29 Jan
Bukumatula 1/1997
Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
Beatrix Teichmann-Wirth:
Das Buch ist vergriffen. Und dies ist, so meine ich, auch gut so. Es zu beschreiben und Szenen herauszugreifen bedarf der Behutsamkeit, um nicht erneut Anlass dafür zu geben, dass die persönlichen Eigenarten, ja auch die Schwächen dieses großen Mannes benutzt werden, um sich nicht mehr weiter mit seinen bahnbrechenden Werken beschäftigen zu müssen und sie als Taten eines Wahnsinnigen abtun zu können.
Das Buch hat die widersprüchlichsten Reaktionen in mir wachgerufen. Wut bei den Szenen der Zerstörung – da, wo die Agenten der Food and Drug Administration die Vernichtung der Orgon-Akkumulatoren veranlassten, Empörung und Schmerz über die Überforderung des Sohnes, welcher als einziger „Soldat“ an der Seite Reichs stand (und dies im Alter von 10 -13 Jahren), Trostlosigkeit und Trauer.
Am nachhaltigsten jedoch traf mich die Einsamkeit. Einsam war er. Dieser Doktor Reich, wie er sich auch von langjährigen Mitarbeitern nennen ließ. Einsam in der Jugend, zum Zeitpunkt seines Wiener Studiums, wo er sich weder in einer Familie aufgehoben fühlte, noch verwandte Seelen in seinem Bekannten- und Freundeskreis fand. Und einsam in den letzten Lebensjahren, die er auf der Ranch in Orgonon und im kleinen Kreis von noch verbliebenen Mitarbeitern verbrachte. Von diesen erzählt Peter Reichs Buch.
Es ist ein Buch über Reich und es ist ein Buch über den Sohn, seine Beziehung zum Vater, über die Liebe zwischen den beiden und die Treue des Sohnes. Es dient, so scheint es, der Aufarbeitung der Bürde, allein an der Seite dieses großen Mannes gewesen zu sein. Es beschreibt, in Romanform gehalten, das Erleben des kleinen Jungen und im letzten Abschnitt das Ringen des bereits Erwachsenen, sich aus der Beeindruckung durch den Vater zu lösen und auf die Welt zu kommen.
Das Thema:
Mein Vater war Psychiater. Als wir nach Maine zogen, kaufte er ein großes Gelände und nannte es Orgonon. Er entdeckte die Orgonenergie, die eine „biologische Energie“ ist. Er führte eine Unzahl Experimente darüber durch, und es kamen viele andere Ärzte und Wissenschaftler, um dabei mitzuhelfen. Der erstaunlichste Apparat war der Akkumulator. Er ähnelte einer Kiste, und wenn man sich hineinsetzte, fühlte man sich gleich wohler. Ich war damals glücklich.
1. Szene: Zusammensein
Die Green Lantern hatte eine große Orgel, die auf einem Podest nahe der hölzernen Bar mit der Spiegelrückwand stand, und rote, gelbe und grüne Lichter wanderten in Kreisen über den Organisten hinweg, so dass sein Gesicht ständig die Farbe wechselte. Der Scheinwerfer schien durch bunte Scheiben, und sein Licht wurde im Spiegel hinter der Bar reflektiert, kreuz und quer durch den ganzen Essraum, als schiene es auf Daddy und mich, während wir an unserem Lieblingstisch saßen. Daddy lächelte mich an, als er an seinem Lieblingsdrink, einem Manhattan, nippte.
„Möchtest du die Kirsche?“ Er hielt die Frucht am Stiel und rührte seinen Drink damit um; sie verschwamm bei der kreisenden Bewegung im Glas. Daddy vergaß nie, mir die Kirsche aus seinem Manhattan zu geben.
2. Szene: Den Himmel fühlen
Das erste, was Daddy sagte, als er und Eva in Tucson ankamen und ich ihm meinen neuen Stetson gezeigt hatte, war, dass wir alle in einer unverkrampften Weise fühlen und beobachten müssten; so wie wir immer eine Weile warteten und den Himmel beobachteten, um zu sehen, was dort war und was wir fühlten, ehe wir den Wolkenbrecher einsetzten. Um ihn benutzen zu können, musste man nämlich wissen, wie der Himmel sich anfühlte, und auf diesem Gebiet entwickelten wir einiges Geschick. Wenn wir uns bisweilen an einem Tag allesamt nicht wohl fühlten, auch wenn wir weit voneinander entfernt waren, fanden wir später heraus, dass eine Atombombe gezündet worden war oder ein EA-Angriff stattgefunden hatte.
Die EA-Angriffe und die Atomexplosionen fielen mit schädlichem DOR zusammen; wir konnten das sagen, weil wir jedesmal, wenn der Himmel hässlich graubraun war und die Leute sich schlecht fühlten oder elend aussahen, feststellten, dass eine Bombe explodiert war. Der Wolkenbrecher bewirkte, dass die Atmosphäre und das Wohlbefinden der Leute sich besserten.
3. Szene: Wolkenbrechen
Ich kurbelte den Wolkenbrecher herum und fuhr gleichzeitig die Röhren aus. Im Unterbau des Wolkenbrechers klickten die Gänge beim Herumdrehen. Wir begannen im Westen, weil die Orgonenergie von West nach Ost strömt, und wenn wir einen Eingriff vornehmen, unterstützen wir auf diese Weise den Energiestrom. Daddy hatte uns angewiesen, niemals im Osten zu beginnen, da dann der Energiestrom unterbrochen wird und Stürme auftreten.
Die Röhren des Wolkenbrechers schwenkten in östliche Richtung, die Gummistöpsel baumelten hin und her.
„Gut. Alles klar. Und jetzt zurückdrehen, aber langsam.“ Die Räder knirschten langsamer, und ich führte den Strom behutsam gen Süden. Ich glaube, wir schwenkten deshalb nach Süden, weil es dort wärmer ist; schwenkten wir nach Norden, bestünde die Gefahr, dass es kälter würde. Aber manchmal ziehen wir auch in nördlicher Richtung.
4. Szene: Die Eishöhle
An jenem Tag war die Schneekruste unglaublich fest. Sie war so dick, dass man sogar darauf herumlaufen konnte. Nach dem Abendessen, als es dunkel war, rannte ich hinaus und begann einen Tunnel zu graben, der die Kruste unterhöhlte. Innen, an den Seiten, war der Schnee weich. Ich lief ins Haus zurück und holte mir eine Taschenlampe, damit ich besser vorankam, und darum erinnere ich mich auch so genau daran.
Es war einfach phantastisch in diesem weißen Schneetunnel mit den kalten glitzernden Schneewänden, die mich umfingen, als ich ihn ausschippte. Ich erinnere mich, dass von draußen ein Geräusch an mein Ohr drang. Es schneite, und unter der Lampe über der Tür erkannte ich meinen Vater und meine Mutter, die im Hauseingang standen, mir zusahen und über mich lachten. Ich muss gerade daran denken, dass dies wohl zu den schönsten Erinnerungen zählt, die ich habe, wie ich da in dem Loch steckte und mein Vater und meine Mutter darüber lachten, was ich für ein Gesicht zog, als ich zu ihnen hinübersah.
5. Szene: Eine Prophezeiung
Ich entfaltete den letzten Brief, den ich von Daddy erhalten hatte. Er schrieb, es bestehe die Chance, dass er am 7. November bedingt aus der Haft entlassen werde, und er würde mich dann von der Schule abholen, und wir könnten ins Howard Jonson´s essen gehen. Ich hoffte, er würde während des Silentiums kommen, dann könnte ich durchs Fenster beobachten, wie sein großer Chrysler 300 die lange, schattige Auffahrt heraufrollte. Es würde ein herrliches Gefühl sein, hinauszulaufen und ihn zu umarmen.
Im letzten Sommer, den wir zusammen in Maine verbracht hatten, waren wir einmal spazieren gegangen und dann zur unteren Hütte zurückgekommen. Er sagte, dass die schwerste Schlacht noch bevorstünde, und ich müsse sehr stark sein, denn vielleicht müsse er ins Gefängnis. Dann blieb er an der Hintertür stehen und sagte: „Peter, wenn ich ins Gefängnis gehen muss, werden sie meinen, es sei ein Sieg für sie. Aber letzten Endes werden wir siegen. Aber du musst auch wissen, dass ich, falls ich ins Gefängnis muss, vielleicht nicht lebend wieder herauskomme. Du verstehst?“
6. Szene: Doktoren
Die Männer und Frauen saßen auf den langen, braunen Bänken aus Holz, die Tom gebaut und die ich ihm hatte anstreichen helfen. Die Lichtung war halbwegs rund, mit Bäumen rings herum, die Schatten spendeten. Das Gras war weich und grün bis auf die Stellen, wo zwischen den Bäumen hindurch der Pfad zum Laboratorium führte, aber es war ein langes Gras und legte sich um die Beine der Bänke und die Füße der Leute, so dass es aussah, als wären sie ebenfalls im Boden verwurzelt. Einige von ihnen musste ich mit „Doktor“ anreden, weil sie das auch waren. Manche waren „Mister“, aber einige hatten nur einen Namen, wie etwa Mickey.
Zu den Doktoren gehörten Dr. Baker, ein wichtiger Mann, Dr. Raknes aus Norwegen mit seinem komischen Akzent, Dr. Hoppe aus Israel, der mit einem Wasserflugzeug gekommen und an unserem Anleger gelandet war, Dr. Willie aus Texas, der einen Stern an seinem Zaun hatte, und Dr. Duval, dessen Tochter Sally heißt; Dr. Tropp ist warmherzig und fett, und Dr. Wolfe ist nicht da.
Neill kommt aus Summerhill. Andere Doktoren haben Namen, die wir immer aneinandergereiht aufsagen. Dann waren noch Mammi und Helen und Eva und Gladys und Lois und Grethe da, die sich auch Notizen machten. Manche von ihnen arbeiteten im Laboratorium mit den Mäusen. Die Mäuse lebten in einem besonderen Haus, in besonderen Mäusekäfigen. Sie waren alle weiß. Daddy stand in seinem weißen Mantel vor mir und redete, wie immer, über Energie.
Mammi sah, wie ich durch das Blattwerk linste, und lächelte. Sie winkte mit der Hand, so dass es niemand sehen konnte, und bedeutete mir mit Lippenbewegungen: „Geh weg.“ Als ich den Kopf schüttelte, schüttelte sie auch den Kopf und sagte: „Sei still.“ Also legte ich mich ins Gras und schaute den Leuten zu, wie sie lauschten und sich Notizen machten, während Daddy redete. Er redete viel, wenn im Sommer die Doktoren zu Konferenzen kamen. Sie kamen, um etwas über seine Entdeckungen zu erfahren, und die waren wichtig.
7. Szene: Der Soldat an der Seite
„Ja“, sagte er, „wir befinden uns mitten in einem kosmischen Krieg. Peeps, du musst sehr tapfer und sehr stolz sein, denn wir sind die ersten Menschen, die mit Raumschiffen einen Kampf auf Leben und Tod führen. Wir wissen jetzt, dass sie unsere Atmosphäre zerstören. Vielleicht benutzen sie dazu Orgonenergie als Treibstoff, vielleicht stoßen sie auch DOR als Abgas aus. Wie dem auch sei, wir sind die einzigen, die begreifen, was sie in unserer Atmosphäre anrichten, und wir können sie mit ihren eigenen Waffen bekämpfen.
Die Luftwaffe kann nur irreführende Berichte über die fliegenden Untertassen herausgeben und ohnmächtig hinter ihnen herjagen, wohingegen wir nach ihren eigenen Funktionsprinzipien gegen sie vorgehen, mit der Orgonenergie. Wir bekämpfen das Feuer mit dem Feuer, und deshalb werden wir gewinnen. Wir arbeiten mit dem Wissen der Zukunft.“ Er schlug mir auf die Schulter. „Und du, Peeps, bist wohl das erste Kind jener Generation der Zukunft.“
8. Szene: Küsse
„Hast du eigentlich eine Freundin?“ fragte er. Er wollte immer wissen, ob ich eine Freundin hätte und ob wir einander küssten und berührten. Er sagte immer: „Hab keine Angst, du kannst es mir ruhig sagen.“ So kam es, dass wir viel darüber redeten, weshalb man mich nicht habe beschneiden lassen und wie das bei anderen Kindern sei. In der Schule war ein Mädchen, das war sehr hübsch, und wir schauten uns manchmal verstohlen an, aber wir hatten uns nicht geküsst. Na ja“, sagte ich, „da ist ein Mädchen, das mag ich, aber wir gehen nicht aus oder so was.“ Es verwirrte mich, darüber zu reden, und eigentlich machte es mir viel Spaß, Schülerlotse zu sein und Jojo zu spielen.
9. Szene: Die Wahrheit und die Angst davor
„Der Hass und die Angriffe gegen mich begannen schon vor langer Zeit, als ich gezwungen war, Deutschland, Österreich, Dänemark und Norwegen zu verlassen. Schon seit jenen Jahren verbreiteten Leute, die Angst haben vor dem, was ich ihnen zu sagen habe, das Gerücht, ich sein von Sinnen. Auch hier in Amerika hat man mich aus den Berufsverbänden ausgesperrt und, wie du weißt, von seiten der Regierung unablässig attackiert. Du weißt auch, dass man befohlen hat, noch diese Woche einige meiner Bücher zu verbrennen.
Ich kann nicht begreifen, wie so etwas möglich ist, und dennoch geschieht es laufend. Seltsame Dinge haben sich in diesem Lande zugetragen: das Verschwinden des Orgonmotors, die Einstein-Affäre, die Luftwaffe … das alles weist auf eine unglaubliche Verschwörung hin. Es ist einfach beängstigend. Sie würdigen meine Arbeit keines Blicks, ihre Angriffe richten sich gegen meine Person. Peeps, kein Mensch wehrt sich in dieser Weise, wenn er nicht selbst vor Angst fast stirbt; und sie haben Angst – Angst vor der Wahrheit der kosmischen Orgonenergie.
Sie haben Angst vor dem Leben. Aber was immer auch passiert, Peeps, ich werde mich nicht beirren lassen, ich werde meine Arbeit nicht einstellen. Egal, was passiert, die Arbeit muss weitergehen. Nichts kann die Wahrheit aufhalten. Kein Gesetz kann der wissenschaftlichen Forschung Einhalt gebieten. Das ist der Grund, warum wir kämpfen, und das ist auch der Grund, weshalb ich vielleicht sterben muss. Die Wahrheit ist tödlich, und sie wissen, dass ich recht habe. Die Pest, die die Seele und das Gefühl zerstört, kann töten.
Auch vor Gericht habe ich versucht, meine Erkenntnisse darzulegen, aber sie hörten mich nicht an. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass ein Gerichtshof sich kein Urteil über die grundlegenden Prinzipien der Wissenschaft anmaßen darf, doch sie lehnten es ab, die wahren Probleme ins Auge zu fassen. Es ist daher bedeutungslos, dass sie mich für schuldig befunden haben, denn selbst wenn die Berufung abgelehnt wird, bleiben wir Sieger.“
10. Szene: AAAaaaaaaahh
Als das Trampeln aufhörte und das Weinen aufhörte, war seine Hand verschwunden und die Schnur in meinem Magen mit ihr, und als ich ausatmete, hatte ich das Gefühl, als segelte ich wie ein schwarzes Segelboot auf einem schwarzen Fluss mit der Strömung in den Abend hinein, das Kielwasser glitzerte und breitete sich aus, ganz hinunter, bis in meine Beine.
Ich atmete, atmete. Ich spürte seine Hand wieder sanft auf meinem Magen, er fragte: „Ist dein Leib jetzt weich? Du solltest immer darauf achten, dass er weich bleibt.“ Und seine Finger drückten an der Stelle, wo der Atem von selbst ein und aus geht, wie ein schwarzes Boot, das immer geschmeidiger dahinsegelt. Er lächelte mir zu. Seine Hand glitt von meinem Nacken zu meinen Knien, nur kitzelte es jetzt überhaupt nicht mehr. Es fühlte sich nur beruhigend und sanft an, und der Atem segelte zusammen mit der Hand, strömte.
„Gut Peeps. Jetzt atme.“
Ganz von selbst atme ich. „Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhh“, tiefer und tiefer, bis es sich in meinen Beinen rührte, genau wie durch Daddys Hände.
Daddy sagte: „Aaaaaaaaaaaaaahh. So ist’s gut. AAAaaaaaaaaaaaaaaahh.“
„Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahh.“
Und dann atmeten wir beide gleichzeitig und sogen den Duft des Heus ein.
„Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahh.“
11. Szene: Ilse Ollendorf-Reich
Er wollte immer erreichen, dass ich alles verstand, und ich strengte mich an; ich musste es verstehen, weil es sonst niemanden gab, aber ich verstand nicht, warum er Mammi anschreien musste, und warum die Tränen aus dem einen Auge auf den Kopf der Frau fielen, und die Tränen aus dem anderen Auge auf das Schriftstück tropften und auf der Seite kleine, gekräuselte Beulen hinterließen.
„Sieh mich an, Peeps“, sagte er und nahm mich in die Arme, bis ich weinte. Er machte auch ein trauriges Gesicht, und ich liebte ihn auch. Es war so traurig, als das Labor leer war und Mammi und Daddy miteinander stritten. Ich sehnte mich danach, sie glücklich zu sehen. Er berührte mein Haar, und seine Hand fühlte sich gut an.
12. Szene: Verschwörung
„Es wird sich bald entscheiden, ob ich ins Gefängnis muss oder nicht. Ich meine schon, dass der Berufung stattgegeben wird, denn die Verhandlung hat, glaube ich, deutlich gezeigt, worum es uns geht. Es ist eine regelrechte Verschwörung gegen mein Projekt im Gange, Peter. Irgendwo stört es irgend jemanden, wenn meine Arbeit über Orgonenergie weitergeht. Mir ist zwar recht unklar, warum, obwohl mir so langsam ein Licht aufgeht. Du musst begreifen, dass ich vielleicht umkommen werde. Jemand könnte versuchen, mich umzubringen.“
Er hielt inne und schaute mich ernsthaft an. „Peeps, lauf nicht weg, lass du mich nicht auch noch im Stich.“
Alle ließen sie uns im Stich. Am Tage der Verhandlung schickten sie mir ein Grußtelegramm. Darin nannten sie mich einen Leutnant. Ich wäre gern bei der Verhandlung dabei gewesen, aber ich musste in die Schule gehen.
Der Grund der Anklage war, dass alle vor der Orgonenergie Angst hatten. Sie sagten, Daddy dürfe es keinem Menschen mehr erlauben, Akkumulatoren zu benutzen. Aber Daddy hielt sich nicht daran, und daher versuchten sie jetzt, ihm etwas Böses anzutun. Ich will tapfer sein.
„Was auch immer geschehen mag, ich möchte, dass du tapfer bist und dein eigenes Leben lebst. Aus diesem Grund ist es besser für dich, wenn du während dieser Zeit bei deiner Mummy lebst und ein Internat besuchst. Es ist wichtig für dich, Freunde um dich zu haben und in einer Atmosphäre aufzuwachsen, die nicht so spannungsgeladen ist. Du musst dein eigenes Leben leben. Und was immer mir auch zustößt, du musst stets tapfer sein.“
Ich presste mich so fest an ihn, dass wir beide den Druck des Fernglases spüren konnten. Am liebsten hätte ich geheult, aber dazu war jetzt keine Zeit. Wir mussten gefasst sein.
13. Szene: Der Leuchte-im Dunkeln-Ring
„Daddy! Daddy! Schau! Ich habe diesen Cowboyring mit einem Geheimfach bekommen, genau wie der Lone Ranger! Schau!“ Ich ging um den Schreibtisch herum und zeigte ihm den Ring.
Er nahm den Ring und betrachtete ihn. Er runzelte die Stirn.
„Wo ist das Geheimfach“ fragte er und steckte seinen Federhalter in den Ständer zurück.
Ich lehnte mich zu ihm hinüber und ließ den Sattelknopf zurückgleiten.
„Schau. Es soll im Dunklen leuchten, und man kann Botschaften darauf schreiben. Hier, mach mit den Händen eine dunkle Höhle, dann siehst du’s. Ich möchte damit Botschaften senden. Ist dir vielleicht klar, wie man darauf schreiben kann?“
Er sah sich den Sattel eine Weile lang an und schob den Knopf vor und zurück. Dann machte er eine Höhlung mit den Händen, aber sie war nicht dunkel genug.
„Hast du es im Dunkeln leuchten sehen?“
„Na klar. Ich war gerade im Keller unten, und da hat es richtig hell geleuchtet. Komm mit runter.“
„Wo hast du es her?“
„Erinnerst du dich nicht? Vor langer Zeit war es auf der Rückseite einer Cheerios-Schachtel, und Mammi gab mir fünfzig Cents, damit ich sie mit dem Gutschein auf der Schachtel einschicken konnte. Erst gestern ist er mit der Post gekommen … ich hab’s dir nur bis jetzt noch nicht zeigen können.“
Er sah mich ernst an und hielt den Sattel so, dass seine Finger auf den aufgemalten Steigbügeln lagen. Der Sattel war wirklich hübsch. „Komm doch bitte mit ins Kämmerchen“, sagte ich. „Du wirst sehen, es funktioniert tatsächlich.“
„Peeps, es tut mir leid, aber du kannst ihn nicht behalten.“
„Was?“ Er ließ den Sattel in seine Handfläche fallen. „Aber ich habe ihn doch gerade erst bekommen. Ich will ihn für die Kavallerie benutzen, um Botschaften über die Indianer zu senden!“
„Es tut mir leid, du kannst den Sattel nicht behalten, und das ist mein letztes Wort.“
„Aber Daddy, es tut mir leid wegen gestern abend. Ich wollte nicht albern sein und dich ärgern.“
„Nicht deswegen, Peeps. Diese Leuchte-im Dunkeln-Substanz kann dir schaden. Sie kann sehr gefährlich sein. Wir bereiten gerade ein Experiment vor, um diese Sachen besser verstehen zu können. Es tut mir leid. Ich weiß, als Spielzeug gefällt es dir, aber wir müssen es beseitigen. Ich werde Mister Ross bitten, es zu vergraben.“
Er drückte den Knopf der Sprechanlage.
„Mister Ross? Mister Ross, bitte kommen Sie in mein Arbeitszimmer.“
„Es vergraben? Daddy, warte doch. Vielleicht können wir das Leuchte-im Dunkeln-Zeugs herausholen und den Ring behalten. Mir macht es nichts aus, wenn er nicht im Dunklen leuchtet.“
Tränen in meinen Augen ließen Daddy vor meinem Blick verschwimmen, und ich wischte mir mit dem Arm über das Gesicht.
Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir sehr leid, mein Sohn, aber ich befürchte, der ganze Ring könnte verseucht sein.“
14. Szene: Die Eltern
Nach dem Abendessen wollte ich Mammi überraschen; darum sagte ich, ich würde abwaschen, und sie könne dann abtrocknen. Sie und Daddy unterhielten sich gerade angeregt, und ich wünschte mir, sie würden sich lange miteinander unterhalten und dabei glücklich sein, daher wusch ich das Geschirr. Als ich mit dem Spülen fertig war, unterhielten sie sich immer noch; daher begann ich, das Geschirr abzutrocknen.
Mammi fragte: „Bist du soweit, dass ich kommen und abtrocknen kann?“
„Noch nicht“, antwortete ich und ließ etwas Wasser laufen, damit es sich anhörte, als sei ich noch beim Spülen. Es machte mich richtig glücklich, sie so miteinander reden zu hören.
Die Bestecke machten eine Menge Lärm, darum musste ich sie Stück für Stück abtrocknen. Es muss wohl recht leise gewesen sein, denn Mammi rief: „Soll ich nicht doch langsam rüberkommen und abtrocknen?“
„Nö, ich bin noch nicht soweit.“ Ich versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht. Sie konnten es ohnehin nicht sehen, da ich mich schnell umdrehte. Es gab mir ein wohliges Gefühl, sie am Feuer sitzen und plaudern zu sehen.
15. Szene: Die Zerstörung
„Daddy, Sie sind hier. Einer ist ein U.S. Marshal, und die beiden anderen sind -“
„Ja. Ich weiß. Geh und sage ihnen …“
Draußen rutschte die Sonne langsam von dem großen Blechrumpf des schwarzen Autos. Es setzte sich in Bewegung. Es konnte doch unmöglich den Berg hinaufrollen. Daddys Stimme wand sich, und die Sonne glitt über das Heck des Autos hinweg und fiel in Wolken von Staub und Tränen.
„Daddy! Sie haben nicht gewartet!“
Tränen trübten meine Stimme und benetzten den Hörer, auf dem sie kleine, glänzende Flecke hinterließen. Das Auto verschwand um die Ecke des Labors, den Berg hinauf.
„Daddy! Sie kommen rauf! O Daddy, o Gott, sie haben nicht gewartet, sie kommen rauf, Daddy, sie kommen rauf!“
Die Sicherheitstür schlug bereits zu, noch bevor der Hörer auf den Boden knallte. Schon peitschte mir Gras an die Beine, als ich den Berg hinaufrannte. Das ganze Feld war verschwommen, und bei jedem Ausatmen brüllte ich laut uhn, um mir das Laufen bergauf zu erleichtern.
….. „Ja, Doktor Reich, der Befehl lautet, dass die Angelegenheit heute bereinigt und erledigt werden muss, an Ort und Stelle in Orgonon. Glauben Sie mir, es tut mir persönlich natürlich leid, Herr Doktor.“
„Schon gut. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen. Wir müssen alle unsere Pflicht tun, nicht wahr?“
Der Marshal versuchte zu lächeln. „Ganz richtig, Herr Doktor Reich!“
„Na dann. Wie sollen wir denn vorgehen?“
Daddy hielt einen Bleistift in der Hand. Er drückte den Radiergummi auf die Tischplatte, ließ Zeigefinger und Daumen am Stift hinuntergleiten, packte den Radiergummi und drehte den Stift flink um und stieß ihn mit der Spitze auf den Tisch. Tick. Dann ließ er erneut seine Finger bis zur Bleistiftspitze gleiten und wiederholte das ganze Spielchen. Tock. Noch einmal und noch einmal. „Sollen wir es mit unseren bloßen Händen tun?“
Er lächelte und wandte sich Bill und Tom zu. Bill lachte laut auf und nickte. Tom grinste und scharrte mit den Füßen. Die beiden Männer räusperten sich verlegen und beobachteten interessiert, wie der Bleistift auf und nieder tanzte.
„Na ja. Herr Doktor Reich, wir werden doch sicherlich irgend etwas finden. Sie werden doch wohl einen Hammer, `ne Säge, Hacke, Axt …“
….. Tom ging zum Lastwagen hinüber und nahm die Äxte von der hinteren Klappe. Er reichte eine Bill und eine mir.
Wir standen mit den Äxten in der Hand vor dem Haufen, als Daddy die Veranda verließ. Er schlenderte langsam über die Wiese, wobei er die drei Männer scharf fixierte. Sie standen zusammen, reckten ihre Hälse und lüfteten die Kragen ihrer Hemden.
„Gut“, sagte Daddy. „Fangt an.“
Ich schwang die Axt, wie Tom es mich gelehrt hatte: Meine linke Hand habe ich unten am Ende des Stiels, die rechte gleitet hinauf, und gleichzeitig schwinge ich die Axt über meine rechte Schulter. Dann reiße ich ganz schnell die linke Hand hinunter, wobei die rechte den glatten hölzernen Stiel ganz hinuntergleitet, bis sie mit der linken zusammentrifft. Während der ganzen Zeit rolle ich, dem Schwung folgend, die rechte Schulter und drehe meine Hüfte nach links.
Die Blätter blinkten in der Sonne und gruben sich tief in das Celotex, die Stahlwolle und das Blech ein; in den Seitenteilen der Akkumulatoren blieben tiefe Schnitte zurück. Tom und Bill schwangen ihre Äxte ebenfalls, so dass wir alle zusammen in der Sonne schwangen: Tschang, tschang, tschang.
….. Daddy sagte: „Jetzt reicht´s, Mister Ross.“
Tom wandte sich von dem Haufen ab und stellte sich neben mich. Die Teile auf dem Haufen waren zu Kleinholz verarbeitet, die Stahlwolle hing grau und flockig aus der Umrahmung.
Daddys Stimme war meist laut, fast ein Brüllen, aber jetzt war sie nicht laut, jetzt war sie hart und scharf.
….. „Wie steht’s mit den Büchern? Nicht alle Bücher sind in New York! Hier gibt es auch noch ein paar, die Sie verbrennen können! Warum eigentlich nicht?“
„Nein. Bitte Doktor Reich!“ Die Männer versuchten ihm zu entkommen, aber dann hätten sie geradewegs in den Wald flüchten müssen; daher versuchten sie, seitwärts zu ihrem Auto zu gelangen. Einer von ihnen zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Stirn. Er blickte zum Himmel auf. Der andere befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Der Marshal versuchte, Daddys Blick standzuhalten, aber seine Augen senkten sich immer wieder von selbst.
….. „Verzeihen Sie, Doktor Reich. Bitte.“
„O ja. Ich werde Ihnen verzeihen. Natürlich.“ Er trat zur Seite, und der Mann drängte an ihm vorbei und schlüpfte ins Auto.
Daddy ging herum und blickte ihn durchs Fenster an.
Der Fahrer lehnte sich heraus. Sein Gesicht war ganz bleich.
„Doktor Reich. Mir … mir tut es leid.“
„Ja. Ihnen tut es leid. Selbstverständlich. Tut es uns nicht allen leid? Auf Wiedersehen, meine Herren. Eines Tages werden auch Sie begreifen lernen.“
16. Szene: Eva Reich
Das Auf und Ab in der Diskussion um das Werk Reichs und seine Problematik veranlasste Eva zu einer Haltung, die sie als „übernatürliche Abkehr“ von den Machtkämpfen bezeichnete. Sie arbeitete hart, um die jungen Leute und Armen im gesamten Bundesstaat Maine für Geburtenkontrolle und sexuelle Aufklärung zu gewinnen, aber sie wehrte sich standhaft dagegen, in die Querelen um das Vermächtnis ihres Vaters hineingezogen zu werden.
„Das sind die typischen Machtkämpfe nach dem Tod des Kaisers“, sagte sie einmal, als ein Problem des Erbrechts diskutiert wurde. „Die grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien sind weitaus wichtiger als die Machtkampfstrategien.“ Der Kern des Werkes, sagte sie, würde persönlichen Auseinandersetzungen überleben.
17. Szene: Wut
„Peter.“ Er brüllte regelrecht. Ich richtete mich auf und versuchte, einen schläfrigen Eindruck zu machen.
„Was denn?“
Sein Gesicht war puterrot, und ich fühlte, wie seine Augen brannten. Mammi stand neben der Lampe im Arbeitszimmer.
„Sieh mich an!“
Der Teppich in der Bibliothek leuchtete rot. Wenn ich jetzt doch nur in dem roten Sessel säße, in dem wir meist saßen, wenn wir uns den Lone Ranger im Radio anhörten, statt hier auf der Couch, dann würde er mich sicherlich nicht so zornig anblicken.
„Sieh mich an! Hast du etwa vor allen den Narren gespielt?“
Wenn ich meine Augen fest zusammenkneife, sehe ich oft eine gelbe Welle oder ein Funkeln. Ich kniff sie zusammen, aber nur ein glitzerndes Viereck tauchte auf. Es war falsch, bei der Filmvorführung den Zauberer zu spielen.
„Sieh mich an! Hast du etwa meinen Film gestört?“
Es war falsch, weil ich zu laut gelacht habe, und Mammi hat immer gesagt, wer zu laut lacht, dem kommen hinterher die Tränen.
Ich blickte auf. Sein Gesicht verschwamm unter meinen Tränen, und seine Augen langten zu und schlugen mich.
„Oh, Daddy.“
Ich stand auf und lief zu ihm hinüber, ich schlang die Arme um ihn und weinte bitterlich. Er fühlte sich warm an und der Duft seines Hautöls drang durch sein grobes Hemd. Daddy, Daddy, Daddy, Daddy.
Er stand mitten in der Bibliothek, während ich laut schluchzte, dann beugte er sich zu mir herab, nahm mich auf und hielt mich in seinen starken Armen.
18. Szene: Tom Ross
Tom Ross hatte das alles mit durchgestanden, und nun blieb er hier, ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Während der ganzen Jahre, die er dort allein ohne jegliche Hilfe werkelte, muss er immer wieder im Geiste die Ereignisse durchgegangen sein und sich Gedanken über die beteiligten Menschen gemacht haben, denn im Laufe der Zeit, als die Besucher zahlreicher nach Orgonon kamen, nahmen seine Geschichten an Zahl und Umfang zu.
Er erzählte ruhig und mit liebevoller Bewunderung von Dem Doktor; seine Geschichten berichteten von der Fairness, der Aufrichtigkeit, der Phantasie und auch den Fehlern des großen Mannes. Klugerweise weigerte sich Tom jedoch, in jene läppischen Tonbandgeräte zu sprechen, die manche Besucher bei sich führten.
Es ist nicht ohne Ironie, dass Tom Ross 1966 zu den ganz wenigen Leuten zählte, die über Den Doktor etwas zu sagen wussten. Viele der übrigen Mitarbeiter – sowohl mit als auch ohne Akzent -, die die amerikanischen Jahre Des Doktors geteilt hatten, verharrten schweigend und grübelten über die Zeit mit Reich.
19. Szene: Das Gefängnis
Die Bundesstrafanstalt Lewisburg war groß und öde. Man wurde durch eine Schleuse aus zwei verschlossenen Türen eingelassen, so dass immer Gitterstäbe zwischen einem selbst und allem, was man sah, waren. In der Haupthalle waren die Decken hoch, und Schatten fielen auf den gebohnerten Boden.
Beim Eingang standen alte Glasvitrinen voller Geldbörsen und Kämme, die die Gefangenen angefertigt hatten, um sich ein Taschengeld zu verdienen. Inmitten der großen Halle stand ein Pult, an dem man sich in die Besucherliste eintrug, und dann wandte man sich nach links, und Schritte folgten einem durch die Halle.
Am Ende der Halle befand sich ein großer Raum mit Stühlen und Sofas, die so angeordnet waren, dass der Gefangene auf dem Stuhl vor dem Tisch saß und die Besucher ihm gegenüber auf dem Sofa. Die Sofas waren mit glattem, grünen und rotem Kunststoffmaterial bezogen. Beim Eingang war ein freier Platz, auf dem eine schwarze Gummimatte lag. Das war eine Art Auslauf für Umarmungen und Zärtlichkeiten.
Entlang der Wände waren Wachen postiert. Daddy trug eine blaue Uniform, nur war sie aus Drillich, und sein Gesicht sah traurig aus. Ich besuchte ihn zusammen mit Aurora. Daddy sagte, sie wollten in der Gefängniskapelle heiraten. Im Gefängnis hatte er angefangen, in die Kirche zu gehen, und er sandte mir Gebete und ein Blatt aus der Kirchenzeitung, auf dem die „Betenden Hände“ von Dürer abgebildet waren.
Wir sprachen leise miteinander. Er fragte mich nach der Schule, und ich sagte ihm, da sei alles in Ordnung. Er fragte mich nach Mädchen, und ich sagte ihm, da wäre ein Mädchen in Maine gewesen, als ich im Sommer bei Bill und Eva war. Ihre Brust habe genau in meine Hand gepasst, und ich hätte dabei ein Gefühl gehabt, als liefe ich durch Gras. Er sprach nicht viel über sich selbst, aber er sagte, er habe von einem anderen Häftling gehört, man habe vermutet, er – Daddy – sei in seiner Zelle umgebracht worden, aber aus irgendeinem Grund sei das nicht geschehen.
Als die Besuchszeit um war, umarmten wir uns auf der langen Gummimatte, und ein Wärter führte ihn zu einer vergitterten Tür am Ende des Raums ab. Wir schauten ihm nach. Nachdem der Wärter die Gittertür geschlossen hatte, drehte sich Daddy in seinem blauen Hemd um, sein Blick wanderte durch den ganzen Raum, und er schaute mich an, und dann winkte er und war hinter den Gittern verschwunden. Schritte folgten uns den ganzen Weg zurück durch die Halle.
„Es war in Ordnung“, sagte ich. „Irgendwie traurig.“
20. Szene: Der Tod
Sheffield ist eine hübsche kleine Stadt auf dem Land, und wir wohnten in einer kleinen Wohnung im obersten Stockwerk eines großen, alten Neuengland-Hauses direkt an der Route 7. Ed und ich hatten viel Spaß miteinander, und an Halloween, dem Abend vor Allerheiligen, gingen wir sogar von Haus zu Haus und bettelten um Süßigkeiten. Die Abende verbrachten wir damit, Hausarbeiten für Oakwood zu machen oder fernzusehen. Am Morgen des 3. November, einem Sonntag, läutete das Telefon; Mammi nahm ab. Von dem Schlafzimmer aus, das ich mit Ed teilte, hörte ich, wie sie sagte: „Hallo? Ja. Wie bitte?“ Dann wurde ihre Stimme plötzlich gespannt und schrill. „Wann? Oh, mein Gott. Oh, mein Gott.“
Ich rannte ins Wohnzimmer und lauschte. Sie weinte ins Telefon und sagte: „Oh, mein Gott. Oh, mein Gott.“ Ich schaute sie an.
„Mammi, was ist los?“ Sie schüttelte den Kopf. „Oh, mein Gott.“
Sie war in die Couch gesunken und hielt weinend den Hörer.
„Hat es was mit Daddy zu tun?“
Sie nickte, wankte hin und her und weinte in den Hörer.
„Ist er tot?“
Sie nickte, oh, mein Gott.
Der Vormittag ging nur schleichend vorbei, und ich betrachtete durch die Doppelfenster eine verschwommene Welt. Draußen erweckte es nicht den Anschein, als müssten sich die Bäume bewegen, aber sie taten es, ließen die letzten Blätter auf Weg und Rasen fallen und lautlos ihre Zweige hin und her federn. Es war traurig zu sehen, wie ein Fenster so viele Bewegungen erstarren ließ.
Sein Herz hatte ausgesetzt, und am Morgen hatten sie ihn gefunden, nachdem er sich beim Namensaufruf nicht gemeldet hatte. Ich hätte gern gewusst, ob er beim Sterben aufgewacht war oder ob ihn der Tod im Schlaf ereilt hatte.
21. Szene: Das Begräbnis
Der Tag des Begräbnisses war grau verhangen, und ich trug einen schwarzen Anzug und einen roten Schlips, und der Fußboden war rot. Tom hatte den Linoleumboden gewachst, so dass er glänzte und die Sohlen daran haften blieben. Bill und Dr. Baker richteten die Beerdigung aus, und es geschah alles in dunklen Schatten auf dem Linoleum. Draußen war der Boden mit gelben und roten Blättern übersät, und ich ging unter eine nässetropfende Kiefer, um mit dem Fuß in den Nadeln herumzustochern und nach etwas zu suchen, das ich dort – meiner Erinnerung nach -vergraben hatte.
Auf den Nadeln standen glänzende Wassertropfen. Wir holten einen Plattenspieler, um das Ave Maria und andere Stücke spielen zu können, und der Aufkleber auf der Platte war rot, aber nicht so rot wie der Fußboden. In der Mitte des Bodens stand matt kupferfarben der Sarg. Draußen blies der Wind, und es nieselte. Ich beobachtete einen Augenblick lang die Wolken, aber der Boden war so rot. Dr. Baker stand auf, um etwas zu sagen, und seine Füße sanken ins Linoleum ein. Meine Schuhe drehten sich um und rannten auf dem Teppich die Treppe hinauf, wo der Teppich weich und purpurn und rauh an meinen Händen und Wangen war, meinen brennenden Wangen. Ich lag lange auf dem Boden des Arbeitszimmers und flüsterte: komm zurück, komm zurück, und als ich aufstand, war ein roter Fleck im Teppich.
Draußen fuhr mir der Wind kühl über Wangen und Haar, und es bewegten sich, von hochgezogenen Schultern notdürftig gegen den Novemberwind geschützt, viele Gesichter umher. Der Wind blies, und jemand stand auf dem Grab und machte sich bereit, den Sarg hinabzulassen. An der Wand der Grabstätte lehnte eine große Sperrholzplatte, mit der das Grab abgedeckt werden sollte. Sie war gelb und wurde vom Wind fast umgeblasen. Ich hielt sie aufrecht, als der Sarg hinabgelassen wurde. Ich wollte Daddys Rasiermesser hineinlegen, damit er sich rasieren konnte. Dann kamen einige Männer und nahmen die Sperrholzplatte. Sie ächzten, als sie die Abdeckung auf das Grab hoben. Dann legten sie einen Teppich über die Platte und stellten Daddys Büste darauf. Der Teppich war rot.
Das Thema: Aria
Daddy ist ein Wissenschaftler. Er ist noch eine Menge anderer Dinge und hat viele Bücher geschrieben. Und er war ein Psychiater oder Psychoanalytiker, ich kann einfach die vielen Dinge mit Psycho nicht auseinanderhalten. Er ist auch ein Lehrer, und all jene Leute, die vor der Leinwand sitzen, sind nur gekommen, um von ihm zu lernen, da er doch die Lebensenergie entdeckt hat.
Danach
„Gab es einen Ort zu dem ich laufen konnte, ohne in den Film meines Vaters verwickelt zu werden?“
Diese Frage stellt sich der 26-jährige Autor, wachgerufen durch die Dreharbeiten zu einem Film von Makavejev über seinen Vater.
Die Frage verfolgt ihn in seiner Berufslaufbahn, welche eine militärische Ausbildung einschließt. („Ich bedaure, dass er mir eine Beziehung zu militärischer Autorität vermittelt hat, die mit seiner Väterlichkeit in Einklang stand – aber nicht zu seiner Grundhaltung passte.“)
Sie begleitete ihn ebenso bei den vielen von ihm praktizierten Übungen um seine „Hartleibigkeit“ zu lösen. „Ist das nicht nur ein weiterer autoritärer Befehl, ein Kommando, dem ich allzu bereitwillig gehorche? Kann ich denn nichts aus eigenen Stücken tun?“
Und in seinen Beziehungen zu Frauen: „Mir zu gestatten, eine Frau zu lieben, hätte bedeutet, all diese Angst zu teilen. Es hätte bedeutet, mit ihr zu teilen, wer ich bin, und dazu war ich meinem Vater zu ergeben.“
Aufgeweckt wie aus einem Traum beginnt Peter Reich sich schmerzvoll bewusst zu werden, wie schwierig eine normale Lebensführung für ihn war. Die im Buch beschriebenen Szenen spiegeln eine Überforderung des Jungen wider, eine Überforderung der einzige Gefährte zu sein, der „tapfere Soldat“ an Reichs Seite, der Eingeweihte, welcher das Wissen mit den Kameraden nicht teilen durfte, überfordert auch mit dem Wunsch, ihn nicht im Stich zu lassen, ihm die Treue zu halten. Und – Reichs Entdeckungen zu begreifen.
„Und solange ich nicht besser unterrichtet bin über das, was die Wissenschaft über die Lebensenergie nicht weiß, habe ich keine andere Wahl, als das zu glauben, was ich als Kind erlebt habe. Ich glaube, mein Vater hat vom Lebensprozess mehr begriffen, als die meisten Leute emotional akzeptieren können. Mich selbst eingeschlossen. Ich muss noch viel aufarbeiten, aber ich laufe immer noch davor weg.“
Wo er wohl angekommen ist, der jetzt 52-jährige Peter Reich?
29 Jan
Bukumatula 2/1997
Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
Will Davis
Wilhelm Reich beschrieb die Muskelpanzerung als neuromuskuläre, kontraktive Reaktion auf physischen und psychischen Stress. Die anhaltende Kontraktion führt zur Entwicklung des psychischen und somatischen Charakters.
Während des kontrahierten Zustandes und der offensichtlich negativen Auswirkungen stellt sich nun die Frage, was diese Kontraktion denn genau ist. Wenn wir eine Faust machen und dann versuchen unseren Arm ca. 20 Minuten lang oder sogar kürzer vom Körper wegzuhalten, werden wir herausfinden, dass dies nicht ohne spezielles Training möglich ist. Den Theorien Reichs entsprechend kontrahieren wir unsere Muskeln zwanzig Jahre oder länger. Wie ist das möglich? Wenn der Festhalteprozess eine muskuläre Aktivität ist, warum ermüdet der Muskel dann eigentlich nicht?
Die reichianische Theorie behauptet auch, dass wir unsere Gefühle unterdrücken und jahrelang durch Muskelanspannung zurückhalten können. Wenn dies so wäre, könnten wir uns beim Arzt ein Muskelrelaxans besorgen. All unsere unterdrückten Gefühle würden frei und wir bräuchten nicht in jahrelanger Psychotherapie an uns zu arbeiten. Wir wissen auch, dass Relaxantien keine Gefühle auslösen, wenn sie zur Muskelentspannung eingesetzt werden. Was also hält diese Gefühle zurück, wenn die Muskulatur entspannt ist?
Schizoide werden generell als die Struktur gesehen, die physisch am meisten kontrahieren und psychisch starr sind. Allgemein werden sie als dünn und klein beschrieben. Wenn sie so kontrahiert sind und ihre Muskulatur so schwach ausgebildet ist, was hält dann all die Gefühle zurück?
Es gibt auch den Gedanken, dass Kontraktionen im Gehirn spezifische psychische Störungen verursachen. Jedoch gibt es keine Muskulatur im Gehirn. Was kontrahiert sich da? Reich behauptet aufgrund der beobachteten Störungen, dass die verspannte Muskulatur an der Schädelbasis den freien Energiefluss ins Gehirn verhindert.
Dies könnte so sein. Wir denken auch, dass Kontraktionen im Gehirn stattfinden können und die Frage, was sich kontrahiert, sowie die vorhergehenden Fragestellungen, können dennoch so beantwortet werden, wie Reich es gelehrt hat. Es handelt sich um eine plasmatische Kontraktion in Gestalt des Bindegewebes. Es sind nicht die Muskeln selbst die blockieren, sondern es ist eine chronische Kontraktion des plasmatischen Systems, die der Struktur als auch der Funktion des Bindegewebes entsprechen. Die stärkste und klarste Form der Kontraktion ist im schizoiden Prozess zu erkennen.
In diesem Artikel geht es darum, Reichs Konzept der plasmatischen Kontraktion und des muskulären Panzers von einer biologisch/ funktionalen Perspektive aus zu beleuchten. Wir werden herausfinden, dass die plasmatische Kontraktion und der muskuläre Panzer – obwohl sie miteinander verknüpft sein, bzw. sich überdecken können – sich grundsätzlich voneinander unterscheiden und daher besonderes Verständnis und entsprechende therapeutische Interventionen erfordern. Üblicherweise sind reine Charaktertypen seltener anzutreffen als Mischtypen.- Die Beziehung von Bindegewebe und Muskulatur ist gut dokumentiert. Es ist gut möglich, diese zwei anatomisch und funktionell unterschiedlichen Gewebe zu trennen, um die Ursache für den Charakterpanzer – sowohl physisch wie psychisch – klarer darzustellen und unser Verständnis dahingehend zu vertiefen, wie dieses Phänomen zu sehen, bzw. zu behandeln ist.
Der „rein“ schizoide Charakter entsteht aus einem kontrahierten plasmatischen Prozess, und nicht aus einer neuromuskulären Panzerung. Andere Strukturen (phallische Strukturen, Wutstrukturen, psychopathische Strukturen) repräsentieren das andere Ende eines gleitenden Kontinuums und die eher traditionelle Idee, dass die kontrahierte Muskulatur blockiert und hält. Als Folge nehmen wir einen eher extremen Standpunkt ein, wenn wir sagen, dass alle anderen Charakterstrukturen mehr miteinander zu tun haben, als der schizoide Charakter mit irgendeiner anderen.
Das heißt, wir qualifizieren, indem wir auf vorher gesagtes verweisen, nämlich, dass die meisten Strukturen Mischstrukturen sind. Wenn wir jedoch klassische Strukturen betrachten, können wir beobachten, dass hier im wesentlichen zwei verschiedene Prozesse ablaufen. Es geht um einen qualitativen, nicht um einen quantitativen Unterschied. Beim Schizoiden arbeiten andere Kräfte, und diese müssen verstanden werden, damit wir lernen, besser damit zu arbeiten.
Das Hauptcharakteristikum des Schizoiden ist eine Frühstörung mit physischen und psychischen Schockthemen, die sich durch ihre Biographien ziehen. Dieses Thema wird in Teil 2 genauer erklärt. Hier präsentieren wir einen allgemeinen Überblick des schizoiden Zustandes – physisch, emotional und psychisch -, damit wir eine Grundlage für weitere Diskussionen anbieten können. Die vorliegende Tabelle beschreibt die Hauptcharakteristika des Schizoiden. Wir können diese Tabelle während der Diskussion als einen allgemeinen Überblick über den Verlauf des schizoiden Prozesses verwenden.
TABELLE 1
SCHIZOIDE CHARAKTERISTIKA – physisch/emotional/psychisch
Physisch
Psychisch/Emotional
EINE PARADOXE STRUKTUR
Der Schizoide weist verschiedene Widersprüche auf. Campbell´s Psychiatrisches Wörterbuch beschreibt „schizoid“ als einen ungenauen Begriff, der von verschiedenen Autoren unterschiedlich benutzt wird. Ich finde den Schizoiden als den am besten getroffenen der Charakterstrukturen – und den faszinierendsten, trotz der auftretenden Schwierigkeiten. Wir wollen aber zuerst die Probleme ansehen, die Widersprüchlichkeiten, die so deutlich das schizoide Funktionieren repräsentieren.
Paradoxe:
emotionslos | dennoch | dünnhäutig leicht verletzbar sehr gespannt |
alleine/einsam | dennoch | fähig zu tiefem Kontakt mit sich selbst – und zu anderen |
starr/rigid/spröde | dennoch | zusammenhangslos vollständiges Verlorensein auseinanderfallen abgespalten |
dünn/schmal | dennoch | unverwüstlich/stark |
kontrahiert/kontaktlos | dennoch | näher beim Kern als andere tiefes Verstehen |
Wie können wir diese komplexe und konfuse Struktur verstehen? Wie ist es möglich beides zu sein: physisch aufgelöst und trotzdem so kontrahiert? So distanziert und zurückgezogen und trotzdem zu stärksten und womöglich gefährlichen Ausbrüchen von Zorn und schrecklicher Angst
fähig?
Unser Verständnis des schizoiden Prozesses basiert auf den zwei reichianischen Themen der plasmatischen Kontraktion und der funktionellen Herangehensweise. Das Plasma-System ist die physische, biologische Manifestation von Reichs funktionaler Herangehensweise und damit können wir beides vertiefen, sowohl das Verstehen dieses Charakters, als auch das Grundwissen unserer Konzepte von klarem, einfachem biologischen Funktionieren.
In der Darstellung der in allen lebendigen Organismen vorkommenden Pulsation, schrieb Reich über die wellenförmigen Bewegungen der Amöbe und beschrieb den Fluss der Bewegungen. Ebenso beschrieb er wie das Plasma bei lustvoller Erregung nach außen strömt und bei angst- und schmerzvoller Erregung kontrahiert.
Zunächst aber: Was ist Plasma? Gray’s Anatomie-Lexikon beschreibt die Haupteigenschaften ähnlich dem von Eiweiß. Es ist zähflüssig, klebrig, amorph und extrem erneuerungsfähig; es kann sich von einer Lösung in ein Gel, in ein Kristall und wieder zurück in eine Lösung bringen lassen. Seine Erneuerungsfähigkeit zeigt sich ebenso in seiner erstaunlichen Eigenschaft, Flüssigkeit abzugeben und wieder aufzunehmen, um dann seine ursprüngliche Form nach Zuführung von Flüssigkeit wieder anzunehmen. (Darin liegen auch die unglaublichen Veränderungen, die wir durch unsere Arbeit an Körper und Psyche beobachten können und darin liegt einige Hoffnung für die Körperpsychotherapie.)
Des weiteren findet man in Gray´s Lexikon über Plasma, dass es vitale Eigenschaften hat und innere Kräfte: Bewegung, Ausdehnung, Wachstum, Anziehungskraft für die Nahrungsaufnahme. Es ist die physische Grundlage für Leben. (Es ist von nicht geringer Bedeutung, dass diese Eigenschaften Reichs Beschreibung des Orgons und seiner Funktion im Lebendigen ähnlich sind.)
Was hier besonders ins Auge sticht ist die letzte dieser Eigenschaften, die physische Grundlage des Lebens. Das Plasma ist die früheste, die primäre Lebenssubstanz. Primär in dem Sinne, dass es sich früh in der Entfaltung des Lebens vor Millionen Jahren entwickelt hat, und es ist primär in dem Sinne, dass es sich in jedem von uns 12 Tage nach der Empfängnis entwickelt.
Es ist „the soup of life“. Es ist das Meer, in dem alle von uns und unsere getrennten Teile treiben. Es ist der Ort der Existenz, der Raum, in dem wir leben können.
Man betrachte das Meer vom Grund bis zur Oberfläche mit all den verschiedenen Formen von Leben – Pflanzen und Tieren, mikro- und makroskopisch. Sie alle werden durch das Medium unterstützt, welches wir Meer nennen. Sie werden nicht nur unterstützt, sondern es wird ihnen ein Raum gegeben, ein Raum, in dem sie existieren können.
Das Plasma ist das innere Meer, in dem wir „treiben“. Jeder einzelne Teil unseres Körpers ist darin eingetaucht, ganz umgeben von dieser Halbflüssigkeit. Tatsächlich ist jede einzelne Zelle mit dieser Halbflüssigkeit gefüllt. Sie ist überall vorhanden und als Folge sind alle psycho-somatischen Funktionen direkt davon abhängig. Und so wie alle Lebensformen im Ozean durch Umweltverschmutzung negativ beeinflusst werden, werden unsere ganzen Lebensfunktionen gestört, wenn unser Plasma „verschmutzt“ wird. Für den Körperpsychotherapeuten ist die bedeutsamste Form der Verschmutzung die chronische Kontraktion. Und die früheste, stärkste und tiefste Kontraktion ist der schizoide Zustand.
Die Geschichten von drei verschiedenen KlientInnen helfen uns die Bedeutung von Plasma und seine Rolle in der Entwicklung des schizoiden Charakters zu verstehen. Ich hatte einen Klienten, der berichtete, dass seine Mutter bei seiner Geburt unfähig war ihn in der ersten Stunde im Arm zu halten, weil die Mutter meinte, dass er ihrem Vater zu ähnlich sah. Ein anderer Klient berichtete, dass seine Mutter bei der Geburt „verrückt“ wurde und er einige Monate lang von einer Tante versorgt wurde, bis es der Mutter wieder besser ging. Eine Klientin erzählte, dass sie – drei Monate alt – von der Familie an einen „anderen Ort“ gebracht wurde und erst nach einem Jahr wieder in die Familie zurückkehren konnte.
Alle diese Geschichten haben eine frühe Trennung mit einer als wahrscheinlich anzunehmenden Kontraktion und einem Trauma zum Thema. Jede Geschichte ist einzigartig. Die Fakten sind unterschiedlich, Täter und Opfer sind unterschiedlich und die Gründe für jeden Fall sind andere. Und somit haben wir drei Individuen. Aber auf einer tieferen Ebene, und ich denke, es ist die tiefste Ebene, ist alles dasselbe. Auf der psychosomatischen Ebene ist für jedes Individuum seine bzw. ihre Geschichte persönlich von Bedeutung. Aber für den Organismus selbst sind die Unterschiede nicht von Bedeutung. In allen drei Fällen war die Antwort dieselbe: eine plasmatische Kontraktion. Jeder dieser Klienten hat seine eigene Strategie entwickelt – seine Charakterstruktur – um mit seiner persönlichen Vergangenheit umzugehen. Aber auf der ganz primären Ebene ist die Strategie die gleiche – die chronische plasmatische Kontraktion; eine Verschmutzung des Meeres des Lebens. Psychosomatisch sehen wir eine Vielfalt von speziellen Verhaltensformen, die entwickelt wurden, um mit der eigenen Geschichte umzugehen, wie jedes Individuum für sich die Situationen gemeistert hat. Auf der funktionellen Ebene sind alle drei dasselbe: eine frühe plasmatische Kontraktion.
Die Strategie der plasmatischen Kontraktion entsteht aus einem ganz einfachen Grund. Es ist die einzige Strategie des Fötus und des Neugeborenen. Es ist in diesem frühen Stadium das einzige zur Verfügung stehende Abwehrsystem.
Betrachten wir die Amöbe. Sie hat kein Muskelsystem und kein psychisches System, soweit wir wissen. Im Gegensatz dazu bilden diese zwei Systeme – Psyche und Soma – die Basis für das menschliche Abwehrsystem – sowohl für das gesunde als auch das neurotische. Ohne Muskeln anspannen zu können, um zu kämpfen oder zu flüchten, ohne den psychischen Apparat des Egos, ohne verstehen und vorwegnehmen von Situationen, ist die Amöbe schutzlos, ausgenommen der Fähigkeit, sich bei drohender Gefahr zusammenzuziehen. Alles was sie tun kann, um sich zu schützen, ist zu kontrahieren.
Das gleiche gilt für den Fötus und das Neugeborene. Solange ein Kind seine Muskulatur nicht willkürlich in Bewegung setzen kann, kann es diese Systeme nicht abrufen, um sich zu verteidigen. Ohne zurückschlagen zu können, die Augen verdecken oder weglaufen zu können, ist es – außer durch plasmatische Kontraktion – gänzlich hilflos.
Das trifft auch auf den psychischen Bereich zu. Solange das Kind die Situation nicht einordnen kann, solange es kein stabiles Ego, keine Eigenwahrnehmung bzw. Planungsfähigkeit besitzt, bleibt ihm nur die plasmatische Kontraktion – der Rückzug aus dem Kontakt – um sich zu schützen.
Gleiches gilt auch für den emotionalen Bereich. Solange das Kind keine wütende Antwort geben kann, ist es emotional unfähig, sich zu schützen. Angst – Kontraktion – ist alles, worauf es sich berufen kann.
Als Folge dieser frühen plasmatischen Kontraktion, also solange das Kind ansonsten schutzlos ist, sehen wir das typische Verhalten eines erwachsenen Schizoiden im psychischen und somatischen Bereich. Und die Art und Weise, wie wir das verstehen können, wird über die Funktionen des Bindegewebes deutlich.
Bindegewebe ist ein allgemeiner Begriff für die verschiedenen Arten von Gewebe, die auf verschiedenen plasmatischen Stadien beruhen. Das Plasma ist die Basis dieser Gewebe. Ein heute gebräuchlicher Ausdruck für Plasma ist auch „Grundsubstanz“. Wie vorher schon erwähnt, kann das Plasma oder die Grundsubstanz sich in unterschiedlichen Stadien der Konsistenz befinden – als Lösung, als Gelatine, als Kristall. Innerhalb dieser Grundsubstanz gibt es verschiedene Arten von Zellen und Fasern. Die Zusammensetzung dieser verschiedenen Zellen und Fasern und die Konsistenz der Grundsubstanz bestimmen, welche Arten von Gewebeverflechtung wir vorfinden: Faszien, Knorpel, Sehnen, Bänder, Schleimhäute; auch Knochen und Blutplasma sind Bindegewebe.
Zuerst wollen wir uns die Hauptfunktionen der verschiedenen Arten von Bindegewebe ansehen und sie dann mit den psychischen und somatischen Eigenschaften des Schizoiden vergleichen.
Das Wort Plasma, stammt aus dem Griechischen und bedeutet: kneten, formen, bilden. Nicht überraschend, denn eine der Hauptfunktionen des Bindegewebes ist das Schaffen von Gestalt und Raum.
In Forschungen wurde beschrieben, dass beim Eintauchen eines Tieres in Säure sich alles außer dem Bindegewebe auflösen würde. Wenn man das Tier wieder herausnimmt, hat es immer noch die gleiche Form wie zuvor. Von außen würde es gleich aussehen. Und von innen auch. Wir könnten nach innen spähen und den Platz für das Herz sehen, die Lungen – alle inneren Organe. Es wäre, als ob noch alles dort wäre, aber nicht sichtbar. Alle Blutgefäße, Nervenscheiden und serösen Membrane wären intakt, ebenso die Knochen. Das Bindegewebe umgibt den Körper direkt unter der Haut und gibt ihm sein äußeres Erscheinungsbild. Ebenso schafft es alle Formen und Räume im Inneren, so dass jedes Organ, buchstäblich jede Zelle ihr eigenes Zuhause, ihren eigenen Platz hat.
Zusätzlich verbindet, verkapselt und trennt das Bindegewebe verschiedene Teile des Körpers. (Hier sehen wir wieder ein Paradox – etwas das gleichzeitig sowohl trennt als auch verbindet.)
Es ist klar, dass das Bindegewebe seinen Namen von einer verbindenden Funktion hat. Seine primäre Rolle ist das Zusammenhalten. Es ist der „Klebstoff“ der getrennten Teile des Körpers. Es ist das, was uns zusammenhält. (Bei Überforderung löst sich der Klebstoff bei Schizoiden.) Als Folge dieser verbindenden Funktion gibt es ein vernetztes System im ganzen Körper. Jeder Teil des Körpers ist direkt mit allen anderen Teilen des Körpers durch das Bindegewebe im allgemeinen und die Faszien im besonderen verbunden.
Ida Rolf hat herausgestrichen, dass, wenn man an einer Stelle eines Pullovers zieht, man die Falten als Linien der ausstrahlenden Spannung zu den anderen Teilen des Materials sehen kann. Entsprechend dem Netzwerksystem des Bindegewebes gilt das gleiche auch für den menschlichen Körper. Wird ein Teil des Körpers einer Spannung ausgesetzt, sind alle anderen Teile in unterschiedlichem Maße davon betroffen.
Eine weitere Funktion hat das Bindegewebe, indem es dem Körper die aufrechte Haltung gibt, unterstützt, sie verstärkt; denken wir dabei an den vertikalen linien-/röhrenförmigen Körper eines klassischen Schizoiden.
Außerdem schützt es die Integrität des Organismus gegen äußere und innere Störungen. Für Körperpsychotherapeuten würde das beides einschließen: sowohl physischen als auch psychischen Schaden.
Die Integrität des Organismus hat mit dem Sich-sicher-fühlen in der Welt zu tun. Wenn diese Funktion im Schizoiden zusammenbricht, löst das direkte existenzielle Not aus. Wegen des frühen Traumas ist die Integrität des Organismus bedroht. Plasmatische Kontraktion taucht auf und das Bindegewebe kann seine Funktion des Schützens der Integrität des Organismus nicht wahrnehmen. Er fühlt sich Gefahren ausgesetzt. Es entsteht eine Hintergrundangst, die Angst zu „verschwinden“. Das Griechische kennt ein Wort dafür: Lyse. Es bedeutet das plötzliche, zu schnelle Auflösen eines Systems. Paralyse – Lähmung – ist ein Versuch des Organismus, mit dieser Auflösung, dem rapiden Verschwinden, umzugehen. Deshalb die gefrorene, paralysierte Qualität des Schizoiden. Es ist eine korrekte Anpassung – eine verzweifelte Anpassung – an eine sehr ungesunde und gefährliche Situation.
Aus diesem Grund entstehen beim Schizoiden sehr schnell existentielle Fragen. Lebe ich in dieser Welt? Und wenn, dann wo? Wo ist mein Platz in dieser Welt? (Die mystischen Schizoiden fragen sich noch selbst: „Möchte ich in dieser Welt leben?“)
Der Versuch, den Schizoiden aus seinem gefrorenen, paralysierten Status gewaltsam herauszuholen, ist gefährlich. Auf der organischen Ebene wissen sie das. Das ist es, warum wir so viel Widerstand und Vermeidungsverhalten in der Körperarbeit sehen. Die Techniken wurden entwickelt, um „nieder- oder durchzubrechen“. Schizoide wissen, dass sie bei einer Arbeit mit solch einem Ansatz in Gefahr von Auflösung stehen.
Die nachfolgende Aufstellung zeigt die Verwandtschaft der Funktionen des Bindegewebes und des psychischen und somatischen Verhaltens von Schizoiden.
TABELLE 2
GEMEINSAMKEITEN VON BINDEGEWEBE UND VON SCHIZOIDEN | |
---|---|
Funktionen des Bindegewebes | schizoides Verhalten |
frühe Entwicklung im Organismus festigt sich gegenüber Eindringen/Störungen | frühe Störung im Organismus plasmatische Kontraktion erst Abwehrhaltung |
unterstützt den Organismus | Kontraktion bedeutet Geerdet sein Innerer Grund Lähmung |
schützt die Integrität des Organismus | kontrahiert, um nicht zu verschwinden Lyse/Paralyse |
erschafft Aufrechtsein | Vertikallinie des Schizoiden |
schafft Raum und Platz | kein Raum, kein Platz in der Welt |
dehydriert | trocknet aus |
re-hydriert | setzt „Fleisch“ an, füllt aus |
kristallisiert | schwach/zerbrechlich |
sehnig | gespannt |
belastungsfähig | drahtig, sich nicht leicht unterkriegen lassen |
Netzwerksystem | Ganzkörperkontraktion |
„snapping“ – alles oder nichts | ;“snapping“ – fällt auseinander, von nichts bis zu viel |
unter Spannung | röhrenähnlich |
entwickelt Parallellinien | Vertikallinie des Körpers |
wenig Gefäß- und Innervation | kalt, distanziert, kontaktlos wenig Wahrnehmung wenig Reaktion |
separiert/ verkapselt/verbindet | isoliert/einsam/getrennt |
steuert Stoffwechsel | unterernährt |
Wenn wir uns diese Aufstellung ansehen, können wir beginnen, die funktionelle Verwandtschaft von Bindegewebe und dem Schizoiden zu verstehen.
(Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz)
Fortsetzung in BUKUMATULA 3/97
29 Jan
Bukumatula 3/1997
Fortsetzung von Bukumatula 2/97
Nachruf aus Anlaß des Ablebens von Myron Sharaf am 13. Mai 1997
von Heiko Lassek
Myron Sharaf war einer von wenigen persönlichen Studenten Wilhelm Reichs. Bis heute hat er an der Harvard Medical School, einer der angesehensten Universitäten der Welt, Vorlesungen und Seminare über Psychiatrie gehalten, daneben eine Assistenzprofessur für Kunst innegehabt und täglich Patienten in seiner Praxis gesehen. Über zehn Jahre arbeitete er an der Biographie über seinen Lehrer und Ausbilder. Mit Sharafs Biographie über Wilhelm Reich war zum ersten Mal im deutschen Sprachraum ein Erfassen der Größe, Tragweite und Widersprüchlichkeit des Gesamtwerkes und der Persönlichkeit Wilhelm Reichs möglich geworden.
Ich lernte Sharaf 1984 in München auf einer internationalen Konferenz kennen, in deren Rahmen er seine Biographie vorstellte, die in den USA gerade erschienen war. Aus diesem Zusammentreffen entwickelte sich durch mehrmals jährlich stattgefundene gegenseitige Besuche eine tiefe Freundschaft, die bis heute andauerte. Als Myron 1986 zum ersten Mal für einen mehrwöchigen Aufenthalt nach Berlin kam (dies war seitdem Tradition und führte auch zu zahlreichen Privatbesuchen) gab er einen Workshop für erfahrene Therapeuten.
Mir – und wie sich später herausstellte – allen Teilnehmern erging es so, dass nach der ersten Stunde eigentlich jeder nach einer Möglichkeit suchte, aus dem Raum zu kommen; derart präzise, brillant und auch scharf benützte Sharaf Methoden der Vegetotherapie, Techniken der Psychoanalyse und des Psychodramas in der konkreten Arbeit. Innerhalb von zwei Minuten war er auf dem Punkt, der in der Entwicklung des jeweiligen Klienten noch nie bearbeitet worden war. Erst im Verlauf des Wochenendes wurden seine ungeheure menschliche Wärme und sein tiefer Humor in der Arbeit offenbar. In den folgenden Jahren wurde Berlin zum Zentrum seiner Arbeit.
Myron war Myron – eine einzigartige Kombination aus älterem Universitätsprofessor, Schüler und Mitarbeiter Wilhelm Reichs und erklärtem Humanisten alter Schule. Ein Wochenende mit ihm und einer Gruppe war wie ein Schauen von unzähligen Filmen, in denen die Teilnehmer die Hauptrolle spielen, mit Humor und Tiefe die Verschiedenheit, Einzigartigkeit ihres persönlichen Lebens und das Gemeinsame, was alle Menschen miteinander verbindet, erschauen, erfahren und erfühlen konnten.
Ende März 1997 waren wir anlässlich der Feier des Bostoner Goethe-Instituts zum einhundertsten Geburtstag von Wilhelm Reich das letzte Mal für eine Woche zusammen. Auf der in einer wunderschönen Atmosphäre, mit vielen geladenen Gästen abgehaltenen Feier, hielt Myron einen seiner besten mir bekannten Vorträge über seine Zeit mit Reich in Anwesenheit von fast allen Familienangehörigen (Ilse Ollendorf, Lore Reich, Peter Reich und deren Kinder).
In Wien, im Mai 1997, eröffnete er mit anderen Kollegen zusammen die Gedenkfeier der Europäischen Körperpsychotherapieorganisationen. Danach kam er – einen Tag früher als geplant – nach Berlin, das er in zahlreichen Interviews als seine zweite Heimat bezeichnete. Wir sprachen an seinem letzten Abend lange telefonisch über Freunde und die vergangene Konferenz – er hatte fast alle alten Bekannten dort noch einmal wiedergesehen.
Am nächsten Abend wollten wir essen gehen. Zwischen 9.15 und 9.40 Uhr verließ Myron diese Existenz auf die vorstellbar friedvollste Weise: auf einen Patienten wartend, lag er wie schlafend ohne Zeichen eines überraschenden Ereignisses auf der Behandlungsliege seines Therapiezimmers. In den folgenden Stunden versammelten sich viele seiner Berliner Freunde schweigend um ihn bis zum späten Nachmittag.
„Warum sind keine Reichianer im Himmel? Auf dem Weg zum Himmel gibt es eine Kreuzung mit zwei Straßenschildern. Auf dem ersten steht: „Weg zum Himmel“, auf dem zweiten steht: „Vorlesungen über den Weg zum Himmel“. Aus diesem Grund findet man keine Reichianer im Himmel.“
(Myron Sharaf im Juni letzten Jahres.)
Myron ist sicher den anderen Weg gegangen. Wir vermissen Dich als Freund und Lehrer. Deine Menschlichkeit und Dein Humor bleiben unvergesslich mit uns.
Heiko.
29 Jan
Zurück zu Bukumatula 1997
Bukumatula 3/1997
Fortsetzung von Bukumatula 2/97
Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
Will Davis
Frühe Entwicklung
Das Plasma und das schizoides Stadium tauchen früh in der Entwicklung des Organismus auf. Um sich gegen traumatische Erlebnisse zu stabilisieren, unternimmt der Organismus als erstes den Versuch, plasmatisch zu kontrahieren – für einen Säugling ist dies die einzige Möglichkeit, sich zu beschützen. Somit ist der kontrahierte Zustand – die Paralyse – der einzige Schutz des Organismus gegen auftretende Störungen.
Das Bindegewebe sorgt für Stabilität, Halt, Schutz und Raum
Das Bindegewebe schützt die Integrität des Organismus. Trauma und Schock bedrohen die Integrität und werden als existentielle Gefahr erlebt. Das hat – als Abwehr gegen die Lyse, gegen die Angst sich aufzulösen, gegen das Verschwinden – eine Paralyse zur Folge. Zu diesem frühen Zeitpunkt gibt es für das Baby keine Möglichkeit zu verstehen, begrifflich zu erfassen oder zu verbalisieren, was passiert. Die einzige Zuflucht für den Organismus besteht darin, sich in sich selbst zurückzuziehen.
Da der schizoide Charakter in seinem Leben so viel an Zeit und Energie aufwendet nicht zu „verschwinden“, hat er große Schwierigkeiten „sich zu zeigen“, z.B. in seiner Unfähigkeit, Kontakt über eine längere Zeit hinweg aufrecht zu erhalten. Dasselbe Thema zeigt sich auch in der Unfähigkeit des Schizoiden, einen „Platz in der Welt“ zu finden. Beide Themen, Kontakt zu halten und einen „Platz“ zu finden, machen es ihm unmöglich, nahe Langzeitbeziehungen herzustellen. Diese Unfähigkeit verstärkt sein Misstrauen und seine Schwierigkeit präsent zu sein, hier in der Welt zu sein. Und so entsteht ein Circulus vitiosus; das eine Thema geht in das andere über.
Das Gefühl von „Hier gibt es keinen Platz für mich“, ein Fremder in einem fremden Land zu sein kommt auch daher, weil es das Bindegewebe ist, das Form und Raum im Körper schafft. Wenn das Gewebe plasmatisch kontrahiert, kann es seine eigentliche Funktion nicht mehr erfüllen. Der Schizoide leidet an dem zweifachen Aspekt dieses Problems: keinen Raum und keine Form zu haben.
Er leidet daran „dünn zu sein“, ohne wirklich eine „Peripherie“ zu haben.- Die Peripherie ist nahe am Core. Es gibt fast keinen physischen Raum zwischen dem Zentrum des Körpers und der Peripherie. Wenn wir eine phallische Struktur mit weit hervortretendem Brustkorb oder die „Vollheit“, die man beim masochistischen oder hysterischen Charakter findet, betrachten, können wir ausreichend Raum zwischen der Haut und dem Zentrum – der Peripherie und dem Core – erkennen.
Im Körper eines Schizoiden existiert dieser Raum nicht. Der Schizoide ist bereits im Inneren seines kontrahierten, zurückgezogenen Zustandes, und da gibt es keinen Platz mehr.
Um es auf den Punkt zu bringen: die innere Erfahrung dieses Menschen ist die von Angst, Dunkelheit und Gefahr. Wer möchte schon da drinnen bleiben? Deswegen „verlässt“ er seinen Körper oft. Deswegen wird der Körper „verloren“. Er verliert den Kontakt nicht nur zu anderen, sondern auch zu sich selbst.- Wenn er aber Kontakt zum eigenen Körper hätte, welche Erfahrung würde er dann machen? Welche Rückmeldung würde er in bezug auf seine Lebensqualität erhalten?- Deshalb bleibt er oft lieber mit der Wahrnehmung seiner Erlebnisse – mit der Idee davon, statt mit dem Erlebnis selbst, allein.
Wenn man in der Therapie keine „Durchbruchstechniken“ anwendet, um die Kontraktion zu öffnen, kann dieser Zustand eine Änderung erfahren. Mit der „Points and Positions“-Arbeit kann man den „Instroke“, das „Nach-innen-gehen“, die sammelnde Phase der Pulsation, mobilisieren. Indem wir den Einwärtsfluß ermöglichen, wird das Verlangen nach mehr Schutz unterstützt. Damit kann die Kontraktion behutsam gelöst werden, ohne existentielle Angst zu mobilisieren. Es entsteht ein Prozess der Sammlung und der Zentrierung. Klienten berichten dann von einem Gefühl einer „inneren Sonne“, von einem warmen Raum, den sie aufsuchen können, etc. Sie haben ihre Beziehung zu sich selbst verändert.
Andererseits – und das ist der zweite Aspekt der plasmatischen Kontraktion, leidet der Schizoide daran, dass er nicht „hinaus“ kann. Er wendet so viel an Zeit auf, nur um „hier“ zu bleiben, dass ihm nur wenig Energie bleibt, hinaus in die Welt zu gehen, um sich Raum zu schaffen, einen sicheren, abgesteckten Platz zu schaffen, wo er leben und Zeiten von Stress und Gefahr überstehen kann. Arbeit, langwährende Freundschaften, Liebesbeziehungen, Familie, alle äußeren sozialen Verhaltensweisen, die für uns eine Welt schaffen, in der man leben kann, sind für ihn nicht wirklich verfügbar.
Die Beziehung zwischen Bindegewebe und Muskulatur
Die schizoide Kontraktion ist eine Frühstörung. Als Folge davon ist die spätere Muskelentwicklung, die man bei anderen Strukturen beobachten kann, stark verändert, da schizoide Charaktere einen eingeschränkten Fluss der Lebensenergie in die Peripherie haben. Entwicklungsgeschichtlich bildet sich die Muskulatur später aus, als das Kind zu greifen, zu stehen, zu gehen und zu laufen lernt. Wegen der Kontraktion ist der Fluss gestört, die Peripherie bleibt unterentwickelt.
Folglich erfüllen auch die Muskeln ihre Funktion nicht. Das Bindegewebe muss nun einen Großteil der protektiven Muskelfunktion übernehmen. Dazu bieten sich zwei Möglichkeiten an:
Jeder Muskel, wie auch jedes Organ ist umgeben von einer dünnen, transparenten Hülle, der „Bindegewebshaut“. Diese Haut ist dazu da, jeden Muskel und jedes Organ zu umhüllen, um es vom benachbarten Gewebe zu trennen. Zusätzlich bietet jede Haut eine gleitende Oberfläche, die jedem Muskel und jedem Organ freie Beweglichkeit in seinem eigenen Raum erlaubt – vor und zurück, nach oben und unten, bezogen auf das umgebende Gewebe. Wenn Muskeln oder Organe unter Spannung gesetzt werden, verbinden sich diese „Häute“, sie verkleben und verbinden sich zu Muskelgruppen, um größeren Widerstand gegen die wachsende Spannung bieten zu können. Es bilden sich große, unnatürliche Muskelgruppen, die zu unbeholfenen Bewegungsabläufen führen. Eine ähnliche Funktionsbeeinträchtigung findet in den Organen statt.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass das Bindegewebe der Muskulatur zu Hilfe kommt, indem es im Muskel selbst eine fibröse Verdichtung aufbaut. In die Muskelmasse verwoben sind lange Bindegewebsfäden, die sich am Muskelende vereinigen und Sehnen bilden. Diese Sehnen erstrecken sich über die Muskelmasse und setzen – wie auch der Muskel selbst – am Knochen an und fixieren ihn an seinem Platz.
Wenn ein Muskel übermäßig angespannt wird, werden die Bindegewebsfasern zur Unterstützung aufgerufen. Das Bindegewebe beginnt sich im Muskel auszubreiten. Diese Fasern entwickeln und vereinigen sich parallel in Richtung der Spannung. Sie bilden Bündel, die aussehen und sich anfühlen wie lange, dicke Stränge. Diese tiefliegenden Faserbündel helfen den Muskel zu stärken, so dass er mit der verstärkten Spannung zurechtkommt.
Diese Bindegewebsverdichtung ist das, was wir als „Härte“ in der Muskulatur verspüren. Sie ermöglicht es, unsere Muskeln nicht nur 20 Minuten, sondern 20 Jahre anzuspannen. Unter chronischem Stress entwickelt sich das Bindegewebe mehr und mehr und verstärkt so die Haltefunktion der Muskeln, was ein Kontrahieren, Schützen, Blockieren und eine eventuelle Panzerung ermöglicht.
Auch deswegen können Muskelrelaxantien weder blockierte Gefühle, die im Gewebe gehalten sind, befreien, noch haben sie einen Einfluss auf den Stützapparat, der sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Die Bindegewebsvermehrung hält die blockierten Gefühle zurück, auch wenn die Muskulatur entspannt ist.
Das Auflösen der Bindegewebskontraktion
Es ist interessant, dass in der Arbeit mit Methoden, die zur Entspannung kontrahierter Muskulatur entwickelt wurden – tatsächlich aber auch den Bindegewebsapparat entspannen – Gefühle auftauchen können. Rolfing – die Arbeit mit direktem, kräftigem Druck auf die Muskulatur und das dazugehörende Bindegewebe – wird gelegentlich Emotionen freisetzen. Aus diesem Grund haben Therapeuten, die mit „Points and Positions“ arbeiten, auch eine Technik der Osteopathie übernommen. Es ist eine sanfte Art mit Druck zu arbeiten, wie sie z.B. in der Physikotherapie angewandt wird; es besteht nicht die Absicht, Gefühle zu mobilisieren. Wir haben diese Technik, die entwickelt wurde, um auf der neuromuskulären Ebene zu wirken, so verändert und weiterentwickelt, dass sie auch auf der plasmatischen Ebene angewandt werden kann. Das Ergebnis ist eine tiefe Befreiung von blockierten Bewegungen, Empfindungen und Gefühlen, die Bewusstheit schafft. (Davis, Energy&Charakter, April 1985)
Diese Technik ist in der Arbeit mit Schizoiden überaus wirkungsvoll. Es ist ein langsamer, nicht bedrohlicher Entspannungsprozess, mehr im Sinne von Schmelzen als von Nieder- oder Durchbrechen.
Wenn Muskelrelaxantien das Bindegewebe nicht beeinflussen und den Muskeln nicht zu wirklicher Entspannung verhelfen, stellt sich die Frage, warum einige Techniken Ergebnisse zeigen, die ursprünglich unbeabsichtigt waren.
Wie schon früher erwähnt, ist die Geschmeidigkeit des Bindegewebes, seine erstaunliche Fähigkeit, Form und Zustand zu verändern und sich unter passenden Umständen wieder in den vorherigen Zustand zurückzubilden, eine Hoffnung für die Körperpsychotherapie.- In erster Linie werden Körpertherapeuten mit der Plastizität des Bindegewebes arbeiten, indem sie Druck darauf ausüben. Das Plasma wird unter dem Druck „schmelzen“ und sich den neuen Umständen entsprechend restrukturieren. (Anmerkung: Im therapeutischen Setting ist die richtige Anwendung von Druck der Faktor, der die stressenden Bedingungen so verändert, dass sich das Bindegewebe auch an die neue Umgebung anpassen kann.)
Als Folge dieser Intervention, wird die zusätzlich gebildete fibröse Verdichtung im vorher gestressten Muskel zu „schmelzen“ beginnen und langsam verschwinden. Das zusätzliche Stützsystem des Bindegewebes, das vom gestressten Muskel benötigt wird, wird reabsorbiert, da die Spannung nachgelassen hat und das Hilfssystem nicht weiter benötigt wird.
Die sehnige Qualität – Warum?
Wie schon vorher im Abschnitt über die physischen Charakteristika der Schizoiden erwähnt, hat ihr Gewebe eine sehnige Qualität, die durch die fibröse Verdichtung entsteht. Je stärker ein Muskel angespannt ist, desto mehr Stränge und Faserbündel werden sich entwickeln. Bei einer anderen Charakterstruktur, z.B. einer mit gut ausgeprägter Muskulatur, trägt die Entwicklung der Fasern dazu bei, dass die Muskelmasse von kräftiger, konturierter und oft harter Qualität ist.
Aber stellen wir uns eine solche fibröse Veränderung vor, wenn wenig Muskelmasse vorhanden ist: Wir sehen dann den schizoiden Körper – lang, dünn und sehnig. Aufgrund einer früh eingetretenen Traumatisierung ist der Organismus belastet. Hier wurden invasive traumatische Ereignisse erlebt, bevor die Muskulatur zur Abwehr eingesetzt werden konnte. Somit ist es nicht erstaunlich, dass sich keine großen und harten Muskelgruppen entwickeln konnten; der Fluss in die Peripherie ist minimiert. Wenn das Kind heranwächst, entwickeln sich zunehmend die langen fibrösen Gewebsstränge, die dem Körper die sehnige, strangige Qualität und seine drahtige, straffe Stärke verleihen.
Wenn nun das Trauma sehr früh eintritt, hat das den klassischen schizoiden Zustand zur Folge. Bei einer späteren Traumatisierung und/oder wenn ein weniger heftiges Trauma, dafür aber chronisch besteht – sogenannte Traumahäufung – werden wir eine Mischung mit einiger Muskelentwicklung von starker, fibröser Qualität vorfinden. Das Kind hätte etwas mehr energetischen Fluss in die Peripherie und die Muskulatur könnte sich so wenigstens ein bisschen stärker entwickeln.
In diesen Fällen werden wir eine schizoide Struktur vorfinden, deren existentielle Angst durch aggressives Verhalten maskiert sein wird. Dieses Kind war in der Lage, Ärger zu entwickeln und zu mobilisieren, sowohl zum Schutz, als auch zur Entwicklung seiner Abwehr. Wenn es sich gefährdet fühlt und Angst verspürt, können wir ein Ausagieren, ein Ungerechtigkeits-Rache-Thema beobachten, wie ich das schon in der Beschreibung der Emotionalität des Schizoiden erwähnt habe.
In bezug auf ein Entwicklungskontinuum können wir uns nun folgendes überlegen: Wenn der Organismus gestresst wird, nachdem das neuromuskuläre System sowie primäre psychische Strukturen sich entwickelt haben, bildet sich das fibröse System weniger stark aus. Die Fasern spielen hier eine sekundäre Rolle für das Muskelgewebe. Wir haben ein primäres Abwehrsystem, das auf der neuromuskulären Funktion beruht.
Dieser Strukturtyp – dessen Entwicklungsgeschichte auf späteren Ereignissen basiert – ist eine sogenannte „kognitiv-neuromuskuläre“ Struktur, z.B. eine phallische oder psychopathische Struktur. Menschen, die ihr neuromuskuläres und psychisches System gut genug entwickelt haben können diese Systeme im Verteidigungsfall sofort abrufen. Ihr Schutzsystem funktioniert sowohl auf der psychischen, als auch auf der somatischen Ebene.
Wenn jedoch kaum Muskelgewebe vorhanden ist und wenig Möglichkeit bestand, psychische Strukturen zu entwickeln, bevor das Trauma einsetzte – wie das im klassischen schizoiden Stadium der Fall ist – übernimmt das Bindegewebe die Rolle der Muskulatur. Wir haben dann eine plasmatische Struktur, jemanden, der zu seiner Verteidigung plasmatisch reagieren wird.
Von der Dehydrierung zur Rehydrierung
Das Bindegewebe hat die Fähigkeit zu dehydrieren und zu rehydrieren. Es verhält sich genauso wie ein Schwamm. Wenn wir einen nassen Schwamm ausdrücken, wird er nachgeben, und das Wasser wird herausrinnen. Und wenn wir ihn austrocknen lassen, wird er eine andere Form annehmen. Auch in trockenem Zustand können wir ihn drücken, aber er wird die veränderte Form beibehalten. Wenn man erneut Wasser zufügt, nimmt er seine ursprüngliche Form wieder an.
Plasma – und deshalb auch das Bindegewebe – reagiert genauso. Unter Druck geht der notwendige Feuchtigkeitsgehalt verloren. Es kommt zu einer Verhärtung, ja sogar zu einer Kristallisation. Unter veränderten Bedingungen, die wir im therapeutischen Setting schaffen können, wird es rehydrieren und seine ursprüngliche Gestalt wieder annehmen.
Der dehydrierte Zustand hat eine ausgetrocknete, kühle, „alte“ Qualität. Ebenso ausgetrocknet und zurückgezogen – im Sinne von leblos – ist die Qualität des Schizoiden. Aber unter den richtigen therapeutischen Bedingungen kann der hydrierte Zustand wieder hergestellt werden. Wir können beobachten, wie der Schizoide wieder „gefüllt“ wird. Alle anderen Strukturen wirken „größer“ und von oben nach unten weniger gedrückt.
Wenn der Schizoide rehydriert, ergibt sich ein anderer, vollerer Eindruck. In der Arbeit kann das dann so aussehen, als hätte er an Gewicht zugelegt; tatsächlich wiegt er das gleiche. Ein gutes Beispiel ist folgendes: Mir erzählte einmal eine Klientin, dass sie sich fühle, als trüge sie einen großen, weiten Mantel, den sie vorher nicht anhatte. Sie hatte mehr Substanz, fühlte sich geschützter und wärmer. Es gab Schutz zwischen ihr und der Welt.- Themen, die nicht von geringer Bedeutung für einen schizoiden Menschen sind.
Das Netzwerksystem und das „Alles oder Nichts-Prinzip“
Der kristalline Zustand des dehydrierten Bindegewebes lässt uns den Schizoiden gefroren und brüchig erscheinen. Es ist die Qualität der Zerbrechlichkeit, die für uns von speziellem Interesse ist. Eine Eisschicht oder eine Glasscheibe zerbricht anders als Holz. Holz spaltet sich, die Stücke brechen auseinander, einige Stücke spalten sich vom Ganzen und manche bleiben trotzdem verbunden. Es ist sogar möglich, dass das Stück im wesentlichen intakt bleibt. Anders ist es bei Glas. Man kann nicht ein Stück abbrechen, ohne zu riskieren, dass die ganze Struktur auseinander fällt. Das ist das „Alles oder Nichts-Prinzip“.
Man kann auf ein Stück Holz wiederholt und kräftig schlagen. Erst werden Kerben entstehen und dann werden sich Teile abspalten.- Auf Glas kann geschlagen werden, ohne dass vorerst etwas passieren muss. Keine Schrammen, keine Stücke. Wenn man jedoch mit mehr Kraft zuschlägt, steigt der Druck bis zu dem Punkt, wo es ganz zerbricht.
Ein schizoider Mensch kann mit Stress bis zu diesem Punkt kommen, ohne dass eine Reaktion sichtbar wäre – er zeigt sich bis dahin unbeeindruckt, so als ob er davon nicht betroffen wäre. Wenn dieser Punkt aber überschritten wird, bricht sein gesamtes System zusammen und die Reaktion kann überwältigend sein. Er „zerbricht“ und verliert sich gänzlich.
Diese Total-Reaktion des Schizoiden hat mit dem früher erwähnten Netzwerksystem zu tun. Beim Fötus und Säugling sprachen wir über die plasmatische Kontraktion entsprechend der frühen Traumatisierung; sie ist ganzkörperlich. Beobachten wir eine Amöbe, der Schwachstrom zugeführt wird, oder einen Säugling, der erschreckt wird. In beiden Fällen kontrahiert der ganze Körper.
Dieser Reaktionstyp bildet sich zeitlich vor der physischen und psychischen Differenzierungsfähigkeit und bevor sich die Segmente entwickeln. Der Organismus kann nur kontrahieren, und zwar überall und zur gleichen Zeit. Ähnlich einer Amöbe: sie kann nicht erkennen, was passiert und um welche Art von Gefahr es sich handelt. Sie ist neurologisch, muskulär und psychisch nicht genügend entwickelt, um differenziert reagieren zu können.
Der plasmatische kontraktive Zustand ist eine Ganzkörperreaktion. Wenn diese Kontraktion nachgibt, also das Abwehrsystem zusammenbricht, gibt es nichts mehr, was hält – kein Ersatzsystem, das noch helfen könnte, alles wird überflutet, nichts hält mehr. Das ist die Gefahr für die schizoide Struktur – darin schließen wir auch Borderline-Strukuren ein.- Der totale Kollaps wird durch den Zusammenbruch des Netzwerks verursacht. Auf der plasmatischen Ebene wird jeder Input das gesamte System beeinflussen. Der Zusammenbruch ist die Lyse; die Existenz des Organismus ist in Gefahr. Er muss als Ganzes reagieren, um seine Existenz zu bewahren.
Trennung, Verkapselung und Containment
Wie schon erwähnt, sind die Funktionen des Bindegewebes die des Trennens, des Einkapselns und des Haltens. Dies sind alles gesunde und erwünschte Funktionen. Aber der schizoide Zustand ist ein extremer Bindegewebszustand – ebenso extrem wie das Funktionieren und Verhalten des Schizoiden. Was unter gesunden Bedingungen eine erwünschte Trennung und „Zurück-Haltung“ war, wird nun zu Isolation und Verzweiflung.
Der Schizoide ist jetzt so getrennt, dass er unfähig ist, Kontakt mit der Welt aufzunehmen. Er wird zum Einzelgänger, nicht aus freier Wahl, wie man aus Clint Eastwoods „High Plains Drifter“ schließen kann, sondern aus der Not heraus. Es gibt keine Wahl mehr, bestenfalls nur Resignation, die er vielleicht zu akzeptieren vorgibt.
Hier wird die klassisch schizoide Charakteristik des Einzelgängers – distanziert und unnahbar – deutlich. Er ist innerlich gefangen und erscheint der Welt als emotionslos, reizbar, uninteressiert, als jemand, der niemanden braucht. Gerade hier liegen auch die Gründe für sein Besonderssein, seine Fremdartigkeit, seine Sehnsucht und seine Mystik.
Die Bedeutung des Bindegewebes für den Stoffwechsel
Der letzte Punkt in der Tabelle über „Ähnlichkeiten“ betrifft den Stoffwechsel. Wir werden kurz einen Aspekt dieses wichtigen Zusammenspiels betrachten. Das Plasma oder die „Grundsubstanz“ ist der halbflüssige Zustand, der alle Gewebe bis hin zur Zellebene umgibt.
Diese Halbflüssigkeit ist der „Ozean“, von dem vorher schon die Rede war, und von dem jede Zelle in allen Teilen unseres Körpers umgeben ist. Es ist das Medium, das jede Zelle mit Nährstoffen versorgt und Verbrauchtes entsorgt. Wenn dieser „Ozean“ durch Gifte und Dehydration, Kontraktion und Infektion „verschmutzt“ wird, kann er der Funktion des Nährens und des Reinigens der Zellen nicht mehr nachkommen. Der Stoffwechsel ist herabgesetzt und beeinflusst dadurch die Nahrungsaufnahme.
Der Schizoide repräsentiert den unterernährten Zustand – physisch wie auch psychisch. Die plasmatische Kontraktion lässt nur ungenügend Nährstoffe in den Organismus gelangen. Ebenso verhindert sie die Selbstreinigung des Organismus, z.B. sich von Giften zu befreien. Das trifft nicht nur für die physische Nahrung wie Essensaufnahme, Wärme, etc. zu, sondern auch für die psychische und emotionale Nahrung wie Berührung, Fürsorge und Liebe.- Berührung wird zum Eindringen. Fürsorge wird zum Versuch zu bemuttern, der erfahrungsgemäß schon einmal nicht so gut funktioniert hat. Liebe wird zum Konzept.
Um die funktionelle Verwandtschaft zwischen dem Bindegewebe und dem Schizoiden noch mehr zu verdeutlichen, können wir nachfolgende Tabelle betrachten. Hier können wir den Unterschied zwischen einem gut funktionierenden plasmatischen Zustand – wie z.B. bei einer Amöbe – und einem schlecht funktionierenden – wie bei einem Schizoiden – sehen.
TABELLE 3
PLASMATISCHE REAKTION | |
---|---|
gut funktionierend | schlecht funktionierend |
AMÖBE | SCHIZOIDER |
amorph | rigide |
stabile Prozessstruktur | steif |
ständige Reorganisation | überstrukturiert |
pulsierend, wogend | gehalten, eingefroren, kontrahiert, gelähmt |
spontan | nicht spontan |
sich anpassend | versucht zu kontrollieren |
flexibel | rigide |
einheitlicher Fluss | gelegentlich fließend |
organisiert | greift nicht nach außen, |
kontaktvolle Bewegung (Fluss)nach außen und wieder zurück | vermeidet Berührung und berührt werden; narzisstisch |
Wir können nun die funktionellen Charakterkriterien weiterentwickeln, indem wir zwischen einer primär plasmatischen Charakterstruktur, wie sie der Schizoide repräsentiert, und einer Charakterstruktur, deren Abwehrsystem auf einer kognitiv-neuromuskulären Reaktion beruht, unterscheiden.
Die weitere Betrachtung soll die Unterschiede dieser beiden Reaktions-Strukturen hervorheben. Dabei ist es aber wichtig zu wissen, dass sie jeweils das entgegengesetzte Ende eines Kontinuums repräsentieren. Es ist möglich auf diesem Kontinuum auf- und abzufahren, um die verschiedenen Charakterstrukturen mit unterschiedlichen Mischungen von plasmatischen und neuromuskulären Reaktionen zu verstehen. Wir werden unterscheiden zwischen solchen, die vorrangig ein plasmatisches und solchen, die vorrangig ein neuromuskuläres Abwehrverhalten einsetzen. Beide wählen unterschiedliche Systeme als eine erste Antwort auf Bedrohung, um sich zu schützen. Dies ist unser Hauptkriterium zur Differenzierung.
Die bisherige Auseinandersetzung mit diesem Thema hat uns gezeigt, dass, abhängig vom Zeitpunkt des Traumas, der Organismus auf zwei verschiedene Arten reagieren kann. Wenn das Kind älter ist, es schon gehen kann, etwas sprechen kann und fähig ist, Zorn objektbezogen zu mobilisieren, wird es auch fähig sein, diese verschiedenen Funktionen in sein Abwehrverhalten mit einzubeziehen. Nerven und Muskeln werden zur Verteidigung eingesetzt. Das Sich-schützen basiert auf einem (gesunden) Funktionieren des Zentralen Nervensystems.
Wenn jedoch im Gegensatz dazu die Störung zu einem früheren Zeitpunkt auftritt, stehen dem Fötus oder dem Kleinkind diese neuromuskulären Reaktionen, die von einem minimalen Entwicklungsstand des Zentralen Nervensystems abhängig sind, nicht zur Verfügung. Das System, das dann unter Stress aufgerufen wird, ist das unwillkürlich funktionierende Vegetative Nervensystem. Das ist die plasmatische Antwort. Es gibt hier keine Muskeln, die kontrahiert werden könnten, und es ist keine psychische Struktur zur Verteidigung verfügbar. Auch die Amöbe bewegt, nährt und reproduziert sich und kontrahiert ohne Muskeln oder psychischen Apparat.
Weitere Unterscheidungen folgen aufgrund dieser Besonderheiten. Zum einen hat das Zentrale Nervensystem (ZNS) sowohl eine willkürliche als auch eine unwillkürliche Komponente. Das Vegetative Nervensystem (VNS) funktioniert unwillkürlich.
Diese Unterscheidung ist von Tragweite für unser Bewusstsein bzw. das Unbewusste. Das VNS funktioniert jenseits der Bewusstheit, jenseits von konzeptionellem Verständnis und erster Verbalisierung. Es ist nicht so leicht wie das ZNS durch willkürliche und kognitive Aktivitäten zugänglich. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Entscheidung, welche therapeutische Intervention gesetzt werden soll, wann und zu welchem Zweck; und natürlich auch für das Verständnis, auf welcher Ebene unsere Intervention im Organismus wirkt.
Die neuromuskulär dominierte Struktur ist eine spätere Entwicklungserscheinung, sowohl in der Geschichte der Evolution als auch in der Geschichte des menschlichen Organismus. Die Wichtigkeit und Bedeutung der Entwicklung des Bindegewebes kann nicht genug hervorgehoben werden. Leben existiert seit Millionen von Jahren, noch bevor je Knochen oder Muskeln auftauchten.
Und es dauerte noch ein ganze Weile länger, bevor sich psychische Strukturen entwickelten. Es gab Leben, schon lange bevor es Gedanken, Emotionen, das Ego und Nerven, Knochen und Muskeln gab. Sogar heute repräsentieren wir Menschen nur einen ganz kleinen Teil des Lebens an sich. Es gibt mehr Lebensformen in unserem Magen – ohne Muskeln, ohne Ego und ohne Mutterprobleme – als alle Menschen, die je gelebt haben! Unsere Probleme mit unserer Sexualität sind ziemlich unbedeutend angesichts der Geschichte des Lebens!
Die Arbeit auf der plasmatischen Ebene ist die unmittelbare und tiefe Arbeit am Leben selbst. Eine weitere Unterscheidung ist die, dass die plasmatische Reaktion eine ganzkörperliche Reaktion ist. Wenn wir den Körper eines klassischen Schizoiden betrachten, sehen wir Einförmigkeit – er ist lang und dünn. Es ist wenig oder überhaupt nichts von der klassischen Reichianischen Segmentierung zu erkennen, die die neuromuskuläre Struktur dominiert.
Der Körper der neuromuskulären Struktur dagegen lässt sich gut in Segmente teilen. Die Entwicklung der Segmente hängt davon ab, welcher Körperteil vorrangig zum „Fest-Halten“ aufgerufen wurde, und das wiederum ist davon abhängig, welches Thema in der Entwicklung des Kindes zu diesem Zeitpunkt von Bedeutung war:
Selbstbehauptung, Genitalität, Trennung, Symbiose, etc.
So wie der Körper des Schizoiden sich nicht differenziert darstellt, so trifft selbiges auch auf den psychischen Bereich zu. Hier sehen wir weniger ein Zusammenbrechen aufgrund konkreter persönlicher Themen wie bei der neuromuskulären Struktur, vielmehr herrscht ein einziges Thema, vielleicht noch ein zweites vor: Angst um die eigene Existenz und möglicherweise die Wut über die Verletzung des Rechts auf die eigene Existenz. Alle schizoiden Verhaltensweisen sind auf diese zwei Themen zurückzuführen. Auch die unterschiedlichen individuellen Strategien, die die vorher erwähnten drei Klienten entwickelten, wurzeln in diesen Themen.
Eine andere Unterscheidung hat zu tun mit dem Bindegewebe und der Muskelfunktion. Wir sagten schon früher, dass das Bindegewebe chronisch angespannten Muskeln zu Hilfe kommt, indem es sich gewaltsam durchsetzt. Muskeln haben die Fähigkeit schnell zu reagieren; sobald keine Gefahr mehr besteht, können sich sehr schnell wieder entspannen. Auf der plasmatischen Ebene trifft das auch zu, aber es trifft nicht auf das Bindegewebe zu. Die Bildung von unterstützendem zusätzlichem Bindegewebe geschieht nicht so plötzlich wie eine muskuläre Kontraktion.
Die Muskeln werden als Antwort auf akute Stresssituationen eingesetzt. Das Bindegewebe als Antwort auf chronische. Sobald sich die Muskeln entspannen, restrukturiert sich das Bindegewebe. So wie es eine gewisse Zeit braucht, um sich zu entwickeln, so braucht es auch mehr Zeit als die einfache Entspannung der Muskelfasern, sich wieder zu restrukturieren.
Die Implikationen für das therapeutische Handeln sind bedeutsam. Für eine vom Bindegewebe dominierte Struktur sollte der Prozess des Loslassens langsamer sein. Diese tiefen, frühen plasmatischen Störungen zu schnell anzugehen heißt, den Organismus zu überfordern. Es gibt kein unterstützendes Abwehrsystem, er bricht zusammen.
Hier ist die Grenze des Versuchs in der Körperarbeit, die Abwehr zu „durchbrechen“. Bei neuromuskulär dominierten Strukturen kann das Durchbrechen von Widerständen schneller und mit weniger Risiko angegangen werden, obwohl das, unserer Meinung nach, nicht unbedingt wirkungsvoller ist. Es besteht dabei weniger die Gefahr, dass der Organismus überschwemmt und überfordert wird. Da aber die meisten Strukturen Mischtypen sind, kann, sobald das neuromuskuläre Abwehrsystem durchbrochen ist, das plasmatische System zusammenbrechen, woraus ernsthafte Probleme und potentiell gefährliche Situationen entstehen können. Das ist besonders in der Arbeit mit Schizoiden und mit Borderline-Strukturen ein Risiko. Das langsamere, schmelzende Modell der Wiederherstellung des Bindegewebes ist für diese Struktur – ebenso wie für alle anderen Strukturen – in jedem Falle vorzuziehen.
In Tabelle 4 sind die Unterschiede zwischen dem kognitiven/ neuromuskulären und dem plasmatischen Kontinuum zusammengefasst.
TABELLE 4
Kognitives/neuromuskuläres Kontinuum – Plasmatisches Kontinuum
Der schizoide Prozess ist eine ursprünglich-plasmatische Reaktion, die – in unterschiedlichem Maß – allen Charakterstrukturen zugrunde liegt.
kognitive/neuromuskuläre Reaktion | plasmatische Reaktion |
---|---|
Nerven und Muskeln | Bindegewebe |
willkürliche Muskulatur | unwillkürliches Bindegewebe |
bewusst/kognitiv | unbewusst/automatisch |
Zentrales Nervensystem | Vegetatives Nervensystem |
spätere evolutionäre Entwicklung | frühe Entwicklung |
lokalisierte/segmentierte Reaktion | ganzkörperliche Reaktion |
sofortige Reaktion | chronische Reaktion |
entspannt | restrukturiert |
In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Ähnlichkeiten der Funktionen des Bindegewebes und des Abwehrsystems anhand des schizoiden Charakters aufzuzeigen.
Ein später erscheinender Beitrag wird „Schock und Trauma“ zum Thema haben und wird ein Entwicklungsmodell zum Verständnis der Beziehung zwischen Bindegewebe und Muskelpanzerung enthalten. Weiters werden wir die Behandlung von Schizoiden durch das Verstehen der Funktionen von Plasma und Bindegewebe vorstellen.
(Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz)
Fortstetzung in Bukumatula 4/98
29 Jan
Bukumatula 3/1997
Beatrix Teichmann-Wirth
Aus Anlaß des einhundertsten Geburtstags von Wilhelm Reich wird an seinem ehemaligen Wohnhaus in 1080 Wien, Blindengasse 46a – Reich wohnte dort von 1926 bis 1930 – eine Gedenktafel angebracht, die von der Künstlerin Hildegund Berghold entworfen wurde und im Herbst dieses Jahres enthüllt werden soll. Die Kosten dafür, die privat aufgebracht werden müssen, belaufen sich auf ca. ÖS 40.000.-.
Wir ersuchen Sie zur Verwirklichung dieses Projekts beizutragen und bitten Sie – im Sinne eines Geburtstagsgeschenks – um eine Spen-denüberweisung auf das Konto der Bank Austria (BLZ 20151): Wilhelm Reich Institut, KtoNr.: 605 484 807 (bitte als Verwendungs-zweck unbedingt „Gedenktafel“ angeben).
Wir ersuchen Sie um Ihre Unterstützung!
Proponentenkomitte: Dr. Beatrix Teichmann-Wirth, Ingeborg Hildebrandt, Dr. Peter Bole-loucky-Bolen, Mag. Christian Zitt, Dr. Karl Fallend, Walter Kogler
29 Jan
Bukumatula 4/1997
Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
Eberhard Krumm:
Abstract
„Wilhelm Reich und die Philosophie“
Teil 1: Klärung des Verhältnisses von Reich zur Philosophie seiner Zeit, Anwendung seiner in „Äther, Gott und Teufel“ geübten Wissenschaftskritik auf die Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis Kant.
Teil 2: Die Krise der Philosophie von Hegel bis Heidegger, die Anknüpfungspunkte von Dialektik, Lebens- und Existenzphilosophie an Reichs erkenntnis-theoretischen Begriff der orgonomischen Denktechnik als Ausgangspunkt einer Revolution der Philosophie.
Biographische Notiz zum Autor:
Eberhard Krumm M.A., *7.3.1959, studierte Philosophie, Geschichte und klassische Philologie an den Universitäten Mainz und Köln. Nach Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und als wissenschaftlicher Referent im bundesdeutschen Ministerium der Finanzen ist er seit 1990 Gymnasialprofessor an der HEBO-Privatschule Bonn.
Ausgehend von seiner Ausbildung zum Beratungslehrer 1992/93 bei der Psychoanalytikerin Annette von Mühlendahl, Köln und insbesondere seiner eigenen Vegetotherapie bei dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien 1994/95, beschäftigt sich der Autor mit den pädagogischen und philosophischen Dimensionen des Lebenswerks von Wilhelm Reich. In verschiedenen deutschen Fachzeitschriften veröffentlichte Eberhard Krumm bislang Beiträge zur Suizidprävention und Suchtprophylaxe in Schulen und in der Festschrift für Leo Haupts „Streiflichter Neuerer Geschichte“ (Köln, 1992) den Aufsatz: „Hitler, Saddam Hussein und die List der Vernunft“.
Eberhard Krumm
Wilhelm Reich und die Philosophie
(Vanessa Kuttig gewidmet) – Teil 1
Titel mit dem Wörtchen „und“ in der Mitte sind stets mit Vorsicht zu betrachten, weil allzu oft durch die harmlose Konjunktion Dinge oder Menschen in einen Zusammenhang gebracht und in einem Atemzug genannt werden, die nicht zusammen gehören. Tucholsky hat das in seiner Satire „Hitler und Goethe“ zum Goethejahr 1932 trefflich vorexerziert. Damit mein folgender Essay zum Reichjahr 1997 nicht zur Satire wird, erfordert es die intellektuelle Redlichkeit zu klären, wie das „und“ im Titel gemeint ist.
Ich werde mich in diesem Aufsatz in erster Linie auf Wilhelm Reichs Buch „Äther, Gott und Teufel“ beziehen, das 1949 veröffentlicht wurde und bis vor kurzem nur in Form eines Raubdrucks erhältlich war, aus dem ich auch zitiere. Zusammen mit „Cosmic Superimposition“ (1951) und „Der Christusmord“ (1953) gehört „Äther, Gott und Teufel“ zu den wichtigsten und ausführlichsten Abhandlungen im Spätwerk Reichs. Die drei genannten Bücher zeichnen sich meines Erachtens dadurch aus, dass Reich darin seine jahrzehntelangen Bemühungen und Forschungen in den verschiedensten wissenschaftlichen Einzeldisziplinen in einen übergeordneten – philosophisch zu nennenden? – Zusammenhang stellt.
Die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, in denen Reich als – in meinen Augen! – DER herausragende Forscher und Entdecker dieses Jahrhunderts jenseits aller Nobelpreise Hervorragendes geleistet hat, hat David Boadella in seinem Vortrag „The four faces of Wilhelm Reich“ anlässlich der Eröffnung des, Reich aus Anlass seines 100. Geburtstags gewidmeten, 6. EABP-Kongresses in Wien im Palais Ferstel am 8. Mai 1997 deutlich umrissen und ausgeführt: Medizin, Psychologie, Biophysik und Soziologie.
Die Entdeckungen und Forschungen Wilhelm Reichs in diesen vier Einzeldisziplinen sind geeignet, ihm in jeder einzelnen einen hervorragenden Rang zu sichern. In der Medizin als Entdecker der Krebsbiopathien und wirksamer Heilmethoden. In der Psychologie als Begründer der Vegetotherapie und damit der ursprünglichsten Form von Körperpsychotherapie, die als erste Therapieform die ganzheitliche, seelische, körperliche und geistige Heilung des Menschen und damit sein Glück ins Auge fasst, sein ungetrübtes vitales Lust- und Glücksempfinden.
Das von der Vegetotherapie angestrebte Ziel ist ein fundamental anderes als das der Psychoanalyse, der es nach Freuds eigenen Worten lediglich angelegen ist, das „neurotische Elend in normales Unglück“ zu verwandeln. In der Biophysik wurde Reich zum Entdecker der Entstehung des organischen Lebens aus anorganischem, der Bione, der Plasmazuckung, der kosmischen Orgonenergie und der Möglichkeiten natürlicher Wetterbeeinflussung.
Die Soziologie bereicherte Reich durch seine bestechende Analyse der Dynamik des Faschismus und der kapitalistischen sexuellen Zwangsmoral. Diese Vielschichtigkeit und Komplexität des wissenschaftlichen Wirkens Reichs ist um so erstaunlicher, als er sich in jeder dieser Wissenschaften profunde Kenntnisse aneignete. Während er Medizin und Psychologie an der Wiener Universität bzw. bei Sigmund Freud auf die übliche Weise studiert hatte, erwarb sich Reich seine biologischen, physikalischen und soziologischen Kenntnisse autodidaktisch, dies weit über das dilettantische Maß des „Mitreden-Könnens“ in diesen Disziplinen hinaus.
Wer die kürzlich unter dem Titel „Jenseits der Psychologie“ veröffentlichten Briefe und Tagebücher Reichs aus den Jahren 1934-1939 liest, spürt seinen Eifer und die fast kindlich-neugierig-kreative Begeisterung, mit der er sich immer weiter auf dem für ihn wissenschaftlichen Neuland der Biophysik vortastet, wie er, von ihm unbeabsichtigt, ausgehend von der Entdeckung des Orgasmusreflexes, sich innerlich immer weiter gedrängt fühlt, vorzustoßen zu den biologischen Grundlagen des Lebens und dadurch immer tiefer, mittels der Methode von trail and error, auf die Gebiete der Physik und der Meteorologie vordringt. Reich hat sich als Forscher und Autodidakt auch nicht ein Quant geschont.
Vertiefung und Absicherung seiner Überlegungen und empirischen Forschungsergebnisse waren ihm wichtiger als der Ruhm des Tages und die Anerkennung der Fachwelt, obwohl er sich diese sehr wünschte und ersehnte. Ich führe diese Sachverhalte so breit aus, um klar auf den Punkt zu bringen: Wilhelm Reich war, welche Vorbehalte seine Gegner ihm gegenüber auch immer hegen und welche Irrtümer unverpanzerte Wissenschaftler ihm heute nachweisen mögen, ein UNIVERSALGELEHRTER, wie ich neben ihm im 20. Jahrhundert keinen weiteren finde.
Schon im 19. Jahrhundert waren Universalgelehrte vom Rang eines Goethe, Leibnitz, Bacon oder da Vinci unüblich geworden. Im 20. Jahrhundert schreitet der Prozess der Zersplitterung der Wissenschaften, der mit der Renaissance und der Aufklärung einsetzt, unaufhaltsam fort und die Fülle wissenschaftlichen Wissens wird derart immens, dass einem „ernsthaften“ Wissenschaftler nichts anderes übrig bleibt, als sich in kluger Selbstbescheidung zu spezialisieren.
Am Ende des Jahrhunderts finden wir in den Wissenschaften, wie sarkastische Zungen behaupten, nur noch Spezialisten, die immer mehr über immer weniger wissen, bis sie schließlich alles über nichts und nichts über alles wissen. Wir finden kaum noch Wissenschaftler, die über den Rand ihres jeweiligen Fachgebietes hinausblicken, geschweige denn das Bemühen, die eigene Arbeit in einen historisch gewachsenen Gesamtzusammenhang des Lebens und Forschens zu stellen, den Blick für „das Ganze“, wie Reich ihn hatte.
Dass dem so ist, hat seine Ursache wesentlich darin, dass die Philosophie seit der Aufklärung ihre Bedeutung als Grundlage aller Einzelwissenschaften, als Stamm am Baum der Erkenntnis, von dem die Einzeldisziplinen sich wie Äste verzweigen, sich aber vom Saft aus dem Stamm nähren, ohne den sie verdorren würden, als Bindeglied und Bindekitt und Nährboden der Wissenschaften, mehr und mehr eingebüßt hat. Die Philosophen selbst haben kräftig an der Demontage dieser Funktion der Philosophie mitgewirkt, insbesondere diejenigen, die, wie Edmund Husserl (1859-1938), bemüht waren, die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ zu retten.
Zur selben Zeit und am selben Ort, als Reich seine Charakteranalyse und seine Vegetotherapie entwickelte, von der ausgehend er zum Universalforscher der Grundbedingungen kosmischen und menschlichen Lebens werden sollte, forderten Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und ihre als „Wiener Kreis“ mehr oder weniger berühmt gewordenen Kollegen die „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, also den Verzicht auf die universelle Perspektive und die scharfe Begrenzung der Philosophie auf die wissenschaftliche Logik.
Damit hofften sie, die Philosophie als Definitions- und Kontrollinstanz aller anderen Wissenschaften und so auf neue Weise in ihrer alten Rolle wieder etablieren zu können. Dazu war es jedoch notwendig, sich vom Ballast unlogischer, d.h. nicht klar definierbarer oder nur willkürlich definierbarer Begriffe zu trennen. Zu diesen zählen sämtliche Begriffe der Metapyhsik, also solche, die jahrtausendelang zum Kernbestand philosophischer Fragestellungen gehörten wie Freiheit, Schönheit, Liebe, Wahrheit, Glück, Gut, Böse, Sein, Nichts.
Für Alltagsgespräche unter Greisslern und Marktfrauen mögen diese Wörter taugen, in der analytischen Philosophie haben sie, gemäß Wittgensteins Maxime „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, keinen Platz. Dasselbe Schicksal, dass man darüber philosophisch schweigen muss, widerfährt nach dieser Philosophie Reichs Buch „Äther, Gott und Teufel“, dessen Titel schon aus nichts anderem als einer Aneinanderreihung wissenschaftlich undefinierbarer Begriffe der Metaphysik besteht.
Lautete der Titel „Äther, Sprxx und Babib“, wäre dieser nach Auffassung des Wiener Kreises genauso sinnvoll. Indes: Reich selbst weist auf Seite 7 dieses seines Buches dezidiert den Anspruch zurück, mit seinen orgonomischen Forschungen eine Philosophie begründet zu haben: „Ich habe also nicht etwa eine `neue Philosophie´ entwickelt, die neben anderen oder in Zusammenarbeit mit anderen Lebensphilosophien das Lebendige menschlichem Begreifen näher zu bringen versuchte, wie manche meiner Freunde glauben. NEIN, ES LIEGT ÜBERHAUPT KEINE PHILOSOPHIE VOR.“ (fett/kursiv von Reich).
Also weder behauptet Reich von sich, als Philosoph gelten zu wollen, noch würde er von seinen philosophischen Zeitgenossen des Wiener Kreises als solcher anerkannt werden. Mit anderen Worten: der verbindliche Titel dieses Essays, „Wilhelm Reich und die Philosophie“ ist als Irreführung entlarvt, das „und“ verbindet beide wie Somloer Nockerl mit vierstimmigen Barockmotetten. Man kann das eine essen und das andere dazu hören, aber damit hat es mit den Gemeinsamkeiten ein Ende, und auch dieser Essay könnte daher, mit herzlichem Dank für Ihre Aufmerksamkeit bis hierher, hier enden.
Könnte, tut aber nicht! Denn da klafft noch jener Widerspruch, dass der Mensch Wilhelm Reich durchaus Philosoph in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes war, wenn er auch in keiner neueren philosophischen Tradition steht. Dass er als Gelehrter so universal dachte wie zuletzt vor ihm Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Dass er zu den Vorbildern, denen er sich ausdrücklich (ÄGuT S.6) verdankt, die Philosophen Lange, Nietzsche, Engels und Bergson zählt. Dass er in „Äther, Gott und Teufel“ ein erkenntnistheoretisches, in „Die Funktion des Orgasmus“ ein moralphilosophisches Jahrhundertproblem auf zwei bis vier Seiten einer verblüffenden Antwort zuführt.
Dass seine „orgonomische Denktechnik“, die er in „Äther, Gott und Teufel“ vorstellt, nichts anderes darstellt, als was die Philosophie jahrhundertelang gegolten hat: als Grundlage der Einzelwissenschaften, als Stamm am Baum der Erkenntnis, als Rahmen aller wissenschaftlichen Detailforschung. Ein sehr beweglicher Rahmen, zugegeben, beweglich wie Hegels Dialektik und damit der Lebendigkeit menschlichen Lebens angemessen. Diesen genannten Widersprüchen will dieser Aufsatz weiter nachspüren.
Reichs Wissenschaftskritik und die Aufgabe des Denkens
Wenn Reich, der nichts dagegen hatte, als Mediziner, Psychotherapeut, Biologe, Physiker und Soziologe von Rang zu gelten, es so dezidiert ablehnte, zu den Koryphäen der Philosophie gezählt zu werden, so deshalb, weil er sich nicht nur nicht identifizieren wollte mit dem, was Philosophie in der Ausprägung des Wiener Kreises geworden ist und was er mit dem brutalen, aber treffenden Terminus „mindfuck“ bezeichnet hätte, sondern weil er vehement ankämpfte gegen eine Philosophie, die er nur als Interpretationsmodell der Wirklichkeit kennenlernte, welches aus Angst vor der Wirklichkeit die Wirklichkeit weginterpretiert.
Die beiden Fluchtwege aus der Wirklichkeit lebendiger Gefühle versieht Reich in „Äther, Gott und Teufel“ mit den Etiketten „mechanisch“ und „mystisch“. Ich werde im Folgenden die Berechtigung dieser von Reich vorgenommenen Etikettierung aufzeigen und in einen philosophiegeschichtlichen Bezug stellen, den Reich selbst nicht vorgenommen hat. Aus diesem Bezug wird aber seine Kritik an den „mechanisch-mystischen Strukturen“ einer „maschinell-mystisch bedingten Zivilisation“, die, ebenso wie die im Zerfall befindliche, diese Zivilisation getragen habende Philosophie, in eine lebensbedrohliche Krise geraten ist, verständlich.
Wer Philosophie weder als mechanistisch-logische Analyse von Sprachphänomenen versteht, noch als mystische Spekulation über das Unbegreifliche begreift, sondern als „lebendigen Pulsschlag, der alles auf dem Laufenden hält“, wie der Mainzer Philosoph Richard Wisser dies in seinem 1996 erschienenen Buch „Philosophische Wegweisung“ tut, für den ist Reichs Kritik Ausgangspunkt der Wegweisung eines Auswegs, des Auswegs aus der Krise der modernen Zivilisation und ihrer verpanzerten Denkstrukturen. Und zwar ein philosophischer, weil von der Liebe zum Wissen erarbeiteter – die Liebe, die Arbeit und das Wissen sind die Quellen unseres Lebens, sie sollten es auch beherrschen! Reichs Lebensmotto!- Ausgangspunkt.
Die Philosophie in ihrer akademischen Form vermag, nach meiner Auffassung, diesen Ausweg nicht zu weisen, denn die Philosophie ist am Ende des 20. Jahrhunderts selbst am Ende, sofern sie nicht zu ihrem Ursprung zurück findet. Martin Heidegger (1889-1976), dem Wittgenstein und Carnap allerdings gleichfalls das Recht aberkennen, als Philosoph zu gelten, hat mit seinem 1964 gemachten Ausspruch vom „Ende der Philosophie und der Aufgabe des Denkens“ diesen Weg zurück zum Ursprung aufgewiesen, in einer Form indes, die wegen ihrer Abgrenzung zum mechanistischen Weltbild, wegen ihrer „Kehre“ von der Technik, wieder in die Gefahr des Mystizierens gerät.
Und doch ist das, was Heidegger mit der „Aufgabe des Denkens“ meint nicht ganz und gar unähnlich dem, was Reich in „Äther, Gott und Teufel“ als seine orgonomische, funktionelle Denktechnik vorstellt. Denn nicht die mechanistischen oder mystischen Weltbilder, die Philosophen entworfen haben, sind der Ursprung der Philosophie, sondern jenes ganzheitliche, aus der Emotion gespeiste, ganz dem zu Erkennenden offen zugewandte Denken, von dem Heidegger auf der ersten Seite seiner Vorlesung aus dem Jahre 1951 „Was heißt denken?“ spricht: „Das Bedachte ist das mit einem Andenken Beschenkte, beschenkt, weil wir es mögen. Nur wenn wir das mögen, was in sich das zu-Bedenkende ist, vermögen wir das Denken.“
Der eigentliche Sinn der Philosophie
Der Ursprung der Philosophie im abendländischen Denken wird in allen mir bekannten philosophiegeschichtlichen Darstellungen bei den Griechen, und zwar bei den Vorsokratikern ausgemacht. Deren erkenntnishaftes Streben richtet sich in erster Linie auf die Suche nach einem Urprinzip des Lebens: Thales von Milet fand solches im Wasserstoff, Anaximander im Wirbel (sehr ähnlich Reichs „Cosmic Superimposition“), Demokrit in den Atomen, Empedokles von Agrigent in den Mischungen der vier Urelemente, Heraklit im antagonistischen Gegensatz der Lebensfunktionen. Die Vorsokratiker dachten weder mechanistisch noch mystisch in dem von Reich gemeinten Sinne.
Ihre Erkenntnis- und Denkmethoden sind denen Reichs sehr ähnlich, entsprechend auch ihre Ergebnisse, die sie natürlich nicht mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium überprüfen konnten, das Reich zur Verfügung stand.Am Beginn ihres Forschens und Denkens steht das Staunen, ihr Weg, ihre Methode, ist das empirische Prüfen und Beweisen ihrer Annahmen, ihr Ziel die Erklärung der Gesetze des Lebens, wie es sich zeigt. Insbesondere Heraklit und Anaximander stießen dabei auf ebenso erstaunliche Paradoxe wie Reich in seiner Bionenforschung. Aber schon bald traten neben den vorsokratischen Naturforschern und Philosophen die „kleinen Männer“ auf, die Reich in seinem Buch „Rede an den kleinen Mann“ (1947) so treffend beschrieben hat. Diese Wissenschaftler nannten sich „die Wissenden“, „Sophisten“ (Sophia = griechisch: die Weisheit).
Den Sophisten kam es weniger auf das ernsthafte Forschen an als darauf, mit ihrem Wissen Geld zu machen, und sie bedienten sich dazu der Rhetorik und geschickter Werbetricks. Wissenschaft wurde ihnen zum Denkmodell und Sprachspiel, mittels dessen sie die Wirklichkeit nach Belieben auslegten; noch heute bezeichnet das englische Adjektiv „sophisticated“ jenes spitzfindige Denken, das die Köpfe verwirrt und das Offensichtliche in sein Gegenteil verkehrt.
Gegen diese Sophisten und ihre Weisheit des Wissens begründet Sokrates (469-399 v.Chr.) seine Weisheit des staunenden Nicht-Wissens, das er Philosophie nennt (philein = griech.: lieben; Philosophie = Liebe zur Weisheit). Philosophie im Gegensatz zur Sophie bedeutet, dass ich das Wissen nie sicher in der Tasche als Besitz verfügbar habe, sondern dass ich dieses Wissen umwerben muss wie eine schöne Frau und von ihm im Innersten ergriffen, berührt, elektrisiert werden kann. Sokrates´ berühmtester und meist falsch zitierter Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ verteidigt den staunenden und zweifelnden Blick auf die Wirklichkeit und die Demut vor der Fülle des Wissbaren.
Der Satz des Sokrates lautet korrekt: „Ich weiß, dass ich nicht – nicht nichts! – weiß“, und zwar: „peri ton megiston“, also hinsichtlich der größten Dinge, der wirklich wichtigen Fragen, kenne ich mich nicht aus. Jedes Kind kann wissen, dass zwei mal zwei vier ergibt, aber auf die Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Welchen Sinn hat mein Dasein?, auf diese Fragen wissen auch die Klügsten nichts, sondern können nur glauben oder glauben zu wissen. Diese Fragen lassen sich lediglich durch hingebungsvolles, demütiges, liebendes, sehnsüchtiges Forschen an der Sache mehr und mehr erhellen.
Und es kann geschehen, dass ich, wie Sokrates, Giordano Bruno oder Wilhelm Reich für diese Liebe zur Weisheit, die mit der Freiheit des Fragens nach der Wahrheit einhergeht, bereit sein muss, ins Gefängnis zu gehen und mein Leben zu opfern. Diese geistige Haltung und nichts Geringeres steht hinter dem ursprünglichen Begriff von Philosophie, und in dieser Hinsicht ist Wilhelm Reich ein Philosoph ersten Ranges.
Die „mystische“ Tradition der Philosophie
Sokrates´ Schüler Platon (427-347 v.Chr.) litt unter der Begrenzung unseres Wissens so sehr, oder, anders formuliert: seine Sehnsucht, doch mehr über die größten Dinge, für die Sokrates bereit war, sein Leben zu geben, die „ewigen Wahrheiten“ und Gewissheiten wissen zu wollen, war so groß, dass er die Spannung nicht aushielt, die Spannung des Unterwegs-Seins auf etwas zu, das sich mir doch immer wieder entzieht und das ich nicht sicher festhalten kann.
Aus dieser, in ihrer emotionalen Unsicherheit bedrohlichen und mit Sehnsucht hochgeladenen Wirklichkeit, wählte Platon den „mystischen“ Ausweg: er dachte sich zu dieser unvollkommenen, vergänglichen, stets in Bewegung befindlichen Welt mit ihren Unwägbarkeiten eine ideale Welt, ewig, perfekt und unwandelbar, hinzu. Diese Welt beschrieb er als die eigentlich reale, die wirklich greifbare Welt wurde dadurch irreal; very sophisticated, diese Wendung, nur ist Platons Motiv, die Sehnsucht nach dem Vollkommenen, ein völlig anderes als das der Sophisten mit ihrer Gier nach Geld und Macht.
Von jener jenseitigen Welt der Ideen, die Platon konstruierte, war unsere diesseitige Welt in seinem Verständnis nur abgeleitet. Das vergängliche und wandelbare und unsichere Leben in dieser Welt mit seinen Werten steht zur ewigen Welt der Ideen im selben Verhältnis wie der Schatten zum Licht: das Licht ist das Wahre, der Schatten nur Schein, das Licht kann ohne Schatten sein, aber nicht umgekehrt. Die Ausbildung dieser, rein theoretischen, Ideenlehre ist Platons große philosophische Leistung. Sie ist kein so aberwitziger „mindfuck“, als sie nach meiner bisherigen Darstellung den Anschein hat. Denn wiewohl Platon fast 2350 Jahre tot ist, leben seine Ideen, ewig und unwandelbar, weiter.
Der Philosoph Günther Anders (1902-1993) behauptet in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ sogar, mit der Erfindung der Atombombe 1945 habe erst das wahrhaft platonische Zeitalter begonnen, der Sieg der Idee oder des Rezepts über die Sache. Gemeint ist: selbst wenn alle Regierungen der Welt sich entschlössen, die Atomwaffen von heute auf morgen abzuschaffen, kann doch die Idee, die Bauanleitung der Bombe, von der jede reale Bombe nur ein Abbild ist, nicht mehr abgeschafft werden. „Was einmal gedacht worden ist, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ – dieser Satz Dürrenmatts kennzeichnet Segen und Fluch des Platonismus. Das Beispiel mit der Atombombe macht deutlich, warum Platons Ideenlehre, die eben nicht nur eine „mystische“, sondern auch eine „mechanistische“ Seite hat, alles andere als fauler Zauber ist, so sehr sie auch sonst der mystischen Verzauberung des Theoretischen gegenüber dem banal Praktischen Vorschub geleistet hat.
Platons Ideenlehre hattte immense Folgen, sie bestimmt bis heute das philosophische Denken. Nach der von Platon begründeten, im Akazienwäldchen (= griech.: akademos) vor Athen gelegenen Schule, nennen sich bis heute sämtliche wissenschaftlich gebildeten Menschen Akademiker. Ich habe keine Ausführungen Reichs über Platon gefunden, aber Nietzsche, den Reich sehr schätzte, nach meinem Empfinden am meisten unter allen Philosophen, hat klar kenntlich gemacht, was Platons Philosophie bewirkte: zum einen die Verlagerung des Schwerpunktes philosophischen Forschens in ein imaginäres Jenseits, aus der Physik in die Metaphysik – dieser Begriff wiederum stammt von Platons Schüler Aristoteles (384-322 v.Chr.), der den Weg seines Lehrers, mit einer anderen Methode, fortsetzte – mit Reichs Worten gesprochen: die Mystifizierung des Denkens.
Zum anderen, und damit einhergehend, die Abwertung des vergänglichen, irrationalen, körperlichen Lebens zugunsten des ewigen, rationalen, rein geistigen Lebens. Der Begriff der „platonischen Liebe“ macht dies in besonderer Weise evident. Platon definiert in seinem Dialog „Symposion“ die menschliche Liebe als „die Sehnsucht, im Schönen zu zeugen“ (Symposion, 207a ff). Diese Sehnsucht richtet sich auf Überwindung der Sterblichkeit. Die Zeugung im körperlich Schönen verschafft dem Menschen eine kurzzeitige, das individuelle Leben überdauernde Unsterblichkeit im Andenken der gezeugten Kinder und Kindeskinder, die von seiner Existenz Zeugnis ablegen.
Der Lehrer jedoch, der nicht im körperlich Schönen, sondern mittels seiner Lehren im seelisch Schönen, den aufnahmebereiten Seelen seiner Schülerinnen und Schüler zeugt, bleibt für alle Zeiten durch seine Lehren unsterblich; jede Unterrichtsstunde ist ein geistiger Zeugungsakt. Der kinderlose Platon hat dies am eigenen Leib bewiesen. Entsprechend dem Konzept der platonischen Liebe und der Ausrichtung auf das Geistig-Ideele schlechthin, lehrt Platon die Unterdrückung der Triebe und die Zügelung der Gefühle durch den Geist; seine entsprechenden Ausführungen im IV. Buch seines Werkes über den Staat, „Politeia“, zeigen erstaunliche Parallelen, allerdings auch Gegensätze zum Seelenmodell Freuds.
Als Ursprung allen Lebens sah Platon die „Idee des Guten“. Diese war leicht mit den religiösen Vorstellungen von Gott, die ewige Welt der Ideen leicht mit religiösen Jenseitsvorstellungen in Einklang zu bringen. Die Integration des Platonismus in das Christentum vollzog Augustin von Hippo (354-430 n.Chr.). Die Körperfeindlichkeit Platons fand ihr Pendant in der Leibfeindlichkeit des Apostel Paulus, der, nach Reichs Interpretation in „Der Christusmord“, gezwungen war, zu tun, was Platon aus freien Stücken tat, nämlich die Körperlichkeit vehement zu bekämpfen, auch wenn dadurch der Irrweg der körperlich-charakterlichen Verpanzerung der Menschheit zu einer breiten Straße ausasphaltiert wurde.
Paulus bekämpfte Sex und Körperlichkeit, um den spirituellen Gehalt des Christentums zu retten und die Botschaft Jesu von der allumfassenden göttlichen Liebe davor zu bewahren, so Reich, zu einer „Bordellreligion“ zu degenerieren, die den permissiven Geschlechtsverkehr eines jeden mit jedem propagiert. Böse Zwischenfrage: Wo bleibt Reichs Apostel heute, der den spirituellen Gehalt seiner Orgonomie, bei gleichzeitigem Abbau der Verpanzerung der Menschheit, rettet?
Die Philosophie Platons und seines Schülers Aristoteles, der mit seinen Ausführungen über Gott als den „unbewegten Beweger“ und Urgrund allen Seins den ersten Gottesbeweis lieferte, dem noch viele folgen sollten, blieben im gesamten Mittelalter der fest vorgeschriebene Rahmen wissenschaftlichen Forschens in einem vom geistigen Gehalt des Katholizismus und der politischen Macht der katholischen Kirche bestimmten Europa. Aus der „Liebe zur Weisheit“ wurde die „Magd der Theologie“. Als mit der Renaissance Gestalten wie Giordano Bruno (1542-1600) oder Galileo Galilei (1564-1642) aus diesem Rahmen aus zu brechen versuchten, wurden sie von der Inquisition zum Tode verurteilt.
Bruno starb auf dem Scheiterhaufen, Galilei rettete sein Leben, indem er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerrief. Mit beiden hat Reich sich sehr stark identifiziert, entsprechend vehement und scharf ist sein Urteil über jenes mystische, emotionell pestilente Denken, das den Tod dieser Wissenschaftler bzw. ihre öffentliche Entehrung zur Folge hatte.
Die Philosophie Platons begründet, wie wir gesehen haben, die – in Reichs Begriff – „mystizistische“ Tradition in der abendländischen Philosophie. Sie prägt mit ihrer scharfen Dichotomie zwischen Jenseits-Diesseits, Rational-Irrational, der Idee des Guten-Welt des Bösen, Geist-Körper, später die christliche Theologie und mit der christlichen Theologie die Geisteswelt des Mittelalters. Als mit der Reformation und der Renaissance sich die Philosophie wieder von der Bevormundung durch die Theologie emanzipiert und damit das Zeitalter der katholisch-platonisch-aristotelischen Vorherrschaft über das Geistesleben zu Ende geht, sehen sich die Philosophen dem Zwang zur Neuorientierung ausgesetzt. Sie gehen dabei hinter das Christentum in die griechisch-heidnische Antike zurück, nicht aber hinter Platon.
Die „mechanistische“ Tradition der Philosophie
Nachdem Luther, Erasmus, Calvin, Kepler, Kopernikus, Galilei und Bacon bisher unzweifelhafte Wahrheiten demontiert hatten, war wieder Platz für den philosophischen Zweifel, den Platon ja beseitigt hatte mit seinen ewigen Gewissheiten. In seiner radikalen Form formulierte diesen Zweifel Rene‘ Descartes (1596-1650). Er stellte nicht, wie man hätte erwarten können, die Konstruktion der metaphysischen Ideenwelt, die zur Selbstversklavung der Philosophie unter die Theologie geführt hatte – und damit den menschlichen Geist – in Frage.
Er kehrte nicht zum Ausgangspunkt der Philosophie, der Fragestellung der Vorsokratiker nach dem Ursprung des Lebendigen und der Bedeutung des Lebens zurück. Dafür war die Abwertung des körperlich Lebendigen und die seelische Verpanzerung der Menschheit nach 2000 Jahren Platonismus und 1500 Jahren Stoizismus offenbar schon zu weit fortgeschritten. Nein, im Ozean des Zweifels blieb Descartes nur eine einzige Gewissheit: dass sein Geist es war, der da zweifelte. Und nur über diese Tätigkeit, diese mechanische Funktion seines Geistes, vergewisserte sich Descartes seiner selbst.
Nicht sein Pulsschlag, nicht seine regelmäßig wiederkehrenden Atemzüge, nicht sein Tastsinn, verschafften ihm Gewissheit über seine Existenz, sondern allein der Gedanke, dass er sich dachte. COGITO, ERGO SUM! – „Ich denke, also bin ich“, ist die berühmte Formel Descartes´, und mit dieser Formel setzt er eine neue Dichotomie in die Welt an Stelle der alten platonischen: den Dualismus zwischen res cogitans (= der denkenden Sache, dem Geist) und der res extensa (= der ausgedehnten Sache, der Natur).
Beides bleibt rein weltimmanent, unberührt von der Sehnsucht nach einem Jenseits. Beides bleibt rein sachlich, das Persönliche wird völlig sekundär, dafür sorgt schon allein Descartes´ Wortwahl. War in der Philosophie Platons der Körper mit seiner irrationalen Triebhaftigkeit noch etwas Gefährliches, das es mittels des Geistes im Zaum zu halten galt, so wird in der Philosophie des Descartes der Körper zum rein mechanischen, passiven Werkzeug des Geistes, für denselben ohne Belang.
Verstand Platon und insbesondere sein berühmtester späterer Interpret Plotin (204-270 n.Chr.) unter Meditation den ekstatischen Aufschwung des Geistes zur mystischen Vereinigung mit der Idee, so wird Meditation bei Descartes und seinem späteren Interpreten, dem schon genannten Edmund Husserl, zur reduktionistischen Schau der allem Persönlichen entkleideten Phänomene an sich. Übrig bleibt der Philosophie in diesem Denken die skeptisch-rationale Suche nach unbezweifelbaren Gewissheiten, mittels derer es möglich werden sollte, diese Welt besser in den Griff zu bekommen.
Die Philosophie des Descartes erwies sich als ebenso attraktiv und mächtig, wenn nicht gar attraktiver als die Philosophie Platons für die von der Fülle und Kraft des Lebendigen verängstigten und verunsicherten Menschen, denen nach dem mystischen Ausweg nun der mechanistische aufgezeigt wurde. Der Rationalismus Descartes´ beeinflusst das gesamte Zeitalter der Aufklärung. Wie an Platon auch, kam an ihm keiner der späteren Philosophen vorbei, sei es, dass sie sich an seiner deduktiven Denkmethode orientierten, wie Leibnitz (1646-1716) oder die induktive Methode wählten wie Locke (1632-1704). Es war der „Alles-Zermalmer“ Immanuel Kant (1724-1804), der die letzten Reste des platonischen Mystizismus zermalmte, sprich: aus dem Reich der Philosophie in das Reich des Glaubens verbannte.
Und es war derselbe Kant, der den Rationalismus eines Leibnitz und den Empirismus eines Locke, beide herkommend vom maschinistischen Denken Descartes´, in eine Synthese brachte. Kants Ziel war es, den Menschen „den Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu eröffnen, und er fand diesen Ausgang aus der Unmündigkeit keinesfalls im Mund, im Timbre der menschlichen Stimme, also etwas Körperlichem, sondern in der Kritik, also im Denken. Schon die Titel von Kants drei Hauptwerken: „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ zeigen, dass es Kant um das Denken und nichts als das Denken geht.
Sein Motto: „Sapereaude!“ wird in aller Regel mit: „Wage, (selbständig) zu denken“ übersetzt. Mit diesem Motto wurde Kant zum Inbegriff der Aufklärung. Dabei bedeutet das lateinische Verb „sapere“ erst in zweiter Linie „wissen, denken“, in erster Bedeutung heißt es „schmecken, riechen“. Der „homo sapiens“ ist einer, der weiß, nachdem er geschmeckt hat; in der oralen Phase eignen wir uns unser gesamtes Wissen durch das Schmecken und Riechen an. Aber mit: „Wage es zu schmecken!“ lässt sich im mechanistischen Denken – im mystizistischen auch nicht – kein Staat machen. Durch Schmecken und Riechen lässt sich „nur“ geniessen. Wissen hingegen ist Macht. Was faul ist am Zauber Platons und faul an der Klarheit der Aufklärung, lässt sich durch das reine Denken schwer erklären, wohl aber intuitiv erriechen und erschmecken.
Es ist wahrscheinlich, so meine ich, kein Zufall, dass zeitgleich mit Kants Kritiken, die das Denken ungemein erhellen, die Dampfmaschine und der mechanische Webstuhl das Licht der Welt betreten. Das industrielle Zeitalter beginnt, die Unterordnung des Lebens unter die Maschine. Und so, wie die Philosophie Platons und Aristoteles´ die Knechtung des vitalen körperlichen Lebens durch die politisch-geistige Macht der katholischen Kirche im Mittelalter begünstigen, so begünstigen die Theorien eines Descartes und eines Kant, dem zudem das unvergleichliche Verdienst zukommt, in der Moral den Begriff des „Glücks“, an dem Platon, Aristoteles und das ganze Mittelalter als Ziel ethischen Handelns eisern festgehalten hatten, durch den Begriff der Pflicht ersetzt zu haben, die Knebelung der natürlichen Lebendigkeit durch die Macht der Maschinen und des maschinellen Produktionsprozesses.
Ich gestatte mir an dieser Stelle eine persönliche Zwischenbemerkung: ich halte mit Reich die mystizistische wie die mechanistische Interpretation der Welt auf rein „kopfiger“ Basis für große Irrwege der Menschheit. Ich bemerke, dass Reich aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Vorbildung dem Mystizismus ablehnender gegenüber steht als dem Maschinellen. Ich finde jedoch das in der Philosophie von Descartes angerichtete Übel unvergleichlich schlimmer als die von Platon zu verantwortenden Folgen.
Philosophen gegen Mystik und Mechanik
Eine weitere Zwischenbemerkung: der Gang der Darstellung philosophiegeschichtlicher Entwicklungen ist, der räumlichen Begrenzung des Essays und der Länge des Denkweges angemessen, ein Gang im prestissimo, vieles wird übergangen. Der Blick des Wanderers ist zudem ein sehr subjektiver, vieles wird übersehen. Mir geht es darum, zu zeigen, wie Reichs Wissenschaftskritik in „Äther, Gott und Teufel“, die in erster Linie eine Kritik an der Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und der Psychologie ist, eine sehr philosophische Dimension hat und auf die Philosophie als Fundamentalwissenschaft vom menschlichen Denken ohne weiteres anwendbar ist.
Dies trotz und mit Reichs klarer Abgrenzung zur klassischen Philosophie und in Anerkennung seiner eigenen Ansicht, dass Kritik keine neue Philosophie schafft. Eingefleischte Platoniker, Aristoteliker, Cartesianer oder Kantianer werden gegen meine Darstellung der Philosophiegeschichte von Thales von Milet bis Kant im prestissimo und im Licht des Reichschen Schemas „mystisch-mechanistisch“ manche berechtigte Einwände vorbringen können. Daran wird sich die Gegenfrage anschließen: halten diese Einwände dem Erkenntniskriterium der orgonomischen Denktechnik, das Reich entwickelt hat und auf das ich noch zu sprechen kommen werde, Stand?
Ist die Geschichte der Philosophie, weitere Frage, wirklich eine Geschichte der zunehmenden Charakterpanzerung der Philosophen, einer immer klarer sich ausprägenden Schizophrenie, erwachsend aus der immer größer werdenden Abspaltung des Fühlens vom Denken, der immer weiter auseinander klaffenden Dichotomie von Körper und Geist? Ich meine: Ja! Ich meine weiter: ihre Klimax hat diese Geschichte in der Gestalt und der Philosophie Immanuel Kants erreicht. Mit seinen Nachfolgern Fichte (1762-1814) und dem schon erwähnten Hegel beginnt der Kampf um die Wiederentdeckung des Körpers in der Philosophie. Ein bis heute andauernder, mühseliger und zäher Kampf, weil die im Schutz der körperfeindlichen Traditionen der Philosophie sicheren Denker das lang gehaltene Terrain natürlich erbittert verteidigten – und auch nach wie vor in der Überzahl sind.
Zwischen Platon und Kant gab es auch durchaus einige Philosophen, die den Verrat am Körper nicht mitmachten oder so weit als möglich gut zu machen versuchten. Unter „ernsthaften“ Philosophen gelten diese bestenfalls als Außenseiter, in aller Regel als bloße „Schriftsteller“, die man nicht ernst nehmen muss. Ich nenne zwei: Epikur (341-270 v.Chr.) und Blaise Pascal (1623-1662). Epikur erklärte den Ursprung des Lebens wieder auf vorsokratische Weise durch Anlehnung an das Atmomodell Demokrits.
Die Bedeutung des Lebens sah er darin, zum höchstmöglichen Maß an Lebensgenuss und Lebenslust zu gelangen. Unerlässliche Vorbedingung der Genussfähigkeit war ihm die Freiheit von Angst. Das Gefühl Angst nahm Epikur für einen Philosophen ungewöhnlich ernst. Seine Methode der Therapie von Angstneurosen steht denen der systemischen Therapie oder der Verhaltenstherapie in nichts nach. Als höchste Lust empfand Epikur die Ataraxie, die innere Gelassenheit.
Sie ist die Frucht von Selbstakzeptanz und Selbstdisziplin, die einen zum Genuss körperlicher und geistiger Freuden befreien. Alles wunderbar nachzulesen in seinem nur zehn Abschnitte umfassenden Brief an Menoikeus. Die Ausgabe der Schriften Platons umfasst sechs dicke Bände, die erhaltenen Schriften Epikurs sind in einem Reclambändchen erhältlich, das nicht dicker ist als eine Scheibe Geselchtes in einem Wiener Heurigenlokal. Ich betone: erhaltene Schriften, denn das Meiste von Epikur ist untergegangen oder vernichtet worden.
Die Mönche des Mittelalters, deren Geduld und Hingabe im immer neuen Abschreiben der antiken Codices wir die Überlieferung der Schriften Platons und Aristoteles´ oder der Stoiker verdanken, saßen wahrscheinlich oft genug mit Krämpfen über Sätzen wie: „Der in sich unbeschwerte Mensch ist auch dem anderen keine Last“ (Epikur: Lehrsatz 79), oder: „Die Tugenden sind ursprünglich verwachsen mit dem lustvollen Leben und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar“ (Brief an Menoikeus, DL X, 131). Wenig Mystik ist in diesen Sätzen.
Blaise Pascal, der wegen seiner Untersuchung der Kegelschnitte als Mathematiker berühmt geworden ist – als Philosoph wäre er wahrscheinlich „vergessen“ worden – verteidigte gegenüber seinem Zeitgegossen Descartes und dessen mechanistischer Logik die „raison du coeur“, die „Logik des Herzens“, die ihm wichtiger und reiner ist als die Logik des Verstandes.
Pascals kleine Schrift „Pensees“, „Gedanken“, ebenfalls nicht umfangreicher als das Gesamtwerk Epikurs, enthalten so erstaunliche Sätze wie: „Beschreibung des Menschen: Abhängigkeit, Wunsch nach Unabhängigkeit, Bedürfnisse“ (Nr. 69), oder: „Zweierlei unterrichtet den Menschen über seine Natur: der Instinkt und die Erfahrung“ (Nr. 124), oder: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier und das Unglück will, dass, wer den Engel will, das Tier macht“ (Nr. 154). Wenig Zutrauen zur Mechanik ist in diesen Sätzen.
Reich hätte an Epikur und Pascal seine Freude gehabt, hätte er ihr Werk kennen gelernt. Hätte er es kennen lernen können? Natürlich, wer sucht, der findet, insbesondere der Universalgelehrte. Wie leicht man fündig wird, werden Sie, liebe Leserinnen und Leser dieses Aufsatzes unschwer erkennen, wenn Sie in den Vorlesungsverzeichnissen philosophischer Fakultäten Ausschau halten nach Übungen über Kant und Wittgenstein und im Vergleich über Epikur und Pascal.- Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg!
Fortsetzung in BUKUMATULA 5/97
29 Jan
Bukumatula 5/1997
Fortsetzung von Bukumatula 4/97
Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
Eberhard Krumm:
Abstract
„Wilhelm Reich und die Philosophie“
Teil 1: Klärung des Verhältnisses von Reich zur Philosophie seiner Zeit, Anwendung seiner in „Äther, Gott und Teufel“ geübten Wissenschaftskritik auf die Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis Kant.
Teil 2: Die Krise der Philosophie von Hegel bis Heidegger, die Anknüpfungspunkte von Dialektik, Lebens- und Existenzphilosophie an Reichs erkenntnistheoretischen Begriff der orgonomischen Denktechnik als Ausgangspunkt einer Revolution der Philosophie.
Biographische Notiz zum Autor:
Eberhard Krumm M.A., *7.3.1959, studierte Philosophie, Geschichte und klassische Philologie an den Universitäten Mainz und Köln. Nach Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und als wissenschaftlicher Referent im bundesdeutschen Ministerium der Finanzen ist er seit 1990 Gymnasialprofessor an der HEBO-Privatschule Bonn.
Ausgehend von seiner Ausbildung zum Beratungslehrer 1992/93 bei der Psychoanalytikerin Annette von Mühlendahl, Köln und insbesondere seiner eigenen Vegetotherapie bei dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien 1994/95, beschäftigt sich der Autor mit den pädagogischen und philosophischen Dimensionen des Lebenswerks von Wilhelm Reich. In verschiedenen deutschen Fachzeitschriften veröffentlichte Eberhard Krumm bislang Beiträge zur Suizidprävention und Suchtprophylaxe in Schulen und in der Festschrift für Leo Haupts „Streiflichter Neuerer Geschichte“ (Köln, 1992) den Aufsatz: „Hitler, Saddam Hussein und die List der Vernunft“.
Wilhelm Reich und die Philosophie
(Vanessa Kuttig gewidmet) – Teil 2
Reichs orgonomische Denktechnik
Die 173 Seiten von Wilhelm Reichs „Äther, Gott und Teufel“ sind in sechs Kapitel unterteilt, wobei die beiden umfangreichsten, nämlich Kapitel drei (S.54-79) und vier (S.80-127) auch den Kern des Buches bilden. Im Kapitel drei, „Die Organempfindung als Werkzeug der Naturforschung“, stellt Reich seine „orgonomische Denktechnik“ als Grundlage einer neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode vor. Im vierten Kapitel mit dem Titel: „Animismus, Mystizismus und Mechanismus“ beleuchtet Reich die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe, die die naturwissenschaftliche Weltsicht des 20. Jahrhunderts geprägt und die Ausarbeitung der orgonomischen Denktechnik bis dahin verunmöglicht haben. Reich orientiert sich, was die wissenschaftshistorischen Aspekte seiner Darstellung betrifft, an dem umfangreichen Werk des Philosophen Friedrich Albert Lange (1828-1875) mit dem Titel „Geschichte des Materialismus“.
Ausgehend von Langes Ausführungen über die vorsokratische Philosophie, selbst noch seiner Deutung des Sokrates und des Aristoteles, schreibt Reich der Philosophie im Altertum „die Rolle der heutigen Naturwissenschaft“ (ÄGuT S.81) zu. Die Naturwissenschaft der Vorsokratiker war, so Reich, geprägt von einer „animistischen“ Auffassung der Natur als des belebten Lebens (ÄGuT S.91). Belebtes Leben ist emotionelles Leben und kann von diesem, so Reich weiter, nicht getrennt werden, es sei denn durch Mystizismus und Mechanismus. Reich zeigt dann in dem in Rede stehenden vierten Kapitel, wie diese Trennung in der Entwicklung der Physik stattfand und wie die Relativitätstheorie und die Atomforschung die Physik des 20. Jahrhunderts prägen.
Ich habe im ersten Teil dieses Aufsatzes gezeigt, dass diese Kategorisierung hinsichtlich der Physik und der Naturwissenschaften generell, wie Reich sie vorgenommen hat, auch auf die Geschichte der Philosophie angewandt werden kann. Was für die Physik der „Mechanist“ Newton und der „Mystiker“ Einstein sind (nicht umsonst bilden gerade diese beiden, auch im Persönlichen so gegensätzlichen, Prototypen der beiden physikalischen Richtungen auch die Vorlage in Dürrenmatts Drama „Die Physiker“, in dem als dritter der Physiker Möbius durchaus Reich´sche Züge trägt), sind für die Philosophie nach meiner Darstellung Descartes und Platon. Die Verbindung von Mechanistik und Mystik erreicht, so habe ich ausgeführt, ihre Klimax in der Philosophiegeschichte, in der Philosophie und, und dieses und ist mir sehr wichtig, in der Person Immanuel Kants.
Interessanterweise macht nun der Nicht-Philosoph, ja Anti-Philosoph und Naturwissenschaftler Reich, im Banne des Neukantianers Lange, das Denken gerade dieses Immanuel Kant zum Ausgangspunkt seiner orgonomischen Denkmethode. Reich bezieht sich auf Kants Behauptung in dessen „Kritik der Reinen Vernunft“, dass die eigentliche Natur der Dinge uns völlig unzugänglich sei, woraus Kant das „Ding an sich“ hinter den Dingen, wie sie uns erscheinen, postulierte und damit im Grunde zur „mystischen“ platonischen Idee zurückkehrte, nur dass Kants „Ding an sich“ wesentlich blasser und abstrakter da steht als Platons „Idee des Guten“, die vom Feuer seiner eigenen glühenden Sehnsucht nach dem guten Leben erleuchtet und erwärmt war. Reich folgert aus der Kant´schen Erkenntniskritik: „Wenn es gelänge, die Funktion der Wahrnehmung und der Empfindung selbst energetisch (orgonotisch) zu fassen, das heißt ihr eigentliches Wesen zu erforschen, so wäre ein Zugang zum `Ding an sich´ geschaffen.“ (ÄGuT S.64).
Reich überträgt dann Kants „Ding an sich“ auf Sigmund Freuds Begriff des Unbewussten, aus dem alles Leben sich speist. Das Unbewusste sind Emotionen; bewusst werden sie durch die Analyse, die aber von den Empfindungen nicht zu trennen ist. Das hat Sigmund Freud glasklar gesehen, deshalb widmete Freud den Empfindungsvorgängen vor und während der Psychoanalyse, nämlich Verdrängung, Widerstand, Angst, Trauer, Übertragung und Gegenübertragung, so besondere Aufmerksamkeit.
Die Frage, welche Rolle diese Phänomene in der Psychoanalyse spielen, stellt sich Kant hinsichtlich seiner Erkenntnistheorie: ob es überhaupt eine „objektive“ Erkenntnis gibt, oder inwieweit unser „Erkenntnisapparat“ mit seinen subjektiven Ausprägungen nicht alle Erkenntnis subjektiv verfärbt und, auf die Spitze gebracht, die Erkenntnis überhaupt damit erst schafft.
Mit anderen Worten: ist Erkenntnis die Angleichung des subjektiven Intellekts an die objektive Realität, oder schafft sich der Intellekt aufgrund seiner Wahrnehmung, wie ihm die Dinge erscheinen, überhaupt erst die Realität? Auf dieses Grundproblem der Erkenntnistheorie seit Aristoteles findet Reich nun eine erstaunliche Antwort, die Antwort seiner „orgonomischen Denktechnik“.
Grundlage dieser Denktechnik ist für Reich die Befreiung der Lebensenergie aus dem Charakterpanzer, den wir unter den Sozialisationsbedingungen unserer mechanistisch-mystischen Zivilisation zum Schutz des Überlebens unseres inneren personalen Kerns schon in frühester Kindheit anlegen. Durch den Panzer wird unser Denken unbeweglich und starr. Durch den Charakterpanzer hindurch erkennen wir wie ein Spiegel mit zerstörtem Belag. Ein klarer Spiegel und ein zersprungener funktionieren verschieden: „Der erste Spiegel gibt die Dinge anders wieder als der zweite.
Die Spiegelung, also die `Empfindung´ ist in beiden Fällen `subjektiv´ oder `willkürlich´. Die Bilder von den Gegenständen sind in beiden Spiegeln irreal. Dennoch kann nicht daran gezweifelt werden, dass der glatte Spiegel die Gegenstände so wiedergibt, wie sie sind, während der unebene sie verzerrt.“ (ÄGuT S.56). In einem anderen Beispiel vergleicht Reich die gepanzerte und die ungepanzerte menschliche Erkenntnis mit einer Schlange: „Eine gesunde Schlange bewegt sich und handelt nach den Gesetzen des kosmischen Orgons. Eine mit einem Strick angebundene Schlange handelt, empfindet und reagiert auf Grund der Behinderung ihrer Bewegung durch den Strick.“ (ÄGuT S.61). Beide Schlangen schlängeln sich, erstere jedoch elegant, wendig und anmutig auf ihrem Weg, denn sie kommt ja sicher vom Fleck, die andere zappelt verängstigt und giftspritzend auf der Stelle.
An diesen beiden Beispielen, an denen Reich deutlich machen will, dass die Befreiung der Lebensenergie durch seine Orgontherapie Grundlage aller klaren Erkenntnis sein müsse, zeigt sich aber ungewollt, wie Beispiele hinken können, selbst das so schöne Beispiel von der Schlange, die nach dem Buch Genesis die erste Menschin, Eva, zur Erkenntnis überhaupt erst verführte.
Denn es ist möglich, die gefesselte Schlange von ihrem Strick loszubinden und in die Freiheit zu entlassen. Ein zersprungener Spiegel hingegen kann nicht wieder so zusammengekittet werden, dass man die Risse nicht mehr sieht. Dies konveniert mit einem anderen Bild, das Reich in Hinsicht auf den Erfolg von Psychotherapie öfters verwendet: ein einmal krumm gewachsener Baum kann niemals, wie immer man ihn auch gärtnerisch umhegt, wieder ganz gerade werden.
Aber der krumme Mensch, der seine Verwachsungen erkennt und seine lebendigen Triebe, die daran waren zu verdorren, wieder zu neuer Blüte bringt, was Reichs Orgontherapie ja beabsichtigt, muss sein Krumm-Sein und die Geschichte seiner Verkrümmung nicht mehr verleugnen und verzerren; er nimmt die Verzerrungen als solche wahr, er sieht der Wahrheit seines Spiegels ins Auge ohne die Sprünge zu übersehen und zu übertünchen.
Und auch die Schlange wird Narben von ihrer Bindung an den Strick behalten haben, die trotz Befreiung und Häutung nie verschwinden werden. Die Frage, die daran anschließt, ist: gibt es dann überhaupt eine völlig ungetrübte, ungepanzerte Erkenntnis, selbst bei denen, die Dank einer Therapie nach Wilhelm Reich wieder gelernt haben, frei zu empfinden und klar zu sehen?
Ich setze diese kurze Bemerkung an Stelle einer ausführlichen Analyse der gepanzerten und ungepanzerten Denkmethode, die Reich im dritten Kapitel von „Äther, Gott und Teufel“ beschreibt. Die oben skizzierten Bilder beschreiben bereits deutlich, worauf es einer orgonomisch orientierten Philosophie ankommen müsste, die das Wesen des Lebendigen, das „Ding an sich“ des belebten Lebens zu erkennen und zu begreifen sich anschickt: auf die Freiheit und Anmut der Bewegung und die klare Sicht des Weges.
Der gepanzerten Philosophie geht es jedoch in aller Regel nicht um Bewegung, sondern um Stand-punkte und Definitionen, das heißt: Be-grenz-ungen, innerhalb derer man sich sicher fühlt im Chaos des Lebens, aber auch erstarrt und nicht mehr das Ganze sieht, sondern nur noch Teile und damit verzerrt. Die Naturwissenschaften, die Medizin sowie jene Philosophie, die für sich den Anspruch erhebt, „streng wissenschaftlich“ vorzugehen, operieren in unserer Zeit nach der Methode der Detailanalyse, die auch ihren Ort in der Erforschung des Lebens hat, aber nicht alles ist. Mediziner sezieren Menschen und Ratten, Biologen betrachten Blütenblätter unter dem Mikroskop, Philosophen beschäftigen sich mit Sprachanalysen und logischen Definitionen.
Sie gleichen, so Reich (ÄGuT S.120), Menschen, die einen fahrenden Eisenbahnzug im Detail analysieren, jeden Hebel, jeden Kolben, das Holz, Glas und Metall jeden Waggons genau untersuchen und Tabellen über die statistische Verteilung dieser Materialien aufstellen, die Gesamtheit der Bewegung des Zuges jedoch damit noch in keiner Weise erfassen. Diese Bewegung selbst ist unteilbar, kann nicht in einzelne Momente zerlegt werden oder sie ist nicht mehr die Bewegung, die sie ist.
Dies deutlich und klar dargelegt zu haben, ist das Verdienst des von Reich sehr geschätzten – in seiner Studienzeit bezeichnete Reich sich als leidenschaftlicher Bergsonianer – Philosophen Henri Bergson (1859-1941). In seinen Vorträgen an der Universität Oxford im Mai 1911 mit dem Titel „Die Wahrnehmung der Veränderung“ (abgedruckt in: „Denken und Schöpferisches Werden“, Hamburg 1993, S.149 ff und insbesondere S.162 ff) zeigt Bergson anhand der Bewegung einer Hand von Punkt A nach Punkt B, wie ich zwar analytisch diese Bewegung in einzelne Zentimeter und Millimeter zerlegen oder die Hand an einem bestimmten Punkt anhalten kann, die Bewegung eben damit aber nicht mehr die ganzheitliche Bewegung ist, die wir mit unserem Auge wahrnehmen.
Trennung und Zergliederung ohne Blick auf das in steter Veränderung befindliche Ganze sind nach Reich die typischen Merkmale von Mystizismus und Mechanismus, die sich ergänzen „zu einem scharf aufgesplitterten Bild vom Leben, mit einem Körper bestehend aus chemischen Stoffen hier, und einem Geist oder einer Seele, merkwürdig und unerforschbar, unerreichbar wie Gott selbst, dort.“ (ÄGuT S.122, Hervorhebung von Reich). Er fährt fort: „Der ungepanzerte Organismus dagegen erlebt sich selbst vor allem als einheitlich bewegt.
Seine Organempfindungen sagen ihm, dass das Wesentliche am Lebendigen nicht das Stoffliche ist. Ein Leichnam sieht im Grunde – stofflich gesehen – nicht anders aus als ein lebendiger Körper. Auch die chemischen Zusammensetzungen sind knapp nach dem Tode, ehe die Purifikation einsetzt, dieselben, wie am Lebenden. Der Unterschied liegt in der Abwesenheit des Bewegten. Daher ist der Leichnam für das Lebensempfinden fremd, ja grauenhaft. DAS SPONTAN BEWEGTE IST ALSO DAS LEBENDIGE.
Wir begreifen nun die Hoffnungslosigkeit allen mechanistisch- mystischen Denkens. Es prallt immerzu auf den Panzer des eigenen Organismus auf, ohne ihn je durchdringen zu können.
Das ungepanzerte Lebendige wird dagegen in seinen eigenen Bewegungen den Ausdruck der Bewegungen des Lebendigen überhaupt finden, ablesen und begreifen. Ihr ist das Bewegte das Wesentliche; die Struktur ist zwar wichtig, aber nicht wesentlich. Die Biologie des ungepanzerten Organismus muss daher grundverschieden sein von der Biologie des gepanzerten.“ (ÄGuT S.122 f, Hervorhebung v. Reich).
Auch eine Philosophie des ungepanzerten Organismus muss grundverschieden sein von der eines gepanzerten. Indem ich Reichs, für Biologie und die Physik in „Äther, Gott und Teufel“ bestimmten Ausführungen auf die Philosophie übertrage, gewinne ich für ein philosophisches Forschen, das sich an der orgonomischen Denktechnik orientiert, folgende drei Kriterien:
Rückblick: von Platon bis Kant. Welche Philosophie hält den Kriterien orgonomischer Philosophie Stand?
Ich denke, die hier von mir entwickelten Kriterien lassen eine Kritik, das heißt Entscheidung, was an 2700 Jahren abendländischer Philosophiegeschichte im Dienst des Lebens brauchbar ist und was nicht, zu. Reichianischer Körpertherapeut zu sein muss nicht heißen, alle Philosophie über Bord zu werfen. Es ist zum Beispiel leicht einsehbar, dass die vorsokratische Philosophie, wie auch von Reich selbst bekundet, den ersten beiden Kriterien voll und ganz Stand hält.
Über das 3. Kriterium, das Leben der Philosophen und ihre Sensibilität, wissen wir zu wenig. Es ist spannend, im Licht dieser Kriterien die Philosophie Platons unter die Lupe zu nehmen, von dem wir gesehen haben, dass er mit seiner Ideenlehre die Dichotomie und die Mystifikation in die Philosophiegeschichte eingeführt hat. Es ist spannend zu verfolgen, wie Plato im Verlaufe seines 80 Jahre währenden Daseins in seinem Denken immer starrer wird.
In seinen frühen Werken beschäftigt sich Platon, von der Sehnsucht nach Erkenntnis, also einer Emotion, getrieben, mit den Fragen, die die Menschen bewegen, wie: „Was ist Tapferkeit?“, „Wie funktioniert Erkenntnis?“, „Was ist Liebe?“, „Was geschieht mit der Seele nach dem Tode?“. Er diskutiert diese Fragen in Form lebendiger Dialoge, die meist in einer Aporie enden, in der diese Fragen unentschieden und weiter fragwürdig im doppelten Sinn des Wortes bleiben.
Selbst noch im Zusammenhang mit der Darstellung seiner Ideenlehre im „Staat“, im berühmten Höhlengleichnis (Politeia 514 a ff), beschreibt Platon die Menschen als auf einem Weg befindlich, das Leben als Bewegung aus einer dunklen Höhle ins Licht der Erkenntnis und zurück, um anderen, die noch in der Höhle sind, den Weg zu weisen. Platon endet in seinem Alterswerk mit dem bezeichnenden Titel „Gesetze“ beim starren Dogma.
In seinen frühen und mittleren Werken aber spürt der sensible Leser den lebendigen Puls des Lebens und Denkens dieses Mannes. Man spürt ihn auch, warm und kräftig, bei seinem späteren Interpreten, dem Neuplatoniker Plotin, dessen Körperfeindlichkeit in ekelerregenden Schilderungen überliefert ist – was die Vernachlässigung und Verachtung seines eigenen Körpers betrifft -, der aber wie kein anderer das Glück der Ekstase in der Bewegung zum göttlichen Urgrund des Lebens mit leidenschaftlichen Worten beschreibt und dieses ekstatische Er-leb-nis zum Ziel seines Philosophierens macht.
Ganz anders Descartes, obwohl dessen Denken mit dem lebendigen Zweifel beginnt. Er führt mit seiner Abspaltung des Lebens vom Denken, besser gesagt: mit der Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses – „Ich denke, also bin ich!“ statt: „Ich lebe, also kann ich denken!“ – sehr schnell in die Verleugnung der Wichtigkeit der emotionalen Lebensfunktionen und damit in die geistige Erstarrung vermeintlich unbezweifelbarer Sicherheiten. Mich verwundert sehr, dass Reich das ganz offensichtlich Starre und Lebensfeindliche der Philosophie Kants nicht gesehen hat.
Denn das Wesentliche der Kantischen Philosophie ist keinesfalls das spontan Bewegte, sondern die Grenze des Wissens, die Definition, der sichere Stand-ort des Denkens und des Denkers. Er vertrat einen weit schärferen Dualismus als Platon. Da sein Leben und seine Lebensweise recht gut überliefert sind, finde ich es erstaunlich, dass Freud oder Reich die Biographie Kants nicht zur Beschreibung des neurotischen Zwangscharakters hinzugezogen haben. Kant hat sich in seinem 80 Jahre langen Leben keine sieben Kilometer aus seiner Heimatstadt Königsberg hinausbewegt, Gefühle und spontane Reaktionen scheinen ihm unheimlich gewesen zu sein; von Liebe und Leidenschaft erfährt man aus den Biographien, in denen breit von Kants Lieblingsspeisen und seiner sprichwörtlichen Pünktlichkeit erzählt wird, rein gar nichts.
Aus der Darstellung, wie Kant sich pünktlich um 22 Uhr – er geriet in Panik, wenn es später wurde – allabendlich in seine Decke wie in einen Kokon auf eine ganz bestimmte Art einhüllte und dass er streng verbot, sein Schlafzimmer zu lüften, gewinne ich den Eindruck, dass er eines zusätzlichen Panzers bedurfte, um sich dem Schlaf hingeben zu können.
Es ist Kant, dem wir die hohe Wertschätzung der Pflicht als Grundlage der Moral verdanken. In der gesamten antiken und mittelalterlichen Ethik wird die Frage: „Warum sollen wir überhaupt moralisch handeln?“ damit beantwortet: „Um glücklich zu werden“.
Glück galt den Philosophen vor Kant als das Ziel unseres Lebens, wenn sie darunter auch jeweils Anderes verstanden. Für Platon bestand das Glück in der vollkommenen Erkenntnis der Ideen. Aus der Erkenntnis der Idee des Guten folgte für Platon selbstverständlich, dass der, der das Gute erkannt hat, es auch tut. Wer unethisch handelt, hat nach Platon das Gute lediglich mangelhaft erkannt. Für Aristoteles bestand das Glück im Handeln gemäß der Vernunft. Da ich mich im Handeln selbst verwirkliche und mich so gut als möglich verwirklichen will, strebe ich, laut Aristoteles, auch danach, so gut als möglich für mich und die Gemeinschaft zu handeln.
Für Epikur bestand das Glück in der Lust, die ich nur im Zustand innerer Gelassenheit vollständig zu genießen vermag. Diese Gelassenheit erwerbe ich mir nur, wenn ich keine Angst davor haben muss, dass unmoralische Handlungen ans Licht des Tages gelangen oder ich von Gier getrieben und durch Gewissensbisse gepeinigt meine Seelenruhe verliere. Selbst die Stoiker hatten das Glück im Visier, wenn sie danach strebten, sich gegen Schmerz unempfindlich zu machen und daraus folgerten, das Gute müsse getan werden, um Schmerzen zu lindern und so gemäß der Natur des Menschen, die nach Schmerzfreiheit verlangt, zu leben.
Das Glück des Christen liegt in der ewigen Seligkeit bei Gott, die dem verheißen ist, der an Jesus Christus glaubt und aus christlicher Nächstenliebe Gutes tut. Für die Aufklärungsphilosophen bestand Glück im Ausgleich zwischen egoistischer Anspruchsbefriedigung und den Erfordernissen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die soziales Handeln nötig machen. Der „Alles-zermalmer“ Kant fegt all diese Überlegungen beiseite. Er fordert in seinem „kategorischen Imperativ“, der Mensch müsse allein aus Pflicht gut handeln und geht so weit zu sagen, eine Handlung sei moralisch ohne jeden Wert, wenn sie mich gleichzeitig glücklich macht und meinen Neigungen entspringt.
Damit begründet Kant, wider alle Vernunft, wider alle Lebenserfahrung, die moralistische Regulierung. Sie schafft, so Reich in „Die Funktion des Orgasmus“ (3. Auflage, Kap.VI,5 der deutschen Ausgabe, Köln 1969, S.159 ff) „einen scharfen, unauflösbaren Widerspruch, den der Natur contra Moral“, dem Reich das Prinzip der natürlichen Selbstregulierung des ungepanzerten, aus seinem natürlichen, genitalen Selbstbewusstsein heraus handelnden Menschen entgegensetzt. Seltsamerweise sah er nicht, dass Kant der Urheber dieses Widerspruchs ist, den er so vehement in diesem Abschnitt bekämpft. Die moralischen Probleme, die Kant in seiner Philosophie erzeugt, stellen sich einem orgonomisch ungepanzerten Denker nicht.
Die Krise der Philosophie nach Kant
Da Kants Philosophie in meinen Augen den Höhepunkt der Verbindung mystizistischer und mechanistischer Traditionen in der Philosophie darstellt, führt uns Kant in eine Krise; im ursprünglichen griechischen Wortsinn bedeutet der Begriff „Krise“ Entscheidung oder Wahl. Der Höhepunkt wird entweder zum Wendepunkt, von dem aus es wieder hinab geht, oder der Höhepunkt muss als Endpunkt zum Hochplateau ausgebaut werden. Es liegt an jedem selbst, die Wahl in dieser Krise zu treffen, auf dem Höhepunkt zu bleiben oder wieder hinabzusteigen.
Auf den Punkt gebracht besteht der Kantische Höhepunkt in der völligen Ablösung der Ratio vom Leben, der Moral von der Natur, des Denkens vom Empfinden, des Handelns von der Emotion. Es bleibt dem Philosophen die Wahl, sich im Elfenbeinturm seines vom Körper getrennten Hirns einzubetonieren und unter dem Etikett der strengen Wissenschaft seine Schizophrenie zu bemänteln, oder wieder hinabzusteigen in den Dschungel der Körperempfindungen, um sich dort mit der Machete der Vernunft durchs Dickicht des Unterholzes des Irrationalen einen „Holzweg“ zu schlagen.
Wie ich zu Beginn des ersten Essays ausgeführt habe, zogen es Husserl, Wittgenstein, der Wiener Kreis, und wie sich die Pragmatiker und kritischen Rationalisten sonst nennen mögen – sie mögen mir vergeben, dass ich sie pauschal in einen Topf ohne Sauce werfe – vor, auf dem von Kant erstiegenen Höhepunkt zu bleiben und diesen, streng wissenschaftlich natürlich, zu verbreitern. Es ist ihnen gelungen, im Verein mit Naturwissenschaft und Technik, von diesem Gipfel aus das akademische Leben in den letzten zweihundert Jahren zu beherrschen.
Man schaue sich die Philosophie, man schaue sich die Biographien dieser wissenschaftlichen Philosophen im Spiegel der orgonomischen Denktechnik und der Kriterien, wie ich sie in Bezug auf die Philosophie formuliert habe, an; es wundert einen dann nicht mehr, wenn Reich damit nichts zu schaffen haben wollte. Die Anmut und Schönheit der Denkbewegungen Kants oder Wittgensteins ähneln doch allzu sehr denen der an den Pflock gebundenen Schlange. Den Pflock bildet hier das abstrakte Denken; er hindert mich zwar an der emotionalen Bewegung, zum Beispiel der Rührung oder des Enthusiasmus, schützt mich aber auch vor den Gefahren der „freien Wildbahn“.
Die Bilder der Welt, die diese Denker spiegeln, wirken seltsam beschlagen und farblos, doch zeigt mir der beschlagene oder zersprungene Spiegel auch keine grässliche Fratze, wenn ich hineinschaue. Die klare Selbsterkenntnis bleibt mir erspart. Dies begründet hinlänglich die Attraktivität der rein wissenschaftlichen Philosophie für gepanzerte Philosophen. Charlotte von Schiller schrieb über Kant: „Er wäre einer der größten Denker gewesen, wenn er Liebe hätte empfinden können.“ Dieses „Wenn“ enthüllt die ganze Tragik des Panzers, der das Denken völlig pervertiert; solches Denken ohne Liebe ist für die orgonomische Denktechnik ohne jeden Wert.
Aber nicht alle Philosophen blieben auf dem Höhepunkt der Kantischen Transzendentalphilosophie. Sie wandten sich ab, stiegen wieder hinab ins Reich des Körperlichen, wollten wieder saftigen Boden unter den Füßen gewinnen, den Körper für die Philosophie zurück gewinnen. Der Vordenker und Anführer dieser Philosophen macht auf den ersten Blick den Eindruck, er sei alles andere als ein Wanderer ins Tal der Emotionen, sondern eher geneigt, völlig abzuheben, selbst vom Gipfel Kants, um mittels der „spekulativen Dialektik“ den Himmel selbst zu erobern. Der Grenzgänger, von dem ich spreche und dank dem die Philosophie in der Krise der Kritik blieb, ist der Vorgänger von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895), Ludwig Feuerbach (1804-1872) und Friedrich Nietzsche (1844-1900), Sören Kierkegaard (1813-1855) und Jean Paul Sartre (1905-1980), Henri Bergson und Martin Heidegger.
Mit diesen Namen verbinden sich „Strömungen“ der neueren Philosophie, die unter dem Etikett „dialektischer Materialismus“, „Lebensphilosophie“ und „Existenzphilosophie“ firmieren. Dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels fühlte sich Reich bis weit in die 1930-er Jahre weltanschaulich verbunden, von Bergson und Nietzsche spricht er in seinen Schriften öfters mit Wärme und Zuneigung. Alle genannten Philosophen im Licht der orgonomischen Denktechnik darzustellen, dazu will ich mich im Rahmen dieses Essays jedoch nicht entschließen.
Die spekulative Dialektik in Entsprechung zur orgonomischen Denktechnik
Breiteren Raum stattdessen will ich dem Philosophen und seiner Denkmethode, die der Quell aller vorgenannten „Strömungen“ ist, einräumen. Der Philosoph, der das philosophische Forschen wieder als lebendige Bewegung in Gang brachte und dem dieses spontan Bewegte das Wesentliche ist, der den Widerspruch zur Grundlage seiner Logik, von der doch in der „strengen Wissenschaft“ absolute Widerspruchsfreiheit gefordert wird, machte, dem der Geist Alles und daher mehr als das Denken war, ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er war, wie schon zu Beginn von Teil I dieses Essays ausgeführt, ein Universalgelehrter wie Reich auch.
Dieser erwähnt den Namen Hegels in seinen Büchern jedoch nur an einer Stelle, nämlich im „Christusmord“ (dt. Neuausgabe, 2001-Verlag, Frankfurt/Main 1997, S.18), und dies summarisch unter anderen Denkern: „Locke und Hume und Kant und Hegel und Marx und Spencer und Spengler und Freud, sie alle waren unbestritten große Denker, aber irgendwie hinterließ ihr philosophisches Forschen eine Leere in der Welt, und die Masse der Menschen blieb durch sie unberührt.“ Reich begründet dieses reichlich pauschale Urteil auf den folgenden Seiten damit, dass alle diese Philosophen sich im Wesentlichen geirrt hätten.
Die Quintessenz von Reichs „Christusmord“ besteht aber unter anderem darin, dass die große Masse der Menschen unbeweglich und bequem ist und sich innerlich weder von den großen Philosophen, noch den großen Propheten, ja vom Erlöser Jesus Christus selbst nicht berühren lässt. Die Menschen sehnen sich zwar nach der Lust der freien Bewegung, nicht aber nach der Bürde der Verantwortung. Sie wollen zwar vom Pflock erlöst werden, aber nicht vom Fleck kommen, wenn der Weg vom Fleck weg ein Kreuzweg ist.
Hegel hingegen war von nichts so sehr beseelt wie von der Idee der Freiheit, deren Verwirklichung für ihn den Gang der Geschichte ausmacht. Es gibt Lexika, in denen findet man die Behauptung, Hegel behaupte die Identität von Sein und Denken. Das tut er mitnichten. In seinem grundlegenden Werk „Phänomenologie des Geistes“ behauptet er die Einheit von Sein und Geist. Phänomenologie ist für ihn die Wissenschaft, die Wissen schafft von den Erscheinungsformen (=griech.: Phänomena) des Geistes.
Da nach Hegels Grundaxiom der reine Geist dasselbe ist wie das reine Nichts, geht es ihm um die Bewegung zwischen beiden Polen, nämlich das Werden und Vergehen. In sehr ähnlichen Wendungen wie Reich in der zitierten Stelle in „Äther, Gott und Teufel“ (S.122 f) beschreibt auch Hegel, dass das Wesentliche am Lebendigen nicht das Stoffliche ist, nicht der Leichnam, den man sezieren und analysieren kann. Nach Hegel (PdG, Suhrkamp-Werksausgabe, Frankfurt/Main 1970, Bd.3, S.13) ist nicht das durch wissenschaftliche Analyse gewonnene „Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden“ (Hervorhebungen von Hegel). Das wissenschaftliche Resultat ist nur „der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen“.
Wirklich ist nur das, was wirkt und das Bewirkte kann von der lebendigen Kraft, die es bewirkt hat, nicht abgetrennt werden. In diesem Grundaxiom wurzelt, was Hegel und Reich zutiefst verbindet. Nach Hegel erscheint der lebendige Geist in drei Formen: als subjektiver, als objektiver und als absoluter Geist. Der subjektive Geist, auf den ich mich hier beschränke, ist jedes einzelne Individuum, in dem der Geist frei wirkt als Gefühl, Verstand und Vernunft. Das Gefühl, die Empfindung, ist für Hegel die Position, von dem die Bewegung des subjektiven Geistes ausgeht; der Ausgangspunkt wird zum springenden Punkt, dem Ur-sprung des Denkens.
Dies ist meines Erachtens die Jahrtausendleistung Hegels: das Gefühl und die Körperempfindung als integratives Moment für die Philosophie wieder zurückgewonnen zu haben. Eben diese Leistung wird von vielen seiner Anhänger flugs übersehen, die von hier aus schnell weg sich aufschwingen wollen in die Höhen des objektiven oder des absoluten Geistes. Diese „herzlosen“ Hegelianer müssen enorme Verdrängungsenergien aufbringen, um nicht bemerken zu müssen, wie ihnen die Emotion, die Heraus-bewegung, in der Hegelschen Dialektik nicht nur permanent auf den Fersen bleibt, sondern wie der Igel dem Hasen im Märchen auch permanent schon voraus ist.
Denn im objektiven Geist finden wir das Gefühl wieder in der „sittlichen Intimität“, wie Hegel das nennt, des Familienlebens, im absoluten Geist im emotionalen Ausdruck der Kunst. Herz und Kopf nicht mehr getrennt, sondern eins. Diese Lehre macht den revolutionären Elan der Hegelschen Philosophie aus. Er bleibt jedoch weit davon entfernt, einer neuen“Logik des Herzens“ das Wort zu reden wie Pascal oder gar zum Vorreiter einer romantischen New-Age-Bewegung zu werden. Denn, so Hegel weiter: zwar gehören Kopf und Herz und Bauch zusammen, doch ist der Kopf der Tod des Herzens, der Verstand der Tod des Gefühls.
Das Denken mordet, indem es analysiert (griech.: analyein = auflösen). So wie am lebendigen Baum die Blüte der Tod der Knospe ist und die Frucht der Tod der Blüte und beides nicht gleichzeitig sein kann, so vernichtet der Verstand die Unmittelbarkeit des Gefühls. Ein Beispiel: Wenn ich beginne, über meine Liebe zur Geliebten nachzudenken, versetze ich meinem Liebesgefühl den Todesstoß, ich fälle Urteile über die Geliebte, statt sie zu lieben. Urteilen heißt, von einem Ur, einem Ganzen, etwas abteilen, im Beispiel von der Liebe an sich das abteilen, was diese Liebe in diesem Moment für mich ist. Das reflektierende Urteil entspricht dem notwendigen, einem die Not wendenden, menschlichen Bestreben, in der permanenten Bewegung der Gefühle Standpunkte und einen Überblick zu gewinnen.
Weil es vielen Philosophen nur um diesen Überblick und die sicheren Standpunkte ging, nahmen sie es hin, das Gefühl für die Philosophie als Ganzes zu töten, siehe Descartes. Für Hegel jedoch sind alle Stand-punkte, die sich durch den Ver-stand, durch Nach-denken im Sinne von: erst fühlen, da-nach denken, gewinnen lassen, vor-läufig, das heißt nach vorn laufend, denn wir sollen beim Verstand nicht stehen bleiben. Wir sollen, wie auch Reich fordert, das Ganze im Blick, wenn auch nicht im Überblick behalten. Dies gelingt mittels der Vernunft, die im Gegensatz zum Verstand nicht nur versteht, sondern begreift und in der begreifenden Bewegung einen körperlichen Griff vollführt, der das, was der Verstand getrennt hat, wieder zusammenbringt und zusammenwachsen lässt.
Insofern ist die Vernunft der Tod des Verstandes und die Wiedergeburt von Gefühl und Verstand auf einer höheren Stufe der Erkenntnis. Die ursprüngliche Unmittelbarkeit des Gefühls lässt sich nicht wieder herstellen, aber es bleibt auch nicht bei der Leichenkälte des reinen Verstandes. Angewandt auf das Beispiel von der Liebe: Wenn ich „vernünftig“ liebe, sehe ich die Geliebte nicht mehr durch die rosarote Brille der unmittelbaren Empfindung, analysiere sie aber auch nicht mehr mit den scharfen Urteilen der Reflexion, sondern liebe mit einer Kraft, die durch die tödliche Negativität der Kritik aller Mängel der Geliebten hindurch gegangen ist und dennoch – oder gerade deshalb – wirklich und wirksam liebt.
Diesen Prozess wiederholen wir immer wieder, solange wir leben, solange wir uns nicht auf den Halt konventionellen Verhaltens, auf die vermeintliche Sicherheit begründeter Meinungen zurückziehen, sondern das tödliche Wagnis des Infragestellens durch die Vernunft eingehen und die Bewegung des Greifens nach dem Unbegreiflichen, des Aufdeckens des Abgrundes unter allen Gründen mitvollziehen. Da gibt es keine Sicherheiten mehr, sondern eher das suchende, unsichere Abtasten, wie Reich es für die Naturwissenschaften im Sinne seiner orgonomischen Denktechnik (ÄGuT S.101) fordert und das einhundert Jahre vor ihm von Hegel in seiner Logik ausführlich beschrieben worden ist. Ähnlich verhält es sich mit Reichs Beispiel vom Eisenbahnzug.
In Hegels Terminologie finden wir dieselben Sachverhalte systematisch und exakt ausgedrückt in seiner Unterscheidung vom abstrakten (von lat. abs-trahere = wegziehen) Denken des Verstandes, der vom Ganzen wegsieht, um die Einzelteile im Detail zu untersuchen, wie die moderne Naturwissenschaft dies tut, und dem konkreten (von lat. concrescere = zusammenwachsen) Begreifen der Vernunft, die das lebendige Zusammenwachsen der Einzelteile bei aller Detailanalyse immer als das Wesentliche sieht. Auch das, was lebendige Psychotherapie ausmacht, finde ich in Hegels unvergleichlicher Passage über die „ungeheure Macht des Negativen“ in der „Phänomenologie des Geistes“ (S.36) beschrieben, wo er von der „absoluten Zerrissenheit, in der der Geist seine Wahrheit findet“, spricht.
Von der Zerrissenheit, die ich aushalten soll, ohne beim Aushalten Halt zu machen, um das, was mir geschieht, als meine Geschichte zu begreifen und neue Knospen aus krummem Holz zu treiben, im Begreifen neu nach dem Leben auszugreifen. Ein letztes zur Hegelschen Dialektik, die in ihrem Wesenskern meines Erachtens exakt dem entspricht, was Reich mit seiner orgonomischen Denktechnik will: die Bewegung des Geistes kennzeichnet Hegel mit dem Verb „aufheben“, das im Deutschen drei gegensätzliche Bedeutungen hat, nämlich vernichten (z.B. ein Gesetz aufheben), aufbewahren (ein Erinnerungsstück aufheben) und auf eine höhere Ebene heben. Die Dialektik macht Ernst mit allen drei Bedeutungen in einer Überlegung und Bewegung. Mir diesem Ernst lässt sich die Frage nach der Möglichkeit einer ungetrübten Erkenntnis im Sinne der orgonomischen Denktechnik anders stellen: inwieweit wird durch die Reichsche Orgontherapie der Charakterpanzer des Forschers aufgehoben?
Die Philosophie Hegels sekundiert in hohem Maß dem, was Reich sich für die Wissenschaft mit seiner orgonomischen Denktechnik so sehr gewünscht hat: einen Auf-bruch zu einem ganzheitlichen, lebendigen, neuen Forschen. Hegel hat, um auch die Existenz des Denkers im Lichte seines Denkens zu beleuchten, sein Denken in bewegter Weise gelebt. Er schrieb seine Phänomenologie als Professor in Jena, ein Amt, zu dem er mühsam nach Jahren des Herumreisens durch Süddeutschland und die Schweiz als Hauslehrer bei reichen Familien gekommen war, unter dem „Kanonendonner der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt“ im Jahre 1806.
Er verlor durch die Napoleonischen Kriege seine Professur, war dann Journalist in Bamberg und Gymnasialdirektor in Nürnberg, bis er in Heidelberg und Berlin wieder zu professoraler Würde gelangte. Leidenschaft war ihm nicht fremd, denn er hatte, für einen Philosophen sehr ungewöhnlich, einen unehelichen Sohn von einer Hausangestellten seines Vermieters. Er heiratete mit 41 eine um 20 Jahre jüngere Frau, für die er, der spröde Denker, tiefempfundene, romantische Gedichte schrieb und mit der er noch zwei Söhne zeugte. Er liebte Musik, Kunst und Geselligkeit. Seine Gymnasialreden zum Schuljahresabschluss dürften manchen modernen Pädagogen noch brüskieren, behauptet er doch darin, die Lehrerurteile über Schüler seien ebensowenig fertig wie die Schüler selbst. In späteren Jahren indes wurde Hegel der Bewegung müde und fiel in den Irrtum, mit ihm sei die Philosophie „fertig“ geworden wie er mit ihr.
Aufgaben oder Aufgabe der Philosophie?
Alle ganzheitlich orientierte Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, die die Dichotomie von Körper hier und Geist dort überwunden hat und das Lebendige selbst, nicht die denkerische Struktur, als Substanz und Subjekt der Philosophie auffasst, ist durch oder gegen Hegel entwickelt worden. Durch ihn in erster Linie im dialektischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels. Mit Hegel sah Marx die Geschichte als lebendigen Prozess der Entwicklung der Idee der Freiheit. Nur war Marx diese Idee zu „kopfig“, so dass er meinte, Hegel vom „Kopf auf die Füße“ stellen zu müssen.
Entsprechend ist für Marx nicht mehr der Geist der Motor der geschichtlichen Entwicklung, sondern die materiellen Verhältnisse sind es, die in Patriarchat, Feudalismus und Kapitalismus die Menschen zum Klassenkampf treiben und dazu drängen, die Welt zu verändern, statt sie zu interpretieren, d.h. über sie nach-zudenken im Hegelschen – temporären – Sinne. Reich war lange Zeit Marxist und trennte sich nach seinem Ausschluss aus der KPD 1934 von der marxistischen Weltanschauung. Innerlich löste er sich vom Kommunismus Ende der 1930-er Jahre aufgrund der politischen Erfahrungen, die er mit Stalins Perversion der Marxschen Lehre machte.
Auf Dauer wäre Reich mit den Grundprinzipien von Marx und Engels aufgrund seines eigenen therapeutischen Leitsatzes „Geist führt Körper“ – ein zutiefst Hegelscher Satz – in Konflikt gekommen. Durch Hegel mittelbar begründet begreift sich auch die sogenannte „Existenzphilosophie“. Der erste Existentialist, Sören Kierkegaard, war dezidierter Hegelianer. Doch ging ihm sein philosophischer Meister zu forsch über das Schicksal des Einzelnen hinweg. In seiner Geschichtsphilosophie hatte Hegel den Einzelnen im Weltgeschehen mit seinen Kriegen und Revolutionen als „Blume am Wegesrand“ gesehen, die vom Fortschritt des Weltgeistes mittels der List der Vernunft zu Zeiten zertrampelt und für das allgemeine Ganze geopfert wird.
Das empfand Kierkegaard als zynischen Umgang mit der Einmaligkeit der individuellen Existenz. Sich selbst nahm er als Ausnahmeexistenz wahr, als einen, der auf die Sprünge und Widersprüche in sich selbst aufmerksam wurde. Die Grunderfahrung seines Lebens war die Angst, die er nicht verdrängte, sondern mit tödlichem Ernst unter die Lupe nahm. Diesem Gefühl widmet er eines seiner umfangreichsten Bücher: „Der Begriff Angst“, das den Untertitel trägt: „Eine schlicht andeutende psychologische Überlegung in Hinsicht auf das dogmatische Problem der Erbsünde“. Sünde verstand Kierkegaard im ursprünglichen hebräischen Sinn des Wortes, als „Verfehlen des Zieles“.
Die Möglichkeit, sein Lebensziel zu verfehlen, trieb ihn um und in die Enge, in die Angst. Anders als Descartes fand er im Zweifel keine unbezweifelbaren Sicherheiten mehr, sondern nur die Möglichkeit der Ver-zweiflung, die er die“Krankheit zum Tode“ nennt und als das Grundcharakteristikum des Menschen im Gegensatz zum Tier, das nicht verzweifeln kann, ansieht. Die einzige mögliche Rettung bestand für Kierkegaard im Sprung in den Glauben, den er sich jedoch in intellektueller Redlichkeit versagte. In unserem Jahrhundert haben Martin Heidegger der Grunderfahrung der Angst vor dem Nichts und der Sorge um unser Dasein, das ungeborgen aus dem Sein herausragt und Karl Jaspers (1883-1969) den Grenzsituationen unserer Existenz (Tod, Leid, Kampf, Schuld) nachgespürt.
Jean Paul Sartre, der dritte „große“ Existentialist, benennt die Angst vor der radikalen, absoluten Freiheit, die er dem Einzelnen ebenso zuschreibt wie die damit verbundene absolute Eigenverantwortlichkeit für sein Leben, als Ursache dafür, dass wir so oft in die Unaufrichtigkeit flüchten. Dank Kierkegaard, der diesen Maßstab an seinen Lehrer Hegel anlegte, ist die Aufrichtigkeit gegenüber den menschlichen Grundgefühlen als Prüfstein für das Ausmaß an Realitätsverdrängung aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken, wenn auch für so manchen dieser Prüfstein zum Stein des Anstoßes wird.
Gegen Hegel, aber von seinem Leitfaden des Werdens nicht loskommend, entwickelt sich die sogenannte Lebensphilosophie. Ihr Initiator war Arthur Schopenhauer (1788-1860), der, Hegel mit un-flätigsten Invektiven belegend („geistloser, Unsinn schmierender Philosophaster“ mit „Bierwirtsphysiognomie“), als erster Philosoph in der abendländischen Geschichte überhaupt die These aufstellt, unser Leben sei nicht von der Vernunft, sondern vom blinden, chaotischen Willen, dem Irrationalen der Triebe beherrscht.
Hatte Hegel noch den Willen als das Denken, das sich ins Dasein übersetzt und der daher gar nicht anders sein könne als frei (§4 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“) verstanden, so sieht Schopenhauer im Willen die irrationale, dem Denken diametral entgegenstehende, vitale Lebenskraft. Reich unterstellt Schopenhauer (ÄGuT S.22), vom „bösen Willen“ gesprochen und damit großes Unheil im Denken der Menschen angerichtet zu haben. Schopenhauer verstand indes den Willen nicht im moralischen Sinne als „böse“, sondern er sah in der Unbeherrschtheit der menschlichen Triebe und der Unmöglichkeit, ihnen mittels der Vernunft beizukommen, in Anlehnung an den Buddhismus, die Ursachen allen menschlichen Leids.
Schopenhauer schlussfolgerte daraus, die Hauptaufgabe des Menschen sei, sich von den Trieben zu lösen. Sigmund Freud nannte das später: die Triebe sublimieren. Schopenhauer fand für diese Ablösung vom Willen drei Wege: die philosophische Meditation, das praktisch-tätige Mitleid und die Hingabe an eine künstlerische Tätigkeit, insbesondere an das Musizieren. Durch Meditation, sozial-karitative Tätigkeit und durch die Kunst gelingt es mir laut Schopenhauer, das Elend meines Daseins zu vergessen.
Gegen diese pessimistische Interpretation wandte sich mit aller Schärfe Friedrich Nietzsche. Er setzte sich gegen alle das Leben bewertenden Interpretationen, seien sie nun von Platon, Kant oder Schopenhauer vorgetragen, mit dem Argument zur Wehr, man müsse, um solche Wertungen, die schnell zu Abwertungen werden, vornehmen zu können, sich außerhalb des Lebens stellen. Dies ist jedoch unmöglich, besser gesagt: unaufrichtig. Deshalb fordert Nietzsche die „Umwertung aller Werte“, und zwar von unserem Leib ausgehend. Nietzsche machte – und daher ist er Reich so sympathisch – radikal Ernst mit der Erfahrung des Körpers, der nach größtmöglicher Vitalität und Kraftentfaltung, nach physischer Gesundheit, Kraft und Macht strebt.
Vehement und in brillantem Stil kämpft Nietzsche gegen alle Sedative, die die Kraft dieses Antriebs zu dämpfen suchen. Hinter den Verabreichern dieser Palliative, seien diese nun „wissenschaftliche“ Phiolosophen oder „gefühlsduselige“ Religionen, nahm Nietzsche einen anderen, sehr subtilen und versteckten „Willen zur Macht“ wahr, die Macht der „asketischen Ideale“.
Dass er selbst das, was er intuitiv so klar vor sich sah, körperlich zu leben außer Stande war, dass er, der Kaiser, Kirche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Koryphäen seiner Zeit mit schärfsten Polemiken angriff, seinen nächsten Angehörigen – seiner Mutter und seiner Schwester – nicht sagen konnte, wie sie ihn an seiner eigenen größtmöglichen Entfaltung seiner Vitalität und Lebenslust gehindert hatten, brachte ihn, der sehr lesenswerten Analyse Alice Millers zu Folge („Das ungelebte Leben und Werk eines Lebensphilosophen, FRIEDRICH NIETZSCHE“, in: Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt/M. 1988, S.9-78) mit 44 Jahren in die klinische Psychose.
Für viele ist dies Anlass genug, Nietzsches gesamtes philosophisches Werk als Ausgeburt eines kranken Hirns zu verwerfen. Es ist überhaupt leicht, gerade unter biographischen Aspekten, die neurotischen Charakterzüge Kierkegaards, Schopenhauers oder Heideggers, die Psychose Nietzsches, die Nikotin- und Medikamentenabhängigkeit Sartres zum Anlass zu nehmen, nicht mit Reich, aber in Reichs Worten zu sagen: auch diese Philosophen hinterlassen nicht nur eine Lehre, sondern auch eine „Leere in der Welt und die Masse der Menschen blieb durch sie unberührt“.
Auch die Ausgänge aus der Philosophie Hegels sind kein Ausgang aus der Falle, in der sich laut Reichs Einleitung zu seinem Buch „Christusmord“ (und laut dem bekannten Werk des Reich-Schülers Elsworth Baker „Der Mensch in der Falle“) die Menschheit befindet. Sollte die Philosophie deshalb, statt sich selbst stets neue Denkaufgaben aufzugeben, nicht besser aufgeben, die Probleme der Menschheit lösen zu wollen?
Schlussbemerkung
Ich meine: Nein! Reich stellt seinem Buch „Äther, Gott und Teufel“ das Goethewort voran:
„Was ist das Schwerste von Allem?
Was Dir das Leichteste dünket:
Mit den Augen zu sehen
Was vor den Augen Dir liegt.“
Vor Augen liegen uns 2700 Jahre abendländischer Philosophiegeschichte. Es ist unsere Geschichte oft quälenden Bemühens zur Klärung unserer Fragen an das Leben. Am Leitfaden „orgonomischer Denktechnik“ lässt sich erkennen, und das habe ich in diesem Essay nach bestem Vermögen versucht, wie die Philosophie mystische und mechanistische Irrwege und Umwege gegangen ist und noch geht. Aber selbst der „Mystiker“ Platon spricht in seinem Dialog Phaidon (85d ff) davon, dass seine Vermutungen über die Ideen einem notdürftig zusammengebastelten Floß glichen, mit dem er sich über den unsicheren Fluss des Lebens bewege und dass er bereit sei, alsbald einen Nachen zu besteigen, der sich als tragfähiger erweisen sollte.
Steht uns nun ein solch tragfähiger Nachen zur Verfügung oder behelfen wir uns nach wie vor mit den Flößen, die Philosophen, Psychologen, Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler uns zusammenbasteln? Wir haben immer noch nicht alle Konsequenzen aus Hegels Wiederentdeckung der Einheit von Körper-Seele-Geist gezogen. Der Philosoph Richard Wisser beschreibt unsere Situation in seinem neuen Buch „Kein Mensch ist einerlei. Spektrum und Aspekte kritisch-krisischer Anthropologie“ (Würzburg 1997, S.397 f) so: „Wir tragen also nicht einen Organismus mit uns herum wie die Astro-nauten ihr Versorgungssystem.
Uns ist auch die Seele nicht ein Klotz am Bein, dessen wir uns entledigen könnten, wenn wir beabsichtigen, bessere Sprünge zu machen. Und der Geist ist uns kein super additum, kein i-Tüpfelchen, das auf alles andere pfeiffen kann, wenn Körper und Seele flöten gehen. Zwar macht uns Naturwissenschaft vor, wie man dem Leib den Geist und oft auch die Seele austreibt und ihn zum Körper denaturiert. Zwar zieht sich Geisteswissenschaft auf ihre Weise aus dem Leib zurück, indem sie das Körperliche hinter sich lässt. Und auch die Psychologie trägt ihr Teil dazu bei, die Seele um den Leib zu bringen, mitunter allerdings auch, den Leib um die Seele zu bringen.“
Wilhelm Reich war es mit seiner „orgonomischen Denktechnik“ angelegen, nicht den Menschen um etwas zu bringen, sondern zu verhindern, dass die Menschheit in ihren lebensfeindlichen Tendenzen, die in Gen- und Atomtechnik evident sind, sich selbst umbringt. Als Voraussetzung für eine neue, lebendige und lebensfördernde Forschung sieht Reich die Sprengung der Verpanzerung der Menschen durch seine Orgontherapie. Die mit der neolithischen Revolution beginnende Verpanzerung der Menschheit gleicht der „Erbsünde“, aufgrund derer wir unser Ziel, glücklich und vital zu leben, verfehlen. Mittels der Orgontherapie werden wir von dieser Sünde „erlöst“ wie die Schlange vom Pflock.
Die Leidensgeschichte mystisch-mechanistischer Irrwege seit dem Auszug aus dem vorsokratischen Paradies würde nach dem Erlösungswerk zu einer neuen Heilsgeschichte der orgonomischen Denktechnik, die dann mehr wäre als bloße Naturwissenschaft. Die orgonomische Denktechnik wäre dann in der Tat keine Philosophie neben anderen, sie wäre das tragfähigste Floß auf dem Fluss des Lebens, nämlich die künftige – und ich frage mich, ob Reich das gewollt hätte – Religion.
Ende.
29 Jan
Bukumatula 6/1997
Eine Würdigung zum 100. Geburtstag von Wilhelm Reich.
Beatrix Teichmann-Wirth:
Wilhelm Reich: „Alone“
(Tonbandtranskription; Übersetzung aus dem Englischen: Beatrix Wirth, W. Ratz)
Es ist der 3. April 1952 in Orgonon, Rangely Maine.
Ich, Wilhelm Reich, sitze allein im großen Raum im unteren Haus. Alle Menschen sind gegangen. Am Morgen und den ganzen gestrigen Tag über fand ein Meeting von Mitgliedern der Foundation, die meinen Namen trägt, statt.
Alle sind nun gegangen und ich möchte ein paar Worte zu den Aufzeichnungen, die gestern über das Desaster, das Orgonon traf, gemacht wurden, hinzufügen. (Oranur-Experiment; Anm. d. Hsg.)
Niemand ist hier, der das, was ich nun sage, hören könnte. Das Tonbandgerät ist der einzige Zeuge. Ich hoffe, dass einmal jemand in der Zukunft der Aufzeichnung zuhören wird – mit großem Respekt – Respekt für den Mut, den Mut, der notwendig war, um die Forschungsarbeiten zur Orgon-Energie und Lebensenergie durch all diese Jahre hindurch zu betreiben.
Ich werde nicht auf Details eingehen wie auf die vielen schlaflosen Nächte, die Tränen und finanziellen Ausgaben, die Anstrengungen, die Geduld die ich mit allen meinen Mitarbeitern und Studenten haben musste. Ich möchte nur einen Tatbestand erwähnen: Dass niemand um mich war, weder hier, noch in New York, der voll und ganz, vom Grunde seiner Existenz, verstehen würde, was ich tue und zu mir und meiner Arbeit stehen würde. Sie sind alle gute Menschen; anständig, ehrlich, hart arbeitend. Ich traue ihnen, fast alle sind sehr gute Freunde von mir. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass alle, mit keiner Ausnahme, gegen das sind, was ich tue.
Obwohl sie es eigentlich nicht wollen, durchkreuzen sie meine Leistungen, streichen weg, löschen aus, walzen sie nieder.
Was immer es ist, es geht darum, die Ergebnisse meiner Anstrengungen zu vermindern, ihnen die Schärfe und Klarheit meiner Gedanken zu nehmen, sie bis zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren, was ich in nun fast 34 Jahren systematischen Denkens erarbeitet habe – und nun in 40 Jahren menschlichen Leidens, seit 1912 oder besser 1910, als meine Mutter starb. Es ist keine einzige menschliche Seele hier, die ganz und gar versteht oder nicht nein sagen würde zu alledem. Dieses „Nein“ ist identisch mit „Ich mag es nicht, ich liebe es nicht, ich verabscheue es, warum ist es hier, warum muss es existieren, warum setzt er sich nicht zurück und entspannt sich, warum musste er dieses Oranur-Experiment beginnen, das uns so viele Schwierigkeiten einbrachte“.
Sie sehen nur die Schwierigkeiten. Sie sehen nicht und wollen nicht erkennen, was das Oranur-Experiment für Biologie, Medizin und die ganze Wissenschaft und die Philosophie bedeutet. Für sie ist es vor allem ein Ärgernis, das zu Krankheit und Leid führt. Und von Zeit zu Zeit habe ich das Gefühl, dass sie glauben – obwohl sie es nicht zugeben würden, dass ich verrückt geworden bin.
Diese Reaktion von meinen engsten Freunden und Mitarbeitern auf diese Situation hier ist genau dieselbe, die die Menschheit für nun 8.000 – 10.000 Jahre belastet, seit das Patriarchat die Ziele vorgibt und die natürliche Liebe in den Neugeborenen ausgelöscht wurde. Ich werde nicht weiter darauf eingehen, es ist alles genau in meinen Publikationen nachzulesen. Wer diese kennt, weiß, was das bedeutet. Die Entdeckung der Lebensenergie wäre schon längst vollzogen worden, wäre da nicht das „Ich will es nicht, ich fürchte es, ich stoße es ab, ich töte es, ich werde es nicht existieren lassen“. Es ist in ihren Strukturen, nicht in ihrer Sehnsucht, nicht in ihren positiven, bewussten Wünschen – sie sind alle anständige und gute Menschen.
Es ist in ihrer Struktur, es ist irgendwie in ihrem Gewebe, in ihrem Blut. Sie können nichts ertragen, was mit Orgon-Energie zu tun hat oder mit Lebensenergie oder damit, was sie `Gott´ nennen oder mit ihren tiefsten Sehnsüchten nach Liebe und Erfüllung. Sie können es nicht ertragen und sie fürchten es aufgrund ihrer Strukturen; das Gewebe, das Blut kann sich nicht ausdehnen. Ich sage nicht, dass sie nicht ehrbare Menschen sind und ich schätze ihre Leistungen, ihre Liebe und ihr Leben. Ich sage es, weil es wahr ist. Weil es in jeder einzelnen Bewegung auftaucht, in jedem einzelnen Wort, in jeder einzelnen Meinung, in allen Zeitungen, in allem, was sie tun mit dem, was immer mit der Entdeckung der Genitalität, dem Leben, der Liebe zu tun hat. Das betrifft solche Persönlichkeiten wie den Heiligen Laurentius, Giordano Bruno, Jesus Christus und so fort.
Es ist ein trauriges, einsames Kapitel in der Menschheitsgeschichte. Ich fühle mich nicht verpflichtet, dies zu lösen. Ich habe die Lebensenergie zu entdecken. Ich habe das Oranur-Experiment stattfinden lassen. Ich weiß was es für die Zukunft der Medizin und Biologie bedeutet. Ich bin mir dessen voll bewusst, und in dieser Bewusstheit bin ich ganz allein. Da ist niemand, keine einzige Menschenseele weit und breit, um darüber zu sprechen, um Gefühle zulassen zu können, um zu sprechen, wie Freunde miteinander sprechen. Das ist alles.
Fünfeinhalb Jahre nach dieser Aufzeichnung ist Wilhelm Reich in einem amerikanischen Zuchthaus gestorben.
Gestorben an menschlichen Bedingungen, die er hier beschreibt – daran, dass ihm niemand folgen konnte, daran, dass er von verständnislosen Freunden und erbitterten Feinden umgeben war.
Nun, 40 Jahre nach seinem Tod, scheint diese Furcht vor der Freiheit, welche er oben beschreibt und für seine Verfolgung verantwortlich macht, noch immer wirksam zu sein, so dass sein Werk in den ihn würdigenden Zeitungen nach wie vor entweder ignoriert oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Wie zu Lebzeiten widmen sich die meisten Beiträge wenig seinen Erkenntnissen, um so mehr jedoch den Hinweisen für seinen „Wahnsinn“.
In all dem Kränkenden, Bösartigen, fand ich einen wahren Satz: „Er passte in kein Schema“.
Er passte nicht mehr in das Schema der Psychoanalytiker, als er dafür eintrat, dass die Kultur nicht durch Triebunterdrückung zu erhalten ist, sondern im Gegenteil, dass man für Bedingungen sorgen soll, die Kinder in Freiheit aufwachsen lassen im Vertrauen auf eine von innen kommende Moral, die im Einklang mit den Bedürfnissen des Individuums ist. Er verließ damit, wie Freud es im letzten gemeinsamen Gespräch aussprach, den „Mittelweg der Psychoanalyse“.
Er passte auch nicht in das Schema der dogmatischen Kommunisten, welchen er leidenschaftlich angehörte, als er immer mehr erkannte, dass große gesellschaftliche Veränderungen an der strukturellen Enge des Menschen scheitern, weshalb sich seine politische Arbeit immer am Privatesten, an den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiter orientierte.
Reich war groß.
Und so bin auch ich nun vor die Aufgabe gestellt, dieser Größe gerecht zu werden.- Der Größe des Menschen, der sich nicht erklären lässt (wie dies Biographen wie Sharaf oder Mulisch bespielsweise tun: „Weil er in seiner Kindheit …“).
Und der Größe des Werkes, das so viele Bereiche (Psychologie, Physiologie, Soziologie, Politik, Medizin, Biologie, Orgonomie) umspannt, so dass man nur staunen kann, wie man soviel in so kurzer Zeit erfassen kann.
So merkte ich, dass ich, wenn ich dem Anspruch gehorche, dies alles lückenlos und artig von A-Z darzustellen, wie dann die Enge in mir zunahm, die Verkrampfung war körperlich spürbar, und ich bekam Angst – ein Zusammenhang (Kontraktion und Angst), welchen Reich schon in seinen ersten Forschungsjahren eingehend beschrieb.
Ich musste also – und das ist konsequent „reichianisch“, das in mir aufsuchen, was kräftig ist und weit, einen Platz, wo Lust und Freude zu Hause sind.
So werde ich mir hier herausnehmen, über das zu sprechen, was bei mir in der Beschäftigung mit Reich wirklich angekommen ist, was mich bewegt und erschüttert hat und worüber ich von ganzem Herzen sprechen kann – ich werde also in Anlehnung an einen Buchtitel von Kazantzakis über „Meinen Wilhelm Reich“ sprechen.
Ich werde über das sprechen, was für mich essentiell ist.
Dies ist zunächst seine Genauigkeit. Diese Genauigkeit zeigt sich in der Begriffswahl – die Begriffe sind anschaulich und mit Leben erfüllt und Reich ist sehr genau in der Darstellung seiner Entdeckungen, in welcher er immer den Weg auch beschrieb. Dies macht die Lektüre seiner Werke so spannend und aufregend.
Er war auch bei anderen sehr darauf bedacht, dass diese ihn wirklich verstehen – ein sehr eindrückliches Beispiel ist das in seinen letzten Lebensjahren mit dem Analytiker Eissler geführte Interview, wo Reich seinen eigenen Redefluss immer wieder mit der Nachfrage nach dem Verständnis unterbricht („Verstehen Sie mich?“).
Reich war auch außerordentlich genau in seiner Wahrnehmung. Er schaute genau nach, wie sich ein Phänomen wirklich zeigt und was dahinter steckt.
Als Beispiel sei die Definition von sexueller Gesundheit erwähnt.
Reich ging konsequent – der Libidotheorie Freuds folgend – von der Hypothese aus, dass alle Neurotiker genital gestört sind, was auf empörten Widerspruch bei den Analytikern stieß. Viele Neurotiker litten nicht unter einer Erektionsunfähigkeit oder Frigidität. Erst bei genauerem Hinsehen (Fragen bezüglich der Erlebnisqualität der Sexualität, den Onaniepraktiken und -phantasien) zeigte sich, dass diese Sexualität nicht wirklich erfüllend war, erfüllend und befriedigend, da keine „Hingabe an das Strömen der biologischen Energie“ stattfand.
Dies ist im Gegensatz zum Verständnis von heutigen Sexualtherapeuten nicht durch Übung zu erlangen, sondern Ausdruck einer gesamtorganismischen Ausdehnung. Er nannte dies orgastische Potenz. Physiologisch findet sie im Orgasmusreflex – einer unwillkürlichen, sanften Bewegung, die, der Atemwelle folgend, den ganzen Körper erfasst – ihren Ausdruck.
Reichs Werk ist weitreichend.
Er bleibt nicht bei der individuellen Analyse des einzelnen, sondern beschreibt, vereinfacht ausgedrückt, wie alles mit allem zusammenhängt. Reich fand für die Art des Herstellens von Verbindungen den Begriff des funktionellen Denkens im Gegensatz zum kausal-mechanistischen der abendländischen Kultur.
Ausgangspunkt war die Psychoanalyse und damit der psychische Bereich des Menschen. Zunächst bemerkte er, dass bestimmte charakteristische Haltungen (Misstrauen, latente Feindseligkeit, etc.) sich auch körperlich zeigen (Zusammenkneifen der Augen, Verbissenheit des Kiefers, etc.). Beides ist Ausdruck eines gemeinsamen Funktionsprinzips – einer charakteristischen Blockierung des energetischen Flusses, Ausdruck der Panzerung. Aber Reich ist auch hier nicht stehen geblieben.
Er hat in der Zeit des Faschismus erfahren, wie dieses „Nein“ in den Körpern und Seelen der Menschen verheerende Folgen nach sich zieht. In seiner „Massenpsychologie des Faschismus“, eine Analyse, die man gut in Zeiten wie diesen heranziehen könnte, um den Anfängen zu wehren, zeigte er auf, wie Hitler fatalerweise die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, Größe und Lebendigkeit ansprach – Grundbedürfnisse von Menschen, wie das nach Gemeinschaftlichkeit und nach Emotionalität.
Die Mischung aus Sehnsucht nach Freiheit und gleichzeitiger Furcht davor fand ihren extremsten Ausdruck in der Verfolgung und Ausrottung der Juden. Dass die Sexualität hier eine zentrale Rolle spielt – Begriffe wie „Judensau“, die „Reinheit“ des arischen Blutes im Gegensatz zum „Dreck“ legen eine sexuelle Konnotation nahe – ist nicht zufällig.
Das Erkennen der Grundlage dafür, nämlich dass die Unterdrückung von vitalen (sexuellen) Impulsen die Basis für die Herausbildung einer autoritätshörigen Haltung ist, brachte ihn zunehmend dazu, sein Hauptinteresse der Neurosenprophylaxe zu widmen – denn, „wenn ein Baum einmal krumm gewachsen ist, kann man ihn nicht mehr gerade richten“.
Aber Reich blieb auch nicht bei der Menschenwelt stehen. Er erkannte, dass die Funktion des Orgasmus nicht nur im Menschen wirkt, sondern überall, wo Lebendiges lebt. Der hier wirksamen Energie verlieh er den Namen Orgonenergie.
Reich hob in seinem Werk Trennungen auf, die wohl etabliert waren und sind:
Nicht zuletzt – und dies ist ein wenig besprochenes Kapitel des Reichschen Werkes – die Trennung zwischen Forscher und seinem Forschungs-Gegenstand. Dies ist revolutionär.
Er schreibt: „Die Rede von der objektiven Wissenschaft wird völlig lächerlich, wenn man naturwissenschaftlich denkt. Denn die wissenschaftliche Forschung wird nicht von objektiven Wissenschaftlern, sondern von lebenden Organismen betrieben. Objektiv wird die Wissenschaft dann, wenn dieser Organismus keine Angst vor der Erkenntnis hat. Sonst wird der Streit um wissenschaftliche Fragen ein Kampf von Organismen gegen oder für Lust beziehungsweise Unlust. Dies ist bei Fragen, die Sex berühren, regelmäßig der Fall.“
Reich hob Trennungen auf und verlangt damit von uns, aus den Sicherheit verheißenden Kästen des Denkens und Handelns herauszutreten. Das macht Angst und dafür verfolgten sie ihn. So war Wilhelm Reich zeitlebens ein Gejagter.
Gejagt von den Psychoanalytikern, die ihn aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausschlossen, gejagt von den Nazis, gejagt von den Behörden. Und es verwundert, dass ein derart Gehetzter – Reich musste in fünf Ländern Heimat finden – ein derartiges Arbeitspensum vollbringen konnte.
Es berührt mich immer wieder zutiefst, wenn ich seine letzte Lebenszeit nachverfolge. Diese Zeit verbrachte er in Orgonon, im US-Bundesstaat Maine mit einer kleinen Anzahl von Personen, zu welchen seine Kinder Eva und Peter zählten, seine damalige Frau Ilse Ollendorf und einige wenige Mitarbeiter. Er widmete sich fast ausschließlich seinen Forschungen zum Krebs und den orgonomischen Wetterbedingungen. Er war sehr zurückgezogen – bereits ein gebranntes Kind, musste er doch auch aus dem liberalen Norwegen ausreisen.
Und es geschah, hier in den USA, in jenem Land, von welchem er so viel Liberalität erhoffte und das Gegenteil bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, dass gerade hier die Verfolgung ihren Höhepunkt und er sein bitteres Ende finden sollte. Es ist damit eine von Reich einmal getroffene Prophezeiung eingetroffen: „Die Sexualität haben sie mir noch verziehen, aber dass ich das Lebendige selbst berührte, dafür werden sie mich töten.“
Er kam in dieser Phase verstärkt mit einer Qualität von Menschen in Kontakt, die er in den Begriff der emotionalen Pest brachte – das Verbreiten von Gerüchten, um jemanden, der sich nicht dagegen wehren kann, zu schaden.
Anlass war ein nichtiger: Ein Artikel einer Journalistin rief die „Food and Drug Administration“ auf den Plan, die ihrerseits wegen der Vermietung von Orgonakkumulatoren eine gerichtliche Verfügung erwirkte, welche letztendlich zur Verurteilung führte.
Es zählt zu den berührendsten Momenten, Reich sich selbst verteidigend beim Prozess sprechen zu hören – hier wird deutlich, was „Countertruth“ ist. Reich spricht davon, dass er dem Leben dient, und sich dadurch nicht schuldig macht, überdies Naturwissenschaft betreibe, was nicht über das Gericht entschieden werden kann, während es für das Gericht allein um das Faktum des Verbots der Verbreitung von Orgonakkumulatoren geht.
Nochmals Countertruth – beim Abtransport ins Gefängnis: „Hinten im Auto saßen Reich und Silvert in Handschellen und unterhielten sich über die Wetterbedingungen und beobachteten den Zustand der Vegetation, durch die sie fuhren“.
Was veranlasst Menschen zu derart brutalen Aktionen, wie die Vernichtung der Orgon-Akkumulatoren (eigenhändig), und der Verbrennung seiner Bücher? Welcher fundamentale Hass ist da wirksam. Empörung, Sprachlosigkeit, Entsetzen.
Wilhelm Reich war ein Radikaler, im wahrsten Sinne des Wortes, auf der beständigen Suche nach der gemeinsamen Wurzel alles Lebendigen, nach der Beantwortung der Frage: „Was ist Leben?“,
Wilhelm Reich war ein leidenschaftlich Liebender, im ständigen Ringen um „ungestörten vegetativen Kontakt“ zu den Dingen, der Natur und den Menschen. Den meisten war diese Intensität unerträglich. Wilhelm Reich war ein Visionär:
– im Glauben an das Gute im Menschen („In der Tiefe fand ich ein Stück einfacher, anständiger Natur“), ist er ein Vorreiter der Humanistischen Psychologie.
Nicht zuletzt war Reich zutiefst Mensch,
mit all den Widersprüchlichkeiten, seinen Eifersuchtsszenen bei gleichzeitigen eigenen „experimentellen Affären“, was ihm als Doppelmoral angekreidet wurde; mit seinen Wutausbrüchen, wenn man nicht offen mit seiner Kritik ihm gegenüber war, mit einer rührenden Offenheit im Ausdruck seiner eigenen Gefühlen und im Wunsch dieselbe Offenheit und radikale Hingabe von den anderen entgegengebracht zu bekommen, mit seinem Optimismus und seiner, an ein Kind erinnernden Naivität, mit seinem bisweilen autoritären Gehabe bei gleichzeitiger Ablehnung desselben; in seiner Kindererziehung, die bisweilen so gar nicht seinen Prinzipien entsprach, mit seiner Sehnsucht nach einem ganz normalen Leben. Reich war ein Mann, der gerne Beethovens Musik hörte, Beethoven, den er in seiner Einsamkeit und seinem Kämpfertum sich selbst so ähnlich empfand.
Was er ist und was nicht, sei von ihm selbst ausgedrückt:
„Ich bin im Grunde ein ganz großer Mann, eine Seltenheit sozusagen. Ich weiß es nicht richtig. Deshalb kämpfe ich gegen das `Den-großen-Mann-Spielen´. Was habe ich entdeckt?
Viel, gut erarbeitet, dennoch – ich kann es nicht genießen – ich bange um meine Zukunft.“ (Jenseits der Psychologie, Seite 319)
Und später:
„Ich wusste trotz aller Geselligkeit, dass ich zu den Menschen schlecht passe. Und so ist es geblieben. Bis heute. Ich fühle mich nur bei meiner Arbeit wohl – und in der Umarmung lieber Frauen glücklich. Nichts, was dieser Welt lieb ist, kann mich erfreuen. Ich will zusammenstellen, was ich nicht mag und daher nicht tue:
Reich schonte sich selbst nicht und auch nicht die anderen.
Wilhelm Reich ist als Mensch und mit seinem Werk eine ständige Herausforderung:
Letztendlich und dies ist wohl die größte Herausforderung:
Aufrichtig zu leben ohne hartleibig zu sein!
Als Reich am 3. November 1957 im Bundesgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania, starb, war das Echo der Presse gering. Immerhin fand sich ein Nachruf im Magazin „Time“ mit folgendem Text:
„Gestorben: Wilhelm Reich, 60, einst namhafter Psychoanalytiker, Mitarbeiter und Anhänger Sigmund Freuds, Gründer der Wilhelm Reich-Foundation, zuletzt eher bekannt für unorthodoxe Sexual- und Energietheorien, erlag einem Herzanfall im Staatsgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania, wo er eine zweijährige Haftstrafe wegen des Vertriebs seiner Erfindung, dem `Orgon-Energie-Akkumulator´ absaß (ein Vergehen gegen den Food and Drug Act), ein Apparat von der Größe einer Telefonzelle, welcher angeblich Energie aus der Atmosphäre sammelt und den darin sitzenden Patienten von gewöhnlichen Erkältungen, von Krebs und Impotenz heilt.“
40 Jahre danach ist Reich nach wie vor bloß – oder vor allem – als Exote für die schreibende Öffentlichkeit attraktiv.
Mit geiferndem Interesse widmen sich die Zeitungsartikel seinem Wahnsinn. Seine Entdeckungen werden unhinterfragt ins esoterisch-schrullige und damit ins nicht ernstzunehmende Eck gedrängt. Auch die großformatige „Presse“ beweist hier keinen großen Horizont. Reich verkommt zum „seltsamen Alchimisten, der nackte Menschen in Schränken zum Orgasmus kommen lässt, Patienten verprügelt, in Steinen Leben entdeckt, Krebs zu heilen verspricht, Orkane steuert, Regen macht, seine Umgebung radioaktiv verseucht und Landschaften malt.“
Papier ist geduldig und ein toter Wilhelm Reich kann sich nicht mehr wehren. Auch dann nicht, wenn Reichs gesamtes Lebenswerk durch die Schlüssellochperspektive des elterlichen Schlafzimmers betrachtet wird. Verhängnisvoller Weise ist dieses Jahr ein zwanzig Jahre altes biographisches Büchlein vom Romanautor Harry Mulisch („Das sexuelle Bollwerk“, Hanser Verlag) in deutscher Sprache erschienen. Dies bekommt bei der geringen Anzahl der Veröffentlichungen anlässlich des einhundertsten Geburtstags doch einiges an Gewicht.
Mulischs These, aufgrund er die ganze Biographie aufzieht, ist:
„Ich wollte zeigen, dass alles, was Reich je gesagt und geschrieben hat, auf diese maximal acht Elemente zurückgeführt werden kann:
Der Entdecker hat alles entdeckt, außer dem einzigen, was es für ihn zu entdecken gab. Er hatte alles entdeckt, um dieses eine nicht entdecken zu müssen.“ Das tut weh. Vor allem, wenn man weiß, dass Reich schon zu einem frühen Zeitpunkt seines wissenschaftlichen Lebens die analytische Kausalität und ihre Erklärungs-Gültigkeit verlassen hat, um der Komplexität der Zusammenhänge auf allen Ebenen gerecht zu werden.
Da hilft es auch nichts, wenn Mulisch in einem nun aufgezeichneten Interview im „Profil“ sich rechtfertigt, indem er meint, „er hätte sich in seinem Buch nicht bedeckt gehalten und seinen persönlichen Bezug klargemacht“. Das Gewicht der grausamen und plumpen Analyse des Reichschen Lebensweges und -werkes ist zu groß.
Auch kann ich den Teil der Verbindung zur Person Mulisch nicht finden und schon gar nicht spüren. So war ich sehr überrascht, auf Seite 185 zu lesen: „Manchmal, wenn ich spät am Abend oder tief in der Nacht müde war vom Lesen und Schreiben und ich mich in einen bequemen Sessel setzte, um Reichs Leben zu überdenken, schossen mir die Tränen in die Augen. Mich muss niemand über die zahllosen Parallelen, die es zwischen Reichs und meinem Leben gibt, aufklären. (…) Ab und zu hatte ich das Gefühl, ich verstünde Reich besser als mich selbst. Auf jeden Fall aber verstehe ich mich, jetzt da ich ihn verstehe, selber besser. Er fiel mir zu.“
Wenn Mulisch sagt, dass Reich zu weit gegangen sei, so meine ich, dass Mulisch in seinem zum Buch gewordenem Massaker auch zu weit gegangen ist. Auch wenn er Reich zugesteht, dass er nicht dumm war Und er war ja nicht dumm. Selbst als er all den Blödsinn über das Weltall schrieb, da war er immer noch nicht dumm.“
Mulisch´ Gespräch mit der Profil-Autorin Eva Menasse, welche in einer allgemeinen Spalte über Reichs Werk sich auch nicht gerade als differenziert erweist (Beispiel: „Er begann nach allen Richtungen zu experimentieren, er wollte Orgasmen mit Elektroden messen und beobachtete Versuchspersonen beim Sex. Schließlich verfiel er auf der Suche nach der Lebensenergie der Bioenergetik“) beeindruckt durch unhinterfragte Sicherheit in seinen Behauptungen. Die Frage nach den Gründen von Reichs „Wahnsinn“ beantwortet Mulisch folgendermaßen: „Weil sich in Reichs Leben eines immer wiederholte. Er hatte seine Mutter dem Vater verraten, er wurde verstoßen, wie später auch von Freud, seinem Übervater. Da ist dann irgendetwas in ihm kaputtgegangen.“- So einfach ist das.
Und wenn ich nun nochmal den moralischen Zeigefinger heben darf, bevor ich mich anderen, nicht weniger ärgerlichen Kapiteln zuwende, so möchte ich Herrn Mulisch im Gegensatz zu seiner lapidaren Ansicht („Ich glaube nicht, dass einer Reich jetzt lesen soll, um etwas zu lernen. Was er Vernünftiges gesagt hat, ist längst ins allgemeine Bewusstsein übergegangen.“) zur gründlichen Lektüre raten, damit vielleicht etwas von der eigentlichen Essenz in sein Bewusstsein übergeht.
Sogar der „Falter“ würdigt „Das Bollwerk der Sexualität“ als „besten Beitrag zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers“ und bezeichnet es als herausragend.
Auch im Falter wird dem Reichschen Werk nur mehr eine Bedeutung als Bestandteil der zumindest intellektuellen Biographie der 68-er Generation zugestanden. Hier steht zu lesen, „dass Gesellschaft“ – wie Mulisch Reich paraphrasiert – „in ihrer Gesamtheit bis in ihre kleinsten Ausläufer auf sexuelle Unterdrückung basiert, kann nicht mehr behauptet werden“. Damit wird sexuelle (pornographische) Permissivität mit sexueller Freiheit, wie Reich sie beschrieben hat, gleichgesetzt. Dass es das nicht ist, hat Reich in der Annahme der orgastischen Potenz zum Ausgangspunkt seiner Fortentwicklung aus der Psycho-Analyse genommen. Wie überhaupt in den Rezensionen die psychologische Sicht überwiegt.
Zu groß und zu komplex und vielschichtig dürfte der weitaus größere Teil des Reichschen Werkes, nämlich die Untersuchung des biologischen Fundaments, auf welchem die Psyche als eine Ausdrucksform gilt, sein. Gar nicht zu sprechen von der funktionellen Denkmethode. Ob Analytiker, Psychotherapeuten, Journalisten, alle erachten sie den psychologischen Beitrag Reichs als wesentlich und werden dem Werk in seiner Gesamtheit damit überhaupt nicht gerecht. Auch die Ärzte beziehen sich in ihrer Zeitung „Ärzte-Woche“ auf den psychologisch zu betrachtenden Reich.
Das nicht Ernstnehmen seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse – und Reich verstand sich zuallererst als wissenschaftlicher Forscher – drückt sich durch die Ausdrucksweise in der Möglichkeitsform aus. Das klingt dann so: „Der Mensch habe einen Grundtrieb: die Sexualität. Seit etwa 6000 Jahren lasse er ihr aber nicht mehr freie Bahn. Seine Energie staue sich, und dieser Energiestau führe nicht nur zur sexuellen Unbefriedigtheit, sondern über sie hinaus zu schweren, endemisch gewordenen seelischen Schäden und Erkrankungen, auch alles antisoziale Verhalten gehe einzig auf ihn zurück“.
Armer Reich, der Du mit unermüdlicher Gründlichkeit jede These untersuchtest, um sie erst dann als Faktum hinzustellen. Wie überhaupt die Vereinfachung als stärkste Waffe den Journalisten zur Verfügung steht. So wird z.B. der komplexe Zusammenhang von Bedingungen für die Entstehung von Krebs in einem Satz zusammengefasst, der da lautet: „Warum sollte seelisches Leiden nicht auch Karzinome wachsen lassen?“
Wenn Reich anlässlich seines Prozesses schreibt, dass wissenschaftliche Fragen unter keinen Umständen von einem Gericht entschieden werden können, so könnte man dies ebenso gut, bezogen auf die Presse, folgendermaßen abwandeln: Über wissenschaftliche Erkenntnisse wie sie in jahrzehntelanger Forschung überprüft wurden, können nicht Journalisten urteilen, welche das Plakative, Spektakuläre, teilweise rücksichtslose Reißerische zur Grundlage ihrer Existenzsicherung machen. (Eine Ausnahme – das darf gerechterweise nicht vorenthalten bleiben, ist der Beitrag von Rene Freund im „Standard-Album“).
Was bleibt ist meine erschreckte Frage: „Wieso und woher soviel Hass?“- Denn Hass, Ignoranz und Lächerlichmachen fand ich zuhauf in den Artikeln. Im Gegensatz zu den Aussagen, dass das Reichsche Werk nicht mehr von Relevanz ist, hege ich den Verdacht, dass Reich nach wie vor ein „Stachel im Fleisch“ ist und Menschen auf einer Ebene berührt, wo sie mit emotionaler Pest und blindem Umsichschlagen antworten.
Bei Durchsicht der Artikel stellte sich mir oft die bange Frage, ob bis zum Jahr 2007 (dem Zeitpunkt der Testamentseröffnung) wohl die Voraussetzungen für eine gerechte Rezeption gegeben sein werden. Wären da nicht die medialen Gespräche, welche Jürgen Fischer mit Wilhelm Reich führte. Gerade rechtzeitig zur Weihnachtszeit leuchtet da ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Nachtrag zu Publikationen:
Neu erschienen ist 1997 das Buch „Der `Fall´ Wilhelm Reich“ von Karl Fallend und Bernd Nietzschke (Suhrkamp Verlag), welches sich den Umständen rund um Reichs Ausschluss aus der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ widmet.
Außerdem hat die Treuhänderin Mary Higgins eine Sammlung Reichscher Tagebuchaufzeichnungen und Briefe aus den Jahren 1934-1939 herausgegeben, was nicht ganz unproblematisch ist, da es erneut eine Handhabe sein kann, um Reich zu „verkleinern“ („Jenseits der Psychologie“, Kiepenheuer & Witsch).
Anmerkung des Herausgebers: In einer der nächsten BUKUMATULA-Ausgaben wird eine Zusammenstellung der lieferbaren Bücher bzw. Sekundärliteratur zu Leben und Werk Wilhelm Reichs erscheinen.
Gedenktafel für Wilhelm Reich
Am Sonntagabend des 30. Novembers wurde an Reichs ehemaliger Wohn- und Arbeitsstätte, in 1080 Wien, Blindengasse 46a, eine Reich-Gedenktafel, die von der Wiener Künstlerin Gundi Berghold gestaltet wurde, enthüllt. Die Festansprache von Dr. Beatrix Teichmann-Wirth ist nachfolgend abgedruckt:
Die heutigen Bedingungen entbehren nicht einer gewissen Symbolik. Es gibt keinen strahlenden Scheinwerfer, der auf das Werk strahlt – im abgedunkelten, aber warmen, lebendigen Licht, wo man genau hinsehen muss, ist die Tafel zu sehen. So wie auch bei Reichs Werk, welches man erst durch Nähertreten und genaues Betrachten erfassen und würdigen kann.
Das Wetter ist alles andere als gemütlich, so wie auch Reich zeit seines Lebens unter sehr ungemütlichen Bedingungen zu arbeiten und zu leben hatte – wiewohl er sich in diesem Hause hier – folgt man den Biographen – noch behaglich und mit – für ihn ungewöhnlich – persönlichem Luxus einrichtete. Oft war es so unbehaglich in Reichs Leben, dass ich mich oft wundere, über wieviel Kraft er verfügte, dennoch seine Arbeit zur Welt zu bringen.
Auch die Tafel ist, wie wir gleich sehen werden ein Symbol: sie ist nicht fest gepanzert, lässt etwas durchscheinen – Glas, das zerbrechlich ist, hoffentlich nicht zu sehr. Auf ihr findet sich das Reichsche Symbol und die Aufschrift „Arbeit, Liebe und Wissen sind die Quellen unseres Lebens. Sie sollten es auch beherrschen“.
Gerade in den letzten Tagen, im Zuge meiner Teilnahme am Symposium anlässlich Reichs 100. Geburtstags in der Stöbergasse, empfand ich eine große Dankbarkeit, was dieser große Mann alles auf die Welt gebracht hat.
Und indem ich diese drei Quellen des Lebens nochmals aufgreife, möchte ich jetzt schließen: Es war für mich ein großes Geschenk, dass die Vortragenden etwas von ihrem Wissen mit uns geteilt haben – und das mit soviel Liebe zur Sache.
Und es bleibt mir das wunderbare Gefühl, dass noch viel an Arbeit getan werden kann.
Aber vorerst bleibt wohl Zeit zu feiern.
29 Jan
Bukumatula 3/1997
Beatrix Teichmann-Wirth
Am Sonntagabend des 30. Novembers wurde an Reichs ehemaliger Wohn- und Arbeitsstätte, in 1080 Wien, Blindengasse 46a, eine Reich-Gedenktafel, die von der Wiener Künstlerin Gundi Berghold gestaltet wurde, enthüllt. Die Festansprache von Dr. Beatrix Teichmann-Wirth ist nachfolgend abgedruckt: Die heutigen Bedingungen entbehren nicht einer gewissen Symbolik.
Es gibt keinen strahlenden Scheinwerfer, der auf das Werk strahlt – im abgedunkelten, aber warmen, lebendigen Licht, wo man genau hinsehen muß, ist die Tafel zu sehen. So wie auch bei Reichs Werk, welches man erst durch Nähertreten und genaues Betrachten erfassen und würdigen kann.
Das Wetter ist alles andere als gemütlich, so wie auch Reich zeit seines Lebens unter sehr ungemütlichen Bedingungen zu arbeiten und zu leben hatte – wiewohl er sich in diesem Hause hier – folgt man den Biographen – noch behaglich und mit – für ihn ungewöhnlich – persönlichem Luxus einrichtete. Oft war es so unbehaglich in Reichs Leben, daß ich mich oft wundere, über wieviel Kraft er verfügte, dennoch seine Arbeit zur Welt zu bringen.
Auch die Tafel ist, wie wir gleich sehen werden ein Symbol: sie ist nicht fest gepanzert, läßt etwas durchscheinen – Glas, das zerbrechlich ist, hoffentlich nicht zu sehr. Auf ihr findet sich das Reichsche Symbol und die Aufschrift „Arbeit, Liebe und Wissen sind die Quellen unseres Lebens. Sie sollten es auch beherrschen“.
Gerade in den letzten Tagen, im Zuge meiner Teilnahme am Symposium anläßlich Reichs 100. Geburtstags in der Stöbergasse, empfand ich eine große Dankbarkeit, was dieser große Mann alles auf die Welt gebracht hat. Und indem ich diese drei Quellen des Lebens nochmals aufgreife, möchte ich jetzt schließen: Es war für mich ein großes Geschenk, daß die Vortragenden etwas von ihrem Wissen mit uns geteilt haben – und das mit soviel Liebe zur Sache. Und es bleibt mir das wunderbare Gefühl, daß noch viel an Arbeit getan werden kann.
Aber vorerst bleibt wohl Zeit zu feiern.