich das gesamte `Weltbild´ rasch und radikal.“ (Ä.G.T., S.59-60)

    Das Lebendige in der Therapie

    Das Ziel der Therapie ist also die Herauslösung der seelischen Energien aus der Charakter- und Muskelpanzerung zur Erlangung der orgastischen Potenz. Um diesen energetischen Aspekt in der Arbeit zu unterstreichen, schlägt Reich vor, seine Therapie „Orgontherapie“ zu nennen und versteht darunter alle Maßnahmen, die sich der Orgonenergie bedienen.

    Aber es ist noch ein zweiter Grund für die Wahl des Namens ausschlaggebend. Ist in der vormals genannten charakteranalytischen Vegetotherapie implizit eine Teilung von Körperlichem und Seelischen benannt, so liegt dem Begriff Orgontherapie eine einheitliche Auffassung des Organismus zugrunde, der sich nicht in Charaktereigenschaften, Muskeln und Plasmabewegungen aufspalten lässt.

    Mit dem Begriff Orgontherapie drückt Reich aus, dass die Arbeit am biologischen Kern direkt an den Plasmabewegungen stattfindet: „Wir arbeiten nicht mehr bloß an individuellen Konflikten und spezifischen Panzerungen, sondern am Lebendigen selbst. Indem wir es allmählich lernen, dieses Lebendige zu begreifen und zu beeinflussen, kommen die rein psychologischen und physiologischen Funktionen von selbst in den Bereich der Arbeit. Schematisches Spezialistentum ist nicht mehr möglich.“ (Ch.A., S.362)

    Betritt man das Gebiet des Lebendigen, so verlassen wir gleichzeitig den Bereich der Wortsprache denn „Das Lebendige funktioniert nicht nur vor und jenseits der Wortsprache; es hat überdies seine eigene Ausdrucksformen der Bewegung, die mit Worten überhaupt nicht zu fassen sind.“ (Ch.A., S.363)

    Es drückt sich in Bewegung aus, ist also im wörtlichen Sinne eine Ausdrucksbewegung. So, und nicht in einem psychologischen Sinne, ist E-Motion (Herausbewegung) zu verstehen.

    Die Arbeit

    Es bedarf der Fähigkeit des Therapeuten sich in dieser Welt zu bewegen, den Bewegungsausdruck jeder E-Motion im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Wesentliches Verständigungsmittel im Kontakt mit diesen Emotionen des Menschen ist die Imitation oder auch Organempfindung bzw. vegetative Identifikation, die Fähigkeit des Therapeuten durch den ungestörten energetischen Kontakt zum Klienten im eigenen Körper nachzuempfinden, welche Bedeutung das von ihm Ausgedrückte hat. Es geht nicht um die Analyse von Verspannungen einzelner Muskelpartien, noch um das psychologische Erhellen der damit verknüpften Inhalte, sondern um die Erfassung des Gesamtausdruckes eines Menschen.

    Worte sind dabei von untergeordneter Bedeutung, oftmals verdecken sie sogar die Ausdruckssprache des biologischen Kerns.

    Reich schreibt: „Die Kranken kommen zum Orgontherapeuten voll von Nöten. Diese Nöte sind für das geübte Auge an den Ausdrucksbewegungen und dem Bewegungsausdruck ihres Körpers direkt abzulesen. Lässt man die Kranken nun nach Belieben sprechen, so stellt man fest, dass ihr Reden von den Nöten wegführt, sie in dieser oder jener Weise verhüllt. Will man zu einer korrekten Entscheidung kommen, so muss man den Kranken dazu verhalten, vorerst nicht zu sprechen. Diese Maßnahme erwies sich in hohem Grade fruchtbar.

    Denn sobald der Kranke nicht mehr redet, tritt der körperliche Bewegungsausdruck klar hervor. Nach wenigen Minuten Schweigens hat man gewöhnlich den plasmatischen Bewegungsausdruck erfasst. Scheint der Kranke, während er sprach, freundlich zu lächeln, so verwandelt sich im Schweigen das Lächeln in ein leeres Grinsen, an dessen maskenhaftem Charakter auch der Kranke selbst nicht lange zweifeln kann….“ (Ch.A., S.364)

    Diese weitgehende Ausschaltung der Wortsprache „zwingt“ den Klienten dazu, sich biologisch auszudrücken: „Derart führt sie ihn in die Tiefe, die er stets flieht.“ (Ch.A., S.365)

    Lässt sich bei der Arbeit an den ersten drei Segmenten noch ein in die Wortsprache zu übersetzender Ausdruck beschreiben (z.B. im Kiefersegment die augenscheinlich verhaltene Wut), so will dies ab der Lösung des Zwerchfellblocks nicht mehr gelingen. Wir berühren hier einen Bereich, der überindividuell ist und biologische Zusammenhänge mit dem Kosmos berührt.

    Was jedoch sehr wohl unmittelbar ankommt, ist der Gesamtausdruck der Zurückhaltung beim gepanzerten Menschen.
    So findet im Zuge des Therapieprozesses eine grundsätzliche Veränderung von der Zurückhaltung zur Hingabe statt, welche sich nicht nur in der Sexualität, sondern in allen Lebensbereichen ausdrückt.

    Fortsetzung in BUKUMATULA 3/96

    ________________________________

    Literatur:

    Reich, W.: Charakteranalyse.(3. Auflage, 1949) Köln – Berlin, 1970
    Reich, W.: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus.
    (2. Auflage, 1942) Köln – Berlin, 1977
    Reich, W.: Äther, Gott und Teufel. Frankfurt/M., 2. Auflage, 1984
    Köstler, A.: Der göttliche Funke. Bern/München, 1966

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    Bukumatula 3/1996

    Das Lebendige funktioniert einfach – Teil 2

    Von den Phänomenen zur Wurzel
    Fortsetzung von Bukumatula 2/96
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Nun ist es soweit. Die Zeit des (zögerlichen) Vorspiels ist vorbei und es gilt das Versprechen einzulösen, die Denktechnik – das Werkzeug, das der Reichschen Forschung und dem therapeutischen Ansatz zugrunde liegt – zu beschreiben.

    Zögernd, vorsichtig und widerspenstig fühlte ich mich bisweilen im Eintauchen in dieses Gebiet des funktionellen Denkens und meine Verhaftetheit in kausalen und mechanistischen Denkmustern, die scheinbar vereinfachend eine Ursache mit einer Folge in Verbindung setzen, womit man sich dann kurzfristig zufrieden zurücksetzen kann, hat man doch eine plausibel erscheinende Antwort gefunden, wurde mir nur allzu deutlich bewusst.

    Doch ich will es mir und den LeserInnen nicht zu schwer machen und will mich nicht mit dem Anspruch überfordern, etwas Eigenes zu formulieren und sei dies auch nur eine eigene Ordnung der Ergebnisse herzustellen.

    „Since the best way to introduce someone to a new realm of knowledge is to describe the process by which it has evolved …..“ (Reich 1950), will ich es Reich gleichtun und seine dreißigjährige Forschungstätigkeit in ihrem historischen Ablauf beschreiben.

    Dieses Vorgehen erlaubt, die Ergebnisse in ihrer inneren Rationalität – von Beobachtungen zu Hypothesen zu experimenteller Bestätigung und neuen Funden deutlich zu machen und gibt zu verstehen, dass das Denk-Werkzeug seinerseits eine Veränderung erfährt, was damit wohl auf die zentralste Erkenntnis des orgonomischen Funktionalismus hinweist: die Untrennbarkeit von Beobachter (subjektivem Empfinden) und Untersuchungsgegenstand (objektivem Reiz).

    Diese Auffassung ist nicht neu: Sie findet sich im Funktionskreis vom „großen“ Psychosomatiker Viktor v. Weizsäcker ebenso wie im erkenntnistheoretischen Werk von Rudolf Steiner. Was das Reichsche Werk jedoch auszeichnet, ist, dass es nicht bei philosophischen Auffassungen verbleibt sondern eine naturwissenschaftliche Fundierung findet. Und Reich selbst verwahrte sich des öfteren dagegen, es handle sich beim orgonomischen Funktionalismus um eine Philosophie, vielmehr geht es dabei um ein Instrument der Naturforschung.


    Ich beziehe mich in meiner Darstellung neben dem Buch „Äther, Gott und Teufel“ auf vier Artikel, welche Reich einander fortsetzend in den Jahren 1950 bis 1952 in der Zeitschrift Orgone Energy Bulletin in den USA veröffentlichte.
    Die Thematik ist – und dies sei als „Warnung“ vorangestellt, schwer verdaulich. Der Artikel bedarf deshalb – und wahrscheinlich auch, weil das Feld für mich neu ist – so neu, dass sich das Eigene noch nicht formuliert hat -, einer konzentrierten Zuwendung.

    Psychisches Funktionieren ist natürliches Funktionieren

    Am Anfang des funktionellen Denkens hatte Reich nur eine (noch nicht überprüfte) Überzeugung, nämlich, dass das psychische Funktionieren nicht übernatürlichen Ursprungs ist und damit wie alles Lebendige den Funktionsgesetzen von Materie und Energie gehorcht.

    Mit dieser Annahme stellte sich Reich radikal gegen lang und fest verankerte Auffassungen, wie sie sich im Mechanismus („die Gesetze in Chemie und Physik lassen sich nicht auf das Lebendige übertragen“) und dem Mystizismus (Emotionen, Philosophien und Ideen werden übernatürlichen, mystischen, jedenfalls nicht sinnlich wahrnehmbaren Mächten zugeschrieben) finden.

    Die Frage, die also zu anfangs stand war, wie sich die Verbindung von Materie und Energie darstellt. Reich gab in dieser Frage – seinem Interesse nachgehend – immer der Energie den Vorzug und begründet dieses Vor-Urteil folgendermaßen: „From my present standpoint, it seems as if this preference was based simply in the sensations of motion in my own organism.“ (Reich 1950)

    In der Annahme von energetischen Prozessen in der Psyche war Reich nicht der erste. Schon Freud schrieb von einer „psychischen Energie“ und gab diesem „quantitativen“ Faktor in seinem aktualneurotischen Konzept Raum, vernachlässigte dies jedoch in der Beschreibung der Psychoneurosen immer mehr und betonte die Inhalte einer Störung.

    Reich ging von der bereits im ersten Teil des vorliegenden Artikels beschriebenen klinischen Beobachtung aus, dass die Symptome der Neurose bei vollständiger orgastischer Entladung verschwinden. Der orgonomische Funktionalismus gewann damit eine erste wichtige Position, nämlich, dass „Ideen kommen und gehen“ und ihre Existenz vom Zustand der energetischen Bewegung im Körper abhängt.

    Die Erregung beeinflusst also die Empfindung und die Empfindung ihrerseits die Erregung. Beide sind untrennbar und formen eine funktionelle Einheit mit einem zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefundenen gemeinsamen Funktionsprinzip.

    Dieses Prinzip der „simultaneity of identity and antitheseis“ formulierte Reich erstmalig bereits 1919-1923. Er postulierte in seinem Werk „Über Triebenergetik“, dass psychische Energien Konzentrationen von Energiebeträgen sind und damit auf Energieprozesse zurückgeführt werden können. Neu daran ist, dass zwei Funktionen wie beispielsweise die der psychischen Empfindung und die der körperlichen Erregung gleichzeitig gegensätzlich und (funktionell) identisch sein können.


    Bislang fanden sich in der Betrachtung des Zusammenspiels von Psyche und Soma folgende Positionen:

    Im mechanistischen Materialismus werden Psyche und Soma als antithetisch betrachtet. Dies zeigt sich bei den Mechanisten in einer einseitigen Abhängigkeit des psychischen Funktionierens von chemisch-physikalischen Prozessen. Bei den sogenannten Vitalisten wird im Gegensatz dazu angenommen, dass Empfindungen die Materie bestimmen.

    Im Psychophysischen Parallelismus laufen Psyche und Körper parallel, ohne dass über die Art deren gegenseitiger Einflussnahme etwas ausgesagt wird.

    Und letztendlich im Monismus, der von einer psychophysischen Identität ausgeht, werden Psyche und Soma als zwei Aspekte ein und desselben Stammes verstanden. Reich betont, dass diese Auffassung der Wahrheit am nächsten kommt, nimmt sie doch einen gemeinsamen Stamm der beiden an. Übersehen wird jedoch die Antithese der beiden und damit deren Interdependenz.

    Freud hat sich in seinem Konzept der Psychoneurosen zunehmend vom energetischen Faktor abgewandt und sein Hauptinteresse den Inhalten (Art der Konflikte, Erfahrungen, Beziehungen, etc.) gewidmet.
    Orgnomischer Funktionalismus und Tiefenpsychologie nahmen damit eine gegensätzliche Entwicklung, wie sie sich folgendermaßen darstellen lässt:

    Cosmic Orgone Energy O Affect Idea ® Psychology

    Antithese und funktionelle Identität am Beispiel von Lust und Angst

    Am Beispiel der Mutterfixierung lässt sich aufzeigen, dass in der Tiefenpsychologie Freuds zwar nach den psychologischen, entwicklungsgeschichtlichen Ursprüngen dieser Fixierung geforscht wird, es wird jedoch übersehen, dass diese Fixierung ihrerseits von einer speziellen energetischen Störung (der Entladungsfunktion) herrührt, welche dem Thema sozusagen die Nahrung liefert. Klinisch lässt sich das insofern bestätigen, als dass die psychische Symptomatik dann verschwindet, wenn es gelingt, die biologische Energie zu mobilisieren und somit durch die Lösung der körperlichen Panzerung die Basis für die psychische Fixierung entzogen wird.


    Aber es gibt noch einen zweiten wesentlichen Unterschied: In der tiefenpsychologischen Vorgangsweise (Arbeit mit Einfällen und Assoziationen) ist man mit einem wachsenden Komplexitätsgrad von Zusammenhängen konfrontiert. Hingegen ist die Arbeit am „biologischen Grund“ – alle Erfahrungen sind ja jeweils auf einfache biologische Energieprozesse zurückzuführen, wie sie auch außerhalb des menschlichen Lebens in der Natur und im Lebendigen überhaupt aufzufinden sind -, vereinfachend. In dieser Betrachtungsweise können all die verschiedenen Formen von Neurosen und Psychosen letztendlich auf den sexualökomischen Energiehaushalt des Menschen zurückgeführt werden.

    Antithese und funktionelle Identität am Beispiel von Lust und Angst

    Wie schon im ersten Abschnitt dieses Artikels beschrieben geht Reich davon aus, dass es sich bei Lust und Angst nicht um grundsätzlich unterschiedliche Phänomene handelt, sondern dass dieselbe Erregung als Angst erlebt wird, wenn ihr die Wahrnehmung und Abfuhr verwehrt ist. Um die funktionelle Identität und aber auch deren Gegensätzlichkeit schlüssig zu argumentieren, bedarf es einer eingehenderen Betrachtung der Sexualerregung und des Lusterlebens.
    Gleichzeitig lässt sich auf diesem Wege die Anwendung des funktionellen Denk-Werkzeuges demonstrieren.


    Im Gegensatz zur mechanistischen Herangehensweise, wo davon ausgegangen wird, dass chemische Substanzen für die Sexualerregung verantwortlich sind (was unzulässig ist, da eine Lebensfunktion auf eine nicht lebendige Funktion – „non living function“ – zurückgeführt wird), ist der Ausgangspunkt im Funktionalismus zunächst die Beobachtung und Gruppierung von Phänomenen, wie sie im Zuge der Sexualerregung auftreten. Ein erstes Ergebnis dieser Beobachtungen war nun, dass die psychische Empfindung von Lust und die körperliche Erregung einhergehen mit einer Erregung des autonomen Nervensystems.

    Diese drei Aspekte – Lustempfindung, Erregung und Aktivität des autonomen Nervensystems sind verschiedene Aspekte ein und derselben Funktion, nämlich der der Gesamterregung des menschlichen Organismus.

    „These different aspects of one function were inseperable because there is no pleasure sensation without instinctual drive, no instinctual drive without pleasure sensation, and neither exist without biological excitation, and vice-versa.“ (Reich 1950a, 11)

    Das Wesentliche im funktionellen Denken ist nun, dass diese verschiedenen Aspekte nicht statisch als Ursachen, Folgen, Ziele („services“) betrachtet werden; es werden diesen biologischen Phänomenen damit keine psychologischen Motive übergestülpt: „For the functional view there was not an apparatur here and a goal there, and hence no `service´ of the first to the second.“ (Reich 1950a, 12) Die Erkundung des Zusammenwirkens erfolgt nach den weiter unten beschriebenen Denkprinzipien.

    Aber zunächst zu der oben aufgeworfenen Frage: Wenn der Lust und der Angst keine unterschiedliche Energie zugrundeliegt, wenn sie also zwei Aspekte ein und derselben Erregung sind, wie gestaltet sich dann der Zusammenhang dieser beiden Zustände?

    Das Faktum, dass, wenn Lust unterdrückt wird, Angst entsteht, konnte Freud nicht erklären. Vielmehr setzte er die beiden später nicht mehr miteinander in Beziehung sondern schrieb die Angst dem Ich zu und die Sexualität dem Es, also zwei psychologischen Konstrukten. Funktionelle Orgonomie setzte bei der oben beschriebenen Tatsache an, dass Angst dann auftritt, wenn die Lust verschwindet.


    Biologische Erregung ereignet sich im autonomen Nervensystem, welches sich aus dem parasympathischen und dem sympathischen Teil zusammensetzt. Lust entsteht im Zuge der Aktivität des parasympathischen Systems. Wenn dieses System nicht operiert, dann ist die sympathische Aktivität dominant und ist damit antithetisch zur parasympathischen.
    Hergeleitet aus der biologischen Aktivität ist Angst als die Antithese von Lust zu verstehen: „…pleasure does not turn into `anxiety´, but the biological excitation in anxiety functions in a direction antithetical to pleasure.“ (Reich 1950a, 13)

    Aufgrund klinischer Beobachtungen wird Angst in der Herzgegend, Lust, wenn sie nicht gestört ist, vor allem am Genitale empfunden. Diese beiden Orte sind die antithetischen Bereiche, in welchen sich die biologische Erregung konzentriert. „Cardiac anxiety disappears when genital excitation develops. If the biological excitation is active chiefly in the genital apparatus, then one feels the genital drive and the corresponding pleasure sensation. If it is mainly active in the cardio-diaphragmatic region, one has anxiety and is incapable of pleasure.“ (Reich 1950a, 14)

    Reich fand damit, wie er schreibt „unconsciously“ die grundlegende Antithese des Lebendigen, die Antithese zwischen Lust und Angst, Expansion und Kontraktion, Peripherie und Zentrum. Gleichzeitig war dies der Beginn der Entwicklung der funktionellen Denktechnik.

    Elemente der funktionellen Denktechnik

    Funktionelle Orgonomie schließt nicht sogleich von der funktionellen Qualität einer Lebensäußerung auf die gesamte Natur, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Ergebnisse für jeden einzelnen Bereich neu überprüft.
    Dies geschieht in folgenden Schritten:

    1) Zuanfangs steht die Frage, wo die zweite Funktion ist, die den funktionellen Gegenpart zur zuerst gefundenen bildet. (So wurde Angst als Gegenpart zur Lust gefunden.)
    2) Wenn diese zwei Aspekte Variationen sind, die einander ausschließen, wie Lust und Angst, oder einander bedingen, wie Trieb und Lust, dann ist die Frage, in welcher dritten Funktion sie identisch sind.- Oder anders formuliert: In bezug auf welche Eigenschaften sind sie identisch?
    3) Ist dieses gemeinsame Prinzip wie z.B. das für Angst und Lust gefundene gemeinsame Funktionsprinzip der biologischen Erregung des Organismus eine letzte, nicht weiter zurückzuführende Bedingung oder ist es seinerseits eine Variation, wie es sich dann folgendermaßen darstellt:

    a1
    A
    a2X
    B

    a1 als Variation von a2 findet sich funktionell identisch in A, wobei dann B der Gegenpart zu A ist und beide letztendlich funktionell identisch in X sind.

    Am Beispiel von Lust und Angst:

    Lust
    Expansion
    Vagus Funktion
    biolog. Erregung
    Angst
    Kontraktion
    Sympathikus Funktion

    Von der Richtigkeit einzelner Bezüge kann man dann ausgehen, wenn diese zu neuen Entdeckungen (weiter)führen bzw. theoretische Vereinfachungen nach sich ziehen, d.h., man kann gepaarte Funktionen nicht zufällig einander zuordnen: „Real (objective) variations must be comprehended and rooted in a real (objective) common principle.“ (Reich 1950b, 51)


    So kann die Lust sowohl von Angst als auch von Wut der funktionelle Gegenpart sein. Im einen Fall ist das gemeinsame Funktionsprinzip (Lust und Angst) die biologische Erregung. Die Richtung der Erregung – ob sie in die Peripherie oder ins Zentrum strömt – bestimmt die Variation von Lust und Angst.

    Anders bei der Wut („rage“). Hier ist auch bei der Wut eine Expansion, eine Bewegung der Erregung in Richtung Peripherie gegeben. „For both pleasure and rage occur with an expansion of the life apparatus. Contraction ist excluded. Plasmatic expansion, which with its counterpart of contraction rests in a deeper functioning level on the principle of general excitation, will become itself, on a higher functioning level, the common functioning principle of the two variations, pleasure and rage. As a functioning principle, expansion is narrower than general excitation. Hence, it is a functioning principle of a „higher“ and with that of a „lesser“ order.“ (Reich 1950b, 51)


    Reich spricht hier erstmalig die Rangordnungen und Gültigkeitsbereiche von Funktionsprinzipien an. Von der Bedeutung dieser Ordnung wird später noch die Rede sein. An dieser Stelle nur soviel: Das gemeinsame Funktionsprinzip von Wut und Lust ist Expansion. Die Antithese besteht darin, dass in der Lust die Erregung bis an die (Haut)oberfläche reicht und in der Wut in der tieferliegenden Muskulatur bleibt.

    In der Lust ist die Oberflächenladung erhöht, das „Ziel“ ist die Empfindung („tactual sensation“) von Lust. In der Wut ist die Oberflächenladung hingegen herabgesetzt; „Ziel“ ist hier die motorische Aktivität und die Destruktion. Die Ziele werden im orgonomischen Funktionalismus von den („instinctual“) Funktionen abgeleitet und nicht umgekehrt: „Functionalism does not derive the „result“ of motor activity form the „cause“ of muscular action, as does mechanistic materialism, but muscular movement and destructive motor activity form a complete functional identity in the action of hate. … In the place of „causes“ functionalism posits „common functioning principles“ of an always deeper and more comprehensive order.“ (Reich 1950, 52)


    Die Ausführlichkeit meiner Replikation, welche dem Leser vielleicht überzogen und ungerechtfertigt erscheint, ist notwendig, da ein Nachvollziehen der Entwicklung des Werkzeugs und dessen Anwendung – und um dies, und nicht so sehr um die Fakten geht es im vorliegenden Beitrag – nur dann möglich ist, wenn man Reichs Wege nachgeht.

    Primäre und sekundäre Bedürfnisse

    Anlass für eine Variation ist in natürlichen Prozessen immer ein äußerer Reiz. So bildet das auf die Eizelle treffende Sperma den Reiz für die Teilung derselben. Ebenso findet – wenn sich die Lustfunktion nicht ungestört entfalten kann, wie das durch den Einfluss von versagender sozialer Struktur beim Menschen zumeist der Fall ist -, eine Spaltung der Expansionsfunktion in ein Streben nach Lust und „Rage“ statt.

    So lässt sich in körpertherapeutischen Sitzungen beobachten, dass, wenn bereits Ladung aufgebaut wurde, diese jedoch noch nicht frei fließen kann, der Klient mit (destruktiver) Wut darauf reagiert. Reich spricht dann von sekundären Bedürfnissen und unterscheidet diese von den primären dadurch, ob die Fähigkeit zu orgastischer konvulsivischer Entladung mit nachfolgender Befriedigung im Kern des Organismus gegeben ist oder nicht.


    Das Faktum der Möglichkeit bzw. die Unmöglichkeit zu orgastischer Entladung und damit die Befriedigung durch Reduktion des Energielevels bestimmt also diese Variation. Das gemeinsame Funktionsprinzip von beiden ist hingegen die Expansion.


    Betrachtet man nur die Gruppe der sekundären Bedürfnisse, so sind sie durch das gemeinsame Funktionsprinzip der orgastischen Impotenz (Unfähigkeit zur orgastischen Entladung) gekennzeichnet. An dieser Stelle sei dem Leser in Erinnerung gerufen, dass Reich dieses Kriterium, das der orgastischen Impotenz, als den Kern aller Formen neurotischer Mechanismen nachgewiesen hat. Orgastische Potenz umfasst im Gegensatz dazu eine andere Gruppe von Lebensäußerungen, wie Reich sie in den Begriff des sogenannten genitalen Charakters zusammenfasst.

    Findet auf der einen Seite bei der genitalen Impotenz eine Aufspaltung in zwei einander widersprechende Eigenschaften statt, nämlich in pornographische Sexualität und Moral, so bildet im Falle der orgastischen Potenz Sexualität und Moral eine Einheit. Hier wirkt das gemeinsame Funktionsprinzip (orgastische Potenz) in zwei einander beeinflussende Richtungen:
    Arbeit

    ›─ orgastische Potenz
    Liebe

    Arbeit
    orgastische Potenz
    Liebe

    Um das weiter zu veranschaulichen, führt Reich folgende Beispiele an:

    Primäre Bedürfnisse
    Expansion des Organismus
    Sekundäre Bedürfnisse
    sexuelle Erfüllung
    orgastische Potenz
    natürl. Liebenswürdigkeit
    Moralismus
    orgastische Impotenz
    Pornographie
    Homosexualität
    orgastische Impotenz
    Sadismus
    zwanghaftes Arbeiten
    orgastische Impotenz
    Unfähigkeit zur Arbeit

    DIE PANZERUNG des ORGANISMUS

    Die Basisfunktion, auf welche sich die Mannigfaltigkeit von Äußerungsformen von orgastischer Impotenz, wie sie oben beschrieben sind, zurückführen lässt, ist die Kontraktion von weiten Muskelbereichen des Organismus, wie Reich sie in den Begriff der „Panzerung“ fasst.

    Wenn die Panzerung eine Basisfunktion ist, die sich in der orgastischen Impotenz als eine Variation höherer Ordnung äußert, so stellt sich dem funktionellen Denken folgend die Frage nach der Antithese der orgastischen Impotenz. Diese ist der Atmungsblock.

    Atmungsblock
    Panzerung
    orgastische Impotenz

    Der Atmungsblock bedingt die Impotenz und die Impotenz ihrerseits den Atmungsblock, beide sind im Panzer verankert.

    Die Aufspaltung der Panzerung kann in folgende Funktionspaare erfolgen:

    • Atmungsblock und Unfähigkeit zu orgastischer Entladung
    • Streben nach Lust und Lustangst
    • Sehnsucht nach Liebe und Unfähigkeit zu lieben
    • Sadismus und Gewissensbisse
    • Perversion und Moral
    • zwanghafte Arbeit und Unfähigkeit zu Arbeit
    • Scharfe Trennung von Gott und Teufel

    Der Atmungsblock selbst als ein Prinzip höherer Ordnung funktioniert seinerseits als gemeinsames Funktionsprinzip für eine Vielzahl von Phänomenen wie eine unbewegliche Brust, Herzvergrößerung, hoher Blutdruck, usw. Wenn wir nun die Panzerung nicht nur als gemeinsames Funktionsprinzip auffassen, sondern auch als eine Funktion eines „tieferen“ Funktionsprinzips begreifen, so stellt sich zum einen die Frage nach dem Gegenpart und zum anderen nach dem gemeinsamen Funktionsprinzip dieser beiden Variationen im biologischen Kern.


    Zuvor möchte ich jedoch zur Erleichterung des Verständnisses anmerken, dass Reich dann von „Prinzipen höherer Ordnung“ spricht, wenn sie für einen eingeschränkteren Bereich Gültigkeit besitzen, während Prinzipen auf tieferen Ebenen (wie Pulsation, Anziehung, etc.) von Gültigkeit für einen weiten Funktionsbereich, letztendlich für alles Lebendige sind.

    Um die oben aufgeworfene Frage zu beantworten bedarf es wie immer zunächst der genauen Erkundung der Phänomene und Ausdrucksformen – in diesem Falle von Panzerung. Und hier zeigt sich, dass muskuläre Panzerung niemals statisch unbewegt ist sondern vielmehr wie zwei gegeneinander gestellte Fahrzeuge funktioniert, die trotz großer Kraft und Antrieb nicht von der Stelle kommen, ist die Kraft doch gegeneinander gerichtet.

    Die Panzerung kann also als Ergebnis eines Kräftegleichgewichts gesehen werden, welche nur ein Antippen auf einer der beiden Seiten benötigt, um Bewegung möglich zu machen. Das ist es, was man unter „Mobilisierung der Panzerung“ versteht.

    Die Immobilisierung des Menschen durch einander widerstehende Kräfte berührt eine zentrale Frage menschlicher Existenz. Warum findet im Gegensatz zum Tierreich eine derartige „Unterdrückung im biosozialen Bereich“ statt?
    Für die Beantwortung dieser Frage, wenn sie nicht nur aus akademischem Interesse gestellt wird, sondern grundlegenden Veränderungen dienen soll, muss das Blickfeld über den Menschen und sein soziales Umfeld hinausgehend erweitert werden. Das heißt, man darf die Rangordnungen in den Funktionsprinzipien nicht außer acht lassen.

    Was das heißt, soll am Beispiel der Beziehung von Charakterstruktur und Gesellschaftsbedingungen gezeigt werden.

    Charakter und Gesellschaft

    In der Charakteranalyse konnte Reich zeigen, dass die Charakterstruktur ihren sozialen Ursprung widerspiegelt und ihrerseits die sozialen Gegebenheiten reproduziert. Die Beziehung zwischen Charakterstruktur und Gesellschaft ist also reziprok und interaktiv.

    Wenn man nun die Charakterstruktur und die Gesellschaft in ihrer Wechselwirkung isoliert betrachtet, so ist beispielsweise „normal“, was den geltenden Verhältnissen entspricht, und man hat kein Mittel und vielleicht nicht einmal Anlass, um an den Lebensbedingungen etwas zu ändern.

    Bezieht man jedoch die menschliche Existenz auf deren tiefere, biologische Basis, so ist das, was aus der isolierten Betrachtung der Beziehung von Charakterstruktur und sozialen Verhältnissen als normal gilt, krank, weil lebensfeindlich.

    Dies zu beurteilen, d.h. die tiefere Ebene zur Verfügung zu haben, braucht einen Beurteiler, einen Forscher, der noch um die Naturgesetze „weiß“.

    „In order to master defects, in order to break through the eternal vicious circle of the production of biopathic character structures by society and the reproduction of life-dangerous social conditions by biopathic character structures, we must place ourselves outside this functioning realm; we must find out concretely what forms the common functioning principle of harmful social institutions and biopathic human character structures. Then it is no longer the principle of character formation per se that works as the functioning opposite of society per se; rather a special kind of character formation functions in interaction with a particular kind of social structure. Then we find that the typical character structure of man in contemporary society is armored and that this armoring produces corresponding social institutions and processes, and vice versa…..“Normal“ no longer signifies „adaption“ of man to existing social conditions, but it means adaptation to definite biological functions. From the viewpoint of the wider and deeper functioning realm of biology, what earlier appeared as normal in the sense of social adaptation now appears as abnormal or sick in the sense of `life-inimical function´.“ (Reich 1950b, 58)

    Reich spricht in diesem Zitat zwei wesentliche Elemente der funktionellen Denktechnik an: Zunächst die Wahrnehungs“ausstattung“ des Forschers, die Fähigkeit zur vegetativen Identifikation und damit die Fähigkeit, „die Umwelt mit Organbewegungen (plasmatischen Bewegungen) abzutasten“. (Reich, Ä.G.T., S.63) Die Behauptung, die „Organempfindung ist (deshalb) das wichtigste Werkzeug der Naturforschung“ (ebd.) ist revolutionär, überwindet Reich doch in dieser Feststellung die Trennung zwischen objektiven (äußeren) Gegebenheiten und subjektivem (innerem) Empfinden.

    Reich versteht die Organempfindung als „einen ersten Sinn streng physiologischer Natur“ (ebd. S.65) und meint an dieser Stelle weiter: „Um die Natur zu erforschen, müssen wir den Gegenstand der Forschung wörtlich genommen lieben. Wir müssen, in der Sprache der Orgonphysik ausgedrückt, unmittelbaren und ungestörten orgonotischen Kontakt mit dem Gegenstand der Forschung haben.“

    Die Bedeutung des Umstandes, dass „der Organismus nur zu empfinden vermag, was er selbst ausdrückt“, (ebd. S.71) kann nicht genug betont werden. Er ist dafür verantwortlich, dass gegen Lebensäußerungen von Säuglingen und Kindern angegangen wird (weil der Erwachsene den in sich selbst erstickten Schrei nicht mehr wahrzunehmen vermag), dafür, dass die Natur zerstört wird (weil der Kontakt zum Lebendigen und damit die Freude daran verloren gegangen ist), dafür, dass Menschen nach wie vor unter lebensfeindlichen Bedingungen arbeiten und leben, und wohl auch für das neuerliche Aufkeimen faschistischer Tendenzen, in welchen sich die Sehnsucht nach Freiheit paart mit der Angst davor.

    Dies bedeutet, dass der Forscher – will er dazu beitragen, dass sich Veränderungen vollziehen von lebensfeindlichen zu lebensförderlichen Bedingungen – außerhalb dieser Strukturen zu stehen hat. Um Neues zu finden muss er sich außerhalb von dem befinden, was er zu beurteilen hat.

    Der zweite, ebenso wesentliche Aspekt ist der, dass Reich – anders als beispielsweise Psychoanalytiker oder mechanistische Forscher – den Menschen nicht außerhalb der Natur und damit den Naturgesetzen stellt. Diese „evaluations man over nature“ führen dazu, dass die Beurteilung eines weiteren Funktionsbereichs (der Natur) aufgrund eines engeren Funktionsprinzips (beispielsweise der Psychologie) erfolgt, was aus orgonomischer Sicht unzulässig ist. Orgonomischer Funktionalismus findet den Bezugsrahmen und Maßstab für Gesundheit und Krankheit – wie im obigen Zitat ausgedrückt – nicht in der isolierten Betrachtung von psychosozialen Bedingungen des Menschen, sondern in den Gesetzen des Lebendigen selbst.

    Der Mensch wird bei Reich also in erster Linie als in die Naturgesetze eingebundenes Lebewesen, als „lebendige Kreatur“ verstanden, weshalb Reich auch vom „Menschen-Tier“ spricht. Und damit gilt die Fähigkeit zu natürlichem Funktionieren als gesund und nicht die Angepasstheit an von (neurotischen) Menschen geschaffenen Strukturen. Dies erst gibt die Möglichkeit aus dem Teufelskreis von sozial lebensfeindlichen Strukturen auszusteigen, welche Menschen aufgezwungen werden und sie prägen, weshalb diese ihrerseits diese Strukturen wiederherstellen. Ich möchte diese „Rezension“ mit einem Zitat von Wilhelm Reich in seiner vollen Länge schließen und hoffe, dass etwas von der aufrüttelnden und erschütternden Qualität, welche mich beim Lesen erfasste, auch den Leser erreicht:

    „But armored man for hundreds of years, indeed thousands of years, has taken his own peculiarities and variations, and his unnatural biopathic abnormalities to boot, as the platform for his world picture. This sin against the laws of thought he has indeed paid for with an infinitude of unnecessary and gruesome sacrifices. He has fantasied out of his abnormality his godlike origin, and has created out of his godlike origin his God according to his own likeness. He has ascribed to this God his own littleness and revengefulness, his won moralistic brutality, and he has paid sacrifices to him: He has slaughtered children, burned his widowed women; he has martyred the unorthodox, in the Middle Ages with religious arguments and in Modern times with state-political ones. Whoever wishes to view this as normality, whoever cannot escape from this framework of thought, has in fact signed his soul over to the Devil within him. And in his Devil the human animal will sooner or later recognize a God who is by the armor block of man´s character perverted to the Devil. For even „God“ and „Devil“ are not an absolute and certainly not a metaphysical antithesis, since they have their common rooting in the natural feelings for life of the human animal.“ (Reich 1950b, 62)

    Literatur:

    Reich W.: Äther, Gott und Teufel, Nexus Verlag, Frankfurt 1983
    Reich W.: Orgonomic Functionalism. Part II Chapter 1-5.
    Orgone Energy Bulletin Vol. 2, NO.1, 1950a
    Reich, W.: Orgnomomic Functionalism Part II Chapter 6-8.
    Orgone Energy Bulletin Vol. 2, NO.2 , 1950b
    Reich,W.: Orgonomic Functionalism. Part II Chapter 9-11.
    Orgone Energy Bulletin Vol. 2, No. 3, 1950c

    P.S. Dieser Beitrag geht noch weiter. Dorthin, wo sich der Kreis – von der Entdeckung der Funktion des Orgasmus in der klinischen Arbeit mit Patienten bis zu dessen Beschreibung als die Funktion, welche das Lebendige selbst auszeichnet, schließt. Doch nun will ich zunächst „artikel-unbelastet“ meinen Urlaub genießen. Auch will ich mir eine „Verdauungszeit“ gönnen und somit die Materie durchdringen, um sodann auf der Ebene eines tieferen Verständnisses zu einem späteren Zeitpunkt die Fortsetzung folgen zu lassen.

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    Bukumatula 4/1996

     

    Vegetatives Nervensystem und Energetische Medizin, Teil 1

    Bioenergetische und psychosomatische Ursachen von Gesundheit und Krankheit
    Heike S. Buhl:

     

    EINLEITUNG

    Der vorliegende Artikel entstand aus einem Vortrag im Januar 1991. Ich überlegte damals, was ich zum Thema Körpertherapie aus meiner täglichen Arbeit als Ärztin mit den Reichschen Methoden besonderes beizutragen hätte. Falldarstellungen, emotionale Entladungstechniken, theoretische Konzepte der Arbeit – es schien alles richtig, aber eben nicht mein Thema. Daher versuchte ich mich zu erinnern, wie ich eigentlich „zu Reich“ gekommen war.

    Ich war damals mitten in meinem Medizinstudium und hatte jahrelang alle möglichen Krankheitsbilder und Symptome auswendig gelernt. Auf die Frage, wie Krankheit eigentlich entsteht, wurde in meinem Studium nie eingegangen. Wir beschäftigten uns nur mit dem „Schaden“ und wie man ihn am besten repariert – ein bißchen wie bei einem kaputten Auto, das nicht mehr funktioniert, weil die einzelnen Teile eben nicht so gut gebaut sind. Bei vielen Krankheiten fand sich als Erklärung der Satz „Ätiologie ungeklärt“ oder „Autoimmunkrankheit“. Die großen Fragen – was eigentlich verbirgt sich hinter dem Ausdruck „Autoimmunkrankheit“, wie entsteht Krebs, wie kommt es zu Herz-Kreislauf-Krankheiten, – blieben ohne Antwort.

    Und die Alternativmedizin schien auf den ersten Blick auch nicht so überzeugend – statt Pillen die Nadel, die Hochpotenz oder das Heilkraut, alles nur zu oft im Rahmen einer Allgemeinarztpraxis ohne ausreichende Kenntnis des zugrundeliegenden Denksystems angewandt oder auch nur wieder Symptomkuriererei mit weniger gefährlichen Mitteln an Stelle von Ursachenforschung. Die Psychosomatiker ließen sich als Randwissenschaft ausgrenzen und führten ihrerseits nun wieder alles auf die Psyche zurück, ohne ein einheitliches Konzept für Psyche UND Soma anzubieten.

    Dies fand ich erst, als ich mich mit den Schriften von Wilhelm Reich beschäftigte. Er sprach von ungehinderter Pulsation, der Bedeutung der Sexualität, funktioneller Identität von Körper und Psyche. Ich blieb „bei Reich hängen“, einem Konzept, das den Menschen auch in seinem sozialen Umfeld sah und ein radikal psycho-somatisches Modell anbot, in dem nicht Körper auf Psyche reduziert war oder umgekehrt.

    Ich möchte hier daher nicht soviel über Körpertherapie an sich schreiben, sondern über Reichs Konzept von Gesundheit und Krankheit. Unter Gesundheit verstehe ich dabei nicht nur Freiheit von körperlichen Symptomen, sondern ebenso psychisches Wohlbefinden. Ich möchte ausführen, auf welche auch in der Schulmedizin bekannten Konzepte sich das Reichsche Modell stützt und dabei insbesondere die Funktion des vegetativen Nervensystems erläutern.

    Ich werde dann Reichs Begriff von Gesundheit als ungehinderter Pulsation und den Begriff der „Biopathie“ erläutern. Anhand einzelner Krankheitsbilder werde ich dann Störungen des vegetativen Nervensystems näher beschreiben und schließlich aus-führen, mit Hilfe welcher Techniken wir in der Körpertherapie auf das vegetative Nervensystem, die morphologische Grundlage der Pulsations-vorgänge, Einfluß nehmen können und damit ein gesundes Funktionieren des Gesamtorganismus Mensch anregen und unterstützen können.

    VEGETATIVES NERVENSYSTEM

    Begriff des vegetativen Nervensystems

    Wilhelm Reich beschäftigte sich anläßlich seiner Arbeiten zur Sexual-ökonomie in den Jahren 1934 bis 1938 mit der Erforschung der biologischen Grundlage von Sexualität und Angst. Dabei erkannte er die zentrale Bedeutung des vegetativen Nervensystems als Schnittstelle körperlicher und emotionaler Vorgänge: auf der einen Seite steht es in engem Zusammenhang mit den körperlichen Organfunktionen, auf der anderen Seite ist es über die Blut- und Plasmaströme Vermittler für das Empfinden von Emotionen, und es ist auch über die Verschaltungen des Zentralen Nervensystems mit den für Gefühlsempfinden verantwortlichen Hirnzentren verbunden.- Die Körpertherapie ist nach Reich Arbeit am körperlichen und seelischen Apparat zugleich. Die seelischen Energien werden aus der charakterlichen und muskulären Panzerung befreit.

    Aufgrund der großen Bedeutung des vegetativen Nervensystems möchte ich an dieser Stelle etwas näher darauf eingehen, was das denn eigentlich ist, wie es funktioniert und was es mit Gesundheit und Krankheit zu tun hat.

    Das vegetative Nervensystem ist ein Teil des Zentralen Nervensystems (ZNS) des Menschen. Dieses gliedert sich im wesentlichen in drei Teile, deren Funktionen eng miteinander verknüpft sind. Ein Teil regelt die Tätigkeit der willkürlichen Motorik, der Reaktion des Muskelsystems auf verschiedene Umwelteinflüsse; dieser Teil wird motorisches Nervensystem genannt. Ein anderer Teil verarbeitet die Informationen aus den Sinnes-organen, wie z.B. Auge, Nase, Tastsinn, zu bewußten Empfindungen. Dies ist das sogenannte sensorische Nervensystem.

    Ein dritter Anteil des Nervensystems, mit dem wir uns hier eingehender beschäftigen werden, dient schließlich dazu, speziell die Funktionen innerer Organe aufeinander abzustimmen. Dieser Teil des ZNS wird als vegetatives Nervensystem bezeichnet. Es hat seinen Ursprung im Hirnstamm und Rückenmark und umfaßt die Nerven, die die glatte Muskulatur der inneren Organe, das Herz und die Drüsen versorgen. Die Regelkreise dieses vegetativen Nervensystems sind eng mit denen der beiden anderen Anteile vernetzt; es gibt daher zahlreiche Wechsel-wirkungen zwischen den einzelnen Systemen.

    Abb. 1: Aufbau des Nervensystems
    Abb. 1: Aufbau des Nervensystems

    Innerhalb des vegetativen Nervensystems lassen sich zwei Teilstrukturen voneinander abgrenzen, die man als Sympathikus und Parasympathikus bezeichnet. Diese beiden Strukturen ziehen von Rückenmark und Hirnstamm zu den inneren Organen und regulieren deren Tätigkeit, d.h., sie regen sie an oder hemmen sie. In Rückenmark und Hirnstamm haben Sympathikus und Parasympathikus unterschiedliche Ursprungsorte, und sie unterscheiden sich auch in ihrer Reaktion auf biochemische Überträgersubstanzen.

    Das vegetative Nervensystem ist der willkürlichen Kontrolle weitgehend entzogen, daher wurde es auch als autonomes Nervensystem bezeichnet. So können wir die Tätigkeit der inneren Organe nicht willentlich steuern, also nicht zum Beispiel willkürlich das Herz schneller oder langsamer schlagen lassen.

    Abb. 2 Ursprund und Innervationsgebiete peripherer vegetativer Nerven [1]
    Abb. 2 Ursprund und Innervationsgebiete peripherer vegetativer Nerven [1]

    Funktion des vegetativen Nervensystems

    Die meisten inneren Organe werden sowohl vom Sympathikus als auch vom Parasympathikus innerviert. Die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems sind dabei beide gleichzeitig aktiv, jedoch in unter-schiedlichem Maße. Sie beeinflussen ein bestimmtes Organ gegensätzlich oder antagonistisch, d.h., das Überwiegen des einen Teiles kann eine Organtätigkeit hemmen, das Überwiegen des anderen Teils die Tätigkeit des gleichen Organs verstärken.

    Die Erregung des einen Anteils des vegetativen Nervensystems führt dabei zwangsläufig zu einer Dämpfung des anderen Anteils, ohne daß dieser deswegen ganz abgeschaltet wäre. Es kann also, bezogen auf ein bestimmtes Organ, niemals gleichzeitig der Sympathikus und der Parasympathikus maximal tätig sein, sondern die Tätigkeit des einen überwiegt auf Kosten des anderen. Dies entspricht in der chinesischen Medizin der Vorstellung, wie die sogenannten „Yin- und Yang-Stadien“ der Organe ineinander verflochten sind.

    Sehen wir uns die Tätigkeit des vegetativen Nervensystems, bezogen auf die glatte Muskulatur verschiedener innerer Organe etwas genauer an: die Wirkung des Sympathikus auf den Herzmuskel ist z.B. eine erhöhte Herz-frequenz, während ein Überwiegen des Parasympathikuseinflusses eine erniedrigte Herzfrequenz zur Folge hat. An diesem Beispiel sieht man deutlich, daß es keine gleichzeitige Erregung des Herzens durch Sym-pathikus und Parasympathikus geben kann, denn das Herz kann nicht gleichzeitig schnell und langsam schlagen.

    Es gibt aber auch nicht nur die Option „Herzrasen“ oder „Herzstillstand“. Je nach Überwiegen des einen oder anderen Einflusses wird der Herzschlag schneller oder langsamer: die Impulse von beiden Anteilen werden so gegeneinander verrechnet.

    Am Darm führt eine Reizung des Parasympathikus zu verstärkter Bewe-gung der Darmmuskeln, eine Reizung des Sympathikus dagegen unter-drückt die Darmbewegung. An der Bronchialmuskulatur führt die Aktivität des Parasympathikus zu einer Anspannung der Muskeln, während der Sympathikus eine Entspannung herbeiführt. Am Auge führt Reizung des Sympathikus zu einer Erweiterung der Pupille über die Aktivierung des dafür zuständigen Augenmuskels, Reizung des Parasympathikus zu einer engen Pupille.

    Der Funktionszustand eines inneren Organs, das sympathisch und parasympathisch innerviert wird, hängt somit immer von der Balance der Aktivitäten zwischen Sympathikus und Parasympathikus ab. Es steht aberjeweils der, bezogen auf dieses Organ, erregende oder der hemmende An-teil des vegetativen Nervensystems im Vordergrund.

    Tab. 1:Effekte bei der Aktivierung des Sympathikus und Parasympathikus <sup>[2]</sup>
    Tab. 1: Effekte bei der Aktivierung des Sympathikus und Parasympathikus [2]

    Wirkung des vegetativen Nervensystems auf den Gesamtorganismus

    Bisher haben wir die Wirkungsweise des vegetativen Nervensystems auf einzelne Organe besprochen. Man kann jedoch auch, auf den Gesamt-organismus bezogen, von einer sympathikotonen oder parasympathiko-tonen Reaktionslage sprechen. Dabei werden die Organe nicht gesondert, sondern in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sie werden je nach Bedürfnis des Organismus im Dienst einer bestimmten Leistung aktiviert; sie wirken zum Erreichen dieser Leistung zusammen.

    Reichs Definition von Gesundheit beruht auf der Fähigkeit eines Lebewesens, in rhythmischer Oszillation zwischen diesen beiden Zuständen – des Gerichtetseins auf die Umwelt und der Orientierung auf den inneren Zustand – hin- und herzuschwingen. Reich bezeichnet diese Grundfunktion als „Pulsation des Lebendigen“.

    Reich definiert also Gesundheit nicht als Abwesenheit von Symptomen, Krankheiten oder Einschränkungen, sondern im Gegensatz dazu als eine „Funktion des Wechselspiels, der Wechselwirkung von Subjekt und innerer und äußerer Welt, als ständig sich verändernde pulsierende Auseinandersetzung des Organismus mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt „.[3]

    Bei einem äußeren Streß zum Beispiel schaltet der Körper auf sog. „Abwehrverhalten“, bei dem der Sympathikus maximal aktiviert wird. Die Atmung wird gesteigert, die Pupillen sind erweitert; bei Tieren sieht man noch die gesträubten Nackenhaare. Der Blutdruck, die Muskeldurch-blutung und die Herzfrequenz nehmen zu, während die Darmdurchblutung und Darmbeweglichkeit sowie die Hautdurchblutung abnehmen. Die Auf-merksamkeit ist dabei ganz auf außen konzentriert.

    Durch den äußeren Reiz schaltet der ganze Organismus auf einen Zustand, in dem er alle Energien innen sammelt, um sich auf Angriff oder Flucht vorzubereiten (deshalb auch „flight or fight reaction“ genannt). Er kontrahiert sich und ist im Zustand der Spannung. Dies wird von W. Cannon als „Notfall-reaktion“ bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist, wenn jemand Streit mit seinem Chef hat: in solch einer Situation ist der Sympathikus maximal aktiviert.

    Im Kontrast zum Abwehrverhalten steht das „Freßverhalten“. Nach Nahrungsaufnahme – wir alle kennen das nach einem üppigen Mahl – wird der Parasympathikus stärker erregt. Die Aufmerksamkeit wird von der Umgebung abgezogen, wir werden schläfrig, die Darmtätigkeit wird angeregt, der Bauchraum mit den Verdauungsorganen stärker durchblutet.

    Die Durchblutung der Skelettmuskeln geht dabei zurück, der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer und am Auge sieht man eine Verengung der Pupillen. Der Organismus zieht sich hier nicht zusammen, sondern erweitert sich, dehnt sich energetisch nach außen aus, und befindet sich im Zustand der Entspannung. Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit eher nach innen gerichtet.

    Die Oszillation zwischen diesen beiden Zuständen des vegetativen Nerven-systems hat auch grundlegende Einflüsse auf das hormonelle und emotionale Befinden des Körpers. Die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus hat über die Verengung und Erweiterung der Blutgefäße großen Einfluß auf die Flüssigkeits- oder Plasmabewegungen im Körper, die für Reich Grundlage für das Empfinden von Emotionen sind. Der Flüssigkeitsstrom kann vom Zentrum nach außen gerichtet sein (Expan-sion) oder von der Peripherie nach innen (Kontraktion). Das Gefühl von Lust ist funktionell identisch mit ungehinderter Pulsation, das Gefühl von Angst mit eingeschränkter Pulsation des vegetativen Nervensystems.

    Das vegetative Nervensystem ist außerdem eng mit dem „Muskelpanzer“ verzahnt: chronische Muskelspannungen behindern das Strömen von Kör-perflüssigkeiten und eingeschränkte vegetative Pulsation spiegelt sich in chronisch angespannten Muskeln wieder.

    Die beiden, in ständiger Wechselwirkung stehenden Systeme von Sym-pathikus und Parasympathikus, sind funktionell nicht zu trennen, erst ihr Zusammenspiel ermöglicht eine harmonische Funktion des Gesamt-organismus.[1] „Der Lebensprozeß spielt sich in stetem Wechsel von Expansion und Kontraktion ab.“BIOPATHIEN

    In der Schulmedizin trifft man häufig auf ein Krankheitsbild, in dem das Symptom aus dem „Nichts“ in einem ansonsten gesunden Körper entsteht. Der Arzt wird zum Biotechniker, der den Schaden repariert. Es ist jedoch der ganze Mensch krank und nicht nur eines seiner Teile. Reichs Ver-ständnis ist, daß Krankheit entsteht, wenn die natürliche Pulsation des Gesamtorganismus gestört ist. Reich bezeichnet diesen Krankheitsprozeß, der sich am autonomen oder vegetativen Lebensapparat abspielt, als BIOPATHIE.

    Die Biopathie ist also eine typische Grunderkrankung des vegetativen Nervensystems. Sie ist zunächst eine rein funktionelle Störung, die den gesamten Organismus betrifft, sich aber einmal in Gang gesetzt, später auch in verschiedenen Krankheitsbildern morphologisch äußern kann. In sehr stark fortgeschrittenen Prozessen kann es zur sogenannten „Schrumpfungsbiopathie“ und damit zur Entstehung von Krebs kommen.

    „Die Biopathie kann in einem Karzinom resultieren, aber ebenso in einer Angina pectoris, einem Asthma, einer kardiovaskulären Hypertonie, einer Epilepsie, Katatonie, paranoiden Schizophrenie, Angstneurose, in multi-pler Sklerose, Chorea, chronischem Alkoholismus, etc.“[9]

    Unfälle und typische Infektionskrankheiten gehören also nicht zum Zustand der Biopathie, da sie nicht auf Störungen des autonomen Lebensapparates beruhen, begrenzt sind und eine Störung der biologischen Pulsation nur sekundär herbeiführen. Liegt eine primäre Pulsationsstörung vor, so kann die Biopathie „als emotionale Störung des seelischen Apparates, also als Neurose oder Psychose, in Erscheinung treten. Sie kann sich aber auch unmittelbar im Funktionieren der Organe auswirken und als Organerkrankung zum Vorschein kommen“.[10]

    Dabei geht die funktionelle Störung der Pulsation den Organveränderungen voraus. So können zum Beispiel starke, krampfartige Bauchschmerzen zunächst ohne organisch erkennbare Ursache vorliegen, die dann aber in späteren Jahren zu morphologischen Organveränderungen führen.- „Krankheit“ in der Schul-medizin liegt erst dann vor.

    Der Zustand eingeschränkter vegetativer Pulsation ist gekoppelt an eingeschränkte sexuelle Erlebnisfähigkeit. Störungen im biosexuellen Erregungsablauf begründen Störungen des biologischen Funktionierens. Die Fähigkeit des Organismus, sich energetisch aufzuladen und zu entladen, ist eine Grundfunktion des Lebendigen, die vor allem in der Sexualität und der Entladungsmöglichkeit des Orgasmus beobachtet werden kann.

    Die Qualität sexueller Lust ist funktionell identisch mit voller vegetativer Reaktionsbereitschaft. Ist diese Fähigkeit eingeschränkt, bedingt z.B. durch repressive Sexualerziehung in der Kindheit, so führt dies über eine gestörte Ladungs- und Entladungsmöglichkeit des Organismus zu gestörter Pulsation. Dies bedingt auf sexuellem Gebiet verminderte Erregung und eingeschränkte Orgasmusfähigkeit. Auf den Gesamtorganismus bezogen entsteht eine Pulsationsstörung als Grundlage für eine Biopathie.

    Abb. 3: Ursachen der Pulsationsstörung
    Abb. 3: Ursachen der Pulsationsstörung

    Die Biopathie beginnt laut Reich immer mit einem chronischen Über-wiegen der Kontraktion und mit Hemmung der Expansion des autonomen Lebensnervensystems. Er fand in seinen klinischen Studien heraus, daß das chronische Verharren des Organismus in einem Zustand, der vom Sym-pathikus dominiert wird und in dem definitionsgemäß keine Pulsation mehr stattfindet, subjektiv als unlustvoll, als Angst erfahren wird.

    Dieser Zustand entspricht laut Reich einem Rückzug von der Welt wie im Schreck. In diesem Zustand wird – wie schon vorhin beim „Abwehr-verhalten“ geschildert – die Haut bleich und kalt, der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck erhöht sich, die Pupillen werden weit, die Skelettmuskulatur ist gelähmt oder stark angespannt.

    Der Parasympathikus betont nach Reich eher die lustvolle Seite des menschlichen Lebens, das „Hin zur Welt“. Wenn der Parasympathikus aktiv ist, ist die Haut warm und rosig, das Herz schlägt langsam und kraftvoll, der Blutdruck ist gesenkt, die Pupillen eng und die Muskulatur locker, die Verdauungstätigkeit angeregt, wie vorhin beim „Freßverhalten“ geschildert.

    Diese Definition der Biopathie, wie sie zunächst von Reich in „Die bio-elektrischen Untersuchungen von Sexualität und Angst“ beschrieben wurde, ist meiner Meinung nach unvollständig. Der Zustand des Parasympathikus erscheint als der „Gute“, der des Sympathikus als der „Böse“. Wer jemals einen Asthmaanfall oder Migräne hatte – beide durch ein Verharren in stark parasympathikotonem Zustand gekennzeichnet, kann dem schwer folgen: auch er hat diesen Zustand als unlustvoll, in sich gefangen und mit Angst besetzt erfahren, keineswegs als ein lustvolles Strömen hin zur Welt.

    Dieser scheinbare Widerspruch in den Reichschen Erkenntnissen läßt sich überwinden, wenn man den Zustand der natürlichen Pulsation, in dem der Organismus je nach Tageszeit oder äußeren Erfordernissen zwischen den beiden Zuständen Parasympathikus/Sympathikus hin- und herschwingt, von dem Zustand eines chronischen Verharrens in einem der beiden Extreme unterscheidet. Es gibt äußere Umstände, die eine starke Aktivität des Sympathikus durchaus wünschenswert machen: z.B. wird eine Katze beim Mäusefangen sicher völlig nach außen gerichtet sein, keineswegs entspannt, aber auch nicht unlustvoll kontrahiert.

    Ebenso wird es einem Rennfahrer während eines Rennens gehen, oder einem Wissenschaftler bei einer spannenden Forschungstätigkeit. Wenn die äußeren Umstände sich ändern, wird ganz von alleine eine vegetative Umstimmung des Organismus hin zum Überwiegen des Parasympathikus stattfinden: die Katze schläft nach dem Mäusefang, Rennfahrer oder Wissenschaftler erholen sich nach ihrer Arbeit und entspannen sich. Diese natürliche Pulsation unterscheiden wir von einem chronischen Verharren, einem „Festgefahrensein“ in einem der beiden Zustände.

    Ein chronischer Sympathikustonus führt zu den von Reich beschriebenen unangenehmen subjektiven Empfindungen: der Körper geht in eine Art innere „Kampfbereitschaft“, hervorgerufen durch äußeren oder auch inneren Streß oder Schreck. Da es aber weder zu Kampf noch zu Entwarnung kommt, verharrt der Organismus in diesem Zustand. Eine Pulsation im vorhin beschriebenen Sinne findet nicht mehr statt.

    Ein chronisches Verharren im Zustand des Parasympathikus fühlt sich aber nicht unbedingt besser an: zum einen ist der Organismus im Extremzustand der Entspannung, was sich als starke Müdigkeit, Schlaff-heit und Antriebslosigkeit bemerkbar macht. Die Verdauungstätigkeit ist stark angeregt, was Durchfälle oder Magenkrämpfe zur Folge hat.

    Die Bronchialmuskulatur verkrampft sich, dies führt zu der Empfindung, nicht genug Luft zu bekommen und kann im Extremfall sogar zu dem tödlichen Ausgang eines Asthmaanfalls führen. Statt Kampfbereitschaft liegt hier vielmehr Resignation und Rückzug, ein inneres Aufgeben, vor.

    Die Pulsation kann demnach an jeder beliebigen Stelle „festgefahren“ sein. Maßgeblich ist weniger, in welcher Stellung (Sympathikus  oder Parasym-pathikus) die Pulsation angehalten wird, als vielmehr die Tatsache, daß sie angehalten wurde.

    Die Tätigkeit von Sympathikus und Parasympathikus ist im Kern funk-tionell identisch: zu Grunde liegt beiden die vegetative Erregbarkeit. So schreibt Reich auch am Ende des Buches „Sexualität und Angst“:

    „Das vegetative Nervensystem ist mit der Fähigkeit zur Kontraktion und Expansion ausgestattet. Aus der Mittellage des vegetativen Gleichgewichts vermag es, jeweils in der Richtung zur Welt zu wirken, also sich zu strecken oder in sich zurückzukriechen, das heißt zu kontrahieren. Es könnte auch aus dem einen in den anderen Zustand schwingen oder in einem der beiden extremen Zustände festgehalten werden. Etwas schematisch ausgedrückt würde das vegetative Gleichgewicht dem Zustand entsprechen, in dem es weder festgehaltene Expansions- noch Kontrak-tionsstellungen gibt.“[8]

    Eine weitere Besonderheit des vegetativen Nervensystems ist bemerkens-wert: es kann nicht nur rhythmisch zwischen Sympathikus und Parasym-pathikus  hin- und herschwingen,  sondern die jeweiligen  Extremzustände können auch ineinander übergehen. Ein extremer und chronischer Sympathikustonus kann umschlagen in einen extremen und chronischen Parasympathikustonus und umgekehrt. Dies ist der Grund dafür, warum man in Situationen extremer Sympathikusaktivierung, wie z.B. Prüfungs-streß, vor Aufregung Durchfall bekommen kann (der eigentlich auf eine starke Stimulierung des Parasympathikus schließen läßt).

    Analog könnte man sagen, daß die ständige Kampfbereitschaft in Resignation, aber umgekehrt auch der innere Rückzug bei zunehmendem Streß in Kampfbereitschaft umschlagen kann. Dieser Mechanismus macht auch verständlich, warum eine Krankheit nicht nur durch Verharren in einem der chronischen Zustände entstehen kann, sondern auch durch un-reguliertes und nicht aufeinander abgestimmtes „wildes Hin- und Her-schlagen“ zwischen sympathikotonem und parasympathikotonem Zustand.

    Maßgeblich für das physische und psychische Wohlbefinden ist meiner Meinung nach eine „gesunde Spannung“, ein ausgeglichener Zustand, in dem aus der Mittellage des vegetativen Gleichgewichts heraus die Oszillation zwischen Sympathikus und Parasympathikus ungehindert statt-findet. Leider findet man in unserer Kultur, streß- und sexualökonomisch bedingt, eher eine Verschiebung der Mittellage zugunsten des Sympathi-kus, so daß die Entspannungsfunktion des Parasympathikus nicht genug zum Zuge kommt.

    Der amerikanische Internist Robert A. Dew weist darauf hin, daß die Biopathien zu nicht lokalisierbaren Veränderungen am Gesamtorganismus führen können, wie z.B. bei Bluthochdruck, Arteriosklerose oder Diabetes, daß sie sich aber auch in Form klar umrissener Organmanifestation zeigen können wie bei Gallensteinen oder einem Magengeschwür. Dew stellt eine Klassifikation der Biopathien nach zunehmendem Schweregrad auf, wobei er die abnehmende vegetative Reaktionsbereitschaft des Organismus zu Grunde legt:[7]

    Dew sieht, entspr. Reich, alle Krankheiten als primär sympathikoton bedingt an (die Sympathikotonie könnte man schon fast als Kennzeichen unserer Kultur bezeichnen). Parasympathische Symptome sind für Dew Ausbruchsversuche des vegetativen Systems aus der Starre. Wenn die Energie sich nicht in der ursprünglichen Pulsation entladen kann, kann sie im Organismus zu verschiedenen Arten von „Durchbrüchen“ (Krankheits-schüben) führen.

    Wenn diese Durchbrüche nicht mehr stattfinden können, reagiert der Organismus mit Resignation oder Schrumpfung. Krankheiten können also ein zwar unteroptimaler, aber doch unter gegebenen Umstän-den noch bester Versuch des Körpers sein, einen Teil vegetativer Pulsation aufrechtzuerhalten.

    Wir werden nachher noch ausführlicher darauf eingehen, welche Auswir-kungen die chronisch eingeschränkte Pulsation an einzelnen Organen haben kann. An dieser Stelle möchte ich nur noch einmal darauf hinweisen, daß Krankheit in dem Moment entsteht, in dem die Pulsation gestört bzw. unterbrochen ist.

    BEEINFLUSSUNG DER PULSATION

    Technik

    Aus der ursprünglichen Reichianischen Arbeit haben sich heute viele Schulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten entwickelt. Ich werde hier nur exemplarisch einige Techniken aufführen, die in meiner Arbeit eine Rolle spielen.

    Die grundlegendste Technik der von Reich entwickelten Körpertherapie ist die Anregung der Atmung. Durch willkürlich vertiefte Atmung verstärkt sich die energetische Ladung des Körpers, die Muskelverspannungen werden deutlicher spürbar und können so bewußt gemacht und bearbeitet werden. Die Atmungstiefe hat auch direkt anregende Wirkungen auf Zentren des vegetativen Nervensystems. Bei Streß ist der Atem flach und gehalten, bei Entspannung tief und voll.

    Um die Pulsation auf der segmentalen Ebene anzuregen, arbeiten wir mit der direkten Aktivierung der chronisch kontrahierten Muskulatur. Auf der körperlichen Ebene wirken wir über die Aktivierung der Muskeln auf das Wechselspiel des vegetativen Nervensystems ein, auf der seelischen Ebene werden analog die bisher zurückgehaltenen Gefühle bewußt erlebbar gemacht. Zunächst muß der Patient lernen, die Verspannung bewußt zu spüren. Dann können die Muskelverspannungen mit Hilfe verschiedener Techniken aufgelöst werden.

    Dazu kann die Anspannung der Muskeln willkürlich verstärkt werden – z.B. durch Übertreiben des jeweiligen Gesichtsausdruckes oder durch die von Alexander Lowen entwickelten Streßpositionen der „Bioenergetik“. Dadurch wird gleichzeitig auch die Tätigkeit des Sympathikus in diesem Bereich noch weiter verstärkt.

    Die willkürliche Anspannung sollte möglichst lange gehalten werden, da nach Loslassen der angespannten Muskulatur eine vegetative Umschaltung stattfindet. Die Muskeln entspannen sich in diesem Bereich, sie werden warm durchblutet und ein Entspannungsgefühl setzt ein, das von einem Gefühl inneren Strömens oder von unwillkürlichen Muskelzuckungen begleitet sein kann.

    Eine weitere Möglichkeit der Pulsationsanregung ist die direkte Bear-beitung von Muskeln und Bindegewebe durch den Therapeuten, wie z.B. in der „Points and Positions“-Technik nach Will Davis. Dabei geschieht die Auflösung muskulärer und bindegewebiger Verspannungen durch Druck auf Muskelansatzpunkte und bindegewebige Verhärtungen, wodurch über die Beeinflussung der bindegewebigen Grundsubstanz der Status quo aufgelöst wird zugunsten einer angeregten oder vertieften Pulsation.

    Die Muskeln können auch durch Bewegung aktiviert werden. So kann man z.B. die Schultermuskeln gut durch Schlagbewegungen lockern helfen, die Kinnmuskulatur durch Beißübungen oder die Beckenmuskeln durch Treten.  Der Patient  kann  auch  aufgefordert  werden,  selber  „in die Verspannung hineinzuspüren“ und herauszufinden, welchen Bewegungsim-puls er darin zurückhält.

    Ausdruck und Emotion

    Die rein mechanische Anregung der Muskeltätigkeit ist nur dann langfristig erfolgreich, wenn die Pulsation auf der Ebene des vegetativen Nervensystems wieder maximal stimuliert ist. Dies geht einher mit vermehrtem Blutstrom auf der einen Seite (vermehrte Durchblutung von Muskel und Haut, Strömen) und mit Auflösung emotionaler Blockaden auf der anderen Seite.

    Durch ihre Anspannung behindert die Muskulatur die Bewegung der Körperflüssigkeit und des Blutstromes. Wenn eine muskuläre Panzerung aufgelöst wird, tritt eine der drei biologischen Grunderregungen, wie Reich sie nannte, auf: Angst, Wut oder Lust. Angst entsteht dabei bei zentralem Rückzug von Energie ins Körperinnere, Wut bei Störung des lustbetonten Strömens von Energie nach außen, Lust wird empfunden bei ungestörtem Strömen der Flüssigkeit, ungehinderter Pulsation.

    Wenn die in den Muskeln gebundene Energie frei wird, kann es daher zu kathartischen Erlebnissen kommen mit Erinnerungen aus der Kindheit und erneutem Erleben frühkindlicher Gefühle. In den Therapiestunden werden zunächst die unangenehmen Gefühle wieder auftauchen, wie Angst, Wut und Trauer. Nach Durchleben dieser Gefühle wird jedoch auch die Fähigkeit zu angenehmen Empfindungen wie Freude, Lust und Hingabe steigen.

    __________________________________________________

    [1]Schmidt-Thews S. 115
    [2]Schmidt -Thews S.117
    [3]Lassek ZDN Abs. 3
    [4]Forssmann/ Heym S.189
    [5]Reich Funktion des Orgasmus S.217
    [6]a.a.O. S.224
    [7]Dew J. of Org. 2,No. 2, S.166
    [8]Reich Sexualität und Angst S. 126
    [9]Reich Der Krebs S. 167
    [10]a.a.O. S.169

    Fortsetzung in Bukumatula 5/96

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    Bukumatula 4/1996

    Das Wilhelm Reich Museum in Orgonon

    Wolfram Ratz:

    Im Sommer 1942 war es Jo Jenks gewesen – eine Bildhauerin, die damals bei Reich in Therapie war und deren Arbeiten er sehr bewunderte -, die in Maine eine leer stehende Farm entdeckte, die Reich noch im selben Jahr kaufte, „Orgonon“ nannte und zu seinem wissenschaftlichen Zentrum wurde. Die Farm lag ein paar Meilen westlich vom Dorf Rangeley und wenige Meilen östlich des Mooselookmeguntic Sees. Der Besitz bestand zum Teil aus Wäldern, zum Teil aus Wiesen. Es gab einen Brunnen und eine Quelle; das Land hatte etwa eine halbe Meile Ufer am Dodge Pond. Das Anwesen war 113 Hektar groß und kostete etwa 2000 Dollar.

    Reichs aufwendigstes Gebäude entstand in den Jahren 1948/49: das Observatorium. Es wurde auf einem Hügel erbaut, von wo aus man einen wunderbaren Rundblick auf Berge und Seen hatte. Das Observatorium zeigte Reichs wachsendes Interesse an astro-physikalischen Phänomenen. Da er vorhatte, ein schweres Teleskop daraufzusetzen, wurde das Fundament auf festen Fels gelegt. Das ganze Gebäude wurde mit Feldsteinen erbaut, mit ungefähr einen halben Meter dicken Mauern. Reich war in den eigentlichen Bauprozeß fest eingebunden.

    Er beobachtete täglich den Fortgang und bewunderte die Geschicklichkeit der Arbeiter, besonders der Maurer, die die Naturfelsen verarbeiteten – ihr weitgehend intuitives Wissen, welcher Stein wohin passen würde. Reichs aktive Teilnahme an der Gestaltung des Gebäudes wird deutlich sichtbar in der Auswahl der Materialien, den hohen Räumen, den großen Fenstern und vielen weiteren Details. Da er zum Beispiel plante, hier auch seinen Lebensabend zu verbringen, ließ er die Stufen zum Eingang sehr niedrig bauen, damit „ein Mann mit achtzig Jahren das leicht schaffen kann“.

    Reich finanzierte den Bau aus Eigenmitteln. Das Eintreffen von Rechnungen des Baumeisters versetzte ihn regelmäßig in mehr als moderate Erregung. Seine Frau Ilse Ollendorff-Reich erinnert sich:

    „Während der Bauzeit war jener Tag im Monat, an dem die Rechnung kam, für alle, die 1948 und 1949 im Büro und Laboratorium arbeiteten, eine absolute Seelenqual. Wir versuchten an diesem Tag alle, Reich soweit wie möglich aus dem Wege zu gehen. Er schwenkte die Rechnung in der Hand – besonders in meiner Richtung, da ich die Buchführung besorgte – und schrie etwas über die Extraberechnungen, die kontrolliert werden müßten.

    Ich verbrachte endlose Stunden damit, jedes einzelne Detail der Rechnung und besonders der Extraberechnungen zu kontrollieren. Ich habe das Gefühl, daß die paar Fehler, die ich gelegentlich fand, eine Zeitverschwendung und meiner Bemühungen nicht wert waren, aber bestimmt nicht der unnötigen Aufregungen, die sie Reichs anstrengender Tätigkeit hinzufügten. Aber er war überzeugt, daß dies die einzige Methode war, den Bauunternehmer zu zwingen, sich im Rahmen des Kostenvoranschlags zu halten.“

    Die Widmung Orgonons in ein Museum wurde von Wilhelm Reich testamentarisch festgehalten:

    „During the years following 1949 my life was running its course within and around the walls of the Orgone Energy Observatory. I supervised the building myself for two summers; I paid out upwards of $35.000 from my privately earned possessions for the construction. I have collected here all the pertinent materials such as instruments which served the discovery of the life energy, the documents which were witnesses to the labors of some 30 years and the library of a few thousand volumes, collected painstakingly over the same strech of time and amply used in my researches and writings, the paintings, some 25 of them, small items which I loved and cherished during my lifetime… All of these things … should remain where they are now in order to preserve some of the atmosphere in which the discovery of the life energy has taken place over the decades.“

    Das Orgone Energy Institute wurde 1960 als Museum erstmals öffentlich zugänglich gemacht. Das Gebäude wurde von dem New Yorker Architekten James B. Bell entworfen und von S.A. Collins erbaut. Die Holzkonstruktion auf dem obersten Stock des Gebäudes war – und blieb – eine Interimslösung. Der Betonboden sollte später als Fundament für eine rotierende Kuppel eines 24cm Refraktor-Teleskops dienen. Die Geschehnisse ließen den Erwerb des Teleskops nicht mehr zu, wodurch diese provisorische Konstruktion erhalten blieb.

    Am Boden vor der Eingangstüre findet sich die Inschrift „Orgone Institute“; über dem Eingang ist in Bronze eine Abbildung des Symbols des orgonomischen Funktionalismus. Betritt man das Gebäude und wendet sich im Vorraum nach rechts, findet man sich in einem großen Raum, der als Labor vorgesehen war und auch für Konferenzen diente.

    Er wurde später in einen Wohnraum – mit zweckmäßigen Möbeln und mit einer Wurlitzer-Orgel – umgewandelt. Durch die Fenster, die dem Dodge Pond zugewandt sind, ist Reichs erster erfolgreich eingesetzter Cloudbuster zu sehen. In einem weiteren Raum im Erdgeschoß kann man Instrumente und Apparate sehen, die von Reich in seiner Forschungsarbeit benützt bzw. entwickelt wurden.

    Im ersten Stock befinden sich Reichs Arbeitszimmer, die Bibliothek, das Behandlungszimmer und die Sonnenterrasse. In seinen letzten Lebensjahren errichtete er ein kleines Labor im Vorraum seines Arbeitszimmers. Es ist so erhalten, wie er es verlassen hat.

    Weitere wissenschaftliche Ausrüstungsgegenstände sind im obersten Stock des Gebäudes ausgestellt. Auch Reichs Staffelei; Reich begann das Malen 1951 als Hobby. Seine Bilder hängen überall im Museum. Sie drücken seine Freude an dieser Ausdrucksform aus und sein Interesse an Farben.

    Außen, auf dem Dach, ist ein großer metallener Himmelskörper angebracht, der die verschiedenen astrophysikalischen Koordinaten anzeigt; der Wetterhahn am Schornstein stammt aus Zeiten, in denen in Orgonon noch Scheunen standen.

    Reich selbst ist in Orgonon bestattet. Seine Grabstelle wurde 1961 von Ronald Sargent erbaut und befindet sich in der Nähe des Hauptgebäudes. Sie steht auf einer Felsenbank, von wo man einen schönen Blick auf Hunter Cove und auf die wunderschöne Landschaft ringsum hat. Reichs Büste auf dem Grabstein stammt von Jo Jenks aus dem Jahr 1949.

    Für eine Eintrittsgebühr von 3 Dollar kann das Museum in den Monaten Juli und August von Dienstag bis Sonntag von 13 bis 17 Uhr und im September an Sonntagen von 13 bis 17 Uhr besucht werden. Im angeschlossenen „Bookstore“ gibt es einiges zu erwerben: über fünfzig Buchtitel von bzw. über Reich und seine Arbeit, Zeitschriften, Tonband- und Videokassetten, Fotos, Postkarten und T-Shirts, etc.

    Der Bookstore-Catalogue kann unter folgender Adresse angefordert werden:

    The Wilhelm Reich Museum
    Orgonon
    P.O. Box 687
    Rangeley, Maine 04970
    USA
    Tel.: 001/207/864/3443
    Fax: 001/207/864/2007
    (aus Österreich)

    _______________________

    Quellen:
    Ilse Ollendorff Reich, Wilhelm Reich; Kindler TB2234, 1975
    Myron Sharaf, Wilhelm Reich; Simon u. Leutner, 1994
    The Reich Museum Catalogue

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    Bukumatula 4/1996

    Vegetatives Nervensystem und Energetische Medizin, Teil 1

    Bioenergetische und psychosomatische Ursachen von Gesundheit und Krankheit
    Fortsetzung von Bukumatula 4/96″
    Heike S. Buhl:

    BEISPIELE GESTÖRTER PULSATION

    Im Folgenden möchte ich fünf Krankheitsbilder exemplarisch für viele weitere somatische Krankheiten vorstellen. Ich werde jeweils darauf eingehen, welche Störungen des vegetativen Nervensystems vorliegen, die zu körperlichen Symptomen führen. Dann möchte ich ausführen, welche psychischen Besonderheiten bei Patienten mit diesen Krankheiten be-obachtet werden, welche Ausdrucksbewegung sich in den Symptomen verstecken können und mit welchen Weisheiten der Volksmund uns weiterhelfen kann. Schließlich werde ich auf die Therapie eingehen.

    Manifestiert sich die Biopathie in Form einer umschriebenen Organer-krankung, so stellt sich natürlich die Frage, durch welche Auswahl-kriterien gerade dieses Symptom entstehen konnte. Die Ursache hierfür ist sicher in der Kombination verschiedener auslösender Faktoren zu suchen. Es spielen genetische Elemente, intrauterine Entwicklung, der Grundlevel an energetischer Ladung und die Charakterstruktur mit hinein. Die Charakterstruktur wiederum geht einher mit einer bestimmten Anordnung muskulärer Panzerung und emotionaler Unterdrückung.

    Die Zusammenhänge von Erkrankung, vegetativer Störung und psy-chischer Komponente sind auch in der Schulmedizin bekannt. Die Behandlung besteht dort aber zumeist aus der Gabe von Medikamenten, die entweder das Symptom bekämpfen oder künstlich – und leider nur vorübergehend – auf das vegetative Nervensystem einwirken, ohne die natürliche Pulsation wiederherzustellen.

    Bluthochdruck

    Ursachenforschung

    Der Bluthochdruck ist eine der häufigsten Erkrankungen des Menschen und eine Volkskrankheit in industrialisierten Ländern. Im Alter prozentual zunehmend, wird er meist im Alter von 30-60 Jahren manifest und macht 25% aller Todesfälle der über Vierzigjährigen aus. In den USA ist der Bluthochdruck und seine Folgen Todesursache Nr. 1. Mit Anstieg des mittleren Blutdrucks sinkt die Lebenserwartung eines Menschen eindeutig.

    Laut Definition liegt ein Bluthochdruck bei Blutdruckwerten von über 165 mm Hg syst. und 95 mm Hg diast. vor. (Gemessen wird die Spannung der Herzgefäße während An-/Entspannung des Herzens.) Subjektiv macht der Bluthochdruck meist keine Beschwerden und wird oft zufällig beim Arztbesuch entdeckt. Er ist jedoch der Risikofaktor für Herzkreislauf-erkrankungen – koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Herzinfarkt, Schlaganfall, Hirnblutungen und Arteriosklerose – und kann zu Erblinden und Nierenversagen führen.

    Die Erhöhung der Werte entsteht vor allem durch einen erhöhten Wider-stand der Blutgefäße, gegen den das Herz anpumpen muß (Verengung), oder auch durch eine erhöhte Blutmenge.

    Man unterscheidet zwischen primärem oder essentiellem und sekundärem Hochdruck: dem sekundären Hochdruck liegt eine organische Grunder-krankung – z.B. der Nieren – zugrunde. Der primäre Hochdruck dagegen ist nur definiert als Ausschluß des sekundären Hochdrucks; es gibt also keine eigene, sogenannte „positive“ Krankheitsdefinition.

    Über 90% der Hochdruckkranken leiden an diesem essentiellen Hoch-druck. Man unterscheidet dabei zwischen labilem Hochdruck mit schwankenden Werten und fixiertem oder Dauerhochdruck.

    Da man in der Schulmedizin eben nicht weiß, wie der Bluthochdruck eigentlich entsteht, finden sich eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Ursachenforschung. Man hat sich darauf verständigt, als Ursache des Bluthochdrucks ein multifaktorielles Geschehen anzunehmen. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die diesbezüglichen Ergebnisse:

    • Genetische Faktoren: Es gibt beim Hochdruck eine familiäre Häufung, genetische Faktoren sind aber nicht ausschließliche Krankheitsursache. Z.B. liegt bei eineiigen Zwillingen nur in 50% der Fälle bei beiden ein Bluthochdruck vor.
    • Umwelt: Umweltfaktoren beeinflussen die Entstehung eines Hochdrucks, z.B. gibt es eine Häufung bei Ehepartnern. Man spricht hier von „psychologischer Vererbung“.
    • Ernährung: Es findet sich eine eindeutige Beziehung zwischen Blut-hochdruck und Übergewicht. Mit dem Auftreten besserer Lebensbedin-gungen – und damit dem Ansteigen von Übergewicht – stieg die Zahl der Bluthochdruckkranken nach den Hungerjahren 1944/45 in Deutschland ständig an. Kochsalz als diätetischer Risikofaktor spielt eine unterge-ordnete Rolle.
    • Sozial: Mit steigendem Alter steigt auch der prozentuale Anteil der Hochdruckkranken in der Bevölkerung. Man sah den Blutdruckanstieg im Alter lange Zeit als „normal“ an. Untersuchungen lassen aber vermuten, daß er vor allem auf sozialen Faktoren beruht. Hochdruck ist eine Art „Adaptationskrankheit“ in dem Sinne, daß ein Blutdruckanstieg nur dann im Alter erfolgt, wenn die äußeren Lebensbedingungen sich ändern und der alternde Mensch sich diesen Veränderungen nicht gewachsen fühlt, er seine „ökologische Nische“ verliert.
    • Streß: Bei 80% der gesunden Bevölkerung führt Streß gar nicht zum Auftreten von Bluthochdruck. Bei Hypertonikern kommt es unter Streß dagegen zu stärkeren und länger andauernden Blutdrucksteigerungen als bei Gesunden. Man vermutet daher, daß die bisher genannten Ursachen – sowie emotionale Faktoren, s.u., – die Grundlage für ein Auftreten von Bluthochdruck legen, der dann bei hinzukommendem Streß zum Ausbruch kommt.

    Im Tierreich kommt Bluthochdruck epidemiologisch nicht vor, außer in Experimenten wie Immobilisationsstreß, Elektroschocks; oder z.B. Katzen, die monatelang in einem Käfig Hundegebell ausgesetzt waren. Diese Tierversuche belegen die Streßhypothese.
    Selten findet sich Bluthochdruck z.B. auch bei der schwarzen Bevölkerung in ihren Heimatländern (streßfreieres Leben?); extrem hohe Blutdruck-werte finden sich dagegen bei Schwarzen in den Nordstaaten der USA, nicht jedoch in den Südstaaten.

    Vegetative Regulation

    Es muß unterschieden werden zwischen der chronischen Sympathikotonie oder Biopathie als Grundlage für eine Erkrankung und dem Auftreten des Symptoms selber. Der Bluthochdruck ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Streß entspricht auf der Ebene des vegetativen Nervensystems einer Erregung des Sympathikus, der Körper bereitet sich auf Angriff oder Flucht vor. Bei Ausbleiben der Aktivität kommt es neben chronischer Muskelanspannung u.a. zu chronischer Erhöhung des Gefäßwiderstandes der Arteriolen. Dies entspricht im Reichschen Sinne einer Biopathie, es liegt eine „Bereitschaftshaltung“ vor, die, verbunden mit situativem Streß, zu den erwähnten stärkeren Blutdruckreaktionen als bei Gesunden führen kann. Die Biopathie als Grundlage der Erkrankung ist auch Ursache für die starke Variabilität der Blutdruckschwankungen: in Form von chro-nischem Bluthochdruck, labilem Bluthochdruck, oder Hochdruckkrisen.

    Unter der Oberfläche – dem „Muskelpanzer“ nach Reich – sind die Blut-hochdruckpatienten emotional sehr lebendig. Der Kern des Organismus produziert weiter Energie, er stirbt nicht ab wie beim Krebsprozeß. Die Hochdruckkrise kann man auch wieder als einen Ausbruchsversuch des Organismus aus der Starre verstehen, eine Art Entladung nach innen anstelle ausgelebter Gefühle oder Sexualität.

    Neben neuronalen Faktoren spielen auch Hormone bei der Steigerung des Blutdrucks eine Rolle, z.B. Renin/Angiotensin und Aldosteron.

    In der klassischen Medizin wird der Hochdruck hauptsächlich medika-mentös behandelt. Man gibt ß-Blocker, zentral wirkende Sympatholytika (blockieren den Sympathikus), Saluretika (senken das Blutvolumen) und Vasodilatatoren (stellen die Gefäße weit). Die Mitarbeit des Patienten an der medikamentösen Therapie ist oft unbefriedigend, da er ja subjektiv keine Beschwerden spürt. Die medikamentöse Behandlung ist auch wegen der Instabilität des Druckes schwierig. Das Medikament soll bei Blut-druckanstieg wirkungsvoll greifen, aber bei normalem Druck diesen nicht weiter senken.

    Neben den Medikamenten werden Streßreduktion, Sport, Diät (v.a. bei Übergewicht), Abstinenz von Zigaretten, Alkohol, Kaffee und Tee verordnet. Entspannende und psychotherapeutische Ansätze sind auf dem Vormarsch.

    Psychische Komponente

    Bluthochdruck findet sich bei ganz verschiedenen Persönlichkeits-strukturen. Diese haben jedoch ein gemeinsames Charakteristikum: ihre Unfähigkeit, aggressive Gefühle frei zum Ausdruck zu bringen. In der Kindheit wurde die Rebellion gegen die Eltern chronisch unterdrückt und eine starke Fügsamkeit entwickelte sich. Besondere Bedeutung haben in diesem Fall die Schuldgefühle wegen der aggressiven Gefühle und das Problem des Akzeptiertseins trotz aggressiver Wünsche. Die gehemmte Wut kann sich in explosionsartigen Durchbrüchen Luft machen. Oft aber sind die Bluthochdruckkranken nach außen eher „übernormal“, äußerlich stark angepaßt, beherrscht, aktiv, gewissenhaft, fleißig, zuverlässig, freundlich und ehrlich. Dahinter sind sie sensibel, verletzlich, abhängig und unausgeglichen. Nach außen eher „Friedensstifter“, verbirgt sich dahinter die Bereitschaft zu Streit und Krieg. Sie zeigen und spüren häufig auch keine Angst. Man spricht von einer „Fassadenstruktur“.

    Bluthochdruckkranke haben ein besonderes Leistungsstreben mit un-realistisch hohem Anspruchsniveau, sie wollen „hoch hinaus“ und stehen unter „starkem Druck“. Leistung wird häufig als Pflicht oder Mittel zur Erlangung von Anerkennung gesehen. Hochdruck entwickelt sich auch oft als Folge von „Revierkonflikten“.

    Der Hochdruck wird weniger durch seltene heftige Belastungen ausgelöst, als durch alltägliche, wiederkehrende Anforderungen, Sorgen, Nöte, Ängste und Konflikte.

    Therapie

    Bei Bluthochdruckpatienten findet sich ganz generell eine Verlagerung der Energie in die oberen Körpersegmente als Folge von Blockierungen der psychosexuellen Energie. Wir finden muskuläre Panzerungen in der Brust in Form einer fixierten Einatmungshaltung und flacher Atmung, die Brust ist wenig beweglich. Dies dient der Unterdrückung von „brüllender Wut, herzhaftem Weinen, Schluchzen, herzzerreißender Sehnsucht“.[7] An Stelle dieser Gefühle empfindet der Patient oft Härte und Unnahbarkeit. Das Brustsegement wird in der Therapie durch Vertiefung der Atmung mobilisiert, ebenso durch direkte Bearbeitung der Zwischenrippenmuskeln.

    Durch Verspannungen im Halsbereich kann den Gefühlen „keine Stimme gegeben“ werden, Gefühle werden hinuntergeschluckt. Die Enge im Hals verhindert eine Überflutung des Kopfes mit Energie. Stimmübungen, Massage und vorsichtige Auslösung des Würgreflexes helfen diesen Bereich zu lockern.

    Blockierungen im Bereich von Bauch, Zwerchfell, Becken stellen einen Schutz vor sexuellen Gefühlen dar, ebenso vor weichen Gefühlen der Hingabe. Diese verkehren sich im subjektiven Empfinden des Patienten in Wut.

    In der Therapie arbeitet man sich von den Verspannungen in Kinn und Kehle zu der essentiellen Blockade in der Brust vor. Die blockierten Gefühle von Wut, Schmerz und Sehnsucht werden dabei wieder-empfunden. Später schließt sich die Arbeit am Becken an, wobei die Angst vor Hingabe stärker in den Vordergrund tritt.

    Glaukom

    Vegetative Regulation

    Unter dem Begriff Glaukom, auch „grüner Star“ genannt, werden verschiedene Krankheitsbilder zusammengefaßt, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß der Augeninnendruck erhöht ist. Dieser ist normalerweise konstant, da die Flüssigkeit im Augeninneren, das „Kammerwasser“, kontinuierlich gebildet und abgeführt wird. Der Abflußweg wird durch die Pupillenweite beeinflußt: bei weiter Pupille ist er behindert, es kann zu einem Stau der Flüssigkeit kommen, der Augeninnendruck erhöht sich und es kann zu Sehstörungen bis zu schmerzhaften Glaukomanfällen mit Gefahr der Erblindung kommen. Bei enger Pupille hingegen weitet sich der Abflußweg für das Kammerwasser und der Augeninnendruck wird gesenkt.

    In der Schulmedizin gibt man bei Vorliegen eines Glaukoms ein Mittel, das die Wirkung des Parasympathikus am Auge imitiert und die Pupillen verengt. Dies ist eine rein symptomatische Therapie. Das Medikament muß mehrmals täglich angewendet werden und kann ein Fortschreiten der Krankheit nicht immer verhindern.

    Ich führe dieses Krankheitsbild hier auf – obwohl es keine allzuweite Verbreitung hat -, weil man an ihm so klar die Ursache in Form einer rein vegetativen sympathikotonen Störung darstellen kann. Die Pupillenweite wird, wie wir vorhin gesehen haben, vom vegetativen Nervensystem gesteuert: ein überwiegender Parasympathikustonus verengt, ein über-wiegender Sympathikustonus erweitert die Pupille. Wir haben hier also ein Krankheitsbild vor uns, das durch eine rein sympathikotone Überfunktion ausgelöst wird.

    Psychische Komponente

    Navarro, Neuropsychiater und Reichianischer Therapeut, beschreibt die Patienten mit erhöhtem Augeninnendruck als „Menschen, die eine – mit einer tiefen Depression verbundene – Aggressivität verbergen… Die Per-sonen fühlen sich gezwungen, die Augen weit offen zu halten, um der Realität gewärtig zu bleiben und blockieren ihre Emotionen auf dieser Stufe“.[11]

    In verschiedenen psychosomatischen Studien wurde bei Glaukompatienten die Tendenz zu Starre in der Lebenshaltung, Unversöhnlichkeit und Verletztheit, sowie ein Hang zu Zwanghaftigkeit festgestellt. Frustrierende und belastende Lebenssituationen bringen die Krankheit zum Ausbruch. Psychische Erregung führte direkt zu einer Erhöhung des Augeninnen-drucks: ein Patient, der auf dem Weg zum Augenarzt eine Katze überfuhr, zeigte in der Aufzeichnung seines Augendruck-Tagesprofils einen sofortigen deutlichen Druckanstieg.[12]

    Meine Erfahrung mit Glaukompatienten ist in meiner Praxis über-einstimmend mit dem Konzept der Biopathie: die Krankheit kommt zwar nur am Auge in Form eines klinischen Symptoms zum Ausdruck. Zugrunde liegt aber eine sympathikotone Störung des Gesamtorganismus. Daraus folgt, daß diese Patienten nicht nur einen erhöhten Augen-innendruck haben, dieser stellt sozusagen nur die Spitze des Eisbergs dar. Vielmehr stellt man bei diesen Patienten häufig fest, daß sie in ihrem gesamten Wesen „unter Druck“ stehen und ihnen die Fähigkeit zu Entspannung und Ruhe weitgehend fehlt. Sie sind stark außenorientiert und „re-agieren“ vorwiegend auf ihre Umgebung.

    Therapie

    Ziel der Therapie ist es, die zugrundeliegende Sympathikotonie des Auges aufzuheben. Wie wir gesehen haben, ist das Glaukom zunächst auf eine eingeschränkte Flexibilität in der Pupillenweite zurückführen. Diese kann nun ganz direkt angeregt werden, indem man einen Gegenstand, z.B. ein Licht oder einen Bleistift in wechselndem Abstand vor dem Auge auf und ab bewegt. Die Pupille muß sich bei der Nah- und Ferneinstellung des Auges etwas öffnen und schließen. Auch direkte Lichtreize auf das Auge führen zur Pupillenverengung.

    Man beschränkt sich in der Körpertherapie aber nicht auf die direkte Symptombearbeitung, sondern aktiviert zunächst das ganze Augen-segment, denn „die vegetative Körperfunktion hält sich nicht an die anatomischen Abgrenzungen, die wir künstlich herbeiführen“.[13] Die Auflösung des „Augenpanzers“ kann dadurch erreicht werden, daß man die Augenbewegungen aktiviert – z.B. Augenrollen -, den Patienten beim Einatmen die Augen weit aufreißen läßt wie im Schreck oder die Stirn und die Augenbrauen bewegen läßt. Der Gesamtausdruck der Augenpartie und später des ganzen Gesichts sollte besonders beachtet und bearbeitet werden – so kann der Patient aufgefordert werden, „mißtrauisch“ nach rechts und links zu schauen. Zur Arbeit am Augensegment gehört auch die Bearbeitung von Muskelverspannungen am Übergang vom Schädel in den Nacken (Occipitalrand), die bei Augenblockierungen regelmäßig vorliegen.

    Inzwischen sind gerade zum Augensegment eine Menge von Techniken entwickelt worden, die vor allem bei der Behandlung von Kurz- und Weitsichtigkeit eine Rolle spielen. Die Einzelheiten hierzu können in den entsprechenden „Augenübungsbüchern“ nachgelesen werden.

    Neben der intensiven Bearbeitung des Augensegmentes wird natürlich auch die Bearbeitung der chronischen Sympathikotonie des Gesamtorga-nismus Teil der Therapie sein. Dies bedeutet, den inneren Druck abbauen zu lernen und die Tendenz, „die Augen offen zu halten“, durch ein „nach Innen schauen“ zu ergänzen. Der Patient lernt, mehr zu sich zu finden, „aus sich heraus“ zu leben und zu fühlen an Stelle von außengeleitetem Handeln.

    Entsprechend der Charakterstruktur, die wir bei Glaukompatienten als Ergebnis klinischer Studien fanden, werden wir in der Therapie mit dem Wiedererleben unterdrückter Gefühle rechnen. Angst vor Reaktionen der Außenwelt, Kontrollbedürfnis, unterdrückter Ärger angesichts frust-rierender Ereignisse oder extremer Belastung, Schmerz über zugefügte Verletzungen sind dafür einige Beispiele.

    Nacken-, Schulter- und Rückenschmerzen

    Vegetative Regulation

    Auf der Ebene der einzelnen Körpersegmente nach Reich kann sich ein erhöhter Sympathikustonus in Form einer chronisch erhöhten Muskel-spannung der Skelettmuskeln bemerkbar machen. Der Mensch ist prinzipiell genauso segmental gegliedert wie ein Regenwurm. Auch Reich sprach von segmentaler Gliederung des Körpers und unterteilte den Körper in sieben Segmente. Im Folgenden beziehen wir uns jedoch auf die Segmente des Nervensystems, die nicht mit den von Reich gefundenen identisch sind.

    Zu jedem dieser Segmente gehören bestimmte Hautzonen, Muskeln, Organe und Knochen. Ein Segment wird jeweils von einem Rücken-marksnervenpaar versorgt; sowohl hinsichtlich der Motorik und Sensibilität, als auch hinsichtlich der vegetativen Funktion. Die Gewebe-teile sind durch ihre Innervation auf der Ebene des Rückenmarks „zusammengeschaltet“, sie können sich daher gegenseitig beeinflussen. Auf Grund dieser engen Verschaltungen wirkt die vegetative Ausgangslage reflektorisch auf die Basis-Muskelspannung ein. „Die Verkrampfung der Muskulatur ist die körperliche Seite des Verdrängungsvorganges und die Grundlage seiner dauernden Erhaltung. Es sind nie einzelne Muskeln, die in Spannung geraten, sondern Muskelkomplexe, die zu einer vegetativen Funktionseinheit gehören.“[16]

    Gesunde Muskeln haben einen guten Spannungszustand, d.h., sie sind weder schlaff noch verkrampft. Die Haut über diesen Muskeln ist warm und rosig, die Gelenke sind frei beweglich, die Bewegungen weich und fließend. Bei den meisten von uns liegen nun gerade im Schulter- und Nackenbereich ständige Verspannungen vor. Die Muskeln sind hart, die Haut kalt, die Gelenke knacken bei Bewegungen und in den Muskeln sind teilweise harte Knötchen, sog. Myogelosen, eingelagert. Auch im Bereich des Rückens liegen – vor allem im Bereich der Lendenwirbelsäule – oft Muskelverspannungen vor. Das subjektive Empfinden kann dabei von dem Gefühl der Unbeweglichkeit in diesem Bereich über schmerzhafte Anspannung bis zum sogenannten „Hexenschuß“ gehen.

    Schulmedizinisch ist die Entstehung von Muskelverspannungen nicht endgültig geklärt, sie werden mehr als „gegeben“ hingenommen. Von Orthopäden wird oft eine mechanische Schädigung der Wirbelsäule vorausgesetzt. Im Gegensatz dazu stimmt das Röntgenbild der Wirbelsäule oft nicht mit der Intensität der Schmerzen überein. Auch unterliegen die Schmerzen deutlichen Schwankungen, während die Veränderungen der Wirbelsäule konstant bleiben. Es liegt daher die Vermutung nahe, daß die Intensität der Schmerzen über psycho-vegetative Prozesse zumindest mitbestimmt werden.[18]

    Es ist bekannt, daß Entspannung, Wärme und Massagen die Verspannungen teilweise auflösen und Beschwerden vorübergehend lindern, aber leider nicht auf Dauer auflösen. Die Behandlung ist daher nicht kausal. Nur eine tiefere Umstimmung der vegetativen Ausgangslage kann die chronischen Muskelblockaden lösen.

    Wenn wir das Konzept des chronischen Sympathikustonus zugrunde legen, können wir sehen, wie über äußeren Streß der Körper in Kampf- bzw. Fluchtbereitschaft versetzt wird. Dazu gehört auch, die Muskeln vorbereitend anzuspannen. Wenn nun die geplante Aktivität ausbleibt, der äußere Streß aber bestehen bleibt, dann bleiben die Muskeln chronisch in dieser Anspannung. Ein weiteres Beispiel hierfür sind auch Verspannungen, die in der Kindheit entstehen, wenn Wutanfälle des Kindes durch Schläge der Eltern chronisch unterbunden werden: der ursprüng-liche Impuls zu schlagen gelangt in die Schultermuskeln, diese spannen sich an, gleichzeitig stoppt ein Gegenimpuls die Bewegung (da „zu ge-fährlich“), so daß nun Impuls und Gegenimpuls sozusagen „im Muskel steckenbleiben“, manchmal ein Leben lang.

    Je nach Intensität der Belastung können die Verspannungen durch Druck auf Nervenbahnen zu starken ausstrahlenden Schmerzen führen. Bei  Kopfschmerzproblematik habe ich in meiner Praxis immer starke Verspannungen im Nackenbereich vorgefunden. Es kann auch zum Auftreten eines Schulter-Arm-Syndroms, Halswirbelsäulen- oder Lendenwirbel-säulensyndroms kommen. Diese können durch mechanische Belastung der Muskeln mit ausgelöst oder verstärkt werden (Schreibmaschine schreiben, Stricken, Klavierspielen, Heben schwerer Gegenstände).

    Psychische Komponente

    Schauen wir uns nun die psychischen Komponenten an, die sich in den verspannten Muskeln des Nackens, der Schultern und des Rückens ausdrücken können.

    Im Volksmund spricht man bei einem steifen Nacken von „Hart-näckigkeit“. Der Nacken wird hier Symbol für starken Willenseinsatz und Machtstreben. Auch Wut und Trotz werden in den Nacken- und seitlichen Halsmuskeln zurückgehalten. Ein weiterer Aspekt ist die Angst, die auch sprichwörtlich im Nacken sitzen kann. Die Blockierung des Nackens unterbricht weiterhin den Energiefluß und damit die Verbindung zwischen Kopf und Körper, zwischen Intellekt und Gefühlen. Menschen mit starken Nackenverspannungen sind daher oft sehr rational orientiert mit generellen Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu zeigen.

    Verspannungen in den Schultern können verschiedene Gefühlskompo-nenten enthalten. Hochgezogene Schultern deuten eher auf ängstlichen Ausdruck, heruntergezogene auf allgemeine Gefühlsunterdrückung hin. Nach vorne gezogene Schultern verdecken die empfindliche vordere Körperhälfte und verstecken bei Frauen die Brust. Häufig werden in den Schultermuskeln Schlagebewegungen festgehalten. Spannungen im Be-reich zwischen den Schulterblättern treten häufig bei zurückgehaltenem Weinen auf, vermutlich in Verbindung mit dem Wunsch, die Arme sehnsuchtsvoll nach jemand oder etwas auszustrecken.

    Der englische Ausdruck „holding back“ für einen schmerzenden Rücken beschreibt in seiner Doppelbedeutung gut den Zusammenhang zwischen dem muskulären „Halten im Rücken“ und der „Zurückhaltung“ im emotionalen Bereich. Eine starre Wirbelsäule kann ein Anzeichen für geistige Starrheit und mangelnde Flexibilität sein. Sie spiegelt eine innere Haltung wieder, in der „Rückgrat“ gezeigt werden muß. Häufig werden im unteren Rückenbereich Aggressionen unterdrückt, vor allem in Form von Treten. Der Rücken steht aber auch für Unterstützung im Leben: wenn der nötige „Rückhalt“ fehlt, kommt es zu Rückenschmerzen. Angst vor Weichheit und Hingabe führen zu Verspannungen im Lendenwirbel-bereich: das Hohlkreuz vermindert die Beweglichkeit des Beckens und damit das Empfinden von sexueller Lust.

    Therapie

    Die Muskeln im Nackenbereich kann man dabei durch Massage gut erreichen. Das Drücken der Muskelansatzpunkte (Points and Positions) ist problemlos möglich. Willkürliche Anspannung, Druck des Kopfes gegen die Matratze nach hinten oder Verstärken der Anspannung mit dem Ausdruck des Trotzes sind möglich. Der Ausdruck der Kopfhaltung kann übertrieben werden wie z.B. „im Nacken gegriffen werden“ (Angst im Nacken) oder die sog. „Märtyrerposition“, bei der der Kopf in den Nacken gelegt wird. Bewegung des Nackens wie beim „Nein“ oder Nackenstrecken sind weitere Mobilisationstechniken.

    Auch bei dieser Arbeit sollte der Patient die angespannten Muskeln und unterdrückten Impulse bewußt spüren und den festgehaltenen Gefühls- und Bewegungsausdruck zuzulassen lernen: Angst, Trotz, Hartnäckigkeit, Wut und Weinen können auftauchen.

    Ähnlich verfährt man im Schulter-Arm-Bereich. Zusätzlich zu den passiven Techniken ist die Mobilisierung der Schultergürtelmuskulatur durch Schlagen mit den Armen, Greifen der Hände, Ausgreifen mit den Armen usw. möglich. Dabei kann unwillkürlich der Gefühlsausdruck von Wut oder Sehnsucht hervorbrechen.

    Im Bereich des unteren Rückens werden ebenfalls neben Massage und Druck auf Muskelansatzpunkte aktive Anspannungs- und Entspannungs-übungen durchgeführt. Außerdem kann in diesem Bereich die Muskulatur gut durch kräftiges Treten mit den Beinen auf die Matratze aktiviert werden. Gefühle von Wut, aber auch von Weichheit und Lust können dabei auftreten. Auch hier lösen sich die chronischen Verspannungen im Lauf der Arbeit auf und werden von Strömungsempfindungen in Becken und Beinen abgelöst.

    Bei all den genannten Mobilisierungstechniken im Nacken-, Schulter- und Rückenbereich wird durch die Aktivierung der Muskeln die vegetative Pulsation wieder angeregt: die Muskeln entspannen sich, werden wieder schmerzfrei und warm durchblutet, Strömungsempfindungen treten auf, lustvolle Gefühle werden verstärkt erlebt. Dabei kann es auch zu einem völlig veränderten Empfinden von Armen und Beinen kommen mit der Folge, daß jahrelange Beschwerden wegen kalter Finger oder Zehen dem Gefühl von warmen Händen und Füßen weichen.

    Asthma bronchiale

    Vegetative Regulation

    Unter Asthma versteht man eine anfallsweise auftretende Atemnot mit erschwerter Ausatmung, oft verbunden mit pfeifender Atmung, Husten und Auswurf. Dem Asthmaanfall liegt ein multifaktorielles Geschehen zugrunde. Auslöser ist oft eine überschießende Reaktion auf allergische Stoffe, aber auch ohne diese kann es zum Anfall kommen. Dieser geht oft, aber nicht immer, einher mit Veränderung und Schwellung der Lungenschleimhaut sowie vermehrter Schleimsekretion in den Atem-wegen. Entscheidend ist jedoch die chronische Verengung der kleinen Bronchien durch eine Kontraktion der glatten Muskulatur in den Lungen. Wie wir bereits gesehen haben, führt die Erregung des Sympathikus bei der Einatmung zu einer Erweiterung der Bronchien durch Erschlaffen der glatten Bronchialmuskulatur, während der Parasympathikus während der Ausatmung zur Verengung dieser Muskulatur führt. Im gesunden Zustand wird dadurch die Ausatmung unterstützt. Bei einer Fehlregulation im vegetativen Nervensystem kommt es jedoch chronisch zu einer zu starken Anspannung der Bronchialmuskulatur durch zugrundeliegenden chro-nischen Parasymapthikustonus.

    Neuere klinische Untersuchungen belegen, daß eine chronische Ent-zündung der Lungenschleimhaut den Nährboden für die Entstehung des Asthmas bildet. In der Behandlung werden daher zunehmend entzün-dungshemmende Medikamente mit eingesetzt.

    Robert A. Dew führt das Asthma darauf zurück, daß zunächst eine muskuläre Panzerung im Brustbereich, eine Kontraktion im Sinne eines chronischen Sympathikustonus, zugrunde liegt, die aufgrund von äußerem oder innerem Streß entstanden ist. Diese führt bei weiterer Erhöhung des Stresses zu einem Umschlag in chronischen Parasympathikustonus und damit zur Auslösung eines Asthmaanfalls. Er interpretiert diesen Umschlag als Versuch des Organismus, sich aus der chronischen Kon-traktion zu befreien. Das Zurückhalten von Affekten durch die muskuläre Panzerung im Brustbereich führt seiner Meinung nach zu diesem para-sympathischen „Ausbruch“.

    Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht, daß das Asthma häufig erst in der Ruhephase (Parasympathikus) nach äußerem Streß, z.B. sportlicher Betätigung (Sympathikus), entsteht. Auch wissen Krankenschwestern zu berichten, daß der Asthmaanfall bei Beruhigung der Patienten (Parasympathikus) nachläßt. Hier bewirkt also eine Erhöhung des Sym-pathikustonus des Gesamtorganismus bis über den fiktiven „Wendepunkt“ hinaus ein Umschlagen der Funktionsweise des vegetativen Nervensystems am Organ Lunge in sein Gegenteil, den chronischen Parasympathikus-tonus.

    Abb. 4: Oszillation zwischen Sympathikus und Parasympathikus

    Abb. 4: Oszillation zwischen Sympathikus und Parasympathikus

    Klinisch läßt sich derzeit nicht klären, ob es sich beim Asthmaanfall, wie geschildert, um ein primär sympathisches und erst sekundär parasym-pathisches Geschehen oder um einen primären chronischen para-sympathikotonen Zustand handelt. Auf jeden Fall können wir sagen, daß es sich beim Asthma um eine eingeschränkte Pulsation des Organismus handelt, die sich vor allem im Brustbereich in Form der Symptome einer chronischen Parasympathikotonie bemerkbar macht.[22]

    In der schulmedizinischen Behandlung steht vor allem die Beratung des Asthmatikers bezüglich der Wahl und Anwendung der Medikamente im Vordergrund. Man empfiehlt zunehmend entzündungshemmende Medika-mente (Corticosteroide), um der Entstehung des Asthmas vorzubeugen. Im akuten Asthmaanfall wird ein Medikament gegeben, das die Wirkung des Sympathikus an der Lunge imitiert und damit die Parasympathikotonie auflöst. Auch hier geht die Behandlung nicht über eine rein symptomatische Therapie hinaus.

    Psychische Komponente

    Die Bedeutung der psychischen Elemente bei der Entstehung und Auslösung des Asthmas werden in der Literatur unterschiedlich eingeschätzt, sie spielen aber vermutlich eine entscheidende Rolle. Selbst berufsbedingtes Asthma manifestiert sich häufig erst bei zusätzlichem Auftreten besonderer psychisch belastender Elemente. Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen über die experimentelle Aus-lösung von Asthmaanfällen: 16 von 18 Versuchspersonen konnten inner-halb kürzester Zeit einen Asthmaanfall erlernen.[19] Danach würde es sich beim Asthma um eine rein funktionelle Atemstörung handeln.

    Die Charakterstruktur des Asthmatikers beinhaltet eine besondere Ge-ruchsempfindlichkeit, sowie eine verringerte Toleranz gegenüber Schmutz und Unsauberkeit der Außenwelt, aber auch gegenüber schmutzigem und unsauberem Verhalten von Menschen. Der Protest gegen diese unkorrekte Welt äußert sich im Asthmaanfall. Asthmatiker haben große Sehnsucht nach Liebe und Umsorgtsein, können sich aber schwer fallenlassen. Aggressionen werden intensiv erlebt, können aber nur schwer geäußert werden: sie können ihrem Ärger „keine Luft machen“. Die Ambivalenz zwischen Sehnsucht nach Nähe und Aggressivität wurde als „unterdrückter Schrei nach der Mutter“,[20] aber auch als „Schrei gegen die Mutter“[21] interpretiert. Dem Wunsch nach Verschmelzung mit dem mütterlichen Objekt steht die Angst, dadurch die eigene Individualität zu verlieren, entgegen. Dem Asthmakranken fällt es schwer, die Balance zwischen Nähe und Abstand zu wahren.

    Dew und Baker beschreiben die Charakterstruktur des Asthmatikers als nach außen ruhig, oberflächlich ängstlich; dahinter findet sich Wut und darunter schließlich tiefe Angst. Nach Dews Ansicht dient der „Brustpanzer“ neben der Unterdrückung dieser Affekte auch dazu, Erregung in der oberen Körperhälfte zu halten, die ansonsten in Becken und Genitale fließen würden und dort sexuelle Gefühle auslösen könnten.[14]

    Aus den Ausdrücken des Volksmundes könnte man auf einen erhöhten Dominanzanspruch des Asthmatikers schließen, der sich in „Aufge-blasenheit“ und „Sich-Brüsten“ bemerkbar macht, sowie auf unterdrückte Aggressionen – jemand „etwas husten“ oder „vor Wut nach Luft schnappen“.

    Therapie

    Die verstärkte Einatmungshaltung des Brustkorbes wird durch chronisch angespannte Muskeln, v.a. Zwischenrippen-, Rücken-, Delta- und Zwerch-fellmuskel, fixiert. Der energetische Fluß im Körper ist unterbrochen, die Energie wird im Brustkorb festgehalten. Dies wird unterstützt durch Muskelverspannungen in den Nachbarsegmenten: meist liegen starke Verspannungen in der Kehle, im Kinn- und Nackenbereich einerseits und im Zwerchfellbereich andererseits vor. Die Arme und Hände sind oft eher energetisch unterladen und können ihrer „natürlichen Funktionsfähigkeit in Form von Greifen, Geben und Nehmen“[15] nicht angemessen nachkommen.

    Um die zugrundeliegende Atemstörung des Asthmatikers zu beheben, können wir zunächst die muskulären Blockaden im Brustsegment lösen und mittels Points and Positions-Technik, An- und Entspannungstechniken sowie Unterstützung der Ausatmung dessen Beweglichkeit wieder erhöhen. Wenn die die Brust umgebenden Verspannungen dabei nicht beachtet werden, kann dies jedoch zu einem verstärkten Angstgefühl und zur Auslösung eines Anfalls führen. Es ist daher von großer Wichtigkeit, die umliegenden Verspannungen, v.a. im Hals- und Zwerchfellbereich, mit in die Arbeit einzubeziehen.

    Im Folgenden gehe ich nur kurz auf ein paar mögliche Techniken ein, die dazu benutzt werden können, die dem Asthma zugrundeliegenden Muskelverspannungen weiter zu lösen. Es kann dadurch leicht der Eindruck entstehen, es handle sich um eine rein „mechanische“ Arbeit. Die strukturelle Arbeit an den einzelnen Körpersegmenten ist aber nie das Ziel an sich, sondern dient dazu, den Energiefluß, also die vegetative Pulsation des Gesamtorganismus wieder anzuregen. Dies ist oft mit dem Erleben und Ausdrücken tiefer Emotionen von Seiten des Patienten verbunden, die er zuvor durch die Muskelanspannung zurückhalten konnte. Strukturelle Arbeit an Muskelverspannungen der einzelnen Segmente und funktionelle Arbeit im Sinne der Unterstützung des Wiedererlebens zuvor unterdrückter Gefühle gehen daher Hand in Hand. Beiden liegt die Arbeit an der vegetativen Pulsation zugrunde, und sie werden nur aufgrund der besseren Übersichtlichkeit getrennt dargestellt.

    Auf der emotionalen Seite stehen zu Beginn der Therapie oberflächliche Ängstlichkeit und die Angst vor der Wut, vor allem in Form von Schuld-gefühlen, im Vordergrund. Diese machen sich auch im Gesichtsausdruck bemerkbar. Sie können dadurch angesprochen werden, daß der Patient aufgefordert wird, diesen Gesichtsausdruck zu verstärken, insbesondere Augen und Mund wie im Schreck zu öffnen. Im Bereich von Kinn und Nacken unterstützen „Zähne zusammenbeißen“ und „Hartnäckigkeit“ den Patienten in seinem Bemühen, unangenehme Gefühle zu unterdrücken. Um die Kinnverspannungen rein mechanisch zu lockern, kann der Thera-peut neben direkter Bearbeitung der Kaumuskeln den Patienten zu Beißübungen auffordern (z.B. mittels Beißring oder Handtuch). Für den Nacken kommen wieder direkte Bearbeitung der Muskeln, An- und Entspannung und Kopfrollen wie beim „Neinsagen“ zur Anwendung. Die Lösung der Nacken- und Kinnverspannungen führt oft spontan zu Gefühlen von Wut und Ärger, der Patient lernt im übertragenen Sinne besser „zuzubeißen“, oder er wird eine Zeitlang „bissiger“ im Umgang mit anderen Menschen. Um die Kehle öffnen zu helfen, werden mit dem Patienten Stimmübungen gemacht. Die Verspannungen im Schulter- und Armbereich werden durch Schlage- oder Greifübungen, Massage, An- und Entspannungstechniken gelockert. Die verstärkte Pulsation im Mund- und Halsbereich macht sich dem Patienten dadurch bemerkbar, daß er seinen Gefühlen, auch seinem Ärger, mehr „Luft macht“. Nach der bereits geschilderten Arbeit im Brustsegment kann das Zwerchfell durch direkte Massage des Zwerchfellansatzes an den Rippenbögen, Auslösen des Würgreflexes und Atemtechniken gelockert werden. Dadurch kann die Energie vermehrt vom oberen Körperteil in den Beckenbereich strömen.

    Wenn die vertiefte Ausatmung damit verbunden wird, den Patienten mit geöffnetem Kinn und Augen seine Stimme benutzen zu lassen, und er dabei mit den Armen schlägt oder ausgreift, wird er nach einiger Zeit spontan den bisher unterdrückten „Schrei nach der Mutter“, respektive „gegen die Mutter“ ausdrücken und dabei entweder seine Wut oder seine tiefe Sehnsucht empfinden. Wenn ihm dies nach einiger Zeit ohne Schuldgefühle gelingt, empfindet er das als große Erleichterung. Die Zahl der Asthmaanfälle hat sich zu diesem Zeitpunkt meist bereits stark vermindert, denn die vegetative Pulsation im Brustsegment ist durch die geschilderten Vorgänge wieder soweit angeregt worden, daß es nicht mehr zu einer so starken chronischen Erregung des Sympathikus mit Umschlag in den chronischen Parasympathikus kommen kann.

    Durch die Arbeit am Zwerchfell und dem vermehrten Energiestrom in den Beckenbereich wird der Patient mit seinen Schwierigkeiten, Lust zu empfinden, konfrontiert. Die dabei auftauchenden Lustgefühle aktivieren tiefe Ängste des Patienten vor Hingabe und können erneut Asthmaanfälle auslösen. Hier wird auch wieder die Ambivalenz des Asthmatikers deutlich, einerseits „Verschmelzung“ zu suchen, andererseits die Angst davor, in der Verschmelzung die Individualität zu verlieren. Ziel ist es, die Balance zwischen Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Freiheit zu finden, und die Gestaltung des Lebens selbst in die Hand zu nehmen.

    Reich beschrieb diesen Mechanismus an Hand der Fallbeschreibung einer Klientin mit schwerem Asthma bronchiale. „Das Asthma verschwand mit jedem Fortschritt der Vaginalerregung und kam wieder mit jedem Rückzug der Erregung auf die Atemorgane“.[10] Mit dem Zulassen der lustvollen Erregung im Beckenbereich verlagert sich das Gefühl des „Körperschwer-punktes“ in der Therapie. Die Energie wird nicht mehr in Form einer Überladung in der oberen Körperhälfte gehalten, die dort zu einer Pulsationsstörung führt, sondern sammelt sich mehr im tatsächlichen „Zentrum“ des Körpers unterhalb des Nabels. Dies geht einher mit dem subjektiven Gefühl größerer Ruhe und Ausgeglichenheit, vermehrter Lebenslust und sexueller Empfindungsfähigkeit sowie auf der Ebene des vegetativen Nervensystems mit ungestörter Pulsation des Gesamtorga-nismus bis zum Auftreten des von Reich geschilderten Orgasmusreflexes.

    Magen- und Darmulcus

    Vegetative Reaktionen

    Wir wenden uns nun einem anderen Komplex somatischer Störungen zu, der klinisch gut auf eine Störung der Funktionsweise des vegetativen Nervensystems zurückzuführen ist. Es handelt sich dabei um Erkran-kungen des Magens und Duodenums (Zwölffingerdarm), insbesondere dem Komplex des dort vorkommenden Ulcus oder Geschwürs. Auch beim Ulcus begegnen wir wieder, wie bei den Rückenschmerzen, dem Phänomen, daß der körperliche Befund und das subjektive Empfinden durchaus ausein-anderfallen können. Vor allem bei älteren Patienten muß das Geschwür keine Schmerzen verursachen; typische Ulcusschmerzen können aber auch bei Patienten ohne Geschwür auftreten.[8]

    Beim Magen- oder Darmulcus handelt es sich um einen mit Narbenbildung einhergehenden Schleimhautdefekt, der neben Schmerzen zu Blutungen und Durchbrüchen der Magen- bzw. Darmwand führen kann. Die Ge-schwürsbildung hängt eng zusammen mit der Produktion bzw. Über-produktion von Magensäure u.a. Verdauungsenzymen, sowie Störungen in der Magen-Darm-Beweglichkeit und der Durchblutung der Schleimhäute. Die Schleimhaut schützt den Magen vor Selbstverdauung durch den Magensaft. Wenn zuviel Magensäure produziert wird oder die Magen-schleimhaut mangelhaft durchblutet wird, ist dieser Schutz nicht mehr ausreichend.

    In der letzten Zeit ist vermehrt von der Verursachung von Magenge-schwüren durch ein Bakterium, dem sog. Helicobacter pylori, die Rede. Da allerdings auch weiterhin Geschwüre ohne bakterielle Besiedlung zu finden sind, andererseits z.B. in Irland 80% der Bevölkerung Träger dieses Bakteriums sind, von denen die meisten keine Geschwüre haben, deutet dies eher auf eine multifaktorielle Genese der Erkrankung hin: Bakterien können mit beteiligt sein, sind aber sicher nicht die alleinige Ursache.

    Die vermehrte Produktion von Magensäure wird auf Seiten des vegetativen Nervensystems ebenso vom Parasympathikus aktiviert wie dieser auch die Beweglichkeit des Magen-Darm-Traktes insgesamt aktiviert. Die Vermin-derung der Magendurchblutung ist hingegen auf eine verstärkte Aktivität des Sympathikus zurückzuführen. Nach klinischen Untersuchungen scheint beim aktiven Streßulcus eher eine Überaktivierung des Sympa-thikus mit verminderter Durchblutung der Magenschleimhaut vorzu-liegen. Beim chronischen Magengeschwür und dem Zwölffingerdarmge-schwür steht die erhöhte Säureproduktion durch erhöhten Parasympa-thikustonus im Vordergrund.[9]

    Die Geschwüre können durch Schädigung des vegetativen Nervensystems als regelrechte „Streßgeschwüre“ entstehen. In Tierversuchen an Ratten, die äußerem Streß ausgesetzt waren, ohne ihm entkommen zu können („Immobilisationsstreß“), konnten in sehr hohem Prozentsatz Magengeschwüre ausgelöst werden.[3] Bei Untersuchungen an einem Patienten mit Magenfistel führten gespannte, ambivalente Situationen bei anhaltendem Ärger zu parasympathischen Effekten an der Magenschleimhaut (Zunahme von Durchblutung, Bewegung und Sekretion). Bei Angst, Furcht und De-pressivität trat aber eine entgegengesetzte sympathikotone Reaktion auf.[4]

    Klinische Neurologen vermuten, daß sich die Ausbildung der Geschwüre nicht so sehr als entweder sympathikotones oder parasympathikotones Geschehen auffassen läßt, sondern daß Störungen in der „vegetativen Wechselschaltung“ mit Vorschädigung der Magenschleimhaut durch Min-derdurchblutung einerseits und erhöhter Säureproduktion andererseits zur Ulcusbildung führen.[5]

    Danach läge dem Ulcus weniger ein chronisches Verharren in einem der Extremzustände des vegetativen Nervensystems zugrunde, sondern ein Hin und Her zwischen den Extremen. Dies aber nicht im Sinne einer gesunden, aufeinander abgestimmten Pulsation und Oszillation, sondern im Sinne eines Umschlagens „von einem Extrem ins andere“, ohne daß die Aktivi-täten von Sympathikus und Parasympathikus aufeinander abgestimmt wären und mehr im Sinne davon, daß der Körper sich nicht für eine Richtung „entscheiden“ kann.

    Allgemein kann man sagen, daß Störungen der „Autoregulation des Gleichgewichtes zwischen defensiven (bzw. protektiven) und aggressiven (bzw. schädigenden) Mechanismen zur Geschwürsentstehung führen können“.[6]

    Die Therapie der Schulmedizin besteht im wesentlichen aus symptoma-tischen Maßnahmen wie Stoppen der Blutungen, Gabe von Säureblockern und Antibiotika sowie Diätempfehlungen. Eine ursächliche Therapie findet nicht statt.

    Psychische Komponente

    Die Psychosomatiker fanden heraus, daß der „typische“ Ulcuspatient sich nach der konfliktfreien Kindheit sehnt, dem mütterlichen Umsorgtsein, nach infantiler Abhängigkeit und große Sehnsucht hat, geliebt zu werden. Ursächlich für die Tendenz zur Abhängigkeit könnten Trennungser-lebnisse in der Kindheit sein, die sich biographisch auch häufig nachweisen lassen.[2]

    Als Kompensation für die familiäre Geborgenheit legen Ulcus-Kranke oft großen Wert auf Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die Sehnsucht nach Versorgung wird häufig durch starken Ehrgeiz und Erfolgsstreben kompensiert. Zwischen dem meist unbewußten Wunsch nach Abhängigkeit und Versorgtsein (parasympathikotones Geschehen) und dem Streben nach Unabhängigkeit (sympathikoton unterstützt) entsteht ein Widerspruch. Je nachdem, wieweit der Patient seinem Abhängigkeitsstreben nachgibt, erscheint er als „offen abhängig“ oder, wenn er dieses Verhalten überspielt, als „pseudounabhängig“.

    Die Sehnsucht nach der konfliktfreien Kindheit steht in engem Zusammenhang mit der oft fehlenden Fähigkeit des Ulcuspatienten, mit Ärger und Aggressionen angemessen umzugehen. Aggressive Tendenzen können entweder stark gehemmt sein oder sie werden – als anderes Extrem – übertrieben ausgelebt. Die Konfliktfähigkeit und die Fähigkeit zur gesunden Auseinandersetzung mit Herausforderungen ist insgesamt herabgesetzt. Außeneindrücke können oft schlecht „verdaut“ werden, statt dessen findet die innere Verdauung in Form von „Selbstzerfleischung“ statt. Im Volksmund findet man für Magenbeschwerden auch die Ausdrücke „das schlägt mir auf den Magen“, etwas „in sich hineinfressen“ oder „ Ärger hinunterschlucken“. Die erhöhte Säureproduktion beim Ulcus hat ihr Äquivalent in dem Ausdruck „ich bin sauer“. Alle diese sprich-wörtlichen Weisheiten deuten auf das Ulcus als Ausdruck unterdrückter Gefühle, vor allem Aggressionen, hin.

    Das Auftreten eines Geschwürs ist vermutlich typisch für eine Situation, in der der Mensch zwischen zwei widerstrebenden Tendenzen hin- und hergerissen wird. Wenn er nicht weiß, ob er kämpfen oder fliehen, angreifen oder sich unterwerfen soll, befindet er sich in einem ähnlichen Dilemma wie die oben erwähnte gestreßte, immobilisierte Ratte.[1] Der Patient sehnt sich nach dem konfliktfreien Dasein, möchte nicht kämpfen, sieht sich dann aber von tiefer Hilflosigkeit angesichts äußerer Angriffe bedroht. Als Kompensation möchte er sich gegen diese Angriffe wehren. Er „stürzt sich“ entweder „in den Kampf“ und verleugnet seine passive Seite (pseudounabhängiger Typ) oder er bleibt durch seine aggressive Hemmung in dem Dilemma stecken, schluckt seinen Ärger hinunter und verleugnet seine aggressive Seite (offen abhängiger Typ). In beiden Fällen ist der Konflikt zwischen Sehnsucht nach Versorgtsein und aggressivem Herangehen an die Aufgaben des Lebens nicht grundlegend gelöst. Er besteht nicht als Möglichkeit des „Sowohl-als auch“ sondern nur als „Entweder-oder“. Auf der Ebene des Vegetativums findet entsprechend ein unkoordiniertes Hin- und Herschlagen zwischen Sympathikustonus – im Sinne von Angriffshaltung – und Parasympathikustonus – im Sinne von Resignationshaltung – statt, welches die morphologische Grundlage für das Ulcusgeschehen bildet.

    Therapie

    Auf segmentaler Ebene geht das Magen- und Darumulcus mit einer Verhärtung der Muskeln im Zwerchfell- und Bauchbereich einher. Diese Muskelverspannungen haben einen direkten Einfluß auf die Tätigkeit des Solarplexus, des großen vegetativen Nervengeflechtes, das direkt unterhalb des Zwerchfells lokalisiert ist. Auf der muskulären Ebene stehen also Techniken im Vordergrund, die die Muskeln des Zwerchfells und des Bauches aktivieren und in einen gesunden Muskeltonus überführen.

    Das Zwerchfell kann auf verschiedene Arten bearbeitet werden. Eine Möglichkeit besteht über verschiedene Atemtechniken, z.B. das Üben extremer Zwerchfellatmung. Der Zwerchfellansatz am Rippenbogen ist auch direkter Massage zugänglich. Der stärkste Einfluß auf das Zwerchfell ist das Auslösen des Würgreflexes ohne Unterbrechung der Ausatmung. Dadurch wird der Parasympathikus aktiviert und die vegetative Oszillation wieder angeregt, die Blockade im Zwerchfellmuskel löst sich und das Zwerchfell kann bei der Ein- und Ausatmung wieder frei schwingen.

    Das Üben des Würgreflexes kann mit Gefühlen von Übelkeit bis zum Erbrechen verbunden sein. Es stellt einen starken Eingriff in das vegetative System des Patienten dar. Das Würgen ist an sich eine Bewegung, die dem Hinunterschlucken (sowohl von Nahrung als auch von Gefühlen!) ent-gegengerichtet ist. Bei einem ungepanzerten Organismus können Würgen und Erbrechen bei Bedarf mit äußerster Leichtigkeit vor sich gehen, was bei Kleinkindern („Bäuerchen“) und auch im Tierreich bei den Delphinen beobachtet werden kann. Das quälende Würgen des „normalen“ Er-wachsenen kommt erst durch die erworbenen Muskelverspannungen zustande. Durch Üben der Auslösung des Würgreflexes in den Therapie-stunden (wie auch durch künstlich hervorgerufenes Erbrechen) können diese mit der Zeit gelockert werden, indem gleichzeitig der in ihnen festgehaltene emotionale Ausdruck für den Patienten spürbar und ausdrückbar wird.

    Die Lösung des Zwerchfellblocks als dem muskulären Block, der zwischen Ober- und Unterkörper liegt, geht mit Zuckungen und Erregungswellen sowohl Richtung Kopf als auch Richtung Genitalien einher und ist von Gefühlen des Nachgebens und der Hingabe begleitet.

    Das Bauchsegment, das hauptsächlich durch Verspannungen der gerade und quer verlaufenden Bauchmuskeln, einiger Rückenmuskeln und tiefliegender Muskeln im Inneren des Bauchraumes seitlich der Wirbel-säule an der freien Beweglichkeit gehindert wird, kann ebenfalls durch Atemtechniken und manuelle Bearbeitung (Points and Positions) beeinflußt werden.

    Ich möchte auch hier wieder ausdrücklich darauf hinweisen, daß die körpertherapeutische Arbeit keine mechanische Lösung einzelner mus-kulärer Verspannungen darstellt. Gerade das Auslösen des Würgreflexes darf nicht isoliert vorgenommen werden, da es sich um einen sehr starken vegetativen Eingriff handelt. Voraussetzung für ihn ist unbedingt, daß zuvor alle oberhalb des Zwerchfells liegenden Segmente „entpanzert“ wurden. Als Beispiel sei hier erwähnt, daß ja die Möglichkeit zu Würgen oder zu Erbrechen in weitem Maße die Tätigkeit der Kehle und des Brustkorbes miteinbezieht. Wenn diese nicht frei beweglich wären, würde die, bei Bearbeitung des Zwerchfellsegmentes freiwerdende Energie, die Richtung Kopf fließen will, durch weiter oben liegende Muskelblockaden behindert werden. Sie würde sich in dieser Blockade „fangen“, d.h. sie noch weiter verstärken. Dies kann zu Schmerzen und neuen somatischen Symptomen in diesen Bereichen führen.

    Des weiteren führt die Bearbeitung des Zwerchfell- und Bauchbereiches zu vermehrtem Einströmen von Energie in den Beckenbereich, was starke Ängste aktivieren kann. Deshalb sollte sich eine weitere vegetothera-peutische Arbeit am Beckenbereich anschließen. Die Lösung des Zwerch-fellblocks darf nur als ein Teil der vegetotherapeutischen Arbeit gesehen werden, der aber für die Gesundung des Ulcuskranken von besonderer Bedeutung ist.

    Bei der Lösung der o.g. Blockaden wird der Patient natürlich auch wieder mit den bisher unterdrückten Gefühlen konfrontiert. Seine passive Aggression und seine orale Bedürftigkeit werden zunächst bewußter. Ängste tauchen auf, bevor der Patient lernt, sich aktiv aggressiv mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Gerade im Zwerchfellsegment kann „mör-derische Wut“ festgehalten sein, die in einer geschützten therapeutischen Atmosphäre zum Ausdruck kommen darf. Die Gefühle von Nachgeben und Hingabe können wiederum erst zugelassen werden, wenn die tiefen Ängste vor lustvollem energetischen Strömen im Körper bearbeitet wurden.

    Am Ende der Therapie sollte der Ulcuspatient gelernt haben, an Stelle oraler regressiver Abhängigkeit sowohl „für sich selbst sorgen“ zu können als auch Aggressionen auf angemessene Weise zum Ausdruck zu bringen.

    ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS

    Die bisherige Schilderung des Aufbaus und der Funktion des vegetativen Nervensystems, des Begriffs von Krankheit und Gesundheit bei Reich und der exemplarischen Darstellung einzelner Krankheitsbilder ist ein Versuch, die „medizinische Seite“ der Körpertherapie etwas mehr in den Vordergrund zu stellen. Das vegetative Nervensystem ist kein einfaches Thema. Ich halte es aber gerade in der heutigen Zeit, in der auch sogenannte „Neo-Reichianische Therapien“ wie Pilze aus dem Boden schießen, für ausgesprochen notwendig, die Reichschen Erkenntnisse nicht im Nebel des Mystizismus verschwinden zu lassen. Reich war Arzt und Naturwissenschaftler und immer damit beschäftigt, die wissenschaftliche Basis seiner theoretischen Konzepte weiter auszuarbeiten. Auf diesem Gebiet gibt es noch viele spannende Entdeckungen zu machen, und ich hoffe, auch bei den Lesern ein wenig Neugier dafür geweckt zu haben.

    __________________________________________________
    [1]Schiffter S. 66
    [2]Uexküll S.629
    [3]Ader
    [4]Wolf und Wolf
    [5]Schiffter S. 65
    [6]Uexküll S.63O
    [7]Reich Charakteranalyse S. 378
    [8]Siegenthaler S. 788
    [9]Schiffter S. 65
    [10]Reich Funktion des Orgasmus S. 123
    [11]Navarro S.43
    [12]Hollwich S. 164
    [13]Reich Funktion d. Org. S. 228
    [14]Dew JoOrg6, Nr. 2, S 189; Baker S. 1O3
    [15]Pierrakos S.174
    [16]a.a.O. S. 228
    [17]Schiffter, S.21
    [18]Lassek ZDN, Abs. 6.1
    [19]Dekker und Groen
    [20]Alexander
    [21]Mitscherlich
    [22]Schmidt-Thews S.115

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    NAVARRO, Frederico: Die sieben Stufen der Gesundheit, Bd. 1 und 2.
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    REICH, Wilhelm: Die Entdeckung des Orgons II: Der Krebs.
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    SCHIFFTER, R.: Neurologie des vegetativen Systems. Springer 1985
    SIEGENTHALER, W.: Klinische Pathophysiologie. Thieme 1979
    SCHMIDT, R.F. und THEWS, G.: Physiologie des Menschen.
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    Über die Individualisierung in der Homöopathie

    Ein Gespräch mit Thomas Teichmann, praktischer Arzt, Facharzt für physikalische Medizin und Rehabilitation und Homöopath führten
    Beatrix Wirth und Wolfram Ratz :

    Wolfram: Lieber Thomas, seit 20 Jahren bist du mit der Homöo-pathie befaßt und lebst mit einer Reichschen Therapeutin zusammen. Habt ihr da einen gemeinsamen energetischen Ansatz?

    Thomas: Also privat geht’s ja nur über die gemeinsame Energie (Lachen), in der Praxis können wir uns mit unseren Methoden gut ergänzen, theoretisch habe ich, so glaube ich, den differenzierteren Ansatz.

    Die Energien, die Reich beschreibt sind allgemeine Fluids, die nicht spezifiziert sind. Da gibt es eine Fülle oder einen Mangel, eine gute oder eine schlechte Energie. Das homöopathische Medikament gibt im Gegensatz dazu eine differenzierte Anregung auf den verschiedenen energetischen Ebenen.

    Die Grundidee der Homöopathie, das Ähnlichkeitsprinzip, ist ja vor 200 Jahren durch Zufall entdeckt worden, indem Hahnemann einen Selbstversuch gemacht hat mit Chinarinde und dabei gemerkt hat, daß er bei Einnahme von Chinarinde dieselben Symptome entwickelt wie jemand, der Wechsel-fieber, also Malaria, hat.

    Diese Symptome traten immer auf, wenn er China eingenommen hat und sie verschwanden, wenn er mit der Einnahme aufhörte. In der Folge hat er sie Menschen verabreicht, die an Wechselfieber erkrankt waren, und die sind symptomfrei geworden. So ist das „Simile-Prinzip“ entstanden: Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt. Dieses Prinzip ist dann im Laufe der 200 Jahre in unzähligen Arzneimittelprüfungen mit den verschiedensten Substanzen ausgearbeitet und verifiziert worden; es entstanden umfangreiche Symptomenverzeichnisse und Arzneimittellehren, mit denen ich als Homöopath arbeiten kann.

    Das heißt, daß jede Substanz, die in der Natur vorkommt – homöo-pathisch aufbereitet – die Möglichkeit, die Kraft, die Energie in sich birgt, im menschlichen Körper diese ähnliche Energie auszugleichen oder ihre Funktion zu übernehmen.

    Beatrix: Wie wird denn nun in der Homöopathie Krankheit ver-standen? Im Reichschen Ansatz wird Krankheit als Ausdruck eines gestörten energetischen Flusses verstanden und die Spezifität, die „Organwahl“ als Ausdruck des Ortes, wo die Stauung am stärksten auftritt.

    Thomas: Die Krankheit wird als Pathologie beschrieben, was meines Erachtens nicht exakt ist; sie ist für mich sozusagen eine Besonderheit eines Menschen. Ich sehe die Krankheit nicht als eine mechanische Störung oder eine Abartigkeit, sondern sie ist durch die individuelle Lebensgeschichte bedingt, durch den kulturellen Umkreis, durch den Einfluß von Vater und Mutter, durch Erbgutübertragungen – es ist jedenfalls ein sehr charakteristisches Bild. Und was mich an der Homöopathie so fasziniert ist, daß ich auf all dies in sehr spezifischer Weise mithilfe der Arzneimittel eingehen kann.

    Ich unterscheide im Grunde genommen – und das ist mir sehr hilfreich – nach der Anthroposophie Rudolf Steiners -, vier Ebenen, vier Quali-täten des Seins.

    Zunächst einmal die physische Ebene, das ist einfach das, was wir an materiellem Körper an uns tragen. Das sind die Knochen, Muskeln und die Gewebe, die sich gebildet haben. Eine Disziplin der Schul-medizin, die sich damit beschäftigt, ist die Chirurgie. Die arbeitet hauptsächlich auf einer physischen Ebene. Ist ein Knochen gebrochen, richtet man ihn gerade, schient ihn und wartet dann bis er wieder zusammenwächst. Dann die zweite Ebene – die funktionelle – mit einem „übergeordneten“ Leib, der uns formt, der unsere Substanz organisiert, der bewirkt, daß der Knochen entlang der Schwerkraft-linien zusammenwächst, der die Stoffwechselfunktionen und die Abwehrfunktionen innehat.

    Der wird in der Anthroposophie ”Lebensleib” genannt. Und ich denke, daß Reich sehr viel mit diesen Lebensenergien gearbeitet hat und natürlich auf der dritten Ebene, der emotionalen, der Gefühlsebene, dem Bereich der Empfindung, der Begierde, des Gefühls, der Wahrnehmung. Dieser „Empfindungsleib“ ist zutiefst verwoben mit den beiden anderen Ebenen. Das Übergeordnetste ist das „Ich“, das alle diese Leiber zentriert, die wahrnehmende Instanz, wo wir unsere Ziele haben, unsere Ideale, unser kreatives Potential. Das Ich ist das, was tut, das was in Bewegung setzt und das „Schauende“ ist, das ist das Ich.

    Spannenderweise ist es so, daß in den homöopathischen Arzneimitteln immer alle vier Ebenen repräsentiert sind. Ein Arzneimittelbild hat einen physischen Aspekt, einen funktionellen, einen emotionellen und einen Ich-haften, also einen wahrnehmensmäßigen, willensmäßigen, biographischen Aspekt. So ist diese Energie wesentlich differenzierter zu handhaben. Es ist keine quantitative Vorstellung, daß da etwas zuviel ist, von dem ich etwas wegnehme oder hinzufüge, wie es z.B. in der Akupunktur durch das Tonisieren und Detonisieren der Fall ist.

    Vielmehr stellt sich immer die Frage: was ist das für ein Mensch, wo steht er, was ist die Grundstörung, was steht im Vordergrund. In der Regel steigt die Pathologie von den „höheren“ Ebenen bis in den physischen Leib ab, z.B. Kränkung – emotionaler Rückzug – funktio-nelle Starre – Tumor, wie es sowohl bei Reich als auch bei Hahne-mann beschrieben ist. Die Krankheitsphänomene stellen eine Einheit dar, so wie das Arzneimittel selbst eine Einheit ist. Hahnenmann hat herausgefunden, daß diese verschiedenen Ebenen beeinflußbar sind durch die Art, wie er das Medikament verdünnt oder besser: dynamisiert.

    Beatrix: Könntest Du das genauer beschreiben?

    Thomas: Um diesen Potenzierungs- oder Dynamisierungsvorgang verständlich zu machen, gebrauche ich das Beispiel vom Holz: Ein normaler Baumstamm hat eine Stützfunktion, und der brennt nicht so leicht, da muß man schon ordentlich Feuer machen, damit er zu brennen anfängt. Wenn du ihn allerdings als Brennholz verwenden möchtest, mußt Du ihn zerkleinern, das heißt, du mußt die Oberfläche vergrößern im Verhältnis zur Materie.

    Wenn du Späne machst, dann mußt du aufpassen, die brennen schon sehr leicht und beim Holzstaub kann es sogar zu Explosionen kommen. Das Verhältnis von Stoff und Raum, von Verdünnungsmedium zur Arznei gibt die Potenz an. In der Homöopathie ist ein Mittel um so stärker, je öfter an ihm dieser Verdünnungs- bzw. Potenzierungsvorgang vorgenommen wurde. Du kannst es aber auch als Information sehen: die Substanz, wenn du sie
    verschüttelst in einer 1:10-Verdünnung, das ist die D-Potenz – oder 1:100, das ist die C-Potenz -, dehnt sich aus und gibt damit die Information an das Medium weiter.

    Das ist bewiesen, darüber gibt es Untersuchungen, daß sich ein Medium dadurch verändert, wenn eine Substanz darin verschüttelt wird.- Rudolf Steiner sagt, daß die Substanz ein festgewordener Prozeß ist. Es ist Energie, eine charakteristische Energie, die festgeworden ist in einem Kristall, in einem Metall, in einer Pflanze oder auch in einem Tier. Und durch diesen Verdünnungsvorgang hole ich diese spezifische Energie wieder heraus und übertrage sie mit dem so dynamisierten Arzneimittel auf den Menschen.

    Beatrix: Wie findet nun konkret die Arzneimittelwahl statt?

    Thomas: Zunächst schaue ich, wo das Schwergewicht der Störung ist. Das verlangt eine tiefe Empathie, um nicht zu sagen: eine vegetative Identifikation mit dem Patienten. Das heißt, ich muß durch die Art, wie ich die Fragen stelle, so tief in den Patienten hinein-fühlen, daß ich dann über dieses vegetative Mitschwingen mit dem Patienten und auf der anderen Seite durch die Vertrautheit, die ich mit den Arzneimitteln entwickelt habe – eigentlich sind sie ja Freunde und Begleiter des Lebens – das passende Mittel finden kann.

    Wenn man jahrelang homöopathisch arbeitet, dann kennt man die Arzneimittel sehr gut; man weiß welche Qualitäten sie schwerpunktmäßig haben, man „fühlt“ diese Arzneimittel in sich. Manchmal ist es auch schwierig, z.B. dann, wenn der Patient sehr verschlossen ist, oder wenn man selbst eine Störung hat, unkonzentriert oder ungeduldig ist, dann ist der Prozeß erschwert. Oft wirkt der Prozeß selbst schon; das Gespräch und die Identifizierung bewirken, daß die Patienten oft sagen „das ist mir noch nie eingefallen – den Bezug habe ich noch nie hergestellt – ich spür´ das jetzt plötzlich“, etc. Das wirkt schon an sich, doch dann „befestige“ ich es mit dem gefundenen Mittel.

    Insofern bietet sich die Homöopathie als Begleittherapie für einen psychotherapeutischen Prozeß an. Man kann ihn sehr gut stützen, z.B. eine Öffnung von sehr verschlossenen Menschen fördern, indem ich diesen Menschen beispielsweise das „gemeine Kochsalz“, Natrium muriaticum gebe, das ist ein großes ”Kummermittel” in der Homöo-pathie. Sie berichten dann öfters, sie hätten tagelang weinen müssen und wüßten nicht warum. Ich weiß dann, daß das Natrium muriaticum auslösend war.

    Es hat sich etwas gelöst.- Durch die Arbeit mit den homöopathischen Arzneimitteln, mit diesen spezifischen Energien, ist mir bewußt geworden, daß wir eine tiefe Beziehung zu den Sub-stanzen haben, die draußen in der Natur sind, daß sie sozusagen mit uns „verwandt“ sind.

    Beatrix: Diese energetische Übereinstimmung, der Umstand, daß die Lebensenergie in allem Lebendigen ist, ob Pflanze, Tier, Mensch, bildet ja in der Reichschen Therapie das Kernstück.

    Thomas: Es sind nur andere Formen unserer eigenen menschlichen Existenz; so als ob der Mensch ausgebreitet wäre in der Natur. Es muß da eine Übereinstimmung geben, weil sonst könnte ich mir die Wirkung eines Arzneimittels nicht erklären. Wir stehen auf einer energetischen Eben alle miteinander in Verbindung; nicht nur mit anderen Menschen, sondern mit der ganzen Natur.

    Wenn ein Kind z.B. die Tendenz hat, sehr viel Flüssigkeit zu reti-nieren und es einen Infekt hat, bekommt es in der Schulmedizin ein Antibiotikum. In der Homöopathie gibt man, um diesen Flüssigkeits-stau abzuleiten, „Austernschalenkalk“, Calcium carbonicum. Die Substanz stammt von dieser weichen Muschel, die nach außen ihre harte Schale absondert und sich dadurch von der Umwelt trennt.

    Bei diesen Kindern ist der Trennungsprozeß gestört – diese Kinder sind sehr symbiotisch im Psychischen, pastös, lymphatisch im Körper-lichen mit einer Tendenz zu Flüssigkeitsansammlungen und der Un-fähigkeit durch die Nase zu atmen. Nach Gabe des Arzneimittels Calcium carbonicum kommt es auf der körperlichen Ebene zu einer Ausscheidung des Wassers und zu einer Rückbildung der Drüsen; und auf der seelischen Ebene zu einer Festigung, zu einer Abgrenzung gegenüber den Eltern.

    Beatrix: Es ist also so: eine Einflußnahme in der Homöopathie wirkt über ein Arzneimittel, in der Reichschen Arbeit über panzerlösende Interventionen auf beide Ebenen – die Körperliche und die Psychi-sche.

    Thomas: Ich möchte sagen: man kommt von einer physischen über eine funktionelle auf eine psychosomatische Ebene und sieht, das passiert über einen spezifisch energetischen Prozeß. Und bei mir führte das dann zu einer prinzipiellen und einfach göttlichen Erkenntnis, daß das Calcium carbonicum einem hilft, die Trennung von außen und innen zu vollziehen.

    Wolfram: Was kann die Homöopathie und wo sind ihre Grenzen?

    Thomas: Wenn man das definieren will, kommt es auf den zugrunde-liegenden Gesundheitsbegriff an. Also mein Gesundheitsbegriff ist kein schulmedizinisch-klinischer. Ich denke zum Beispiel, ein gesun-des Sterben, ein menschenwürdiges Sterben – wofür es auch homöo-pathische Arzneimittel gibt -, gehört zur Gesundheit dazu. Gesundheit heißt für mich, das Leben intensiv zu leben.

    Und überall dort, wo das Leben aufhört, ins Stocken gerät – in einer Routine zum Beispiel, in Freudlosigkeit, da finde ich, da müßte die Medizin einsetzen.- Krisen dagegen sehe ich als etwas Gesundes an, als etwas unbedingt Notwendiges, was uns zu Veränderungen mehr oder weniger zwingt. Das ist mein Ansatz.

    Und da hilft mir die Homöopathie, Ver-änderungen herbeizuführen. Die klassische Auffassung ist ja, das Leben zu regulieren und nicht zu manipulieren. Die Homöopathie ist eine Regulationsmedizin; und sie ist überall dort – wenn man schul-medizinisch verpflichtet ist und Leben retten will -, wo nicht mehr reguliert werden kann, nicht mehr sinnvoll.

    Da ist für mich die Grenze, die wohl für jeden Homöopathen je nach Begabung, Fähigkeit und therapeutischen Mut individuell zu ziehen ist. Aber eine homöo-pathische Therapie geht häufig durch Krisen, das ist auch beschrieben in der homöopathischen Literatur. Wenn das Medikament gut gewählt ist, dann kommt es entweder zu einer schlagartigen Besserung oder zu einer Erstverschlimmerung.

    Da sieht man, daß die Beschwerden oft durch das homöopathische Arzneimittel sozusagen „verschoben“ werden und auf einer tieferen Ebene dann erst richtig ausbrechen. Mein homöopathischer Lehrvater, Mathias Dorcsi, hat einmal die Geschichte eines Patienten erzählt, der als Kind einen Milchschorf hatte – das ist ein Ausdruck an der Haut.

    Wenn man das mit Kortisonsalben wegschmiert, dann kann es sein, daß später Asthma auftritt. Wenn man auch dieses Symptom mit Kortison behandelt, kann es sein, daß der Prozeß noch weiter nach innen geht und man als Erwachsener eine Colitis Ulcerosa entwickelt, also eine Dickdarm-entzündung, die schwer zu behandeln ist.

    Beatrix: Man könnte auch sagen, daß der Ausdruck immer mehr erstickt wird und damit ein „Sich Zurückziehen nach innen“ stattfindet – und damit eine Verstummung. Reich spricht in diesem Zusammenhang auch von der Notwendigkeit, diese Energien wieder herauszulösen.

    Thomas: Ja, dies geschieht ebenso in der Homöopathie. Wenn man exakt homöopathisch behandelt, verschwindet die Colitis, aber der Patient bekommt wieder sein Asthma; dann muß man das ausheilen. Wenn er dann noch seinen „Ausdruck“ auf der Haut zeigen darf und wenn man dann den korrekt ausheilt, dann ist der Patient gesund.

    Das heißt, man muß den Weg wieder zurückgehen, diesen biographischen Weg durch die Schichten der Person. Es ist ja in der Psychotherapie auch so, daß man versucht die Situationen im Leben, die besonders krankmachend und belastend waren, noch einmal hervorzuholen, noch einmal erlebbar zu machen und auszudrücken. Und so ist es in der Homöopathie auch. Es gibt zum Beispiel spezielle Medikamente, die den Ausdruck fördern.

    Wenn zum Beispiel der Ausschlag bei einer Kinderkrankheit nicht herauskommt, gibt man Schwefel, und dieser fördert den Ausschlag auf der Haut und das Kind fiebert manchmal hoch, und beides ist gut. Es ist ein Prozeß von innen nach außen, also ein zentrifugaler Prozeß, der dem Schrumpfungsprozeß und der Verhärtung entgegenwirkt.

    Wolfram: Also ist Krankheit ein Selbstheilungsversuch des Körpers.

    Thomas: Ja, natürlich. Der Körper hat die Tendenz, seine Indivi-dualität und Integrität zu erhalten. Wenn du dir zum Beispiel einen Schiefer einziehst, wird dieser als Fremdkörper erkannt. Durch viele weiße Blutkörperchen bildet sich dann Eiter; dieser geht zentrifugal zur Oberfläche, bricht auf und wird mit dem Fremdkörper aus-gestoßen.

    Und diesen Prozeß kann man mit homöopathischen Medikamenten beschleunigen. Man kann natürlich auch ein Messer nehmen und ihn herausschneiden. Das ist auch ein Weg. Aber wenn man dem Körper seine Gesetzmäßigkeit läßt, dann reguliert er sich das eigentlich selbst.

    Wolfram: Was ist für dich eigentlich Gesundheit?

    Thomas: Das weiß ich nicht genau. Der Schein trügt manchmal. Ist Claudia Schiffer gesund?- Das einzige was ich möchte – und vielleicht manchmal vermag – ist, dem Klienten die Verantwortung für seinen Zustand bewußt zu machen, nein spürbar zu machen, bewußt ist ja was Moralisches, sondern spürbar und erlebbar zu machen und an
    diesem Erlebnis zu arbeiten. Und damit bin ich wieder deckungsgleich mit Reich im Grunde genommen.

    Und aus diesem Erleben kristalli-sieren sich Möglichkeiten einer anderen Lebensweise heraus. Das ist Gesundheit für mich. Auch wenn das zum Beispiel Sterbebegleitung ist: zu spüren, daß sich der Mensch jetzt verabschieden muß und daß das schmerzhaft ist oder daß das auch beglückend sein kann. Ihn da zu begleiten – psychisch, aber auch mit homöopathischen Medika-menten, das ist Leben, eine Form des Lebens.

    Voraussetzung für eine korrekte homöopathische Behandlung ist, daß man den Patienten physisch genau untersucht. Man muß wissen, wo die Störungen sind. Wenn jemand einen Kniegelenkserguß hat, dann muß man das erkennen und behandeln können, das ist klar.- Man muß funktionell wissen, was in einem Patienten passiert, und das ist eine vegetative Identifizierung. Also, wie ist die Atmung, wie ist der Herzschlag, wie ist der Stoffwechsel; ist der Patient blaß, ist er kalt, ist er warm, ist er feucht, ist er trocken, wie ißt er, trinkt er, liebt er, wie bewegt er sich, etc.

    Also diese ganzen elementaren Lebenssachen, das ist die funktionelle Ebene. Und dann die emotionale: Was heißt das für den Patienten, was für ein Gefühl entwickelt er, welche Ängste, welche Lüste, welche Träume – die sind manchmal sehr wichtig für die Arzneimittelfindung. Zuletzt: wohin geht denn sein Leben, was will er noch, was steht an? Es ist ganz wichtig, die Sinnfrage zu stellen als letzte und als tiefste, als Arzt.

    Wolfram: Gibt es Patienten, die gar nicht gesund werden wollen?

    Thomas: Ja. In diesem Fall muß man schauen, ob der Patient das Symptom als Ausdrucksmittel noch braucht, ob es z.B. der letzte Ausdruck seiner Individualität ist, z.B. alles ganz in Ordnung, alles unter Kontrolle, nur leider fürchterlich schweißige Hände -, und wenn man ihm das nehmen würde, dann würde er meines Erachtens ein anderes, vielleicht schwereres Symptom entwickeln. Es gibt viele Patienten, die ein Symptom wie ein Notsignal haben und brauchen. Ich denke überhaupt, daß wir Krankheiten brauchen; wir brauchen sie, um der Umwelt etwas mitzuteilen über uns, um in Kontakt zu treten.

    Da hat es einen zauberhaften Film gegeben mit Maxi Böhm, der einen Pensionisten spielt, der niemanden mehr hat und immer eine Krankheit vorschützt, damit er ins Krankenhaus kommt. Da hat er Schwestern, die lieb sind und Ärzte, die mit ihm reden. Bei jeder psychosomatischen Krankheit braucht der Patient das Symptom. Manchmal erkennt man diese Patienten leicht: sie waren schon bei unzähligen Ärzten, und niemand hat ihnen helfen können – davon berichten sie mit einem „gewissen Lächeln“.

    Es ist, um mit dem Psychosomatiker Dieter Beck zu sprechen – ein, wenn auch nicht geglückter Lösungsversuch. So denke ich auch, daß Krankheiten notwendig sind und gebraucht werden und man sie erst heilen darf, wenn sich auf der psychosomatischen Ebene etwas verändern kann. Das sind dann Patienten, denen ich dringend eine psychothera-peutische Behandlung in Kombination mit einer homöopathischen Behandlung empfehle.

    Wolfram: Jetzt möchte ich dich noch persönlich etwas fragen. Ich habe eine Klientin, die hat Brustkrebs. Im letzten Herbst wurde sie das zweite Mal operiert. Und dann hat sie sich der Neuen Medizin des Dr. Hamer zugewandt. Sie geht jetzt nicht mehr zu den Kontroll-untersuchungen die für sie stets äußerst entwürdigend waren. Sie hat Chemotherapie, Hormontherapie, etc. bekommen und es ist ihr dabei so schlecht gegangen, daß sie das von sich aus nach einer Woche abgesetzt hat. Es ging ihr elendig. Jetzt hat sie den Dr. Hamer gefunden…

    Thomas: Eine andere Form der Elendigkeit meines Erachtens nach.

    Wolfram: Meinst Du?

    Thomas: Was ich nie mache ist, daß ich jemanden mit meiner Methode unter Druck setze, indem ich sage, sie dürfen das und das nicht. Dadurch erzeugt man erstens Angst beim Patienten, daß er einen Fehler machen kann, und das ist ganz schlecht, gerade bei Karzinompatienten. Zweitens käme ich mir dann vor wie der Liebe Gott. Ich bin ja als Arzt eher der ”Ermöglicher”, der Facilitator, der die Gesundheitsprozesse fördert, und da gehört auch die freie Entscheidung dazu, und das muß dann der Patient machen. Der Patient muß sagen, ich spüre, das tut mir gut und das mache ich gerne.

    Die Freiheit des Patienten nicht einzuschränken ist für mich eines der obersten Gebote. Also ich biete immer an und erwähne auch Alternativen. Manchmal sind damit Patienten allerdings überfordert. Es kommt darauf an, auf welche Charakterstruktur man trifft. Es gibt Patienten, die wollen ganz genaue Richtlinien haben. Die sind bei mir nicht gut aufgehoben. Mit abhängigen, orientierungssuchenden Patien-ten kann ich schlecht umgehen. Die schicke ich dann lieber zu einem Kollegen, von dem ich weiß, daß er eine gute Struktur vorgibt, wo sie sich dann anzuhalten haben.

    Wolfram: Soll ich meiner krebskranken Klientin sagen, daß sie wieder zu den Untersuchungen gehen soll?

    Thomas: Nein. Ich würde ihr das überlassen, weil das würde ja wieder einen Druck erzeugen. Es geht um eine Druckminderung bei einem Karzinom, das sind oftmals ohnehin schuldbewußte Menschen. Du müßtest sagen, ja ich sehe das, sie haben sich dafür entschieden, das ist gut, wir arbeiten weiter. Ob diese Entscheidung richtig ist, das wird sich auch in der Arbeit zeigen. Und vielleicht zweifelt sie dann dran und dann kannst du ihr anbieten, eine andere Methode der Behandlung zu wählen.- Jeder Mediziner, der glaubt, er hat das einzig Richtige und alle anderen sind blöd, der ist von vornherein für mich suspekt.

    Wolfram: Du meinst jetzt Dr. Hamer?

    Thomas: Ja. Er kann Richtiges sagen, aber die Art, dieses größen-wahnsinnige Agieren, lehne ich ab. Es ist nicht menschlich, wie er Menschen unter Druck setzt, daß sie nicht zu anderen gehen dürfen. Ich würde das nie machen. Prinzipiell mache ich es immer so, daß ich schulmedizinisch abklären lasse, ob sich ein Prozeß bereits im Körperlichen manifestiert, auch schon aus forensischen Gründen, bevor ich etwas Homöopathisches mache. Wenn ich das nicht täte, würde ich mir auch persönlich einen Vorwurf machen, daß ich etwas unterlassen habe.

    Hier sind wir wieder bei den zuvor angesprochenen Ebenen. Auf der physischen Ebene muß man naturwissenschaftlich genau und gründlich arbeiten. Auf der funktionellen Ebene muß man homöopathisch sehr versiert sein, um die verschiedenen Formen der Reaktionen zu kennen. Auf der emotionalen, also auf der seelischen Ebene, ist mir der personenzentrierte Ansatz von Carl Rogers am naheliegendsten, weil es wirklich um eine Begegnung von Mensch zu Mensch geht. Da geht es um Offenheit und Transparenz und Authentizität. Das finde ich ganz wichtig, um sich seelisch öffnen zu können.

    Auf der spirituellen oder individuellen Ebene muß man viel Phantasie und Kreativität und viel Offenheit und auch Verrücktheit für den Patienten haben können, um ihn zu erkennen und das mit ihm zu teilen. Und auch, zum Beispiel, um zu erkennen, daß jemand sterben möchte. Ich habe beispielsweise bei Drogenkranken oft den Eindruck, daß es sich dabei um einen protrahierten Selbstmord handelt; und dieser ist auch kaum zu verhindern, das kann man nur begleiten. So einem Menschen kannst du nur sagen: „Ich merke, Sie haben sich entschlossen, Ihr Leben auf diese Art zu vollziehen.

    Ich kann das nicht verstehen, aber ich kann Sie dabei begleiten.“ Das ist das, was ich ihm anbieten kann. Und das ermöglicht mir, mit dem Patienten offen zu sein. Wahrheit finde ich ganz wichtig in der Therapie. Ich würde nie einen Patienten anlügen, außer ich merke, daß die Wahrheit für ihn wirklich unerträglich ist. Es gibt Leute, die wollen das gar nicht wissen, das durchbreche ich dann auch nicht.- Dies setzt natürlich voraus, daß man auch selbst eine Beziehung zu dem hast, was man tut.

    Wenn man das Sterben als eine Geburt in eine andere Seinsebene betrachtet und die letzten Atemzüge wie die Schreie bei einer Geburt …, dann kann man ihn begleiten, indem man dabeisitzt und sagt: „Ja, gut, atme noch einmal, ja gut, jetzt hast du es gleich geschafft”.- Verstehst du, es geht darum, dies – auch dies – als eine Vorwärtsbewegung zu begreifen und mit dabei zu sein. Und das tut einem selbst gut, und das tut dem Patienten gut, weil er nicht mehr festgehalten wird. Ich habe schon viele Menschen in der Todesstunde begleitet und ich weiß, es ist gut, wenn man es so macht, es gehört zum Leben dazu.

    Wolfram: Hast Du noch einen Rat für unsere BUKUMATULA-Leser? Mir fällt dazu ein: ”Nichts rauchen, nichts trinken, g´sund essen”, so wie aus dem Fernsehen; ich glaube, das war einmal eine Folge mit dem Bankhofer in der ”Wir”-Sendung (Lachen).

    Thomas: Ja, das kann ich, das kann ich. Ich wünschte, es wäre mein Lebensmotto, aber ich leb´s nicht, ich muß ehrlich sein, ich leb´s nicht. Ja, also der Rat heißt: tu was du willst, aber spür genau, was du tust.

    Deshalb liebe ich auch am meisten in der bewegungstherapeutischen Szene Moshe Feldenkrais, welcher sinngemäß sagt: es gibt nichts Richtiges und nichts Falsches, nur Dinge, die stimmig sind oder nicht stimmig sind, die passen oder nicht passen. Und mein Rat an die BUKUMATULA-Leser wäre: Tut es, aber tut es so intensiv, daß ihr spürt, wohin es euch bringt; ob es euch hebt oder drückt, vor oder zurück, hinauf oder hinunter.

    Wenn man das spürt, dann reguliert sich das von selber, dann braucht man keine gesunde Ernährung, weil man ißt dann nur das, was einem gut tut, man trinkt dann nicht mehr zu viel Alkoholisches, wenn man merkt, man hat so einen Schädel nachher oder überhaupt den Kontakt zu den anderen im Rausch verliert. Man raucht nicht mehr, wenn man spürt, daß einem die Energie bei den Beinen rausfließt. Man „vögelt“ nicht mehr drauf los ohne Beziehung zum Partner, weil es keinen Spaß macht. Man könnte auch sagen: Tue alles, daß es Lust bereitet – lustvoll und leidvoll -, daß man´s einfach wirklich intensiv spürt.

    Und bei der Feldenkrais-arbeit auf der Matte: einfach nur zu spüren, was passiert, wenn man am Rücken liegt, was passiert, wenn man den Kopf ein bißchen zur Seite dreht und plötzlich die Fersen anders am Boden liegen, wie das alles zusammenhängt, also viel mehr in der Wahrnehmung bleibt. Nicht im Gefühl. Ich finde das Gefühl manchmal hinderlich. Auch nicht im Denken, ich finde das Denken manchmal hinderlich.

    Was am heilsamsten ist, liegt in der Wahrnehmung. Zu spüren, was passiert jetzt in mir. Und wenn man diese Achtsamkeit, diese inneren Gefühle für den Körper entwickelt, dann ist man gesund.- Dazu hat Beatrix nach einem Workshop vor kurzem etwas Schönes gesagt: „Ich werde immer mehr ich selbst.“ Das ist das gleiche Ziel – sowohl bei Reich als auch in der Homöopathie: die Selbstwerdung zu fördern.

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  • Buk 6/96 Heilung – Grundsätzliches

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    „Heilung“ – Grundsätzliches

    von
    Robert Feldhofer :

    Jeder, der therapeutisch handelt, arbeitet mit der Erwartung von Heilung – sei es mit der Erwartung der Menschen, die sich als heilsbe-dürftig erleben, sei es mit seiner eigenen Erwartung. Glücklicherweise ist das lebendige Wesen des Universums ein heilungsförderndes, sodaß – unabhängig davon, wer und auf welche Art er auch immer handelt -, Heilungsprozesse die Regel sind. Das erscheint nicht sofort einsichtig, denn: Gibt es nicht immer mehr chronisch Kranke? Nehmen manche allergische und degenerative Krankheiten nicht immer mehr zu? Und ist die Lebenserwartung (abgesehen von der Kindersterblichkeit) nicht gesunken?- Tatsächlich läßt sich all das beobachten und ist auch geeignet Sorge und Zweifel an der allgemeinen Entwicklung der Gesundheit zu wecken.

    Bewegen wir aber das Zentrum unserer Aufmerksamkeit auch nur ein kleines Stück zur Seite und betrachten bei Heilungsprozessen den Anteil der Lebensvorgänge (überragend), die Häufigkeit ihres Auftretens (regelmäßig und oft), so klärt sich, angesichts der jeden Augenblick ablaufenden Regenerations-, Ersatz-, Reorganisations- und Wachs-tumsvorgänge in jedem Bereich, den wir dem Lebendigen zurechnen können, die Aussicht auf ein erstaunliches, aber alltägliches Wunder.

    Wo Leben ist, bekommen Prozesse des Heilwerdens und Wieder-Heilwerdens, den Gesetzen und Mustern dieses pulsierenden Lebens folgend, Energie und Unterstützung. Will jemand heilen, also Heilung auslösen, beschleunigen, abkürzen, in eine Richtung lenken, oder den Ausgang manipulieren, so steht er vor der Aufgabe, die Gesetze der wirkenden Kraft soweit zu erkennen, daß er vermeidet, seine Möglich-keiten durch Wirken gegen sie in ihrer Menge zu verschwenden und in ihrer Qualität zu pervertieren (siehe z.B. ORANUR-Experiment). Die Hypothesen und Regeln, nach denen der Heiler vorzugehen versucht, müssen am Ergebnis beurteilt werden, und zwar nach – von seinen Hypothesen – unabhängigen Kriterien.

    Die Bedeutung Wilhelm Reichs und seiner Arbeit für die Heil-berufe liegt ganz wesentlich in der sich aus ihr eröffnenden Möglich-keit, sich derartige Kriterien radikal ganzheitlich zu erarbeiten. Ich sage: „sich zu erarbeiten“, denn es ist das kein Wissen, das ausschließlich durch datentechnische Weiterreichung übermittelt werden kann, sondern Wissen, das erst durch eigene Heilung klar und einsetzbar wird (Parallele zu schamanistischem Initiationsprinzip).

    Auch jeder Gedanke, den ich hier niederschreibe, kann also auch nur dann in einem anderen Menschen auf mehr als intellektuelle Aufnahme und damit auf wirkliches Verstehen stoßen, wenn eine bereits vorhandene Erfahrung zur Resonanz gebracht wird und ein Erleben des (Wieder-)Erkennens einleitet. Eine Zunahme der Ordnung im Wahrnehmen, Einordnen, Entscheiden und Handeln kann dann daraus folgen.

    Schon im Verlauf einer einsetzenden Heilsbemühung eines Heilers, Hexers, Arztes, Medizinmannes, einer Priesterin, Therapeutin oder ähnlich sich abgrenzend Definierenden, müssen von ihm oder ihr Fragen beantwortet und Entscheidungen getroffen werden, also noch bevor ein eindeutiges Ergebnis der Bemühungen zu bestimmen ist. Auch in diesen Schritten bedarf es funktioneller Kriterien, die ohne Zeit- und Energieverlust einen förderlichen Weg in jedem indivi-duellen Fall erkennen lassen; und schließlich auch noch des Werk-zeugs, der Kenntnis und Erfahrung von und mit konkreten Möglich-keiten der Einflußnahme auf die Menge und das Muster des ener-getischen Prozesses.

    Eine Heilungsbemühung kann an jedem dieser Funktionsbereiche kranken und scheitern. Die eigene Wahrnehmungsverzerrung und Einschränkung gebiert die Verkennung von Schwäche und energie-armer Notfunktion (chronische Krankheit) als Gesundheit, läßt zu Handlungsabläufen keine Alternativen erkennen und vermeidet die praktische Überprüfung bereits bestehender oder sich entwickelnder Hypothesen. Lediglich die aufbauende Grundtendenz des Wirkens der Lebensenergie verschleiert die unbefriedigenden und „Lebens-fernen“ Ergebnisse der meisten Methoden.

    Das orgonotisch relativ gut funktionierende Individuum ist in seiner Qualität durch andere Individuen qualitativ erkennbar. Ist das erkennende System qualitativ mehr beeinträchtigt, so tritt die Wahrnehmung schmerzhaft oder gar nicht auf; derartige Situationen und Reaktionen darauf beschreibt Reich, wenn er „emotional pestilente Charaktere“ und ihre Kontakte mit Lebendigkeit charakterisiert.

    Wie kann der Weg in einen ganzheitlichen Heilungsprozeß be-schritten werden? Meine erste Antwort darauf ist: Konsequent die Beurteilungskompetenz wieder an die Wahrnehmungskompetenz zu koppeln. Sehr hilfreich ist es dabei, Entscheidungen und Handlungen zu versinnlichen. Damit meine ich, die sinnliche Wahrnehmung als Kontrollkriterium engmaschig zu befragen, auf welchen Informationen meine handlungsbestimmenden Entscheidungen fußen. Theoretische Konzepte treten dann als nur mehr oder weniger interessante Zusatz-informationen in den Hintergrund.

    Weiters erkenne ich als unumgänglich, das Konzept und die Technik der Teilung des Ganzen fallen zu lassen. Was sonst für einen Sinn kann „Ganzheitlichkeit“ denn haben. Es wird nicht mehr darum gehen, Spreu vom Weizen zu trennen, um die „Spreu“ zu verwerfen, was eine Metapher einer Feldkultur ist, wobei bereits lange vor diesem Verarbeitungsschritt die Wahl einer Frucht (die Wahl einiger weniger Früchte) stattgefunden hat und die weiteren Entscheidungen merklich beschränkt.

    Das Nicht-Teilen beziehungsweise Wieder-Zusammen-fügen als Akt der Anerkennung der prinzipiellen Unteilbarkeit des Seins bedeutet Verzicht auf eine bestimmte Anwendung des Ver-standes und ein Zurücknehmen seiner Bedeutung für Entscheidungen. Die tiefe Identifizierung mit der Verstandsfunktion, ja das Anbinden des Selbstverständnisses als Mensch an den vorrangigen Gebrauch des Denkens (und damit des Teilens) scheint mir ein Grundsymptom menschlicher Krankheit zu sein.

    Das Reichsche Konzept der Funktionalen Identität, konsequent angewandt, erleichtert das praktische Herantasten an eine ungeteilte Weltwahrnehmung. „Spreu“ und „Weizen“ (also z.B. „Körper“ und „Psyche“) funktionell gleichzusetzen bedeutet, sie einander nicht vorzuziehen, sie nicht zu beurteilen, sondern zu beobachten. Auf einmal haben wir es dann nicht mehr mit zwei konkurrenzierenden, vielleicht sogar gegeneinander wirkenden Elementen zu tun, sondern erkennen die Verbundenheit, welche letztlich zwischen allen denkbaren Teilen erkenntnismöglich ist.

    Bei dem Beispiel des Weizens haben wir einen Samen, potentiell eine ganze Pflanze, andererseits den Samen in Vorbereitung zur Verarbeitung zu Mehl. Der Unterschied: Mehl ist kein orgonotisches System mehr. Man kann sich zwar davon nähren, aber es ist nicht mehr säbar.

    Und um ein Säen könnte es auch am ehesten bei einer sinnvollen Beeinflussung von Lebensprozessen gehen, um gezieltes Säen von Information an sensiblen Stellen in den Koordinaten von Raum und Zeit eines orgonotischen Funktionssystems.

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