24 Dez
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Bukumatula 1/1998
Das letzte Paradies?
Susanne Wittman:
Im Laufe seiner psychoanalytischen Tätigkeit in Wien beobachtete Wilhelm Reich, dass die Prognose der Klienten entscheidend davon abhing, inwieweit es diesen gelang, ein befriedigendes Sexualleben zu führen. Auf einem Kongress im April 1924 berichtete er, der Rückfall in die Neurose nach einer psychoanalytischen Heilung werde in dem Maße vermieden, in dem die orgastische Befriedigung im Geschlechtsakt gesichert sei (Reich, 1969, S.100). Er betonte später wiederholt, es sei wichtiger, herauszufinden, wie man Neurosen verhindert, als diese in aufwendigen Therapien bei einzelnen Menschen zu beseitigen. Für die Entstehung der „Neurosenseuche“ in unserer Kultur machte Reich drei Hauptetappen des menschlichen Lebens verantwortlich: die frühe Kindheit und die Pubertät – in welchen die übliche Erziehung die Menschen lustunfähig mache – sowie die Zwangsehe.
Reich interessierte sich dafür, welche Faktoren ursprünglich für die Entstehung der lustfeindlichen Erziehung und Sexualunterdrückung verantwortlich waren und mit welchen Mechanismen es gelungen war, diese über Generationen hinweg in den Menschen zu verankern. Diesen Fragen ging er in seinem Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ nach. Er bezog sich hierbei unter anderem auf die Berichte des Ethnologen Bronislaw Malinowski, der 1915-1918 bei den Trobriandern gelebt hatte und dort in unserer Kultur weit verbreitete Neurosen nicht vorgefunden hatte. Malinowski hatte auch die von Freud proklamierte Universalität des Ödipuskomplexes widerlegt und kritisierte die ethnozentrische, verallgemeinernde Haltung der psychoanalytischen Theorie.
Bronislaw Malinowski gilt als der Begründer der Sozialanthropologie. Er hatte die Sprache der Trobriander erlernt und die teilnehmende Feldbeobachtung als wichtiges Fundament der Erkenntnisgewinnung in die Ethnologie eingeführt. Dies ist insofern als eine grundlegende Erneuerung dieser Wissenschaft zu verstehen, als frühere Forschungsarbeiten über sogenannte „Naturvölker“ weit davon entfernt gewesen waren, die komplexen Regeln des Zusammenlebens, die in jeder menschlichen Gemeinschaft existieren, zu verstehen und zu beschreiben, sondern diese Völker herablassend aus der Sichtweise unserer Kultur entweder als wild und unkultiviert darstellten oder einseitig deren Dasein im paradiesischem „Urzustand“ verherrlichten.
Reich las Malinowskis Schriften ab 1930; wenige Jahre später lernte er diesen in London persönlich kennen, es entstand eine Freundschaft und gegenseitiges Interesse an den jeweiligen Arbeiten des anderen.
Einem GEO-Artikel mit dem Titel „Das gerettete Eden“ (GEO, 1993) war zu entnehmen, bei der Wiederentdeckung der Schriften Reichs durch die 68er seien die Trobriander zu „Hoffnungsträgern“ geworden, man habe den Partner beim Küssen, den Trobriandern gleich, in die Unterlippe gebissen, um „sexuelles Bewusstsein“ erkennen zu lassen. Das Klischee der Trobriand-Inseln als „Südseeparadies“ oder „Inseln der freien Liebe“ wird in der Presse noch heute aufrechterhalten, wofür jüngere Trobriander, von welchen einige in Papua Neuguinea studieren, die Schriften Malinowskis verantwortlich machen. Malinowski selbst war jedoch seinerzeit sehr enttäuscht darüber, dass sich das Publikum auf einige sensationelle Aspekte gestürzt hatte und das eigentliche Anliegen des Buches zu ignorieren schien.
Es ging ihm vorallem darum, seine funktionale Arbeitsweise darzustellen, welche darauf abzielte, die Funktion der erhobenen anthropologischen Fakten zu erklären, also welche Rolle diese innerhalb einer Kultur spielen und in welchem Verhältnis sie innerhalb dieses Systems sowie mit der physischen Umgebung stehen. Er wollte verständlich machen, wie die Organisation der Sexualität bei den Trobriandern der Stabilisierung der Gesellschaft dient.
So haben Phänomene wie das Junggesellenhaus („bukumatula“), in welchen die Jugendlichen sexuelle Erfahrungen sammeln können, eine Funktion innerhalb der Kultur, da dort grundlegende Regeln des Sozialverhaltens erlernt werden und da die positiv erlebte Sexualität später die Bindung zwischen den Partnern und somit die Familie stabilisiert. Die Familien wiederum festigen aufgrund von gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeiten das gesellschaftliche Gefüge.
Die Trobriander sind bei den Verhaltensforschern auch heute noch Thema, weil viele Elemente ihrer ursprünglichen Kultur erhalten geblieben sind. Die Gründe hierfür liegen bei den Trobriandern selbst, die sehr stolz auf ihre Kultur sind, und in der Geschichte der Inseln.
Während das heutige Neuguinea wahrscheinlich bereits vor 50.000 Jahren durch Seefahrer aus Südostasien besiedelt wurde, erfolgte die Besiedlung der Trobriand-Inseln vor 4.000-5.000 Jahren durch die sogenannten Austronesier, ausgehend von Südchina und Taiwan über die Philippinen und Indonesien.
Die Trobriand-Inseln wurden 1793 von einem französischen Forschungsreisenden entdeckt, welcher sie nach seinem Leutnant Trobriand benannte. Sie liegen in der westlichen Südsee und sind Teil des seit 1975 unabhängigen Staates Papua Neuguinea. Papua Neuguinea legt Wert auf den Erhalt verschiedener Kulturen. Die Trobriander, inzwischen insgesamt ca. 20.000-25.000 Menschen, sprechen Kilivila, eine austronesische Sprache. Die Dörfer haben einige Dutzend bis wenige hundert Einwohner. Ihr Hauptnahrungsmittel sind Yamswurzeln und andere Nahrungspflanzen, außerdem fischen und jagen sie. Unter- und Mangelernährung sind hier im Gegensatz zu anderen Gebieten Neuguineas unbekannt.
1884 wurde Südost-Neuguinea einschließlich der Trobriand-Inseln englisches Protektorat, wenige Jahre später Kolonie. Um 1900 kamen die ersten Europäer auf die Trobriand-Inseln, Missionen wurden eröffnet und man begann, die Kultur der Trobriander zu dokumentieren. Die frühen Berichte stammen von Missionaren und Kolonialbeamten, die späteren von Ethnologen. Die Christianisierung erfolgte hier zurückhaltend und vorwiegend über einheimische Pastoren, man findet deshalb heute eine Mischreligion mit vielen traditionellen Elementen vor.
Die Abstammung der Kinder wird nach der Mutter bestimmt, die politische Macht liegt bei den Männern in Form einer strukturierten Häuptlings-Hierarchie. Der Übergang der mutterrechtlichen zur vaterrechtlichen Gesellschaftsstruktur, der sich schon zu Malinowskis Zeiten abzeichnete, bildet ein zentrales Thema der Schrift „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ von Wilhelm Reich. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die sogenannte Kreuz-Vetter-Basen-Heirat: Da der Bruder der Mutter für die Versorgung der Familie zuständig ist, kann ein materiell interessierter Mutter-Bruder seinem Sohn Vermögen zukommen zu lassen, indem er diesen mit der Tochter seiner Schwester verheiratet. Um zu verhindern, dass diese sich für einen anderen Partner entscheiden, müssen sich Kinder, die für eine solche Heirat bestimmt sind, von vorehelichen sexuellen Aktivitäten fernhalten.
Wilhelm Reich erklärt, wie hieraus gesamtgesellschaftlich im Laufe vieler Generationen eine Tendenz zur Anhäufung von Privatbesitz, einer Hierarchisierung der Gesellschaft, eine sexualverneinende Haltung und einer Verschiebung der Macht in Richtung Patriarchat resultiert. Durch die Erziehung wird die sexualverneinende Haltung in jedem einzelnen Individuum verankert, so dass aktive Unterdrückung von außen in unserer Kultur entfallen kann, da die intraindividuellen Unterdrückungsmechanismen ausreichend sind, um die gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten.
Als weiterer Faktor der Machtverschiebung kommt in jüngster Zeit der Handel mit dem Festland hinzu; es werden für den Fischfang zunehmend größere Boote verwendet, auf welchen den Frauen nicht gestattet wird mitzufahren, diese Einnahmequelle ist also den Männern vorbehalten. Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren nimmt zu, da die Ressourcen angesichts des Bevölkerungswachstums auch hier nicht unbegrenzt sind: Seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts hat sich die Bevölkerungszahl verdoppelt.
In einer Fernsehreportage, die 1996 in Okaiboma, einem der größten Dörfer der Trobriand-Inseln, gedreht wurde, berichten die Einwohner einerseits über die Zunahme von Konflikten, die sie auf den Einfluss des Geldes zurückführen; andererseits wird geplant, Elektrizität einzuführen und der touristischen Erschließung der Gegend zuzustimmen.
1982 begann ein Forschungsprojekt, das die drei Fachgebiete Humanethologie, Ethnologie und Linguistik vereinte.
Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt verschiedener Institute unter der Leitung der Abteilung für Humanethologie des Max-Planck-Instituts in Andechs. Seitdem sind jedes Jahr Forscher auf einer der Inseln, was eine kontinuierliche Datengewinnung gewährleistet. Im folgenden werde ich die derzeitige Lebensweise der Trobriander unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreiben. Besonders interessiert mich hierbei der Aspekt, inwieweit diese der von Wilhelm Reich beschriebenen heute noch entspricht.
Schwangerschaft und Geburt
Erstgebärende werden ab ca. drei Monate vor der Geburt wiederholt mit Kokosbast und Wasser abgerieben. Im 7. oder 8. Schwangerschaftsmonat verlässt die werdende Mutter die Hütte ihres Gatten und zieht zu ihren Eltern bzw. zum Bruder ihrer Mutter. Mit Beginn der Entbindung verlassen die Männer die Hütte. Mütter, Schwestern und andere weibliche Verwandte helfen bei der Geburt, man kann also davon ausgehen, dass auch Frauen, die selbst noch nicht entbunden haben, der Geburtsvorgang bekannt ist. Hinter der Gebärenden steht eine Frau, die ihren Rücken hält und leicht massiert, die Gebärende erhält einfühlsame Ermunterungen. Bei schweren Entbindungen wird der Körper der Frau mit aromatischen Blättern eingerieben, auch Zauberformeln werden gesprochen. Weitere Manipulationen finden nicht statt. Erst wenn der Kopf des Kindes erscheint, erhält die Gebärende die Aufforderung, fest zu pressen. Die Entbindung erfolgt in sitzender oder hockender Stellung.
Die Mutter darf die Hütte, in der sie entbunden hat, für einen Monat nicht verlassen. Sie wird mit Essen versorgt und von niemandem gestört. Der Frau wird dadurch ermöglicht, sich ausschließlich mit ihrem Kind zu befassen, was die Bindung fördert. Bei den Trobrianderinnen tritt keine Wochenbettdepression auf. Studien belegen, dass zwischen der in unserer Kultur häufigen Wochenbettdepression und der körperlichen Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt ein enger Zusammenhang besteht (Klaus, MH und Kennell, JH, 1987). Vermutlich stellt die Depression der Mutter eine evolutionsbiologisch verankerte Trauerreaktion dar, da der einzige Grund für das nicht vorhandene Kind – im Hinblick auf die Evolutionsgeschichte bis vor kurzer Zeit – im Tod des Kindes bestand.
Nach Ablauf des Monats wird die Mutter rituell gewaschen, danach geht sie mit dem Baby durchs Dorf und erhält von jedem kleine Geschenke. Anschließend verbringt sie einen weiteren Monat in der Hütte. Das Kind wird rund um die Uhr nach Bedarf gestillt – vorteilhaft auch für die Mutter, da dadurch ein Milchstau und die schmerzhafte Brustentzündung, die viele Frauen in westlichen Kulturen zum Abstillen zwingt, vermieden werden können. Der Arzt Horst Jüptner (Jüptner,1983) berichtet, in der Zeit seiner Anwesenheit auf Kiriwina von 1959 bis 1964 trotz primitivster hygienischer Verhältnisse nie eine solche Brustentzündung (Mastitis puerperalis) gesehen zu haben. Es wurde auch die Zufütterung von Kokosmilch und Yamsbrei beobachtet; inwieweit dies eine Anpassung an Flaschenernährung der westlichen Zivilisation darstellt, ist nicht bekannt.
Künstliche Babynahrung, Flaschen und Sauger kann man in Papua Neuguinea nur auf ärztliches Rezept bekommen – Entwicklungen wie in afrikanischen Ländern, in welchen massiv für industriell gefertigte Nahrung geworben wird und unzählige Flaschenkinder z.B. an Infektionen durch verunreinigtes Wasser sterben, traten hier nicht ein. Eine gezielte Untersuchung des Stillverhaltens, bei welcher vier Trobriandersäuglinge 856 Minuten lang beobachtet wurden, ergaben, dass die Länge des Stillvorgangs vom Säugling selbst bestimmt wird, nur selten unterbricht die Mutter den Stillvorgang, indem sie die Brust entzieht. Die Untersuchung zeigte als weiteres Ergebnis unter anderem auch eine auffällige Häufigkeit von sehr vielen kurzen Stillepisoden, die oft nur eine bis drei Minuten andauerten. Diese vom Kind ausgehenden häufigen, kurzdauernden Brustkontakte weichen sehr von der in unserer Kultur herrschenden Vorstellung ab, das Kind müsse einen „festen Rhythmus“ entwickeln und habe dann z.B. nur alle drei Stunden das Bedürfnis, gestillt zu werden.
Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 12.000 gab es 1964 60 nichteheliche Kinder. Diese werden bei den Trobriandern von den Verwandten der Mutter adoptiert, da laut deren Ansicht keines der Glieder der Einheit Mann-Frau-Kind fehlen darf.Wenn ein Säugling stirbt, muss der Ehemann an die Familie der Frau Ausgleichszahlungen in Form von Tausch- und Zeremonialgegenständen leisten. Die Frau wird von ihren Verwandten bestraft, es wird ihr vorgeworfen, sich nicht gut genug um das Kind gekümmert zu haben.
Säuglinge und Kleinkinder
Eine Professorin der Forschungsgruppe hatte den Auftrag, für ein Biokommunikations-Projekt schreiende Trobriandersäuglinge aufzunehmen. Sie reiste mit leeren Tonbändern zurück nach Deutschland – es gab keine Gelegenheit zur Aufnahme, denn selbst wenn ein Trobrianderkind weint, was nicht häufig vorkommt, wird es sofort getröstet. Bei den oben erwähnten Forschungsarbeiten galt der frühen Kindheit besonderes Interesse. Das beobachtete Verhalten wurde von den Forschern schriftlich aufgezeichnet oder per Tonband, Film oder Video dokumentiert. Weitere Daten wurden durch gezielte Befragung gewonnen.
Die Säuglinge werden am Körper getragen. Wenn sie abgelegt werden, ist stets eine Kontaktperson dabei, die für das Kind da ist. So spielen, während die Mütter die schwere Gartenarbeit verrichten, Väter oder Geschwister mit dem Kind.
Größere Babies krabbeln zwischen den Erwachsenen und anderen Kindern herum, sie sind nie von sozialen Ereignissen ausgeschlossen und werden jederzeit hochgenommen, wenn sie es wollen. Auf jedes Bedürfnis wird sofort eingegangen, die Kinder bestimmen selbst, wann sie gestillt werden wollen.
Im Gegensatz zur in unserer Kultur weit verbreiteten Auffassung, man solle Kinder nicht „verwöhnen“ sondern früh zur Unabhängigkeit erziehen, führt die Behandlung der Kinder bei den Trobriandern „nicht etwa zu quengeligen, verwöhnten Tyrannen, sondern zu früh autonomen, hilfsbereiten Kindern, die auch physisch beeindruckend gesund sind“ (Zimmer, 1992, S.39). Bereits im Alter von drei Jahren helfen die Kinder im Garten, im Haushalt und beim Fischen. Es bleibt ihnen dennoch viel Zeit zum Spielen.
Verhaltensweisen wie Daumenlutschen und die Verwendung sogenannter „Mutterersatz-“ oder „Übergangsobjekte“ wie Schmusedecken etc. sind bei den Trobriandern unbekannt. Die Forschungsgruppe setzte zur Verhaltensbeobachtung auch Aktometer ein, am Arm befestigte Messgeräte, die die Bewegungen von Mutter und Kind rund um die Uhr aufzeichneten. Besonders bei jungen Säuglingen und deren Müttern zeigte sich ein hohes Maß an Synchronisation der motorischen Aktivität: Es ergaben sich tagsüber wie nachts fast identische Kurven für Mutter und Kind, woraus gefolgert werden kann, dass jede Bewegung des Kindes von der Mutter sofort beantwortet wird.
So wird das neben der Mutter liegende Kind auch nachts sofort gestillt, unmittelbar nach dem Stillen schläft die Mutter weiter, während der Vater gar nicht erst aufwacht. Wenn das Kind älter ist, wird auch die Mutter nicht mehr wach, weil es sich die Brust selbst nimmt.Da sich das Verhalten gegenüber Säuglingen bei den Trobriandern mit nahezu allen traditionell lebenden Naturvölkern deckt, kann man davon ausgehen, dass es sich hierbei um angeborene Verhaltensweisen handelt.
Die Grundbedürfnisse der Kinder in unserer Kultur unterscheiden sich von denen der Trobriander nicht, auch wenn ihrer Erfüllung unter anderem die hier vorherrschenden Erziehungsauffassungen im Wege stehen. Zudem sind in unserer Kultur die Möglichkeiten, Bedürfnisse der Säuglinge zu „erfühlen“ stark eingeschränkt, da die Kinder die meiste Zeit des Tages von ihren Bezugspersonen körperlich getrennt sind, z.B. in einer Babywippe, und die meisten Kinder nachts in einem Kinderbett schlafen. Die angeborenen Grundbedürfnisse und die Frustration der Säuglinge in unserer Kultur, auf die die Forscher in diesem Zusammenhang hinweisen, wurden bereits in den siebziger Jahren von der Autorin J. Liedloff in „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ thematisiert, die bei den Yequana-Indianern viele Erfahrungen machte, die sich mit den Beobachtungen bei den Trobriandern decken.
Erziehung
Den Kindern wird viel Toleranz entgegengebracht, es wurde von den Forschern nie beobachtet, dass ein Kind geschlagen wurde. Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie fröhlich und frei von Aggressionen die Kinder sind. Das Lernen erfolgt sehr früh durch Umweltreize, die das Kind dadurch, dass es immer unter Menschen ist, ständig erfährt. Es lernt durch Nachahmung der anderen und übernimmt zunehmend eigene Aufgaben.
Die Kinder erlangen früh Selbstsicherheit, sie werden von den Erwachsenen nicht daran gehindert, mit gefährlichen Gegenständen wie z.B. Messern zu spielen. Da die Bindung zwischen Mutter und Kind sehr eng ist und das Kind selbst bestimmen kann, wann es sich von der Mutter entfernt, wobei es den Kontakt jederzeit wieder aufnehmen kann, leiden die Kinder nicht unter Verlustängsten und werden schneller selbständig als hierzulande.
Nach Abschluss des Stillens mit zwei bis drei Jahren schließt sich das Kind einer Spielgruppe an. Dies ist nicht mit unseren Kindergärten und Krippen vergleichbar: Es sind keine „Erzieherinnen“ zugegen und die Altersschichtung ist inhomogen. Durch das Spielen mit Kindern unterschiedlichen Alters haben die kleineren Kinder die Möglichkeit, von den größeren zu lernen.
Die Kinder werden nicht dazu angehalten, zu bestimmten Uhrzeiten zu schlafen, sondern schlafen ein, wenn sie müde sind. Das Schlafen beinhaltet für die Kinder nicht wie hierzu lande eine Trennungssituation, da hierfür bei den Trobriandern keine separaten Zimmer vorhanden sind.
Die Beschreibungen des Erziehungsstils sind nicht einheitlich: Es wird wiederholt geschildert, dass die Kinder bei den Trobriandern in absoluter Freiheit aufwachsen. Neuere Beobachtungen zeigten einen zunächst permissiven Erziehungsstil, der mit zunehmendem Alter des Kindes leitender und restriktiver wird. Die Solidarität innerhalb der Kindergruppe ermöglicht den Kindern allerdings, sich im Falle eines Verbots gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen.
Jugendliche
Bei den Trobriandern tritt kein Generationskonflikt auf, die Jugendlichen sind stolz auf die Traditionen ihrer Vorfahren. Die in der Kindheit geschaffene gute Bindung erlaubt den Jugendlichen, die Verhaltensregeln der Gruppe, in der sie leben, zu übernehmen. Die Übernahme vorgegebener Strukturen scheint ein starkes Grundbedürfnis zu sein, was sich bei unseren Jugendlichen z.B. in der Nachahmung von Idolen zeigt.
Es ist üblich, dass die Jugendlichen die Hütte ihrer Eltern früh verlassen, die Jungen ziehen in das Junggesellenhaus „bukumatula“, die Mädchen zu einer ihrer Tanten. Die Jugendlichen beginnen nun, die Gesellschaft des anderen Geschlechts zu suchen und sind bis zu ihrer Heirat völlig ungebunden. Schon bei ca. 15-jährigen Jugendlichen wird die Sexualität aktiv gefördert, indem ihnen die Eltern ein Junggesellenhaus errichten, in welchem sie ungestört sexuelle Erfahrungen sammeln können.
Reich hatte die Bedeutung dieser bejahenden Haltung gegenüber der Sexualität, die sich in dieser Unterstützung zeigt, besonders im Hinblick auf die Entwicklung sexuell nicht blockierter Charaktere hervorgehoben. Es besteht heute vielfach die Auffassung, die Jugendlichen hätten auch in unserer Gesellschaft inzwischen keine Probleme mehr in diesem Bereich. Die tägliche Flut an Anrufen und Briefen in der Redaktion einer Jugendzeitschrift, in welcher ich eine Zeitlang tätig war, offenbarte jedoch massive Schwierigkeiten.
Eine andere weit verbreitete Auffassung ist, ohne sexuelle Verbote nehme die Promiskuität zu und ein zügelloses Chaos könne entstehen. Dies tritt jedoch bei den Trobriandern nicht ein: Im Bukumatula finden keine Orgien statt, es wird von jedem erwartet, dass andere anwesende Paare nicht beobachtet oder gestört werden. Wenn die Jugendlichen genügend Erfahrungen mit verschiedenen Partnern gesammelt haben, heiraten sie und haben – bis auf Ausnahmen, z.B. innerhalb bestimmter Rituale – nur mit ihrem Ehepartner Geschlechtsverkehr.
Sexualität
Als Psychoanalytiker interessierte sich Reich dafür, woran es lag, dass ein Teil der Patienten nach Abschluss der Therapie geheilt war, während ein anderer Teil wieder in die Neurose zurückfiel. Er machte die Beobachtung, dass die von Neurosen befreiten Patienten sich von der anderen Gruppe dadurch unterschieden, dass sie ein befriedigendes Sexualleben führen konnten. Ausgehend davon erforschte Reich die Bedeutung der Sexualität für die psychische Gesundheit. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass es zum Verständnis der Bedeutung der Sexualität im Reichschen Werk notwendig ist, seine Originalschriften zu lesen, da der Begriff „sexuelle Freiheit“ meistens missverstanden wird.
Häufig wird zum Beispiel geäußert, Reich habe ja zu seiner Zeit recht gehabt, aber heute wäre die Sexualität doch kein Problem mehr, im Gegenteil, man brauche sich doch nur umzusehen, überall seien nackte Frauen abgebildet und die Leute würden grenzenlos ihre Sexualität in allen Varianten ausleben. Gerade die Erscheinungen, die in dieser Argumentation als Beispiel für „sexuelle Freiheit“ genannt werden, wurden von Reich als Kompensation einer nicht wirklichen genitalen Befriedigung betrachtet, welche aus der Sexualunterdrückung resultiert. Dass es auch schon zu Reichs Lebzeiten sowohl Pornographie als auch Menschen gab, die sich „auslebten“, lässt sich unschwer nachweisen, zumal dies in Reichs Werken beschrieben und heftig kritisiert (!) wurde.
Reich stellte die These auf, dass ein Mensch, der in seiner Kindheit nicht der sexualfeindlichen Haltung unserer Gesellschaft ausgesetzt ist und dadurch seine sexuelle Erlebnisfähigkeit beibehalten kann, in der Lage ist, gemeinsam mit dem Partner vollständige sexuelle Befriedigung zu erlangen und kein Bedürfnis nach sexuellen Perversionen und Draufgängertum entwickelt. Auch die Überbesetzung des Inzestwunsches entstehe in unserer Kultur erst durch die allgemeine Triebeinschränkung.
So erzeuge ein Wegfall der moralischen Hemmung die sexual ökonomische Regulierung des Liebeslebens, während Sexualmoralismus das Gegenteil zur Folge habe. Durch eine Erhöhung der Bedürfnisspannung, wenig äußere Befriedigungsmöglichkeit und vor allem wenig innere Befriedigungsfähigkeit sei die sexuelle Lüsternheit und Unersättlichkeit typisch für Neurotiker unserer Gesellschaft, auch Promiskuität und Untreue sind hier häufiger als bei den Trobriandern.
Die Entwicklung der eigenen Sexualität beginnt bei den Trobriandern bereits im Kindesalter in Form von Erkundung der eigenen Geschlechtsteile und sexuellen Spielen mit anderen Kindern, woran sie von Erwachsenen nicht gehindert werden. Auch die Jugendlichen erfahren keine sexuellen Einschränkungen. Auch heute noch darf ein Mädchen bis zu ihrer Heirat jeden Mann lieben, anschließend nur noch den Ehepartner. Eine Ausnahme bildet das Erntefest; in dieser Zeit ist der Frau wieder erlaubt, jeden Mann zu lieben.
Die jüngere Forschung findet also noch die gleichen sexuellen Verhaltensweisen vor, wie sie schon von Malinowski beschrieben wurden, allerdings mit der Einschränkung, dass die Altersangaben Malinowskis inzwischen bezweifelt werden, da die Jugendlichen in dieser Region langsamer wachsen und damit etwas jünger wirken. Das Verlassen des Elternhauses und die Aufnahme sexueller Beziehungen findet somit mit 15 oder 16 Jahren statt und nicht mit, wie früher angenommen, 12 Jahren.
Außerdem wird heute kritisiert, Malinowski habe behauptet, bei den vorehelichen Liebesbeziehungen trete keine Eifersucht auf (Schiefenhövel,1996, vgl. Schlesier,1979). Tatsächlich berichtet Malinowski jedoch eingehend über das Problem der Eifersucht bei den Trobriandern (Malinowski, 1987, S.271-273).
Während es in manchen Gebieten Neuguineas ritualisierte Formen homosexueller Beziehungen mit Jugendlichen gibt, ist diese Erscheinung bei den Trobriandern unbekannt. Es finden bei den Trobriandern auch keine sexuellen Übergriffe Erwachsener gegenüber Kindern statt.
„Whereas it is not uncommon that New Guinean mothers fondle the genitals of their infants, possibly causing an erection, and make humorous remarks about children’s genitals, in none of the various Papuan and Austronesian groups with which the author has lived in the course of the past 24 years has he ever seen any sign or heard of adults engaging in sexual intercourse with children.“ (Schiefenhövel, 1990, S.407)
Der bekannte Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt beschreibt angeborene Schutzmechanismen, welche derartige Übergriffe verhindern: Der sogenannte „Westermarck-Effekt“ bedeutet, dass eine erotische Bindung des Kindes an seine Bezugspersonen aus frühester Kindheit verhindert wird; der „Coolidge-Effekt“ beinhaltet ein mangelndes sexuelles Interesse der Eltern am Kind, das sie täglich versorgen. Eingeschränkte Wirksamkeit dieser biologischen Mechanismen in unserer Kultur, in welcher größere Distanz zwischen Eltern und Kind besteht, kann als zusätzliche Erklärung neben der W. Reichs für das Auftreten sexueller Gewalt gegenüber Kindern, besonders durch Stiefväter, gelten.
Anlässlich der Menarche (Eintritt der ersten Regelblutung eines Mädchens) findet bei den Trobriandern keine besondere Zeremonie statt, die erste Regelblutung scheint als natürlicher Vorgang angesehen zu werden, dem keine besondere Beachtung geschenkt wird.
Post-partum-Koitustabu: Nach der Geburt dürfen die Eheleute ungefähr ein Jahr lang keinen Geschlechtsverkehr haben, in manchen Gegenden gilt das Tabu während der gesamten Stillzeit. Den Ehemännern sind bei den Trobriandern in dieser Zeit Affären mit anderen Frauen gestattet. In einem Interview, das der Humanethologe und Ethnomediziner Wulf Schiefenhövel 1979 auf der Trobriand-Insel Kiriwina durchführte (Schiefenhövel, 1983), deckte nach Meinung der Befragten die Sorge um den Säugling mit nahezu ständigem Hautkontakt so viel an Bedürfnissen ab, dass man den Frauen das Verkraften der sexuellen Abstinenz zutraute.
In anderen Kulturen leben in der Zeit des Tabus auch die Ehemänner abstinent. Bei den Me’udana in Südost-Neuguinea wird zum Beispiel angenommen, es schade dem Kind, wenn die Eltern während der Stillperiode Geschlechtsverkehr hätten. Nach etwa zwei Jahren, wenn das Kind laufen und etwas sprechen kann und sich gut entwickelt hat, meint man, es habe genug Muttermilch erhalten. Nach der Entwöhnung nehmen die Eltern den Geschlechtsverkehr wieder auf.
Problematisch ist der Einfluss der Missionare, die das Tabu des Geschlechtsverkehrs während der bis zu drei Jahren andauernden Stillzeit als Aberglaube abtun, da dadurch ein wesentlicher Teil der natürlichen Geburtenkontrolle verlorengeht.
Im Rahmen der Aktometermessungen wurde bei einem Ehepaar beobachtet, dass das Post-partum-Koitusverbot nicht mehr beachtet wurde; ob dies inzwischen in zunehmendem Maße der Fall ist oder eine Ausnahme darstellt, ist unbekannt.
Die Trobriander wissen über die physiologischen Vorgänge der Zeugung Bescheid, die magischen Vorstellungen über Entstehung der Kinder, die bei Malinowski beschrieben sind, werden von der jüngeren Generation belächelt. Es ist naheliegend, dass der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft auch in Gesellschaften bekannt ist, bei welchen zusätzlich magische Vorstellungen existieren, was sich gegenseitig nicht ausschließen muss. Schließlich wird die Frage, wie Leben entsteht, auch durch eine rein aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild stammende Denkweise nicht erklärt.
Malinowski hatte berichtet, er könne ein Wissen über Verhütungsmethoden bei den Trobriandern mit Sicherheit aus schließen. Im Jahre 1962 wurden 500 Personen auf Kiriwina für eine Erhebung in Bezug auf die Häufigkeit von Krebserkrankungen untersucht, wobei bei zahlreichen Frauen im Zervixkanal Gebilde aus zusammengerollten Blättern gefunden wurden, die – was auf Befragen bestätigt wurde – der Schwangerschaftsverhütung dienen sollten. Auch Pflanzenextrakte zum gleichen Zweck sind bekannt, z.B. soll das Trinken von drei Tassen Hemigraphisblätterextrakt das Entstehen einer Schwangerschaft für die Dauer eines Jahres verhindern.
Krankheiten
Die obengenannte Untersuchung bei den Trobriandern ergab u.a. ein selteneres Auftreten von Gebärmutterhalskrebs als in Europa. Interessanterweise wird laut hiesiger Lehrmeinung häufiger Geschlechtsverkehr als Risikofaktor für diese Erkrankung betrachtet.
Syphilis wurde dort nie vorgefunden, Eierstockentzündung und Myome traten extrem selten auf. „Zivilisationskrankheiten“ wie Bluthochdruck, Herzinfarkt u.a. sind bei den Trobriandern nicht bekannt.
Ein weltweit verbreitetes Problem, das auch bei den Trobriandern häufig auftritt, ist der Wurmbefall.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten der von Malinowski beschriebenen lustbejahenden Elemente in der Lebensweise der Trobriander, auf die sich Wilhelm Reich bezieht, noch heute existieren.
Wie lange sich diese Elemente angesichts des zunehmenden Einflusses der Kapitalwirtschaft und der damit verbundenen Umstrukturierung halten können, ist ungewiss. Es stellt sich die Frage, inwieweit wir zum Erhalt solcher Kulturen beitragen können. Kritisches Konsumverhalten stellt hierbei einen wesentlichen Faktor dar. Dies schließt auch ein, die Umstände in unserer eigenen Kultur lebensfreundlicher zu gestalten, statt den Tourismus in „ursprünglichere Gegenden“, wo diese Lebensweise noch erhalten ist, zu unterstützen.
Literaturangaben:
Eibl-Eibesfeldt, I.: Sexual Pathologies from the Perspective of Ethology. In: Pedophilia, Hrsg. J.R. Feierman. New York: Springer, 1990
GEO, 11/93, Hamburg: Gruner & Jahr, 1993
Gottschalk-Batschkus, C. und Schuler, J. (Hrsg.): Ethnomedizinische Perspektiven zur frühen Kindheit. Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1996
Jüptner, H.: Geburtshilflich-gynäkologische Beobachtungen bei den Trobriandern. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn,1983. S. 137-141
Klaus, MH und Kennell, JH: Mutter-Kind-Bindung. München: dtv, 1987
Malinowski, B.: Korallengärten und ihre Magie: Bodenbestellung und bäuerl. Riten auf den Trobriand-Inseln. Frankfurt am Main: Syndikat, 1981
Malinowski, B.: The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia. Boston: Beacon Press, 1987
Reich, W.: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Hamburg: Fischer Taschenbuch Verlag, 1975
Reich, W.: Die Funktion des Orgasmus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1969
Schiefenhövel, W.: Weitere Informationen zur Geburt auf den Trobriand-Inseln. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn,1983. S.143-150
Schiefenhövel, W. u.a.: Im Spiegel der Anderen. München: Realis Verlags-GmbH, 1993
Schiefenhövel, W.: Ritualized Adult-Male/Adolescent-Male Sexual Behavior in Melanesia: An Anthropological and Ethologocal Perspective. In: Pedophilia, Hrsg. J.R. Feierman. New York: Springer, 1990
Schlesier, E.: Me’udana (Südost-Neuguinea). Die Empfängnistheorie und ihre Auswirkungen. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn,1983. S. 151-158
Sharaf, M.: Fury on Earth. New York: St. Martin’s Press, 1983
Zimmer, K.: Gute Bindungen machen selbständig. In: Die Zeit, 25.9.1992, S.39
24 Dez
Zurück zu Bukumatula 1998
Bukumatula 2/1998
Charlotte Schirrmacher und Martin Hasenschwandtner im Gespräch mit Wolfram Ratz:
Wie ist es zur Entstehung von „Bukumatula“ gekommen?
Für mich persönlich gibt es dazu eine Vorgeschichte. In der Zeitschrift „Falter“ habe ich einmal ein Interview mit einem französischen Autor gelesen, der behauptete, dass er nie in eine Buchhandlung gehe, um sich ein Buch zu kaufen. Das hat mich erstaunt. Und auf die Frage, wie er das meint, sagte er: „Wenn ich eines lesen will, schreibe ich mir selber eines.“ Das hat mich damals sehr beeindruckt und mich auf die Idee gebracht – ich habe ja immer schon gerne geschrieben, mir eine eigene Zeitung zu machen.
Das entstand aus Deinem Wunsch heraus, schriftstellerisch tätig zu werden. Oder hast Du vielleicht den geheimen Wunsch gehabt, dass sich Dein Haus in der Simmeringer Hauptstraße zu einem „Bukumatula“ entwickeln könnte?
Also, an letzteres habe ich noch gar nicht gedacht, aber das ist ein schöner Gedanke.- Zur „Übung“ habe ich ja schon vorher eine Zeitschrift herausgegeben. Die hieß „Gustl“ und war eine Leserzeitschrift. Die Herstellung damals war unvorstellbar mühsam. Die Texte entstanden auf einer mechanischen Schreibmaschine. Bei Korrekturen musste ich entweder Zeilen neu schreiben und die alten überkleben, oder ganze Seiten neu schreiben. Das wurde mir bald zu blöd. Ich kaufte mir einen „Videowriter“. Das war in der EDV-Steinzeit eine großartige Errungenschaft. Erstmals konnte ich problemlos Korrekturen anbringen und Geschriebenes auf Disketten speichern.
Und wie kommt jetzt der „Gustl“ auf die Trobriander-Inseln?
Aufgrund zunehmender Informationen über nationale und internationale Reich-Aktivitäten hat es sich ergeben – 1987 war ja auch ein Reich-Gedenkjahr, dass in mir die Idee einer Zeitschrift entstand. Anlässlich einer Vorstandssitzung bei Monika Gürtler, bei der jahrelang das WRI-Zuhause war, wurde im Frühjahr 1987 beschlossen: Ja, gut, wir machen eine Zeitschrift und wir schauen, wie gut es uns damit geht. Ich fühlte mich als Vater, Beatrix Wirth fungierte als Mutter und der damalige WRI-Vorstand übernahm die Hebammenrolle Es war eine „Sanfte Geburt“ im Familienkreis, ganz im Sinne von Eva Reich.- Nach einem bereits abgeschlossenen „Brainstorming“ bezüglich der Namensgebung hatte Alfred Preindl die Idee, die Zeitschrift „Bukumatula“ zu nennen. Er bezog sich dabei auf das Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“, in dem Reich seine Ideen zu einer gelungenen Sozialität – anhand der Forschungen Malinowskis auf den Trobriander-Inseln, darstellte.
Das war also die Geburt …
Ja, wir hatten einen Namen, die grafischen Gestaltung übernahm Beate Rümmele – und ab ging die Post. Das klingt jetzt einfacher als es war, aber Ende April 1988 erschien die erste Ausgabe. Ich machte mit der Journalistin Nadine Hauer, die die Ö1-Sendung in Radio Diagonal „Zur Person Wilhelm Reichs“ mitgestaltete, ein Interview.
Und an wen wurde Bukumatula verschickt?
An die Mitglieder unseres Instituts und an Leute, die an den Arbeiten Reichs interessiert waren. Wir hatten ja von vor angegangenen Veranstaltungen her eine relativ umfangreiche Adressenliste. Die erste Ausgabe haben wir allen zugeschickt; der Rücklauf in Form von Abo-Einzahlungen war ermutigend. Nach dem zweiten Jahr blieb die Auflagenhöhe von 250 Exemplaren bis heute ziemlich konstant. Das ist keine sehr hohe Auflage, aber es ist eben eine Zeitung „von Spezialisten für Spezialisten“. Der Arbeitsaufwand zur Herstellung bleibt der gleiche, ob jetzt einhundert oder eintausend Exemplare gedruckt werden. Es ist ja so, dass uns finanziell äußerst enge Grenzen gesetzt sind. Die Zeitschrift muss sich selbst erhalten. Alles ist sozusagen im „Kleinformat“ – ich meine das von meiner Zeit her, die ich dafür einbringen kann, von den technischen Herstellungsmöglichkeiten her, etc.- Bukumatula ist jedenfalls seit zehn Jahren regelmäßig und zeitgerecht alle zwei Monate erschienen, was doch einiges an Disziplin erfordert. Ich fühle mich den Lesern verpflichtet, dass sie ein möglichst gutes Produkt und das möglichst zeitgerecht bekommen.
Wenn Bukumatula so „diszipliniert“ erscheint, dann hast Du auch zeitlich …
… ja, auf die Erscheinungstermine Rücksicht zu nehmen. Ich habe sozusagen meinen Jahresplan darauf eingestellt, also, wann kann ich auf Urlaub gehen, etc.
Bukumatula war gedacht als Forum, wo man diskutieren kann, wo man Ideen einbringen kann, wo man sich „versuchen“ kann?
Ja, das war schon so gedacht, aber von sich aus bietet niemand Artikel an. Außer ein paar Leserbriefen kommt so gut wie nichts. Es war immer mein Bestreben, bislang noch un-veröffentlichte Artikel zu bekommen. Dafür muss man schon einigermaßen aktiv sein, muss Kontakte pflegen, Autoren streicheln, etc. Wir können keine Honorare zahlen und damit die Schreibenden bezüglich Abgabetermin, etc. unter Druck setzen. Das ist manchmal ziemlich mühsam. In der Praxis schaut das dann – günstigstenfalls – so aus, dass ich einen Artikel in „Reserve“ habe. Für die nächste Ausgabe hat mir z.B. Will Davis einen Beitrag über den schizoiden Charakter geschickt; da wartet noch eine sportliche Herausforderung in Form einer Übersetzung auf mich – und auf Regina Hochmaier, die mir in diesem Fall behilflich ist.
Schreibst Du auch selber Artikel?
Ich bin der „Artikeljäger“, und wenn es keinen gibt, dann schreibe ich manchmal selber einen oder mache Interviews. Das spreche ich aber immer mit Beatrix Wirth, unserer Obfrau, ab, die mir dabei sehr hilfreich und engagiert zur Seite steht. Sie weiß viel und kann auch gut schreiben. Auch Heiko Lassek in Berlin hat mir schon öfters entweder eigene Beiträge geschickt oder mir Informationen über infragekommende Autoren bzw. Artikel gegeben. Mein Wunsch ist, ein paar Leute mehr zu haben, die das ganze tragen, ein „fesches“ Redaktionsteam sozusagen. Vielleicht gibt es auch aus dem Leserkreis Interessenten, die mitmachen möchten. Das würde mich sehr freuen.
Bekommst Du über Artikel auch Impulse für Deine eigene Arbeit als Therapeut?
Schon, aber die Impulse gehen oft in der redaktionellen Arbeit unter. Meine Hauptaufgabe ist inhaltlich die des Redigierens und handwerklich die der technischen Herstellung, also des Umbrechens, etc. Mein Wunsch ist ein „Gesamtkunstwerk“, sozusagen in jeder Ausgabe einen Bogen von A-Z herzustellen, insbesondere was die Lesbarkeit betrifft. Was ich selbst nicht verstehe, möchte ich auch niemandem anderen zumuten. Und ich habe mich auch schon daran gewöhnt, nicht mehr verbittert zu sein, wenn ich eine fertiggedruckte Ausgabe durchlese und einen Fehler nach dem anderen darin finde.
Bist Du derjenige, auf den die anderen „setzen“?
Als geschäftsführender Sekretär sehe ich die Herausgabe von Bukumatula als einen Teil meines Arbeitsauftrages. Manchmal bin ich Autor, immer aber Layouter, Lektor, Redakteur, Herausgeber, etc. – also viel mehr als ich mir das in meiner „Gustl-Zeit“ je erträumt hätte. Der Arbeitsaufwand ist groß, und ich verbringe viele und oft sehr einsame Stunden vor meinem PC.- Vor ein paar Jahren – ich fühlte mich einigermaßen erschöpft – erschienen zwei Ausgaben über Makrobiotik, die von Brigitta Bolen, Bernhard Hubacek und Beatrix Wirth gestaltet wurden.- Da könnte man natürlich sagen, das hat mit Wilhelm Reich nichts zu tun. Vom Energetischen her hat es aber sehr wohl mit den Ideen Reichs zu tun. Es gab einige beißende Leserbriefe, aber ich habe mich über das Engagement der Gestalter sehr gefreut. Und von einer Leserin hörte ich im persönlichen Gespräch, dass sie aufgrund dieser Artikel ihre Ernährungsweise umgestellt hat. Wenn ein Artikel auch nur bei einem Leser oder bei einer Leserin eine Wandlung zum Positiven bewirkt, dann freut mich das schon sehr. Ich habe dann eh‘ wieder weitergemacht
Gibt es die Möglichkeit, dass Leute, die in Therapie sind, auch zu Wort kommen können?
Ja, da gab es zum Beispiel einen Beitrag einer Klientin von mir. Sie hat ihre Erfahrungen niedergeschrieben und für die Veröffentlichung die Bedingung gestellt, dass ich dazu Stellung nehme. Ich habe sie sehr geschätzt und habe das gerne gemacht. Es wurde auch ein sehr berührender Artikel („Die ersten zehntausend Sitzungen sind die härtesten“, Anm.d.Hsg.).- Ich mag den Begriff „Fallstudie“ nicht, aber man kann dabei sehr teilhaben an den Schicksalen anderer Menschen, weil die angesprochenen Themen ja jeden in irgendeiner Form berühren. Es gibt so viele interessante Menschen, die sehr viel wissen, dieses Wissen aber nicht in eine Schriftform bringen können oder wollen. Das ist schade. Ich denke da zum Beispiel auch an Michael Smith
Was sind die formalen Kriterien für die Veröffentlichung eines Beitrages?
Es muss in irgendeiner Form mit Wilhelm Reich zu tun haben, mit seinem Leben, mit seiner Arbeit …
Ich meine vom Schriftstellerischen her, von der Sprache her …
Eigentlich keine. Das diskutiere bzw. verhandle ich immer mit den jeweiligen Autoren aus. Das ist oft beschwerlich, aber da konnte immer eine Lösung gefunden werden. Einmal habe ich einen Beitrag von Beatrix Wirth – es war eine Buchbesprechung (Loil Neidhöfer: „Intuitive Körperarbeit“; Anm.d.Hsg.) – flugs und launisch nach meinem Fürguthalten – und ohne Absprache mit ihr – verändert. Das hat sie sehr geärgert. Ich bin da sehr vorsichtig geworden. Es gibt Artikel, die ich auf Diskette bekomme und nur zu umbrechen brauche – etwa der von Susanne Wittman in der letzten Ausgabe – das sind Glücksfälle. Normalerweise bekomme ich Manuskripte, die einiges an Bearbeitung bedürfen. Dann kommt es zu mühsamen Rückrufen, auch ins Ausland, was sowohl zeitlich als auch finanziell ziemlich aufwendig werden kann.
Ich wollte gerade fragen, ob der Name für Dich überhaupt noch passt …
Du meinst Bukumatula?- Das ist ein Haus der Lebensfreude, oder sollte es zumindest sein …
So gesehen könnte man über alles schreiben, was Freude macht.
Ja, Reich hat sich ja mit sehr vielen Themen beschäftigt. Von der Psychoanalyse zur Wetterkunde, von den „Kindern der Zukunft“ bis zu den UFOs. Das ist natürlich für die Herausgabe einer Zeitschrift ein dankbarer Boden. Da passt der Otto Mühl genauso hinein wie der El Nino, die Marcovich oder der Krenn.
Eigentlich habe ich gemeint, ob das „Bukumatula“ auch ein bukumatula für Dich ist …
Naja, es gibt einen großen „unsichtbaren“ Teil meiner Arbeit, das Redigieren zum Beispiel. Das ist sehr zeitaufwendig. Wie ich dabei weiterkomme hängt auch von meiner jeweiligen „Tagesform“ ab. Da muss ich dann manchmal schon sehr mit meiner Motivation kämpfen. Peter Handke hat einmal das Schreiben mit der Tischlerarbeit des Hobelns verglichen, das hat mir sehr gefallen: Sätze müssen solange „gehobelt“ werden, bis ein „Feinschliff“ hergestellt ist. Ein von mir schön formulierter bzw. umformulierter Satz macht mir großes Vergnügen. Vor dem Erscheinen bin ich regelmäßig und ordentlich in Hektik, da erlebe ich sozusagen „die Angst des Herausgebers vor dem Redaktionstermin“. Es muss alles schnell, schnell gehen. Da noch ein Inserat hinein, dort einen Veranstaltungshinweis heraus. Irgendwann ist aber Schluss, obwohl es noch vieles zu verbessern gäbe. Und dann passiert es, dass am Samstag Nachmittag die Tintenpatrone leer wird, am Sonntag Vormittag keine Diskette zu finden ist und am Montag durch einen Systemfehler alle Korrekturen gelöscht werden. Oder in der Kopieranstalt: da ist auf einmal das Papier für den Umschlag nicht mehr vorrätig oder die Kopiermaschine außer Betrieb – oder es sind „Fenstertage“, die die Herstellungszeit unerträglich lang machen. Wenn ich aber den großen Billa-Sack voll „Bukumatulas“ zur Post bringe, geht es mir wieder gut. Dann überfällt mich eine feine „Entladung“ – nicht nur von der zu schleppenden Last her.
Hast Du Wünsche für Dein „Kind“?
Fast wollte ich sagen „dass es groß und stark wird“ …
Aber das ist es doch …
Ja, mit Liebe betreut ist „klein und zart“ auch „groß und stark“.
24 Dez
Bukumatula 2/1998
Eine Liebeserklärung von Beatrix Teichmann-Wirth
– 10 Jahre Bukumatula –
Manche mögen meine libidinöse, zärtliche Verbindung zu Dir belächeln oder sogar abwerten. Und auch ich selbst zögerte, meine Zeilen anlässlich Deines Geburtstags derart direkt und unverschämt an Dich zu richten. Ist es nicht lächerlich, eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift dergestalt zu würdigen? Wäre es nicht angemessener, eine chronologische Abfolge der Ereignisse rund um „Bukumatula“ zu kommentieren? Oder den Stellenwert von Bukumatula in der körper(psycho)-therapeutischen Journal-Szene herauszuarbeiten?
Nein. Mein Herz hängt an Dir und jedesmal, wenn das WRI-Gebäude einzustürzen droht, weiß ich wieder, wie sehr. So will ich es riskieren, diese meine Zuneigung zu veröffentlichen. Es ist eigenartig. So deutlich spürbar meine Beziehung zu Dir ist, so groß sind die Schwierigkeiten, Dich auf Nachfrage hin zu definieren. Dies fängt schon beim Namen an. Wie spricht man diesen eigentlich aus? Bukumatula, wie ich es tue, oder Bukumatula?
Möge die Frage der Betonung und die damit verbundene Scheu der Aussprache kein Hemmschuh dafür sein, dass es sich herumspricht, dass es Dich gibt. Auch die Bedeutung des Namens dürfte nicht zum Allgemeinwissen selbst Reich-belesener Personen zählen. Er ist uns zugefallen, eines WRI-Vorstandsabends, als wir schon eine Vielzahl von klugen und bedeutsamen Namen aus unseren Köpfen gezwungen hatten.
Dann, als schon die ersten Ermüdungserscheinungen und wohl auch die Wirkung des Rotweins spürbar waren, wurde Dein Name erstmals ausgesprochen, von Alfred Preindl, der aus diesem Grund wohl geschichtliche Bedeutung erlangt hat. Ich kann mich gut erinnern. Natürlich gab es Einwände (die Aussprache und die umgangssprachliche Bedeutungslosigkeit), aber die Begeisterung war dennoch unmittelbar erlebbar und setzte sich durch.
Gut so, wie ich meine.
Drückt die Wahl eines derart ungewöhnlichen Namens doch auch aus, was Du nicht bist: Zuallererst einordenbar.
Als Zeitschrift für körper(psycho)therapeutische Themen, die Raum gibt für wissenschaftliche Reputationsbestrebungen.
Als (politisches) Instrument im Kampf um die Anerkennung körpertherapeutischer Verfahren.
Ich glaube, man macht auch nach zehnjährigem Erscheinen „keinen Staat“, wenn man in Dir etwas veröffentlicht hat. Vielmehr riskiert man wohl fragendes Kopfschütteln „in Bukumatula (wieder die Aussprachehemmschwelle), was ist das?“
Und dennoch hast du einigen „Größen“ der Szene für ihre Gedanken Heimat gegeben. Will Davis mit seinen Beiträgen, die wirklich den Namen Originalia verdienen, sind sie doch ursprünglich, nicht bloß zusammenfassend, aus bereits Vorhandenem synthetisierend.
Auch Heiko Lassek und Heike Buhl haben Dich mit ihren Beiträgen zur Energetischen Medizin bereichert. Und unser, letztes Jahr leider verstorbener Myron Sharaf, hat in Dir seinen analytischen Ansatz formuliert, was Anlass für körpertherapeutische Kontroversen war. Diese Kontroversen könnte man unter den Titel „Wer hat ein Anrecht auf das therapeutische Erbe Wilhelm Reichs?“ stellen.
Du ertrugst dies alles mit Gleich-Mut ohne zu entscheiden, vielleicht mit der von Michael Smith benannten Haltung „Life ist bigger than you“. Auch Loil Neidhöfer, mit welchem uns über Jahre hinweg mehr verband als abgedruckte Zeilen, hat in besseren Zeiten noch aus Dir gesprochen. Damals, als er noch nicht über ein eigenes Schriftwerk verfügte, welches natürlich größer (was bei Deiner äußerlichen Kleinheit nicht schwer sein dürfte) und auch glänzender wurde. „Skan-Reader“ wird es genannt. Und eben in diesem Skan-Reader musste ich Beleidigendes über Dich lesen: Du wirst als „Periodikum mit kleinster Auslage“ herabgemindert.
Das war nach der „Wende“ zwischen Loil und den Bukumatula-Bewohnern. Anlass war eine Veröffentlichung in Dir, wo Bernhard Hubacek über einen Artikel einen Konflikt mit Loil austrug. Uns – Wolfram Ratz, Renate Wieser und mir – war nicht wohl dabei. Und dennoch erschien uns die Strafe für die Veröffentlichung – der Kontaktabbruch von seiten Loils – zu hart.
Es war sicher in Deinem ganzen Leben die aufregendste Zeit. Wir drei saßen stundenlang zusammen, entwarfen Herausgeberbriefe, nur um sie dann wieder in den Papierkorb zu werfen, versuchten Formulierungen und waren doch noch zu befangen und ängstlich, um wirklich in aller Freiheit dazu Stellung zu nehmen.
Ja, Du bist klein, misst nur 15x21cm und birgst nicht mehr als 30 Seiten in Dir. Platz für einen Leit-Artikel.
Ich finde das schön. Man sieht sich nicht einer Fülle von verschiedenen, zu erarbeitenden Inhalten gegenüber. Man muss Dich nicht mit Unterstreichstift lesen, Du eignest Dich für mich auch als Lektüre im Bett oder aufgrund Deiner Leichtigkeit und Handlichkeit als Wegbegleiter.
Ich selbst – und dies fällt mir jetzt erst so deutlich auf – blieb Dir in all den Jahren treu. Nie ein Gedanke, meine Ideen in renommierteren und wohl populäreren Zeitschriften zu veröffentlichen. Ich finde in Dir einen weiten Raum, wo es Erlaubnis gibt. Erlaubnis, aus mir heraus zu schreiben, ohne sekundäre Motivationen. Wie die Paare im bukumatula der Trobriander, bin ich mit Dir eine dauerhafte Beziehung – die mit Wilhelm Reich – eingegangen.
Es findet für mich eine „Befürsorgung“ meiner Art des Schreibens statt. So unbewusst die Namenswahl war, um so freudiger nehme ich nun wahr, wie passend Dein Name ist. Auch Du bist ein „Ledigenhaus“ für Personen, welche sich noch nicht einer Richtung verschrieben haben. Und wenn in der Beschreibung von „Bukumatula“ bei Reich zu lesen steht: „Es gilt als höchst ungehörig, ein anderes Paar beim Liebesspiel zu beobachten“, so trifft diese Regel – scheint mir – auch auf Dich zu.
Soviel ich mich erinnere, hast Du niemals dafür herhalten müssen, dass das Liebesspiel anderer (mit welchem Therapieansatz sie liebäugeln und an welchen Formen des Liebesspiels sie sich erfreuen) kommentiert oder herabgewürdigt wurde, auf dass wir in Dir groß erscheinen.
Und wie im bukumatula die Paare durch keinerlei Gesetz und Sitte miteinander verbunden sind, gibt es auch in Dir keine durch lebenslängliche Bande gebundenen Bewohner. Wer dazukommt, tut dies aus eigener Freiheit und Freude.
Dass dies möglich ist, verdanken wir wohl zu allererst Wolfram. Er sorgt dafür, dass das Bukumatula-Haus steht.
Wolfram ist auch für die Gestaltung Deiner Außenfassade verantwortlich.
Du glänzt durch dezentes blassgrau, das Dir einen edlen, würdigen Anstrich gibt. Nichts Protziges haftet Dir an, das Namensschild wie im Vorübergehen an die Hauswand geschrieben. Kein ähnliches Haus hab‘ ich je gesehen. Du bist für mich attraktiv durch das Ungewöhnliche, das Schlichte. Ich frage mich, in welchem Verwandtschaftsverhältnis Wolfram wohl zu Dir steht.
In den Herausgeberbriefen gebärdet er sich wie ein guter Onkel („Viel Spaß beim Lesen“). Verantwortlich für Dein Wohl und Gedeihen, fühlt er sich wie ein Vater. Und dennoch gibt es etwas Verschämtes in Wolframs Beziehung zu Dir. So als wärst Du einer großen, aber verborgenen, vielleicht heimlichen Liebe entsprungen. Ein Kind, für welches Wolfram zwar rührend und liebevoll sorgt, wo aber Vaterstolz nicht unverhohlen zutage treten darf.
Ich selbst empfinde mich als Patentante von Dir – eine Art Luxusbeziehung – nehme Kontakt auf, wenn ich mich nach Dir sehne oder Du Unterstützung brauchst. Und ich begleite Dich mit den besten Wünschen.
Da gibt es doch dieses Geburtstagslied „Hoch sollst Du leben!“- Also:
Leben sollst Du bleiben, 3x so viel Leben.
Zart sollst Du bleiben, 3x so zart.
Kräftig sollst Du bleiben, 3x so kräftig.
Vielseitig sollst Du bleiben, 3x so vielseitig.
Kompromisslos sollst Du bleiben, 3x so kompromisslos.
Und das wichtigste:
Artikel-Kinder sollst Du kriegen, 3x so viele.
Damit grüße ich Dich,
liebes Bukumatula,
von Herzen
Deine Beatrix
24 Dez
Bukumatula 2/1998
Zitiert nach Bronislaw Malinowski und Wilhelm Reich
Beatrix Teichmann-Wirth
Brauch und Sitte dieses Stammes kommen diesem Bedürfnis (nach Sexualbejahung in der Jugend, Anmerkung von B.W.) entgegen und bieten Unterkunft und Abgeschlossenheit in Gestalt des bukumatula, des bereits erwähnten Ledigenhauses. Hier wohnen eine beschränkte Anzahl von Paaren, zwei, drei oder vier, auf längere oder kürzere Zeit in vorübergehender Gemeinschaft. Gelegentlich bietet das bukumatula auch jüngeren Paaren Obdach, wenn sie sich auf ein paar Stunden ungestört dem Liebensgenuss hingeben wollen…
Augenblicklich gibt es fünf Junggesellenheime in Omarakana und vier im Nachbardorf Kasana`i. Ihre Zahl hat sich infolge des Einflusses der Missionare stark verringert. Aus Angst, der Missionar könne ihn durch Aussonderung bloßstellen, ihn verwarnen oder gegen ihn predigen, errichtet mancher Eigentümer eines bukumatula dieses jetzt im äußeren Ring, wo es weniger auffällig ist. Meine Gewährsleute haben mir erzählt, dass es noch vor zehn Jahren fünfzehn Ledigenhäuser in beiden Dörfern gab, und meine ältesten Bekannten erinnern sich der Zeit, da es etwa dreißig waren.
Dieser Rückgang ist natürlich zum Teil in der ungeheuren Bevölkerungsabnahme begründet, und nur zum andern Teil in der Tatsache, dass heutzutage manche Junggesellen bei ihren Eltern wohnen, manche in Witwenhäusern und noch andere in Missionsstationen. Doch was auch der Grund sei – es braucht kaum gesagt zu werden, dass dieser Stand der Dinge wahre Geschlechtsmoral nicht fördert… Es ist mir erzählt worden dass zuweilen ein Mann für seine Tochter ein Haus als bukumatula gebaut habe, und dass in alten Zeiten auch Mädchen Ledigenhäuser zu besitzen und zu bewohnen pflegten; jedoch ist mir kein tatsächliches Beispiel dieser Art bekannt geworden.“ (Malinowski, zit. nach Reich, 1995)
Die hier zusammengestellten Informationen beziehen sich auf die von Malinowski zwischen 1920-1930 bei den Trobriandern gemachten Forschungen. Dass der Rückgang weiter zunimmt ist zu befürchten, obwohl sie, wie Susanne Wittmann es in der letzten BUKUMATULA-Ausgabe beschrieben hat, weiterhin existieren.
Das Bukumatula steht jenen Jugendlichen zur Verfügung, die nach einer Zeit der heimlicheren und weniger bindenden Zusammenkünfte regelmäßig als Paar zusammenkommen und „das Lager Nacht für Nacht teilen“. Diese dienen, wie Reich es trefflich nennt, der „Befürsorgung für die sexuellen Umarmung“, welche bei den Trobriandern über das bloße Gewährenlassen hinausgeht.
„Im bukumatula haben wir es mit einer Anzahl von Paaren zu tun, die in einem gemeinsamen Hause schlafen, doch jedes Paar streng für sich – nicht mit jungen Leuten, die alle unterschiedslos miteinander leben; nie werden die Partner ausgetauscht, und `wildern´ oder `gefälligsein´ kommt nicht vor. Im Gegenteil, innerhalb des bukumatula wird ein besonderer Ehrenkodex beobachtet, der jedem Bewohner auferlegt, geschlechtliche Rechte innerhalb des Hauses viel sorgsamer zu achten als außerhalb.
Falls jemand gegen diesen Ehrenkodex verstieße, würde man von ihm das Wort kaylasi gebrauchen, was soviel heißt wie `sich geschlechtlich vergehen´. Im bukumatula (Junggesellenhaus) herrscht strenge Zucht. Nie geben sich die Bewohner orgiastischen Vergnügungen hin, und es gilt für höchst ungehörig, ein anderes Paar bei seinem Liebesspiel zu beobachten. Meine jungen Freunde erzählten mir, dass man entweder warte, bis die anderen alle eingeschlafen seien, oder dass alle Paare eines Hauses übereinkämen, die andern nicht zu beachten.
Ich habe bei dem durchschnittlichen jungen Mann auch nicht die leiseste Spur eines Voyeurinteresses gefunden und auch keinerlei Neigung zu Exhibitionismus. Im Gegenteil, wenn ich die verschiedenen Stellungen und die Technik des Geschlechtsaktes erörterte, wurde mir ganz von selbst mitgeteilt, dass es besonders unauffällige Arten der Ausführung gäbe, `damit man die anderen Leute im bukumatula nicht aufweckt´.“ (Malinowski nach Reich 1995)
„Das jugendliche Paar ist durch keinerlei Gesetz oder Sitte aneinander gebunden; sie werden nur durch die persönliche Zuneigung und die geschlechtliche Leidenschaft zusammengehalten und können sich nach Belieben trennen. Wir hörten auch, dass dieses Verhältnis keinerlei Besitzanspruch in sich schließt, jedem steht die Umarmung mit anderen Partnern, insbesondere anlässlich der Ernte- und Mondfeste frei.
Es kommt zwar zu Äußerungen von Eifersucht, aber bei gewissen Gelegenheiten ist sogar dies `unsittlich´, so etwa, wenn die jungen Mädchen anlässlich eines Trauerfalles die trauernden Männer durch Geschlechtsumarmung trösten. Trotz alledem, oder vom Standpunkt der sexuellen Ökonomie gerade deshalb, sind die Beziehungen auch häufig (ohne äußeren oder inneren Zwang) dauernder, inniger und befriedigender als diejenigen, die unsere sexuell verkrüppelte Jugend zustande bringt.
Die Interessengemeinschaft der jungen Paare bezieht sich nur auf das Geschlechtliche. Niemals nehmen sie gemeinsam Mahlzeiten ein, die, wie wir später hören werden, geradezu zum Symbol der richtigen Ehe werden.“ (Reich, 1995)
Literatur:
Reich, Wilhelm: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Kiepenheuer & Witsch 1995 (Orig. 1932)
Malinowki, Bronislaw: Das Sexualleben der Wilden
24 Dez
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Bukumatula 3/1998
Eine Fallgeschichte von
Heike Buhl:
In meiner körpertherapeutischen Praxis begegne ich immer wieder Menschen, die sich für andere aufopfern. Ob sie es merken oder nicht, gehen sie damit oft über ihre eigenen inneren Grenzen und powern sich auf Dauer aus. Sie helfen anderen und bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden. Natürlich möchte jeder ein guter Mensch sein! Aber wie weit soll man bei der Nächstenliebe gehen? Wo fängt die Selbstaufgabe an, wann sind dabei die eigenen Kräfte überschritten?
Zu diesem Thema möchte ich die Fallgeschichte einer Klientin vorstellen, die ich zwei Jahre lang in ihrem inneren Prozess begleitete.
Die Vorgeschichte
Mitte 1994 kommt Anna zu mir in die Praxis. Sie ist Anfang 50 und arbeitet in der Altenpflege. Die von ihr geschilderten Beschwerden sind hauptsächlich psychischer Natur. Sie möchte insgesamt ruhiger und ausgeglichener werden, mehr „mit den Beinen auf den Boden kommen“ und lernen, anderen besser zu helfen. Letzteres scheint sie besonders zu beschäftigen. Sie wirkt wie die typische Vertreterin des „Helfersyndroms“ – Menschen, die sich für andere aufopfern, die eigenen Grenzen übersehen und dabei Gefahr laufen, sich irgendwann völlig erschöpft und ausgebrannt zu fühlen.
Wenn Anna davon erzählt, wie sie anderen Menschen hilft, blüht sie regelrecht auf. Es erscheint fast so, als wolle sie die Therapie hauptsächlich machen, um noch mehr Kraft für andere zu haben. Für den Einwand, dass sie doch auch mit den vorhandenen Kräften besser haushalten lernen könnte, hat sie kein offenes Ohr. Anna hat außer den Kranken und Hilfsbedürftigen, um die sie sich kümmert, kaum soziale Kontakte. Für andere Menschen reibt sie sich auf und ist enttäuscht, wenn diese ihre Hilfe nicht annehmen können. Seit vielen Jahren hat sie eine lose Beziehung zu einem Mann. Den Wunsch nach einer eigenen Familie hat sie nicht.
Anna berichtet von einer schweren Kindheit. Sie wuchs in einem Übersiedlerlager als drittes von sechs Kindern auf. Eine der älteren Schwestern starb früh. Als Anna neun Jahre alt war, starb auch ihr Vater. Die Mutter war mit der Erziehung der Kinder offenbar überfordert, sie wurde stark depressiv und äußerte immer wieder, die Kinder seien doch „ohne sie besser dran“. Anna, selber noch ein Kind, übernahm die Versorgung der drei jüngeren Brüder und versuchte, die Mutter über den Verlust des Vaters so gut wie möglich hinwegzutrösten – für eine Neunjährige eine unmögliche Aufgabe.
Annas äußere Erscheinung ist gepflegt, sie wirkt dabei etwas verhärmt, wie ein Mensch, der sich selber nicht viel gönnt. Während unseres Gesprächs gehen ihre Augen unruhig hin und her, sie wirkt angespannt. Es fällt ihr schwer, über sich selbst zu sprechen. Sie macht den Eindruck, als wolle sie am liebsten gleich wieder weglaufen. Die Vorstellung, für sich selber Hilfe oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist ihr unangenehm. Eine Therapie zu beginnen, ist für sie nur unter dem Deckmantel „für andere“ möglich. Wir einigen uns darauf, dass sie zunächst vier Stunden „zur Probe“ zu mir kommt und danach entscheidet, ob sie sich auf einen längeren therapeutischen Prozess einlassen kann.
Körpertherapie – was ist das eigentlich?
Die Körper- oder Orgontherapie geht zurück auf die Erkenntnisse des Arztes Wilhelm Reich. Wir gehen dabei davon aus, dass allen psychischen und körperlichen Phänomenen ein natürliches Fließen von Lebensenergie, die Reich Orgonenergie nannte, zugrunde liegt. Unser Denken und Handeln, unser Bewusstsein und Gefühl und unsere körperliche Selbstwahrnehmung sind unterschiedliche Ausdrucksformen dieses energetischen Lebensflusses.
Psychische Konflikte führen zu einer Einschränkung der Lebendigkeit des menschlichen Organismus, indem sie den Fluss dieser Lebensenergie im Körper herabsetzen. Äußerlich macht sich dies in muskulären Verspannungen bemerkbar, innerlich drückt es sich in einer Einschränkung der Pulsation des vegetativen Nervensystems aus: damit ist der Grundstein für das Entstehen von Krankheit gelegt.
Krankheit entsteht als Folge der Störung der inneren oder äußeren Harmonie des Menschen. Mangelndes Selbstwertgefühl, unbefriedigende Partnerschaft und Sexualität, Dissonanzen in der Familie, Stress am Arbeitsplatz sind nur einige Beispiele für Faktoren, die unbewusst zur Entstehung von Erkrankungen beitragen können. Die Krankheitssymptome haben dabei ihre eigene Ausdruckssprache; z. B. läuft uns „die Galle über“, es „verschlägt uns den Atem“, wir „kriegen kalte Füße“, haben „die Nase voll“, oder uns „wachsen graue Haare“.
In der Orgontherapie wird nun mittels verschiedener Techniken an der Auflösung energetischer und muskulärer Blockaden im Körper gearbeitet. Es findet also keine medikamentöse Symptombekämpfung statt, sondern man versucht, den Ursachen der Erkrankung auf die Spur zu kommen.
Drei verschiedene therapeutische Techniken haben sich dabei in meinen Augen als besonders wirkungsvoll zur Lösung energetischer Blockaden im Körper herausgestellt. Die Kombination dieser Herangehensweisen ist die Besonderheit meiner Behandlungsart, mit der ich in der Praxis für Energetische Medizin seit über zwölf Jahren an dem Ziel der Verwirklichung einer neuen, ganzheitlichen Art von Medizin arbeite.
Eine dieser Techniken ist die am Wilhelm-Reich-Institut von Heiko Lassek aus den Reichschen Methoden weiterentwickelte Energetische Medizin. Diese Arbeit benutzt verschiedene körperliche Anspannungspositionen in Verbindung mit tiefer Atmung, um den Energiefluss im Körper zu mobilisieren. Dadurch treten im Körper autonome Bewegungen auf. Diese Arbeit hat sich bei emotionalen wie auch bei somatischen Beschwerden als sehr wirkungsvoll herausgestellt, da jede Behandlung als vegetativer Reiz wirkt, der das autonome Nervensystem zur gesunden Pulsation anregt.
Es wird mit dem Wechsel von hochenergetischer Ladung und Entladung des Körpers gearbeitet. Der Organismus, der sich in einem ungesunden Gleichgewichtszustand eingerichtet hat, wird stimuliert und „aufgeweckt“. Gleichzeitig ermöglicht es diese Herangehensweise, über nachfolgende sanfte Bahnung den Energiefluss im Körper gezielt zu lenken und zu richten. Dadurch kann vermieden werden, dass mobilisierte Energie das Krankheitssymptom „nährt“ und womöglich die Symptome verstärkt.
Der zweite Schwerpunkt meiner Arbeit ist die von Will Davis in der European Reichian School aus dem Reichschen Ansatz entwickelte „Points and Positions“-Arbeit. Die körperlichen Anspannungsmuster und Blockaden werden hierbei durch gezielte Behandlung des Bindegewebes, der Faszien und Muskelansatzpunkte aufgelöst. Indem man den Körper in bestimmte, die verspannten Muskeln entlastende Positionen bringt, werden kontrahierte Bereiche schmerzlos entspannt.
Diese Arbeit führt auf eine sanfte, wachstumsbetonte Art zur Anregung der Pulsationsvorgänge im Körper. Sie unterstützt insbesondere auch den Aspekt des Sich-Zentrierens, Sich-Sammelns und Nach-Innen-Gehens der Patienten wie in einer heilsamen Trance. Tiefe innere Prozesse werden aktiviert, die Einfluss auf körperliche, emotionale und psychische Vorgänge haben. Mit Hilfe dieser Technik ist es auch möglich, einzelne Blockaden im Körper sehr gezielt zu bearbeiten.
Der dritte Aspekt der Therapie legt das Hauptaugenmerk auf das Bewusstwerden und den Ausdruck derjenigen Gefühle, die vom Patienten in den muskulären Verspannungen „festgehalten“ werden. Angst, Wut und Trauer sind oft als verboten oder unangenehm erfahren und daher unterdrückt worden. Das Wiedererleben dieser Gefühle in der geschützten therapeutischen Situation wirkt oft sehr erlösend, da das Unterdrücken von Emotionen viel Kraft bindet. Gleichzeitig werden die Gefühle von Vertrauen, Freude und Lust wieder stärker erlebt. Neben der Verbesserung körperlicher und psychischer Symptome hat die Therapie häufig einen Wechsel in grundlegenden Lebensbereichen zur Folge.
Annas Therapie
Anna hat einen gleichmäßigen Körperbau, die Muskeln sind insgesamt gut ausgeprägt, aber sehr angespannt. Ihre Augen sind kurzsichtig (-6 Dioptrien) und ruhelos. Augenkontakt fällt ihr schwer. Besonders verspannt sind das Kinn, das Hinterhaupt und die Schultern sowie die Muskeln entlang der Wirbelsäule. Ich interpretiere die muskulären Verspannungen als Ausdruck der inneren Anspannung und des Leistungsdrucks, unter dem Anna steht.
Dies spürt sie vor allem an ihrer Arbeitsstelle. Sie soll dort ein Archiv umorganisieren und fühlt sich von dieser Aufgabe überfordert. Damit nicht genug, kritisiert sich Anna auch noch dafür, dass sie nicht besser und leistungsfähiger ist. Selbstkritik ist eine von Annas „Stärken“!
In den ersten vier Stunden arbeite ich mit Anna zunächst nur mit der Points & Positions-Arbeit, um ihr Körpergefühl zu verbessern, den Körper sanft zu mobilisieren und sie vor allem etwas zu entspannen. Danach sind die Augen etwas ruhiger, es kommt innere Bewegung in den Rücken und die Beine. Sie berichtet, nach einer Stunde energetischer Arbeit an den Beinen habe es in die Beine, das Herz und den Kopf Zuhause noch mehrmals „wie der Blitz eingeschlagen“. Der Kopf fühlte sich danach viel freier an.
Anna möchte die Therapie fortsetzten, aber ihre Ängstlichkeit hat sie noch nicht überwunden. Zunächst legt sie sich nur für vier weitere Stunden fest. Dies ist zwar ungewöhnlich, ich gehe jedoch darauf ein, da ich merke, wie schwer dieser Schritt für sie ist.
Krankheit als „gesundes Zeichen“?
Das Ziel einer ersten Mobilisierung scheint erreicht zu sein, zumal sich an die vierte Stunde noch eine Art „Kurzgrippe“ mit Fieber für einen Tag anschließt. In der Reichschen Therapie sehen wir einen grippalen Infekt durchaus als positives Zeichen, vor allem, wenn der Klient schon seit langer Zeit keine Erkrankung mehr gehabt hat. Das Fieber zeigt an, dass der Organismus vegetativ in Bewegung kommt.
Das vegetative Nervensystem des Menschen, das die Tätigkeit der inneren Organe regelt, arbeitet nach dem Prinzip der Pulsation: Phasen von Anspannung und Entspannung, Aktivität und Ruhe, wechseln sich idealerweise ab. Wenn diese „vegetative Pulsation“ chronisch gestört ist, z.B. durch chronischen Stress, kann der Körper mit Krankheit als einem „Ausbruchsversuch des Organismus aus der Starre“ reagieren.
Es ist ein Versuch des Körpers, die Pulsation doch noch rudimentär aufrecht zu erhalten. Überschüssige Energie entlädt sich sozusagen in dem Krankheitssymptom, wenn auch nicht gerade auf optimale Weise. Je nach Intensität der zugrunde liegenden Pulsationseinschränkung haben diese Krankheitsausbrüche verschiedene Ausprägungen – angefangen von Grippe, entzündlichen Erkrankungen, Asthma oder Darmerkrankungen über Hochdruckerkrankungen bis hin zu Leukämie und Krebs.
Wird der Energiefluss im Körper und damit die vegetative Pulsation wieder angeregt, so entzieht man der Erkrankung den Nährboden. Dies bedeutet eine völlig neue Bewertung von Gesundheit und Krankheit: ein Mensch, der jahrelang nicht krank war, kann zwar einfach kerngesund sein, er kann aber auch eine sogenannte „vegetative Reaktionsstarre“ aufweisen, auf deren Boden sich dann „aus dem Nichts“ plötzlich eine schwere Erkrankung wie z.B. Krebs bilden kann. Derjenige, der jedes Jahr einen fieberhaften grippalen Infekt hat, kann daher gesünder sein als derjenige, der „nie krank gewesen“ ist.
Weiterer Therapieverlauf
In den nächsten Stunden arbeite ich mit Anna abwechselnd mit Orgontherapie und Points & Positions-Arbeit. Es stellt sich heraus, dass die Energie recht gut in die Arme fließen kann, es kommt dort in der orgontherapeutischen Arbeit spontan zu entladenden Schlagebewegungen. Die Rückenmuskulatur fühlt sich dagegen wie Beton an. Auch der Bauch und die Beine sind weiter sehr verspannt.
Anna klagt, dass sie schon viele Jahre unregelmäßigen Stuhlgang habe, ein Wechsel von Verstopfung und Durchfall mit schmerzhaften Blähungen. Auch hier zeigt sich wieder der Wechsel von vegetativer Starre (Verstopfung) und überschießender Entladung (Durchfälle). Verspannungen im Kopf- und Nackenbereich führten zu einem seit langer Zeit anhaltenden Tinnitus, einem ständigen „Klingeln“ im linken Ohr und öfters zu Kopfschmerzen.
Bei der Arbeit an den Augen stellt Anna fest, dass sie überhaupt nicht böse „gucken“ kann. Dies ist Ausdruck ihrer tiefen Aggressionshemmung. Sie will ein ganz und gar guter Mensch sein. Das verträgt sich nicht mit Ärger oder „Nein“ sagen. Es führt aber auch dazu, dass sie sich ständig überfordert. Bevor sie nicht lernt, sich den unterdrückten Aggressionen zu nähern und sie in der geschützten therapeutischen Situation zum Ausdruck zu bringen, wird sie sich im sonstigen Leben schwer abgrenzen können.
Die orgontherapeutische Arbeit bringt Annas Körper zu allen möglichen ungewohnten Reaktionen. Manchmal ist ihr die Energie zuviel, dann kann sie nächtelang nicht schlafen. Manchmal sucht der Körper sich andere Entladungswege, so dass alte Symptome – bei Anna ist es eine Gürtelrose – für kurze Zeit wieder auftauchen können.
Dann wieder macht sie eine Angina durch, die sie selber als „lösend“ empfindet. Im Laufe der Arbeit lassen diese überschießenden Reaktionen nach. Es ist auch zu beobachten, dass Annas Starre in den Beinen sich auflöst und Entladungen über autonome Beinbewegungen möglich werden. Insgesamt kann sie jetzt mehr Energie aufnehmen und aushalten, was subjektiv zu einem Gefühl von mehr Kraft und Stärke führt.
Ende des Jahres stellt Anna fest, dass ihr räumliches Vorstellungsvermögen als Folge der Augenarbeit besser geworden ist. In der Arbeit kann sie sich jetzt schon besser konzentrieren. Auch kann sie Kontakte zu anderen Menschen jetzt besser aushalten, muss nicht mehr „ganz schnell weglaufen“. Zur Therapie kommt sie inzwischen regelmäßig. Das Ohrgeräusch beginnt aber ab Februar 1995 manchmal für mehrere Tage ganz zu verschwinden. Anna erkennt, dass das „Klingeln“ nachlässt, wenn sie weniger unter Druck steht.
Im April 1995 erzählt mir Anna, dass ein für sie essentielles Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ weit in ihre Kindheit zurückreichende Wurzeln hat. Da sie als einzige in der Familie dunkle Haare hatte, sagte der Vater öfter halb scherzhaft: „Du gehörst nicht zu uns, du bist ein Zigeunerkind“. Dies hat sich ihr tief eingegraben. Ihre Mutter hingegen war nicht belastbar. Anna versuchte sie immer aufzuheitern. Dabei blieb bei Anna das Gefühl zurück, anderen zur Last zu fallen. Bei dieser Erinnerung beginnt sie erstmals in der Therapie leise zu weinen, denn sie „will niemanden belasten“. Daher muss sie ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken.
Da sie sich von klein auf für die Familie zuständig fühlte, hat sie nie gelernt, eigene Wünsche zu entwickeln. Das Kümmern0 um andere ist ihr Lebensinhalt und Selbstideal geworden. An ihrer Arbeitsstelle ist sie oft bis 8 oder 9 Uhr abends. Sie fragt mich ganz ernsthaft, warum sie denn lernen solle, was ihr Spaß macht. Es ist ihr schwer zu vermitteln, dass ihre ständige Aufopferung und Selbstaufgabe der Grund für ihre körperlichen und psychischen Beschwerden sein könnten, und dass ein Stück Lebensfreude bestimmt niemandem schadet.
Wir haben offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen vom Sinn des Lebens – sie meint, nur durch völlige Selbstaufgabe ein guter Mensch sein zu können, ich dagegen meine, dass man nur für andere da sein kann, wenn man zuerst gut für sich selber gesorgt hat: „Erst Eigenrettung, dann Fremdrettung“ heißt es in der Ausbildung in Erster Hilfe. Dies ist Annas kirchlich geprägtem Ideal zuwider; lieber trägt sie die Lasten anderer – und handelt sich damit einen harten Rücken und Kopfschmerzen ein.
Anna hat viel praktisches Geschick, kann die Dinge gut „anpacken“. „Wenn’s drauf ankommt, kann ich alles“, sagt sie. Es fällt Anna schwer, von sich selbst zu reden, für andere hat sie aber schnell einen Rat oder eine Lösung parat. Ihr Kümmern um andere führt dann leicht dazu, dass sie sich bei anderen, wie sie es nennt, „einmischt“. Der Weg zwischen selbstloser Nächstenliebe und manipulativem Helfersyndrom ist schmal. Im Herbst 1995 kommt sie plötzlich mit einem Blumenstrauß in die Praxis und sagt: „In der letzten Stunde habe ich wirklich begriffen, dass ich mich gar nicht immer einmischen muss. Ich kann die anderen die Dinge auf ihre eigene Art erledigen lassen, ohne gleich eine Grundsatzdiskussion über jede Kleinigkeit führen zu müssen.“
Anna merkt von sich aus, dass das Helfen dazu dient, ihre eigene innere Leere zu verdecken und daher nicht dem Überfluss, sondern dem Mangel entspringt. Das Helfen macht wichtig! Anna beginnt, die kirchliche Erziehung zum Nur-gut-sein anzuzweifeln. Ihre Zweifel an kirchlichen Dogmen mehren sich, und sie beginnt in kleinen Schritten mehr für sich selbst zu tun. Dazu muss sie regelrecht trainieren, ihre eigenen Wünsche wahrzunehmen und zu äußern.
An ihrer Arbeitsstelle gelingt es Anna erste Grenzen zu ziehen. Sie trennt berufliche und private Erledigungen und schafft es, den Arbeitstag auf acht Stunden zu begrenzen.
Damit taucht nun aber das Problem auf, wie sie ihre Freizeit füllen soll! Helfen hilft eben auch dabei, vor sich selber auszuweichen. Es fällt ihr weiter schwer, sich selbst etwas zu gönnen. Offenbar fällt auch die Therapie darunter, die sie immer wieder einmal ganz bald beenden möchte.
Da Anna sich jetzt schon besser konzentrieren kann, beginnt sie, abends Musik zu hören oder zu lesen. Wenn sie mal nicht weiter weiß, traut sie sich jetzt auch, jemanden um Rat zu fragen. Sie gesteht sich auch schon mal ein, dass sie einige der Dinge, für die sie sich manchmal vorschnell anbietet, eigentlich nicht tun will. Ablehnen fällt ihr aber trotzdem noch schwer.
Dafür ist der menschliche Kontakt in Gruppen zunehmend besser. Bei der Silberhochzeit ihrer Schwester fühlt sie sich viel weniger verklemmt und muss sich weniger „einmischen“. Anna möchte noch mehr lernen, sich auszudrücken. Sie merkt selber, wie ihr die Worte im wahrsten Sinne „im Halse stecken bleiben“. Wir arbeiten deshalb daran, Verspannungen im Halsbereich durch sanfte Arbeit aufzulösen.
Dazu bitte ich Anna, verschiedene Töne wie beim Singen zu machen und deren Resonanz mit anderen Körperteilen zu spüren. Dies löst bei ihr zunächst heftigen Würgereiz aus. Dadurch löst sich die Verspannung in der Kehle etwas, der Kopf fühlt sich mehr mit dem Körper verbunden an und die Töne gelingen Anna schon viel besser. Beim Versuch, die „Augen zu besingen“, d.h. den Ton wie durch die Augen nach außen zu schicken, spürt Anna plötzlich starke Angst.
Sie sagt, dass sie zwar Angst vor Menschen kenne, aber keine Angst vor Dunkelheit oder ähnlichen Dingen, vor denen sich jeder andere fürchte. Da in der Kindheit kein Schutz für sie da war, hat sie die Angst einfach verdrängt und sich furchtlos gegeben. Bei dem Satz: „es ist in Ordnung, Angst zu haben“ muss Anna vor Erleichterung weinen. Es ist schon ganz schön anstrengend, nie ängstlich sein zu dürfen!
Nach der Stunde taucht vor Annas innerem Auge spontan eine längst vergessene Szene aus der Kindheit wieder auf: Als Anna etwa 10 Jahre alt war, warf die Mutter mit einem Messer nach ihr, da sie sich wieder mal „eingemischt“ hatte. Helfen schien die einzige Möglichkeit zu sein, sich etwas Anerkennung zu verschaffen.
Die energetische Arbeit im Kopfbereich führt dazu, dass der Kopf klarer wird und die Konzentrationsfähigkeit weiter zunimmt. Die Kopfschmerzen werden seltener. Mit der Lösung von Verspannungen im Rückenbereich wird der Energiefluss im Körper immer einheitlicher. Bei der energetischen Hochladungsarbeit können jetzt Arme und Beine im Wechsel Energie aufnehmen und in autonomen Bewegungen wieder entladen. Die Entladungen werden dabei „feinschlägiger“, so als ob der Körper feinere „Entladungskanäle“ für die Energie in die Peripherie gebaut hätte.
Annas Augen haben sich im Laufe der Therapie sehr verändert.
Das unruhige Hin- und Herschauen vom Beginn der Therapie ist verschwunden. Sie kann jetzt Gefühle in den Augen ausdrücken. Wenn sie will, kann sie sogar richtig böse gucken! Ruhiger Augenkontakt, dessen Dauer sie selbst bestimmt, löst Verspannungen im Bauch. Die vorher kontinuierlich zunehmende Kurzsichtigkeit hat sich seit Beginn der Therapie stabilisiert. Eine beginnende Netzhautablösung ist zum Stillstand gekommen. Das ganze Gesicht ist inzwischen viel weicher geworden und hat das verhärmte Aussehen verloren.
Im Sommer 1996 beschäftigt sich Anna mit dem Konzept des „inneren Kindes“ und bittet mich, ihr beim Zwiegespräch mit diesem Kind behilflich zu sein. Dabei bestätigt sich, dass sie schon sehr früh in die Mutterrolle geschlüpft ist. Anna ist sozusagen nie wirklich Kind gewesen. In der Mutterrolle versucht sie dann, andere glücklich zu machen, kann dabei aber nicht selber glücklich werden. Die innere Leere und Einsamkeit wehrt sie ab und sagt sich „ich brauche niemanden“. Sie gibt den anderen, was sie sich eigentlich selber wünscht. Anna merkt, dass sie noch ein Stück Kindsein nachholen muss und dass ihr „inneres Kind“ viel Zuwendung braucht. Nach der Stunde kauft sie dem „Kind“ gleich einen Teddybären!
Der Therapieabschluss
Im August 1996 beendet Anna nach zwei Jahren die Therapie. Sie fühlt sich unter Menschen zunehmend wohler, redet lauter und freier, kann sich besser konzentrieren und spürt auf der Arbeitsstelle keinen Zeitdruck mehr. Der Stuhlgang ist gleichmäßiger geworden und hat das Beängstigende verloren.
Das Klingeln im Ohr ist zeitweise völlig verschwunden, und die Kopfschmerzen sind selten geworden. Anna beginnt, ihr Leben selber zu strukturieren. Die Saat von Selbstliebe als Grundlage für Selbstvertrauen und Nächstenliebe ist inzwischen auf fruchtbaren Boden gefallen. Nur wer für sich selbst gut sorgen kann, kann von Herzen etwas für andere tun – nicht um die eigene innere Leere zu verdecken, sondern um die innere Fülle auszudrücken. Nicht umsonst heißt es: „Liebe Deinen Nächsten WIE DICH SELBST“!
Anna schließt nicht aus, dass sie nach einer Pause die Therapie noch fortsetzen möchte. Schließlich möchte sie ihre Spontaneität und ihr Selbstvertrauen noch etwas weiter entwickeln. Sie hat aber in kurzer Zeit für sich selbst so viele neue Erfahrungen gemacht und Einsichten gewonnen, dass sie diese erst einmal weiter in ihrem Leben umsetzen möchte. Auch ich finde, dass Anna in den vergangenen zwei Jahren Riesenschritte gemacht hat. Ich bin sicher, dass Anna weit davon entfernt ist, ein egoistischer und selbstsüchtiger Mensch zu werden. Sie hat lediglich gelernt, ein bisschen besser für den Menschen zu sorgen, der ihr am nächsten steht – für sie selbst.
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Dr med. Heike S. Buhl, Jahrgang 1955, Ärztin, arbeitet seit vierzehn Jahren mit den Methoden von Dr. Wilhelm Reich in ihrer eigenen Praxis. In Zusammenarbeit mit dem Wilhelm Reich-Institut Berlin und der European Reichian School bemüht sie sich um die Verwirklichung einer neuen, ganzheitlichen Art von Medizin. Sie ist Vorstandsmitglied der „Wilhelm-Reich-Gesellschaft“ und Redaktionsmitglied der Zeitschrift emotion.
24 Dez
Bukumatula 3/1998
von
Josef Erwa und Brigitta Bolen
Josef Erwa
Al ist tot.
Solange ein Mensch Spuren im Körper und in den Sinnen eines anderen Menschen hinterlässt, solange ist dieser Mensch lebendig. Es ist die Kunst des „Sichzeigens“, die die Spuren hinterlässt. Die Leidenschaft und die nie endende Sehnsucht zu sein, die sich in der Kunst auszudrücken versucht. Es ist die aufrechte Lebendigkeit, die sich als Werkzeug der Kunst versteht. Es ist der Widerstand gegen das Verseuchte und gegen das Risiko unterzugehen.
Es ist das Vertrauen an das Schöne im Lebendigen und die Kraft und der Mut zum eigenem Schicksal. Es ist der durchströmte Körper, der seine Augen öffnet und seine Sinne reden lässt. Es ist die Kunst, an der sich die Schönheit Al’s gebar.
Al hinterließ tiefe und eindrucksvolle Spuren in den Herzen einer Vielzahl von Menschen. Al war für mich der gefürchtete Wegweiser. Er zeigte mir erbarmungslos und klar meine innere Wüste. Er erinnerte mich nur daran zu atmen und erinnerte mich immer wieder meinen Körper zu spüren – solange bis ich endlich begriffen habe … bis ich endlich begreife, jedesmal wieder.
Al ist für mich „zwei große blaue Augen“, die sahen und die das Sein, das sie sahen, sein lassen konnten. Al lehrte nicht das rechte Leben und war kein Heilsversprecher. Er sehnte sich nach Freunden, nach Gewachsenem, Bewegtem und wusste von der Falle der Verehrung und Heiligsprechung. Er wäre ein talentierter Guru gewesen, und ich ehre ihn für seine Meisterschaft auf diese Macht verzichtet zu haben.
Al verstand sich zu schützen und ist mir Vorbild darin. Al wusste von der abgrundlosen Macht der emotionalen Pest, sah und litt an den allgegenwärtigen Verseuchungen. Und klar blickte er mir ins Gesicht. Er hatte kein Mitleid, denn er wusste von der Kraft des sehnenden Werdenwollens, und nur das interessierte ihn und nicht die Heilung alter Verkrüppelungen.
Al war ein aufrechter Mann. Er lebte sein Leben in den lebendigen Nischen seines eigenen Wollens und seiner Kunst mit seinen Freunden und Lieben und hatte Glück, weil er es verdiente. „Don`t crack the walls, live in the cracks“, hat er einmal dazu gemeint. Al war ein Mann und danach habe ich mich wirklich gesehnt. So rar sind schöne alte Männer, so selten gelebte Weisheit – und verdammt einsam sind die Söhne.
Al wusste und lebte durch die heilende Kraft seiner Kunst, vom Wagemut sich auszudrücken, von seiner Sehnsucht sich zu zeigen – und er zeigte sich in seiner Wahrhaftigkeit am Flügel mit seiner Frau als Gesang. Al war mein einziger Lehrer und ich habe ihn nicht oft gesehen. – Selten hat er mich belehrt. Oft hat er sich abgewandt und manchmal sah ich geheime Zweifel in seinen Augen, oft war er hart und gab mir keinen Trost, ließ mich alleine und begrüßte mich jedes Jahr erneut.
Al war aufrichtiges und schönes Mannsein und kompromisslos darin, und fast verdurstet trank ich diese Botschaft und ich arbeite noch immer und mühsam daran. Ich habe Al gefürchtet, wie sonst keinen Mann, weil ich nicht wusste, wie ich soviel an Liebe zu ihm sein kann. Al war ein bescheidener Mann, der die ganze Lebendigkeit wollte und niemals aufhörte zu wachsen und sich zu verändern, einer der seine eigenen Schrecken und die Liebe kannte und sich täglich neu erfand.
Ich erzähle meiner Tochter von ihm …
Al wird lange in den Herzen und Sinnen von jenen weiterleben, die sich auf den Weg machten und nicht wissen, wohin er führen wird, die sich sehnen und scheitern und doch irgendwie weitermachen, in jenen, die erfolgreich sind und in jenen, die sich weitermühen und in jenen, die sinnlos vergehen, in allen, die irgendwann seine Schönheit gesehen haben.
Al führte als Schüler Wilhelm Reichs dessen revolutionäre Tradition fort, an deren wackeligen Anfang der Bewusstwerdung wir uns hoffentlich schon befinden. Eine andere Ausrichtung, ein neues philosophisches Verstehen, eine Orientierung nach dem Lebendigen, die aus dem geschichtlich Gewordenen hinausragt, die sich nicht in esoterische Jenseitsphantastereien selbstüberhöht und krümmt, sondern sich nach einem philosophischen Seinsinn ausdehnt, der die einzig gelebte, gegenwärtige Wahrhaftigkeit sein kann, der aus der geschichtlichen Tiefe zu uns herübertönt und die Sehnsucht nach Lebendigkeit und Schönheit in sich trägt.
Weil wir lange noch nicht in diesem Weltenkörper zu Hause sind, gab es Männer, die suchten, sich fanden, sich zu leben wagten und in Widerstand zu den mächtigen Normalitätsansichten ihrer Zeit gingen. Männer wie Al Bauman, Wilhelm Reich, Friedrich Nietzsche oder Peter Sloterdijk haben sich der Wahrhaftigkeit verschrieben, so naiv oder anmaßend das auch klingen mag. Sie richteten ihren Blick auf die Realität des Menschenmöglichen und mit klarem Verstand auf das geschichtliche Scheitern und die Verbrechen – und waren entsetzt.
Sie haben sich mit offenen Sinnen der Liebe und der Lebendigkeit zugewandt und fanden Schmerz und Entsetzen, Erkenntnis und Weisheit, Leid und Verwirrung, Schönheit und Liebe. Al war ein liebender Mann. Nicht dass ich meine, dass er alles verstanden, oder philosophisch begründen konnte; er sprach auch nur wenig darüber in den Workshops. Und doch erinnere ich mich an viele einzelne, oft banale Sätze, die ich erst dann verstand, als ich sie in mir selber gefunden habe. Und da erinnerte ich mich Jahre später, dass das Al irgendwann einmal gesagt hat und freute mich daran, ihn ein wenig, wenn auch sehr spät verstanden zu haben. Es waren einfache Sätze, die an meinem Urgrund rührten.
Nicht dass ich Al überhöhen oder verklären will, aber es bleibt eine lebendige Erinnerung an einen weisen, alten Mann, der davon wusste, wie wenig er wusste, der bescheiden seine eigene Tiefe jeden Tag erneut suchte und sich nicht anmaßte, sich nicht überhöhte und ehrfurchtsvoll dem Leben gegenüber blieb. Er war ein einfacher Mann und ein großer Künstler, dessen Werk ich viel zu wenig kenne. Er war ein naiver Mann, der sich vor der Pest zu schützen wusste. Er war ein mutiger Mann, weil er sich zu wehren verstand, denn er traute seinem eigenen Wollen – und er wollte die Liebe.
Al war ein schöner, alter Mann.
Allein gehe ich nun, meine Jünger. Auch ihr geht nun davon und alleine. So will ich es.
Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra.
Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur Schüler bleibt.
Ihr verehrt mich, aber wie wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage.
Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen?
Ihr hattet euch noch nicht gesucht, da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen, darum ist es so wenig mit allem Glauben.
Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden, und wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren…
Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“
Brigitta Bolen
Lieber Al!
Du bist gegangen – vor kurzem. Und jetzt fragt mich Wolfram über Dich zu schreiben, für BUKUMATULA, weil ich Dir nahe war. Ja, ich war Dir nahe – ich liebe Dich – noch immer – in Worte fassen? – Ich will an diesem späten Abend, wo ich gerade erst von der Arbeit heimgekommen bin und vernünftigerweise etwas essen sollte, eine Schachtel Pralinen nehmen („take one and get sick …“) und es versuchen.
Wer warst Du, bist Du? – für mich. Ich fühlte mich von Dir so umfassend geliebt wie von keinem anderen.
Ich fühlte mich von niemandem so zugleich in Ruhe gelassen und zutiefst berührt. Was hast Du mir gegeben? Du hast mich mir selbst zurückgegeben, Du hast mich in Deiner Gegenwart meine Fragen selbst beantworten lassen, oder mich fühlen lassen, dass sie nicht nötig waren.
Du hast mir die präzisen, einfachen, feinen Fingerzeige, Worte, „Schubser“ gegeben, die ich, einmal wahrgenommen, immer sofort begriffen und nie wieder vergessen habe …
Du hast mich, als ich mich das erste Mal vor Dir auf die Matte legte für eine „Arbeit“, wie wir das nannten, auf den Bauch geküsst. Und ich lachte – lachte, so wie nie davor in meinem Leben – ich fühlte mich erkannt in dieser simplen Art. (Für mich ist das nicht mehr „Arbeit“ – Dir sei Dank!) Ich konnte nie mehr genug haben – das in Deiner Gegenwart – und dadurch auch mehr und mehr in meinem Leben, zu spüren.
Du hast es mir einfach zurückgegeben – das, was ich schon immer wusste. „Du weißt es ganz genau“ sagtest Du – und ich wusste, ja, es ist so – und begann dem zurückzuvertrauen – was ich schon wusste, fühlte. – Wie lernte ich das „Zurückfühlen“: durch Deine einfachen, simplen Übungen. Da ist kein Hokus Pokus. „Just go with the feelings – streamings of your body – let your body talk to you.“
Ich entdeckte mit Deinem Hinweis, dass es so ist, dass mein Körper zu mir spricht – ich konnte mich in Deiner Gegenwart mehr und mehr daran gewöhnen – und es ist ein Schatz in meinem Leben geworden, der mit keinem anderen Reichtum aufgewogen werden kann.
Du hast mir meine Würde zurückgegeben. – Wie?
Du fragtest mich – und ich fühlte, dass Du interessiert warst an meiner Antwort – ganz einfach das klingt so einfach. –
Ich lernte auch in Deiner Gegenwart, dass es kein Problem ist, nicht alle Gefühle und Ansichten zu teilen – ich lernte in Deiner Gegenwart, dass es kein Problem ist, nicht immer verstanden zu werden – weil ich fühlte, dass die Liebe, der Respekt und die Offenheit dadurch nicht weniger würden.
Es war so gut, im Raum Deiner einfachen, lustvollen Liebe mich so unsicher fühlen zu lassen wie ich immer war. Du hast mir auch meine Unsicherheit geschenkt. Es gab bei Dir keine Grenzen – nicht weil sie überschritten werden konnten, sondern weil es sie nicht gab. Ich fühlte, dass ich ich bin und dass Du Du bist und wenn es Kontakt gibt, ist das wunderschön – und wenn nicht – auch gut.
Du lehrtest mich, dass ich lieben kann – ohne Eifersucht. Es war kein Problem, Deine Liebe zu teilen oder meine Liebe zu teilen: Danke dafür – ich hab es anders noch nie so erfahren. Ich liebte Deine Art, mich zu genießen – ich fühlte dabei eine vollkommene einfache Reinheit und „Unschuld“ und fühlte mich nie in Besitz genommen.
Das war einfach ein unendliches Genießen, bis es genug war – schön! – Danke dafür! Einfach, einfach, einfach!!! …
das warst Du für mich, das liebte ich an Dir – man sagt, dass ich kompliziert bin – in Deiner Gegenwart konnte ich mich einfach fühlen – und lernte mehr und mehr das einfach auch so zu sein – in allem.
Genug gesagt? – Ja, es muss nicht alles gesagt werden.
Ich liebe Dich, ich liebe das Leben, ich liebe mich, ich liebe, seit Du gegangen bist, sogar den Tod.
Danke dafür tausendmal und noch mehr. Mit Dir konnte ich leben, was ich meine, was Reich uns zeigte – ich will es einfach weiter tun …
Brigitta
24 Dez
Zurück zu Bukumatula 1998
Bukumatula 4/1998
Fortsetzung von Bukumatula 3/97
Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
Will Davis
Für die Reichsche Arbeit ist es wesentlich, wenn auch schwierig, die Beziehung zwischen dem Biologischen und dem Behavioristischen bzw. dem Physischen und dem Psychologischen zu verstehen. Die Herausforderung besteht nicht nur im Verständnis des psychosomatischen Zusammenhangs, sondern auch in der Übersetzung dieser zwei Bereiche in eine verstehbare und einheitliche Form.
Es ist Aufgabe dieses Artikels, die Beziehung – die funktionelle Identität – von biologischem Plasma und den emotionalen, physischen und psychischen Strukturen des Schizoiden herauszuarbeiten. Diese Strukturen stehen nämlich nicht nur auf der psychosomatischen Ebene miteinander in Beziehung, sondern – und das ist wesentlich – sind verschiedene Formen desselben Prozesses.
EINLEITUNG
Im ersten Teil dieses Artikels (BUKUMATULA 2/3/97) habe ich zwei miteinander verwandte Ideen aufgegriffen: dass die Entwicklung des schizoiden Charakters direkt von der plasmatischen Funktion beeinflusst wird und dass sich die plasmatische Funktion deutlich in der Form und Funktion des Bindegewebes zeigt.
Weiters habe ich die These aufgestellt, dass der schizoide Charakter eine plasmatische Kontraktion als Abwehr von Schock und Trauma einsetzt. Bis jetzt wurde das Abwehrsystem einfach als neuromuskuläre Kontraktion gesehen. Das Verständnis, welche Rolle das Bindegewebe in physischen und psychischen Abwehrsystemen spielt, erlaubt uns eine neue, bessere Differenzierung von zwei verschiedenen Formen der Abwehr:
Das Verständnis der plasmatischen Reaktion auf Stress und Trauma hilft uns auch die physisch-biologischen Grundlagen der psychischen Panzerung zu begreifen.
Im ersten Teil dieses Artikels habe ich die direkte Beziehung zwischen den biologischen Aktivitäten des Bindegewebes erklärt und aufgezeigt, dass die Dysfunktion des Bindegewebes eine psychosomatische Repräsentanz der grundlegenden Charakteristika des Schizoiden ist. Ich habe die Funktionen und Charakteristika des Bindegewebes mit dem schizoiden Zustand verglichen und aufgezeigt, dass sie voneinander abhängig sind (siehe Tafel 2 im 1. Teil).
Zum Beispiel übernimmt das Bindegewebe eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung des Organismus gegen physische Eingriffe und Störungen. Genauso kontrahiert der Schizoide auf plasmatischer Ebene, um sich zu stabilisieren und sich gegen Bedrohungen und Angriffe zu schützen. Ein anderes Beispiel wäre, dass das Bindegewebe ein Netzwerk und Informationssystem im ganzen Körper unterhält: während einer Schockreaktion setzt der Schizoide dieses Netzwerksystem ein, um ganz und einheitlich zu kontrahieren. Das ist eine „ganzkörperliche“ Reaktion. Deshalb gibt es hier keine Segmentierung.
Ich habe auch die gesunde, frei fließende Eigenschaft der Amöbe mit dem rigiden, paralysierten Zustand des Schizoiden verglichen. Auch hier werden die Unterschiede zwischen dem gesunden plasmatischen Status – der fließenden, pulsierenden Amöbe – und dem ungesunden, kontrahierten Zustand – dem rigiden, gefrorenen Schizoiden, deutlich.
Der letzte Teil dieses Artikels zeigt ein Modell von zwei grundsätzlich verschiedenen Reaktionen des Organismus auf Stress: Die erstmögliche Reaktion im Mutterleib und in der frühen Kindheit ist plasmatisch; die sich später entwickelnden Reaktionen beruhen hingegen auf dem kognitiv/neuromuskulären System. Meiner Behauptung liegt die Idee zugrunde, dass der Organismus im Mutterleib und in der frühen Kindheit sozusagen wie eine „Amöbe“ funktioniert, dem als einzige Abwehr auf Stress die plasmatische Kontraktion bleibt.
Erst später, wenn das Kind neuromuskuläre und kognitive Fähigkeiten entwickelt hat, kann es sie auch dazu einsetzen, ein Abwehrsystem aufzubauen. Je älter das Kind ist, desto weniger wird es für seinen Schutz vom plasmatischen System abhängig sein, da sich ja jetzt das kognitiv/-neuromuskuläre System entwickelt bzw. entwickelt hat.
Eine kognitiv/neuromuskuläre Reaktion auf Stress bedarf willkürlich einsetzbarer Muskeln, bedarf des Zentralen Nervensystems, eines Bewusstseins und es bedarf einer segmentalen und lokalen Reaktionsfähigkeit – z.B., dass die Schultern in Angst hochgezogen werden, die Füße aber „geerdet“ bleiben.
Die Reaktion des Schizoiden ist jedoch eine ganzkörperliche Kontraktion. Sie schließt die unwillkürliche Muskulatur und das Vegetative Nervensystem (vor allem das vegetative Nervensystem des Verdauungstraktes) mit ein, so dass z.B. die Schultern auch hochgezogen werden, die Füße aber nicht geerdet bleiben. Durch die Fähigkeit des Plasmas sich zu vernetzen, kommt es zu einer Ganzkörperkontraktion, vergleichbar der plasmatischen Kontraktion einer Amöbe, wenn sie unter Stress steht.
Im zweiten Teil behandle ich die Themen Schock und Trauma und biete ein Modell zur Entwicklung von plasmatischen und neuromuskulären Charaktertypen an. Außerdem werde ich verschiedene, speziell hierfür entwickelte Arbeitsansätze vorstellen: Körperarbeit, die insbesondere die Funktion des Bindegewebes miteinbezieht, kognitive, d.h. verbale Arbeit speziell für diesen Themenkreis, sowie die Mobilisation der Einwärtsbewegung der Pulsation auf der energetischen Ebene, dem „Instroke“.
PLASMA UND „ERNÄHRUNG“
Bevor wir die Themen Schock und Trauma behandeln, möchte ich erklären, warum ich die Funktion des Plasmas für die Entwicklung des schizoiden Charakters für so bedeutend halte. Ich werde aufzeigen, wie eine Funktionsstörung des Plasmas sich direkt auf die Entwicklung des schizoiden Prozesses auswirkt.
Im ersten Teil habe ich die speziellen Charakteristika des Plasmas erwähnt und habe in seiner Dysfunktion die Grundlage für den schizoiden Prozess erkannt. Gray´s Anatomielexikon behauptet, dass ein ganz bemerkenswertes Charakteristikum des Plasmas die Ernährung ist: nämlich seine Fähigkeit, spontan alle Stoffe für sein Wachstum und Weiterbestehen anzuziehen. Gray führt weiter aus, dass in gesundem Zustand auch „Fremdsubstanzen“, z.B. Nahrungsmittel eingeschlossen und aufgenommen werden.
Wenn wir diese rein biologische Information in Betracht ziehen, müssen wir uns fragen, was die dem Plasma eigene Fähigkeit, sich physisch zu ernähren, mit dem schizoiden Verhalten zu tun hat. Ist nicht das „Ernährtwerden“ ein zentrales Thema für diesen Charaktertyp? Ist nicht der Mangel an „Nahrung“ der Ausgangspunkt, der dem schizoiden Verhalten ganz ursprünglich zugrunde liegt?
Psychologisch gesehen würde dieser rein biologische Mangel als frühe Kontaktstörung in der Versorgung von physischer und emotionaler Unterstützung bzw. Nahrung beschrieben werden. Mangelnder Augenkontakt zwischen Eltern und Kind, unregelmäßiger, immer wieder unterbrochener Kontakt oder ein Mangel an Wärme und elterlicher Zuneigung, mangelhafte Ernährung aus Unachtsamkeit oder zu viel Spannung und Auseinandersetzungen sind die Faktoren, die Stress erzeugen und die „Ernährung“ des Kindes beeinträchtigen. Sie erzeugen sowohl physisch als auch psychisch und emotional einen unterernährten Zustand.
Das mangelnde „Bemuttertwerden“ entspricht dem klassisch psychologischen Verständnis der Entwicklung von Frühstörungen (normalerweise nicht nur auf die Mutter an sich, sondern auch auf andere Bezugspersonen, bzw. die Umgebung, bezogen). Diese Erfahrungen beschreiben das Geschehen, wenn wir den Begriff der „Frühstörung“ als den wichtigsten Faktor in der Entwicklung zu einer schizoiden Persönlichkeit verwenden. Das Thema „Nahrungsmangel“ begleitet den Schizoiden physisch und psychisch, d.h. also auch emotional, sein ganzes Leben lang.
Körperlich wirken Schizoide dünn, unterernährt, unterentwickelt und kalt. Emotional entstammen mangelnde Kontaktfähigkeit und die Probleme mit Liebe und Vertrauen direkt aus diesen frühen Entbehrungen. Sie sind in einer ewigen Spirale des „Nicht-genug-Bekommens“ gefangen; sie sind nicht fähig, von sich aus zu geben. Das hat zur Folge, dass sie nicht wissen, wie sie ihr Leben einrichten könnten, um sowohl physisch als auch psychisch genährt zu werden. Es ist ihnen nicht möglich, sich Raum und Platz in dieser Welt zu schaffen, wo sie sich geliebt, behütet und sicher fühlen können.
Das Paradoxe sowie das Problem dabei ist, dass ein gut versorgter Organismus auch gut ernährt werden kann. Ist er jedoch nicht ausreichend genährt, dann kann er auch nicht ausreichend versorgt werden. Anders ausgedrückt: Funktioniert das plasmatische System gut, dann kann auch physische und emotionale Nahrung gut aufgenommen und wieder abgegeben werden. Wenn das plasmatische System jedoch kontrahiert ist, dann wurde die Erfahrung „genährt zu werden und sich nähren zu können“ nie gemacht und daher auch nie wirklich gelernt.
Der Schizoide hat nie erfahren bzw. gelernt, physische und emotionale Nahrung (auf) zu nehmen oder zu geben. Er kann sie weder annehmen, noch anderen geben. Später überträgt sich das, was wir vorher als biologische Fähigkeit zur „Inkorporation“, Einverleibung oder Aufnahme von Nahrung besprochen haben, direkt auf zwischenmenschliche Beziehungen; z.B. die Schwierigkeit, einen Menschen mit schizoidem Charakter zu berühren, zu umsorgen und zu lieben.
Der Schizoide ist nicht in der Lage zu verdeutlichen, wer er ist, was er braucht und was er geben kann. Die sogenannten „Fremdsubstanzen“, die Nahrung, sind jetzt Liebe, Kontakt und Fürsorge. Die Tragödie ist die, dass diese „Nahrung“, die von außen, von anderen kommt, immer fremd bleibt und niemals „einverleibt“ wird – dass jemand an ihn glaubt und ihm vertraut, so dass sich der Organismus geliebt und umsorgt fühlen könnte.
Es wird buchstäblich nichts „einverleibt“. Ihre Körper wirken dünn und unterernährt. Sie sind ständig auf der Suche, weil sie nicht das bekommen, was sie brauchen. Ihre Distanziertheit und ihr arrogantes Gehabe ist Ausdruck ihrer Unfähigkeit, etwas aufzunehmen, egal was andere sagen oder tun; sie können es nicht auf- oder annehmen oder glauben, und so bleibt der Mangel an Vertrauen bestehen. Das sind nur einige der Probleme auf der Verhaltensebene, die auf mangelhafter „Nahrungsaufnahme“ beruhen, welche durch die plasmatische Kontraktion hervorgerufen wurde.
Der Organismus ist außerstande etwas „anzuziehen“, „aufzunehmen“ oder sich etwas „einzuverleiben“. Der plasmatische Zustand verhindert, dass er bekommt, was er will – sowohl auf der physischen, als auch auf der psychischen Ebene. Er ist in jeder Hinsicht unfähig zu „wachsen“.- Er kann gerade überleben. Dieser Kampf ums Überleben ist die Grundlage für die existentiellen Probleme des Schizoiden, deren Wurzeln wiederum in der mangelnden Ernährung – dem Trauma von Frühstörungen – liegen.
SCHOCK UND TRAUMA
In der Psychologie wird dieser „unterernährte“ Gesundheitszustand „Schock- oder Traumazustand“ genannt. In beiden Teilen meiner Arbeit sind die Begriffe Schock und Trauma immer wieder aufgetaucht. Obwohl es allgemein üblich ist, diese beiden Begriffe gleichbedeutend zu gebrauchen, möchte ich sie hier genauer differenzieren.
Um es vereinfacht zu sagen: Nicht jeder Schock ist traumatisierend. Wenn wir mit jemandem arbeiten, kann es vorkommen, dass so etwas wie ein Schockereignis auftaucht. Aber es ist riskant automatisch anzunehmen, dass der Klient traumatisiert oder gar geschockt ist – in dem Sinne, dass der Schock einen langzeitigen, negativen Effekt hat. Es wird wahrscheinlich sogar fruchtlos sein, an diesem „angenommenen“ Schock zu arbeiten.
Das Wort „Schock“ kommt aus dem Französischen („choquer“) und war ursprünglich der militärische Fachausdruck für eine „vehemente Attacke“. Das Geschehen findet plötzlich und ansatzlos statt und ist von kurzer Dauer. Wiewohl es ein äußeres Ereignis ist, produziert es „innerlich eine Störung der Stabilität und der Beständigkeit“.
Der Grundgedanke ist, einen Feind durch eine plötzliche, unerwartete Attacke zu „schockieren“ und dann Vorteile durch die „innere Verstörung“ – den Schock -, die kurzfristig durch die Attacke geschaffen wurde, zu gewinnen. Interessant dabei ist, dass die Aktion, die der Attacke folgt, das ist, was bleibende Wirkung hat. Was nach dem Schock kommt, ist der bestimmende Faktor dafür, ob das Ereignis auch eine langdauernde Auswirkung hat.
Ich würde langzeitige und negative Nacheffekte eines Schocks als „Trauma“ bezeichnen.- Biologisch gesehen ist Trauma chronisch kontrahiertes Plasma.
„Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. Es ist die Reaktion auf ein früheres, äußeres Ereignis (z.B. auf einen Schock). Die Psychiatrie hat ihr Verständnis von „Trauma“ über die Jahre hinweg neu definiert. Es hat sich von einem zuerst formulierten Aufbranden von Angst anlässlich eines äußeren Ereignisses zu einem Aufbranden von Angst anlässlich eines inneren Ereignisses entwickelt.
Im Laufe der Zeit und durch neue Erkenntnisse wurde die Definition weiter gefasst und wurde als spätere Reaktion zu einem früheren Ereignis verstanden. Schließlich wurde die Definition so gefasst, dass es zu einer Anhäufung von Ereignissen kommt, die das Individuum zwar nicht überwältigten, sich aber auf den Organismus insgesamt negativ auswirken.
Ich glaube, dass ein Trauma schlussendlich folgendes ist: Stress, der über etliche Zeit hinweg zunimmt, bis zu dem Punkt, wo der Organismus in traumatisierter Art antwortet. Der Organismus leidet unter einer ständigen „Verwundung“. Biologisch ausgedrückt verwandelt sich die Verwundung zu chronisch kontrahiertem Plasma.
Die „Urknalltheorie“ der traditionellen Psychologie beharrt darauf, dass das Trauma von einem bestimmten Ereignis ausgelöst wurde, und es wird an den Klienten appelliert, dieses Problem zu bearbeiten. Aber der Wert dieser Theorie ist meines Erachtens nach fragwürdig. Ein Beispiel: Eine Person kann in dem Sinn überreagieren, wie „ein Tropfen das Fass zum überlaufen bringt“, z.B. ein Amokläufer, der wahllos auf Leute schießt, weil er einen Strafzettel für Falschparken erhalten hat.
Man geht nicht hinaus und erschießt Leute, weil man einen Strafzettel für Falschparken erhalten hat. Hier sind andere Faktoren involviert. Wenn es etwas gibt, das den Organismus scheinbar traumatisiert hat, ist es wichtig funktionell abzuschätzen, ob dieses spezielle Ereignis das Verhalten geprägt hat, oder ob es nicht vielleicht eine Anhäufung von verschiedenen Erlebnissen über eine gewisse Zeitspanne hinweg war.
Nur ganz selten wird ein Organismus von einem einzigen Ereignis geschockt und traumatisiert. Normalerweise entsteht die Traumatisierung dadurch, dass das System durch Stress über eine Zeit lang so „geschwächt“ wird, dass in einer bestimmten Situation eine „Überreaktion“ erfolgt.
Akuter Schock, Chronischer Schock und Trauma
Wie schon erwähnt, ist ein Schock normalerweise von kurzer Dauer. Der Organismus kann geschockt werden und sich dann schnell wieder erholen. Das ist eine gesunde Reaktion. Ich möchte sogar noch weiter gehen und behaupten, dass ein gesunder Organismus zur Kontraktion bei einem Schockerlebnis fähig sein muss, um als gesund zu gelten. Der Organismus sollte imstande sein, Schock zu erfahren, zu überstehen und wieder zu einem inneren Gleichgewicht finden zu können. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts nach einer Schockerfahrung zeigt sich im Muskelsystem, im sympathischen und parasympathischen Funktionieren und im Plasma.
Aus dieser Unterscheidung ergeben sich nun zwei verschiedene Schockzustände: Der erste ist ein akuter Schock, der eine plötzliche und in erster Linie muskuläre Kontraktion auslöst, die auch mit einer Kontraktion des Plasmas einhergeht. Beides wird sich schnell wieder erholen, wenn der Organismus vor dem Schockerlebnis relativ gut funktioniert hat und der Schock nicht zu dramatisch war. Der zweite Schockzustand hingegen ist eine chronische plasmatische Kontraktion, die den Schock sozusagen „nicht mehr frei gibt“. Diese Kontraktion führt zum ständigen „Festhalten“, im Sinne der Muskelpanzerung, so wie wir sie vom klassischen Reichschen Konzept her kennen.
Die Muskeln allein können aber eine Kontraktion nicht über Jahre hinweg aufrechterhalten. Ein langzeitiges Festhalten oder Blockieren wird nur dann möglich, wenn sich ein fibröses Unterstützungssystem aus dem kontrahierten Plasma entwickelt. Die Belastung des Plasmas aktiviert das Bindegewebe, das weitere Fasern in und um das Muskelgewebe entwickelt, um das „Festhalten“ zu unterstützen.
Die muskuläre Reaktion ist ein spontaner Reflex zur Panzerung, der sich von der chronischen Panzerung des Bindegewebes unterscheidet: die Muskeln haben die Fähigkeit schnell kontrahieren zu können und schnell wieder nachlassen zu können. Das Bindegewebe hingegen antwortet auf Stress langsamer. Es braucht Zeit, sowohl bei Anspannung zusätzliche Fasern aufzubauen, als auch diese bei Entspannung wieder abzubauen. Dieser Mechanismus erklärt beides: sowohl die langzeitige Entwicklung von anhaltendem Stress als auch den Grund, den Grund, warum der Organismus einige Zeit braucht, um sich in einen gesunden Zustand zurückverwandeln zu können, sobald die Spannung nachlässt oder wegfällt.
Ich behaupte also, dass es nicht zu einem anhaltenden Schock und sicherlich zu keinem Trauma kommen wird, wenn es nicht auch zu einer chronischen plasmatischen Kontraktion und einem daraus resultierenden fibrösen Aufbau kommt. Muskuläre und plasmatische Kontraktion sind bei einem Schock normal. Also wird sich beides in einem gesunden Organismus wieder auflösen. Ein Trauma entspricht jedoch einer chronischen Kontraktion.
Beispiele für Schock und Trauma
In einer Schocksituation mag das plötzliche Ereignis traumatisierend erscheinen. In begrenztem Maße ist es das auch. Aber ein einzelnes Ereignis ist nur dann traumatisierend, wenn der Organismus schon durch vorangegangenen Stress geschwächt ist. Ein gesunder Organismus könnte dasselbe Ereignis erfahren, sich im Schock kontrahieren, sich dann aber wieder entspannen und davon befreit sein.
In dem im ersten Teil dieses Artikels angeführten Beispiel eines schizoiden Klienten sprachen wir über dessen Frühstörung durch die Trennung des Säuglings von der Mutter. Ich möchte jetzt gerne verschiedene Interpretationen dieses Ereignisses darstellen, um zu zeigen, dass die Trennung von der Mutter nicht unbedingt das eigentlich traumatisierende Ereignis war.
Eine Möglichkeit ist die, dass sich das Trauma aus einer Reihe von Stresserlebnissen im Mutterleib entwickelt hat, also schon vor der Geburt und der anschließenden Trennung bestand. Die Lebenslage und Lebensumstände der Mutter hätten für das ungeborene Kind so zerstörerisch sein können, dass es schon vor der Geburt traumatisiert war.
Oder: das Trauma könnte auch durch Geschehnisse ausgelöst worden sein, die nach der Trennung passiert sind. Die Art und Weise, wie mit der Trennung umgegangen wurde, ist dann bestimmend dafür, ob der akute Trennungsschock chronisch wird und letztendlich den Organismus traumatisiert. Für die Arbeit mit unserem Klienten, dessen Mutter bei der Geburt „verrückt“ wurde und der eine Zeit lang bei einer Tante Aufnahme fand, ergeben sich also einige Fragen: Wie etwa kann das Befinden im Leib einer Mutter sein, die „verrückt“ wurde, als das Kind zur Welt kam? Von diesem Blickwinkel aus könnten wir behaupten, dass der Klient schon vor der Trennung traumatisiert war.
Es ist möglich, dass die Trennung – außer für einen „falschen“ Grund – keine Auswirkung hatte. Es ist der „falsche“ Grund, weil die vorher schon bestehende plasmatische Kontraktion zeigt, dass der Organismus bereits traumatisiert war. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass ein potentielles Schockerlebnis den Organismus unter Umständen überhaupt nicht in Mitleidenschaft ziehen muss. Das Neugeborene ist sozusagen bereits zu gepanzert, um die Auswirkungen der Trennung spüren zu können.
In diesem Beispiel widersteht der Säugling erfolgreich der Gefahr, die die Trennung bedeutet, aber unglücklicherweise „widersteht“ er auch beharrlich den „nährenden“ Dingen, die ihm entgegengebracht werden könnten. Die Trennung hätte ihn dann nicht traumatisiert. Wäre er von einer liebevollen Tante aufgenommen worden, hätte es auch passieren können, dass er ihre Fürsorge und anderes „Nährendes“ nicht aufnehmen hätte können. Das ist ein Beispiel dafür, dass ihn die Trennung nicht „geschockt“ hat, weil dem ein früheres Trauma zugrunde liegt.
Wir könnten auch fragen, welche Art des Bemutterns er nach seiner Geburt von einer Frau erhalten hat, die zum Zeitpunkt der Geburt „verrückt“ wurde. In diesem Fall könnten wir verschiedene Gründe dafür anführen, dass es nicht die Trennung selbst war, die sein Problem ausgelöst hat, sondern die Tatsache, dass er von einer verrückten Mutter aufgezogen wurde. Wäre unser Klient weniger „schizoid“, wenn er länger bei seiner Tante geblieben wäre, anstatt zu seiner Mutter nach ihrer „verrückten“ Phase zurückzukehren?
Es sieht so aus, als ob die Trennung das schockierende Ereignis sein könnte, aber in Wirklichkeit ist das Traumatisierende oft das, was dem Schockerlebnis folgt. So wie in einer Militäroperation hat der Schock nur dann eine anhaltende Wirkung, wenn es auch zu einer Nachfolgeaktion kommt, also das „System“ noch aus dem Gleichgewicht geworfen und innerlich gestört ist.
Dasselbe trifft für die Traumatisierung eines Kleinkindes zu. Welche Art der Fürsorge erwartete unseren Klienten zu Hause nach der Trennung? Waren die Verhältnisse nun unterstützend und nährend oder gab es eine Erweiterung und Fortsetzung für den ursprünglichen Grund der Trennung? Zu dieser Tragödie käme noch hinzu, dass das Kind die „Ernährung“ nicht mehr hätte aufnehmen können, auch wenn die Mutter heimgekommen wäre und es ihr möglich gewesen wäre, liebevoll und fürsorglich zu sein.
Eine erste Interpretation wäre also die, dass das Kind nicht erst durch die Trennung, sondern schon vorher traumatisiert wurde und in einem gewissen Sinn nichts mehr „spüren“ konnte. Das heißt, dass es zu keinem Schockerlebnis kam, weil es schon ein früheres Trauma gab. Eine andere wäre die, dass es nicht die Trennung selbst war, die das Trauma verursacht hat, sondern das, was nach der Trennung geschah. Das wäre eine Traumatisierung nach dem Schock. Ein Schock, der nicht aufgelöst wurde.
Eine dritte Möglichkeit ist die, dass der Organismus traumatisiert wurde, gerade weil es ein früheres Schockerlebnis gab. In diesem Beispiel überlädt vorangegangener Stress den Organismus, so dass das nächste stressende Ereignis dazu führen könnte, dass „ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt“ und der Organismus traumatisiert wird. Wenn der erwähnte Klient durch schlechte Bedingungen im Mutterleib gestresst wurde, dann könnte er leicht durch die Trennung von der Mutter traumatisiert worden sein, weil sein Abwehrsystem durch die ungünstigen Bedingungen im Mutterleib geschwächt wurde. Hier wird der bereits geschwächte Organismus durch die Trennung geschockt – und bleibt geschockt, traumatisiert.
In diesen Beispielen wird ein Paradoxon deutlich: Einmal verursacht die Kontraktion eine Art von Stärke, die ein nächstes Schockerlebnis überwinden hilft, während in einer anderen Situation die Kontraktion den Organismus schwächt und ihn so noch empfindlicher macht.
Zum Überblick können wir folgende Schlüsse ziehen: Der Schock ist eine plötzliche, von außen verursachte Störung des Gleichgewichts des Organismus, die mit einer Kontraktion einhergeht. Muskulatur und Plasma werden kontrahiert. Im Idealfall kehrt die natürliche Spannung zurück, wenn das Schockereignis vorbei ist. Aber Stress kann so lange akkumuliert werden, bis der Organismus permanent davon überflutet ist – das bezeichnen wir als „traumatisiert“.
Ein Trauma ist die „Langzeitreaktion“ auf Stresssituationen. Ein Trauma ist der psychisch/emotionale Ausdruck der plasmatischen Kontraktion, die vom fibrösen Aufbau des Bindegewebes abhängt. Wir können akuten Schock erleben, der sich auflöst und akuten Schock, der chronisch wird. Wenn er sich nicht auflöst, kommt es zum Trauma.
Warum sollte sich der eine Schock auflösen und der andere nicht? Wir werden dieses Thema anschließend in unserem „Entwicklungsmodell“ behandeln. Jetzt schon können wir aber vorwegnehmen, dass ein Grund dafür im Zustand des Plasmas vor dem Stressereignis liegt. Die Funktion oder Dysfunktion des Plasmazustands bestimmt die Auswirkungen von Stress. Dabei gibt es drei mögliche Reaktionen:
Entwicklungsmodell
Das Entwicklungsmodell entstammt einer Diskussion über jene Faktoren, die für die Entstehung des schizoiden Zustandes, sowie für die komplexen Wechselwirkungen verantwortlich sind.
Entwicklungsfaktoren
Drei Hauptfaktoren wirken bei Schock und Traumatisierung: Physische Erbfaktoren, Zeitpunkt des Ereignisses und die Intensität des Erlebens. Das kann einfach festgestellt werden, aber die Interaktion zwischen diesen drei Faktoren verkomplizieren die Fragestellungen zur Entwicklungsgeschichte immens.
Um zum Beispiel die Intensität eines Ereignisses bewerten zu können, müssen wir den Zeitpunkt des Geschehens kennen. Dies ist normalerweise der am leichtesten zu bestimmende Faktor. Je früher der Stress einwirkt, um so stärker wirkt er traumatisch. Wir müssen in unseren Überlegungen auch die Erbfaktoren bedenken, obwohl wir heute noch wenig darüber wissen. Außerdem müssen wir etwas über den Zustand des Organismus wissen, bevor das, bzw. die Ereignisse einsetzen und ebenso etwas darüber, was danach passiert.
Wie wir schon erwähnt haben, muss ein Ereignis den Organismus nicht unbedingt schockieren, wenn der plasmatische Zustand gut, d.h. gesund ist. Wenn jedoch ein Ereignis auf einen, aus früheren Lebenserfahrungen gestressten Organismus einwirkt, hat das Ereignis eine scheinbar stärkere Intensität. Es ist schwierig, die Intensität genau zu beurteilen.
Außer dem Zeitpunkt des Ereignisses und dem Zustand des Plasmas, hängt die Verarbeitung der Erfahrung davon ab, was unmittelbar nach dem schockierenden Erlebnis passiert. Üblicherweise sind hier die Eltern involviert. Die Art und Weise, wie sie mit der Situation umgehen, hat für das Kind eine Langzeitwirkung. Es wird kompliziert, wenn, wie häufig, die Eltern selbst die Auslöser der negativen Erfahrung sind. Sie befinden sich dann in einer Doppelrolle: einerseits sind sie die Verursacher und andererseits die potentiellen „Wiedergutmacher“ des Problems.
Als Ergebnis interagiert eine Konstellation von Faktoren unterschiedlicher Kombinationen, die ganz verschiedene Reaktionen des Organismus hervorbringen. So wird verständlich, dass es normalerweise nicht das historische Ereignis selbst ist, das von Bedeutung ist. Es mag immer noch wichtig sein, mit dem auftauchenden Ereignis, das die Ursache des Problems zu sein scheint, zu arbeiten. Aber es muss nicht unbedingt im klassischen Sinn durchgearbeitet werden. Nun können wir das Ereignis in einen sinnvolleren und dynamischeren Zusammenhang stellen, der uns eine tiefere Einsicht – sowohl in den Ursprung als auch für die Bearbeitung des Problems, gibt.
Der plasmatische Charakter
Wie schon angedeutet, bestimmt die Kombination dieser verschiedenen Faktoren darüber, ob die Charakterentwicklung auf einer plasmatischen oder einer neuromuskulären Reaktion beruht. Um die Unterschiede aufzuzeigen, werden wir die Entwicklungsgeschichte der zwei Haupttypen darstellen: Der plasmatische Typ (primär und sekundär schizoid) und der kognitiv/neuromuskuläre Typ. Bezeichnenderweise sind reine Charaktertypen selten. Die meisten Menschen sind Mischungen dieser zwei Entwicklungsmöglichkeiten.
Der rein plasmatische Charaktertyp entspricht dem schizoiden Zustand. Der Organismus zeigt eine Geschichte früher Störungen, die permanent im Plasma in Form einer organismischen Kontraktion verankert ist. Die organismische Abwehr basiert in erster Linie auf dieser Kontraktion. Mit dem frühen Einbruch eines schockierenden Ereignisses, welches nicht aufgelöst werden kann, bleibt der Organismus traumatisiert. Der Organismus hat sich in der ihm einzig möglichen Art verteidigt – mit einer plasmatischen Ganzkörperkontraktion, die chronisch wird.
Die erste – und in diesem frühen Alter einzige Abwehrmöglichkeit besteht im plasmatischen Rückzug von der Körperperipherie ins Zentrum. Der Organismus hat Angst oder sogar Terror erfahren. Die Kontraktion hält diese Emotionen zurück, damit die Erfahrung abnehmen und nachlassen kann.
In diesem frühen Entwicklungsstadium kann das Kind nicht davonlaufen. Es kann nicht einmal erkennen, geschweige denn kognitiv verarbeiten, was ihm widerfahren ist.
Es kann das Geschehene weder konzeptionalisieren noch rationalisieren. Es kann seine Muskulatur noch nicht in einer organisierten Art bewegen, wie es zum Zurückschlagen oder Fortlaufen notwendig wäre, um sich zu schützen. Es kann extreme „Unlust“ empfinden, aber dies ist weder dasselbe noch so effektiv wie eine aggressive Reaktion – etwa einen Gegenangriff zu starten. Es hat also keine andere Verarbeitungs- oder Verteidigungs- bzw. Abwehrmöglichkeit, als die plasmatische Kontraktion.
Die kognitiv neuromuskuläre Struktur
Wenn das Kind älter wird, verliert die plasmatische Reaktion an Bedeutung, da sich nun das neuromuskuläre und kognitive System entwickelt. Mit der konstanten Entwicklung beider Systeme hat das Kind nun eine größere Auswahl und mehr Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung – nicht nur für seine Entwicklung, sondern auch für seine Verteidigung (siehe Diagramm 1).
Allgemein kann man sagen, dass sich der Schizoide in der Zeit zwischen der Empfängnis und dem zweitem Lebensjahr entwickelt. Nach dem zweiten Lebensjahr gewinnt das kognitiv/neuromuskuläre System an Bedeutung, und wir können dann Kombinationen von plasmatischem und kognitiv/neuromuskulärem Zusammenspiel beobachten. Nach dem sechsten Lebensjahr überwiegt normalerweise die kognitiv/-neuromuskuläre Struktur.
Nichtsdestotrotz sollten wir vorsichtig sein, solch eindeutige Feststellungen zu treffen. Wie schon erwähnt, gibt es viele sich gegenseitig beeinflussende Faktoren, die Stress, Trauma und die sich daraus ergebende Entwicklung des Organismus bestimmen. Die Intensität eines Ereignisses ist ein relativer Begriff und kann aus unterschiedlichen Gründen verschiedene Auswirkungen haben.
Zwei Dinge sind für ein Kind in seiner Fähigkeit – sowohl in einer gesunden, als auch in einer blockierten Art, sich zu verteidigen, wichtig: Erstens das „Gehenlernen“ und zweitens die Entwicklung einer durchsetzungskräftigen Aggression. Sie sind funktional identisch und sind im physischen, kognitiven und emotionalen Bereich verkörpert.
Das Gehenlernen ist der Beginn eines Differenzierungsstadiums. Es symbolisiert den Anfang der Beherrschung der Koordination des kognitiv-neuromuskulären Systems.
Es vermittelt Selbstgefühl, Stärke und Vertrauen in die eigene Kraft. Es die Fähigkeit sich physisch „hinauszubewegen“, die Umwelt zu beeinflussen und die Möglichkeit sich willentlich von gefährlichen Situationen zu entfernen. Das Gehen lernen gibt Kontrolle und Sicherheit. Gleichzeitig entwickelt der Organismus kognitive Fähigkeiten. Das Bewusstsein erweitert sich, sobald das Kind mehr und mehr bemerkt, dass die Welt in einer größeren Distanz zu ihm steht. Nun gibt es die Möglichkeit sich auf etwas hinzuzubewegen und es zu verändern. Es entwickelt ein Gespür für Stärke und Unabhängigkeit.
Auf der emotionalen Ebene stellt sich derselbe Entwicklungsprozess als durchsetzungskräftige Aggression dar (zu lat. aggredi „auf etwas zugehen“). Wie wichtig es ist zu lernen, wie man seinen Ärger auf ein Objekt richtet, kann nicht genug betont werden. Es handelt sich dabei um das emotionale Äquivalent zum physischen Angreifen oder Flüchten, bzw. dem kognitiven Äquivalent etwas zu verstehen – zu begreifen.
All diese Phänomene sind in einer geschlossenen organismischen Reaktion organisiert, wenn sich das Kind in Gefahr, z.B. sich angegriffen fühlt. Um sich zu schützen, kann es weglaufen oder angreifen. Es kann die Gefahr sehen. Visuell, im Sinn von vorhersehen und sich darauf vorbereiten. Es kann feindselig werden. Es kann streiten, um sich zu durchzusetzen. Die zunehmenden Kräfte können auf ein Objekt gerichtet und kontrolliert werden oder im eigenen Dienste genutzt werden, um ein unerwünschtes Geschehen zu verhindern. (Versuchen Sie ein zweijähriges Kind gegen seinen Willen in einen Kindersitz zu setzen!)
Hier beginnt sich das Abwehrsystem von der automatischen vegetativ-plasmatischen Reaktion in Richtung des wachsenden kognitiv/neuromuskulären Systems, das vom Zentralen Nervensystem gesteuert wird, zu verschieben.
Der Zeitpunkt dieser Akzentverschiebung bedeutet auch eine Änderung der ursprünglichen Instroke-Orientierung in eine Outstroke-Orientierung.
Es würde an dieser Stelle zu weit gehen, diesen Schritt ganz beschreiben zu wollen, aber ich möchte es trotzdem erwähnen: Von der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, wo das Kind in der Lage ist, die oben beschriebenen Aufgaben zu beherrschen, liegt die organismische Gesamtpulsation immer noch mit ihrem Schwerpunkt auf dem „Instroke“ – der Sammlungsphase, die einen organismischen Organisationsprozess repräsentiert. In einer sogenannten „Übergangszeit“ wird der „Outstroke“ langsam wichtiger und zeigt sich im Gehenlernen, indem es eine größere Anzahl von Objekten in seiner Umgebung bemerkt, etc. All diese Aktivitäten sind Entwicklungsmerkmale des Outstrokes.
In der Spätadoleszenz und im frühen Erwachsenenalter erreicht dieser seinen Höhepunkt. Der Übergang von der Instroke- zur Outstroke-Dominanz ist gleitend; gleichzeitig kommt es zu einer Verschiebung von einem vorwiegend plasmatischen zu einem vorwiegend kognitiv/neuromuskulären Reaktionsmuster. (Anm.: „kognitiv/neuromuskulär“ wird nachfolgend tlw. als „k/nm“ bezeichnet.) Es ist eine unaufhaltsame Bewegung in Richtung k/nm-Gebrauch, als eine wichtige Kontakt- und Kontrollmöglichkeit sowie der Vermittlungsmöglichkeit des Kindes zwischen sich und der Welt. Wenn vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr die Entwicklung gut läuft, wird das Kind plasmatische und k/nm Reaktionen zu gleichen Teilen einsetzen.
Jetzt übernimmt die plasmatische Reaktion die Rolle eines Hilfssystems für den Fall, dass das k/nm Verteidigungssystem zusammenbricht. Die erste Möglichkeit zur Verteidigung ist in diesem Stadium die Entwicklung des k/nm Systems, das in der Entstehungszeit aber oft unangemessen ist und noch leicht durch die „Abenteuer des Lebens“ überwältigt werden kann. Das Kind wird dann wieder plasmatisch reagieren. Z.B. versucht das Kind ein „großer Junge“ zu sein, und das mag auch schon bis zu einem gewissen Grad funktionieren. Wenn aber sein k/nm System überwältigt wird, fühlt es sich bedroht und kann plötzlich in ein „Baby“-Verhalten zurückfallen. Es gibt seine neu entdeckte „Männlichkeit“ auf und läuft zu seiner Mutter, um sich trösten zu lassen.
Sobald das k/nm System gut entwickelt ist, wird es, entsprechend den Möglichkeiten die dem Kind vermittelt wurden, dominieren. Die Entwicklung eines stabilen k/nm Systems ist von der früher stattfindenden Entwicklung des plasmatischen Systems abhängig. Der Gesundheitszustand bzw. die Schwere der Störung, die dem plasmatischen System zugefügt wurde, wird direkt in der Entwicklung des k/nm Systems widergespiegelt. Wenn das plasmatische System relativ gesund und ungestört geblieben ist, hat das k/nm System eine solide Basis, um sich gut entwickeln zu können. Wenn das plasmatische System jedoch traumatisiert wurde, dann ist jede weitere Entwicklung ernsthaft behindert.
So ist erklärbar, warum klassische Schizoide so „dünn“ sind. Es gab keine Möglichkeit dafür, dass sich die Muskulatur gut entwickelt. Das plasmatische System kontrahiert zum Zentrum hin. Periphere Entwicklung, wie z.B. eine gute Ausbildung des Muskelgewebes findet wegen der starken Kern-Kontraktion nicht statt. Es gibt keinen nach außen gerichteten Energiefluss, der die Muskelentwicklung fördert. Das gleiche gilt emotional. Es gibt kein anhaltendes Strömen vom Herzen weg in Richtung des geliebten Objektes.
In Fortsetzung der Entwicklung wird ab dem sechsten Lebensjahr das k/nm System beständig dominieren, wenn das plasmatische System nicht gestört wurde. Ist das k/nm System erst einmal gut etabliert, übernimmt es vorrangig den Schutz für den Organismus. Das Kind ist nun in der Lage, Angriffe abzuwehren und Stresssituationen zu verarbeiten, indem es auf das später entwickelte System zurückgreift, um sich gegen tiefgehende Verletzungen auf der plasmatischen Ebene zu schützen.
Die Vorherrschaft des k/nm Systems zur Verteidigung entspricht dem klassischen Reichianischen Konzept des Muskelpanzers. Aus diesem Prozess heraus entwickeln sich andere Charakterstrukturen, die zunehmend mehr kognitiv-neuromuskulär funktionieren.
Das folgende Diagramm zeigt die abnehmende Bedeutung des plasmatischen Systems, sobald das kognitiv-neuromuskuläre System zu überwiegen beginnt. Die gestrichelte Linie stellt den plasmatischen Prozess und die durchgehende Linie den kognitiv/neuromuskulären Prozess dar. Es verdeutlicht den gleitenden Übergang von einem plasmatischen zu einem neuromuskulären Funktionieren.
Dieses Diagramm zeigt, dass ein „echter“ schizoider Prozess durch eine Frühstörung verursacht wird, die sich biologisch in einer systematischen Störung der plasmatischen Funktion zeigt. Mit diesem Schema können Frühstörungen bis zum sechsten Lebensjahr charakterisiert werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz.
Fortstetzung in Bukumatula 5/98
24 Dez
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Bukumatula 4/1998
Fortsetzung von Bukumatula 4/98
Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
Will Davis
Der primär und der sekundär schizoide Charakter – zwei plasmatische Typen
Von der Geburt an bis zum fünften oder sechsten Lebensjahr ist das sich entwickelnde neuromuskuläre System instabil und die plasmatische Reaktion immer noch bestimmend. Solange das neuromuskuläre System nicht stark genug ist, Stresssituationen alleine zu bewältigen, kontrahiert der Organismus plasmatisch. Das erste Abwehrsystem, das kognitiv/neuromuskuläre, wird so geschwächt, dass das zweite, das plasmatische Abwehrsystem benötigt wird, um den Angriff abzuwehren.
Deshalb ist es möglich, dass ein schizoider Charakter während dieser Zeit eine plasmatisch-/kognitiv-neuromuskuläre Mischstruktur entwickelt. In diesem Fall bezeichnen wir den Charakter als „sekundär schizoid“ (im Gegensatz zum primär schizoiden Charaktertyp, der noch mehr von der plasmatischen Kontraktion abhängig ist). Abhängig davon, wie man orale-, narzisstische-, Borderline- und symbiotische Strukturen definiert, können diese Charakterstrukturen der sekundär schizoiden Kategorie zugeordnet werden.
Üblicherweise arbeiten beide Systeme zusammen. Hierbei entsteht eine Mischung, in der das plasmatische System überwiegt – dies wird als sekundär schizoider Prozess bezeichnet. Wird der Organismus z.B. durch einen Angriff gestresst, dann könnte das kognitiv/neuromuskuläre System völlig zusammenbrechen und das plasmatische System kontrahiert bleiben. Im wesentlichen handelt es sich dann um ein primäres schizoides Funktionieren.
Nachfolgend möchte ich einige Unterschiede zwischen dem primär und dem sekundär schizoiden Charakter anführen:
1) Primär schizoider Charakter: Die Störung fand sehr früh statt und war schwerwiegend. Er entsteht dann, wenn das plasmatische System das einzig zur Verfügung stehende Abwehrsystem ist. Emotional bewegt er sich mehr am Rande der Angst. Er lebt näher am existentiellen Terror der in ihm wohnt, und die Möglichkeit, dass dieser auch bei geringster Provokation ausbrechen kann, ist groß. Dementsprechend reagiert er auf eine empfundene Bedrohung mit Angst. Er ist nicht imstande sich durch gesunde Aggression zu verteidigen. Der Versuch, Ärger auszudrücken, endet in einem Gefühl der Ohnmacht.
Er ist physisch und psychisch fragil. Physisch ist dieser Mensch dünner, kleiner und weniger in seinem Körper geerdet. Mystizismus und Erfahrungen „außerhalb des Körpers“ sind unter diesen Strukturen verbreitet. Dies ist leicht verständlich: es ist nicht angenehm in so einem Körper zu „wohnen“.
2) Sekundär schizoider Charakter: Er lebt in großer Angst, an die er sich aber durch die emotionale und physische Entwicklung, die auf der kognitiv/neuromuskulären Ebene stattgefunden hat, einigermaßen anpassen kann. Dies ist ein Schizoider, dem Aggressionen zur Verfügung stehen. Wie auch der primär Schizoide, weiß er, dass ihm etwas Schreckliches widerfahren ist, aber die Fähigkeit, sich darüber auch zu ärgern unterscheidet ihn von ersterem. Das ist eine Entwicklungsgeschichte, die wir erst Jahre später sehen, weil die Ereignisse zu einem Zeitpunkt stattfanden, als er schon zum Ausdruck von Ärger als Selbstschutz fähig war. Wenn er, was oft vorkommt, eine Bedrohung erfährt, wehrt er sie mit kaltem und scharfem Ärger ab. Er hat einen beißenden und sarkastischen Humor. Es steht ihm eine besser entwickelte Muskelmasse zur Verfügung, womit er Angriffe von außen sowie die innere Erfahrung aufkommender Emotionen – vor allem Angst – besser als der primär schizoide Charakter bewältigen kann. Dieses mehr an physischer Masse gibt dem Körper ein Gefühl von Stärke und Sicherheit.- Er ist besser in seinem Körper „verankert“.
Die Empfindungen werden im wahrsten Sinne des Wortes durch den längeren Weg durch das Gewebe, verlangsamt. Aufgrund der Muskelmasse trifft ein Angriff nicht direkt das „Innerste“. Es gibt mehr Raum zwischen der Peripherie und dem „Core“. Wenn Angst aufkommt, wird sie von der Muskelmasse verlangsamt und kontrolliert.
Weil der primär Schizoide so „dünn“ ist, gibt es praktisch keinen „inneren Boden“. Die Peripherie – die äußere Grenze seines physischen und psychischen Seins – befindet sich direkt an seinem Core. Es gibt keine Masse und keinen Raum zwischen dem Core und der Peripherie, um Eindringendes zu filtern. Deshalb wird alles, was von außen mit der Peripherie in Berührung kommt, sofort das Innerste treffen. Das ist die physische Grundlage für seine Probleme mit Vertrauen und/oder Übergriffen. Es erklärt, warum er so verletzbar in dieser Welt lebt.
Auf der rein physischen Ebene erlebt der muskulär entwickelte sekundär schizoide Charaktertyp anderes. Er kann das von außen auf ihn Zukommende und die von innen aufkommenden Gefühle besser kontrollieren.
Dies gilt selbstverständlich auch für alle anderen kognitiven und psychischen Strukturen, die zumindest einiges an sekundärer Struktur aufbauen konnten. Wenn ein Kind z.B. lernt sich daran zu erinnern was geschieht, wenn der Vater betrunken nach Hause kommt, kann es sich darauf vorbereiten. Das Verhalten des Vaters wird das Kind immer noch überwältigen, aber um einiges langsamer. Das Geschehen wird besser verarbeitet und weniger schockieren. Das Kind empfindet sich im Recht, auch wenn es den Kampf mit dem Vater verliert, und es kann sich denken, dass es das nächste Mal vielleicht anders sein wird.
Wir können nun von drei Möglichkeiten der Charakterentwicklung sprechen: von einem vorwiegend plasmatischen Panzerungssystem, von einem vorwiegend kognitiv/neuromuskulären Panzerungssystem und einer Mischung aus beiden.
Entwicklung bei Spättrauma
Welchen anhaltenden Effekt kann ein schockierendes Ereignis haben, wenn es in späteren Jahren eintrifft? Obwohl es selten vorkommt, ist es doch möglich, dass sich ein schizoider Zustand erst in einem späteren Lebensabschnitt einstellt. Nur weil schizoides Verhalten sporadisch auftaucht, heißt dies nicht unbedingt, dass es sich auch um eine schizoide Charakterstruktur handelt. Es gibt einen Unterschied zwischen schizoidem Verhalten und schizoidem Charakter.
1) Die einfachste Erklärung für das späte Auftreten schizoiden Verhaltens ist die, dass es immer schon bestand, aber aufgrund von Kompensation und angepasstem Verhalten nicht erkennbar war. Es war gut verdeckt. Hier würde man ein spezifisches Ereignis, das den Organismus im Erwachsenenalter traumatisiert, leicht mißinterpretieren. Der schizoide Charakter hat sich nicht erst an diesem Punkt entwickelt, sondern erst ein schockierendes Ereignis bringt ihn zum Vorschein.
Ein Mensch lebt zum Beispiel einen Lebensstil, der schizoide Charakteristika vermeidet oder sogar belohnt. Alle Voraussetzungen, inklusive dem kontrahierten plasmatischen Zustand sind gegeben, aber er ist gut angepasst. Wenn sich dieser Lebensstil ändert, wird sein Verhalten in einem anderen Licht gesehen und erfahren. Models, Athleten oder Schauspieler könnte man als gut angepasste Schizoide bezeichnen. Ihr Erfolg ist von ihrer Jugend abhängig, und sie geraten in großen Stress, wenn sie älter werden. Worüber man in der einen Lebensphase hinweggesehen hat und sogar dazu ermuntert wurde, wird in einer späteren gänzlich unpassend.
2) Eine zweite mögliche Erklärung ist die, dass der Organismus in einem späteren Lebensabschnitt traumatisiert wird und das schizoide Verhalten nur in bestimmten Lebensbereichen, wie in der Arbeit, der Sexualität, etc., auftaucht. Dies muss sorgfältig beurteilt werden, da es nicht unbedingt Ausdruck einer schizoiden Haltung sein muss, sondern als ein ganz spezifisches Verhalten gesehen werden kann. Es gibt Situationen, in denen jeder „schizoid“ reagieren kann.
Wir wissen, dass eine wirklich schizoide Reaktion generell eine Ganzkörperkontraktion zur Folge hat. In diesem Fall kommt es aber zu einer lokalen Reaktion, die auf ein Körpersegment begrenzt ist – vergleichbar mit einem „Segment des Lebens“, wie z.B. in Beziehungen zum anderen Geschlecht. Ein Beispiel: Ein Klient erlebte in seiner Adoleszenz ein schockierendes Ereignis, das aber keine ganzkörperliche Kontraktion zur Folge hatte. Das kognitiv/neuromuskuläre System funktionierte und verteidigte den Organismus in bewährter Weise. Dennoch ist es möglich, dass ein Teil des Organismus empfindlicher reagierte, als es dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium entsprach. Ein Teil könnte dann sozusagen geschockt sein, aber nicht der ganze Organismus.
Ein anderes Beispiel: Wenn ein gut entwickeltes Mädchen sexuell genötigt wurde, ist es möglich, dass es sich der sexuellen Reifung verschließt. Der Körper entwickelt sich ganz normal bis auf ein Segment – z.B. bleiben ihre Brüste, selbst als Frau, mädchenhaft. Sie wirkt so, als ob es ihr in vielen Lebensbereichen gut ginge, außer im Kontakt zu Männern, da reagiert sie dann sozusagen „schizoid“.
Schizoides Handeln würde sich also bei näherem Hinsehen auf ein bestimmtes Verhalten begrenzen (z.B. im Kontakt zu Männern). Das „Gespaltensein“ würde sich auf der Verhaltensebene und nicht auf der funktionalen Ebene abspielen. Wenn es sie organismisch auf der funktionalen Ebene getroffen hätte, dann würde man in allen Lebensaspekten Anhaltspunkte dafür finden.
Auf der Verhaltensebene würde z.B. eine Frau zu bestimmten Zeiten in der Lage sein, Männern zu vertrauen und tiefen Kontakt zulassen können. Sie könnte aber auch immer wieder zutiefst erschreckt werden. Manchmal wäre es möglich einem Mann nahe zu sein und ein anderes Mal überhaupt nicht. Sie selbst hat keine Ahnung warum sich das ändert. In diesem Fall antwortet der Organismus in einer spezifischen Situation so, als ob sie schizoid wäre, aber es ist keine allgemeine Reaktion auf alle Kontakte in ihrem Leben.
Diese Art schizoiden Verhaltens ist üblicherweise entwicklungsbezogen. Jeder Mensch durchlebt eine bestimmte Entwicklungsphase zum Zeitpunkt des Schocks. Das Mädchen in unserem Beispiel würde mit ihrer neu entdeckten Sexualität „nach außen“ gehen. Als Jugendliche mit ihrer auftauchenden Sexualität, würde sie in diesem Stadium durch einen Angriff stärker verletzt werden als im Erwachsenenalter, wenn sie weiter entwickelt ist und sich sicherer fühlt.
Die Bedeutung dieser Entwicklungsphase lässt sich anhand eines Kindes darstellen, das die Fähigkeit, auf einer höheren Ebene zu konzeptualisieren, entwickelt hat. Wenn es in diesem Lebensabschnitt einen Schock erlebt, stört das den Entwicklungsverlauf genauso, als würde z.B. der Vater das Zuhause verlassen. Das hätte zur Folge, dass es nie wirklich dahin zurückkehren kann, wo die unterbrochene Entwicklung sich vervollständigen könnte, nachdem sich sein Leben wieder beruhigt hat. Als Erwachsener würde man einfach über sich„hinausgehen“. Man ist aufgefordert, in einer spezifischen, konzeptionellen Weise zu funktionieren, wie z.B. Mathematik zu lernen oder logische Folgerungen aus einer Serie von Fakten zu ziehen. Dies wird gewöhnlich als Lernproblem interpretiert, obwohl das Kind ausreichend intelligent ist. Andererseits ist es dennoch ein Lernproblem. Das Kind hat durch die Störung in einer spezifischen Phase noch nicht „gelernt zu lernen“.
3) Ein schizoider Zustand entsteht im späteren Leben, wenn trotz eines gut ausgebildeten und gesunden kognitiv/neuromuskulären Systems dieses überwältigt wird. Schwerer sexueller Missbrauch, Quälerei, Kriegshandlungen, Naturkatastrophen, etc., können Menschen in extreme Situationen bringen. Diese Erfahrungen können den Organismus überwältigen, der dann den Ausweg über das primäre plasmatische Funktionieren nehmen wird – die Kontraktion des gesamten Systems.
Es gibt Untersuchungen über das Schicksal von amerikanischen Kriegsgefangenen im Koreakrieg. Die Nordkoreaner haben die U.S. Soldaten nicht physisch misshandelt, wurden aber verdächtigt, sie einer „Gehirnwäsche“ unterzogen zu haben. In Gefangenschaft starben etliche von ihnen, obwohl sie ausreichend versorgt waren – sie rollten sich in einer Ecke zusammen und starben. Dies waren junge, starke Männer, die bereits gewaltige Anforderungen während des Krieges bestanden hatten. Aber dann wurde ihre Abwehr systematisch bis zu einem autistischen Stadium hin überwältigt, und sie starben.
Behandlung
Die klassischen Reichianischen Techniken, die den Organismus stark aufladen, die Muskelpanzerung angreifen und große emotionale Erleichterung herbeiführen können, sind für Schizoide und auch andere Strukturen in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Die klassischen Ansätze passen am ehesten für „Ich-starke Strukturen“, die den Anforderungen dieser Art von Arbeit gewachsen sind. Bei Schizoiden entspricht die plasmatische Kontraktion dem „Ich-Ersatz“, und dieses „Ich“ zu brechen ist gefährlich.
Wie schon erwähnt, stehen dem Schizoiden für den Fall, dass sich die Kontraktion lösen sollte, keine Reserven zur Verfügung. Er ist zu „dünn“ und kann zwischen Peripherie und Core nicht unterscheiden. Dies erklärt die Empfindlichkeit und die Verletzbarkeit dieser Menschen. Die Muskulatur ist schwach entwickelt, und äußere wie innere Erfahrungen werden sehr stark und sehr direkt wahrgenommen. Es gibt kein Gewebe, das die Erfahrung „verlangsamt“.
Für den Schizoiden gibt es weder einen Platz im eigenen Körper noch in der äußeren Welt. Der Körper ist zu dünn und zu kontrahiert. Obwohl er sehr zurückgezogen lebt, hat er nicht wirklich einen Raum, in dem er sich wohl und sicher fühlen kann. Auch wenn er immer wieder nach „Innen“ gehen muss, ist es dort dennoch hohl, dunkel und leer – erfüllt von Ängsten und Zweifeln. Er kann für ein Gefühl von Stärke, Wohlbefinden, etc., nicht auf seinen Körper zurückgreifen.
Die klassische Reichianische Arbeit ist ausdrucksorientiert. Der Schwerpunkt liegt auf dem Outstroke, was gut für kognitiv/neuromuskuläre Strukturen passt. Mit einer stärkeren Entwicklung der Muskulatur und einer projektiven, peripheren Orientierung, können kognitiv/neuromuskuläre Strukturen die körperlichen Anforderungen, die in der Ausdrucksarbeit verlangt werden, besser erfüllen.
Schizoide sind nach innen orientiert – unglücklicherweise auf kontrahierte Art. Wenn man bei Schizoiden kathartische Methoden anwendet, arbeitet man ihrem energetischen Funktionieren direkt entgegen. Sich der Welt zu öffnen ist das letzte, zu dem sie bereit sind. Alleine die Idee, die hinter den klassischen Methoden steht, wird schon als Bedrohung der Integrität des Organismus wahrgenommen. So läuft man Gefahr, dass der ursprüngliche Schock im therapeutischen Setting wiederholt wird.
In der Therapie braucht der Schizoide Sicherheit und nicht Bedrohung. Das Thema „Sicherheit“ ist von ganz zentraler Bedeutung. Seine größten Anliegen sind von existentieller Natur: zu „überleben“, sich sicher fühlen zu können und einen Platz in der Welt zu bekommen. Für den Schizoiden sind Vertrauensfragen das zentrale Thema, auf das er immer wieder auch in zwischenmenschlichen Beziehungen trifft – und besonders auch in der therapeutischen Beziehung.
Therapeutisch gesehen wird das Anwenden einer Methode, die den Outstroke fördert, das Problem nicht nur aufgrund der Sicherheitsfrage vergrößern, sondern auch deswegen, weil der Schizoide Probleme mit invasivem Verhalten hat.
Aufgrund fehlender Distanz vom Zentrum zur Peripherie reagiert er überempfindlich.- Kontakt wird im allgemeinen schnell als Angriff empfunden. Der Organismus reagiert mit einer Kontraktion; es tauchen Angst und Ärger auf. Klassische Reichianische Techniken werden von „instrokebetonten“ Menschen als überaus invasiv erlebt.
Um mit den besonders kontraktiven biologischen und psychischen Vorgängen im Schizoiden effektiver umgehen zu können, habe ich die Points & Positions Arbeit entwickelt. Sie setzt direkt an den Verspannungen des Bindegewebes an, während gleichzeitig der Instroke der Pulsation mobilisiert wird.
Es geht hier also nicht darum, den Muskelpanzer zu durchbrechen und die zurückgehaltenen Emotionen und Bewegungen zu befreien, sondern um die Remobilisierung des Instrokes. Durch den Kontakt zum wiederhergestellten Energiefluss kann der Schizoide seine eigene Stärke wieder zu erleben beginnen. Gleichzeitig entwickelt er ein Gefühl für Sicherheit, weil wieder Energie in den lang verlorenen, unterentwickelten Kern fließen kann. Nun können wir gleichzeitig mit der physischen und psychischen Struktur des Schizoiden sicher und kontrolliert arbeiten.
Bevor ich zur Arbeit mit dem Instroke und weiteren Ausführungen zur Points & Positions-Technik komme, möchte ich die Wichtigkeit von Reichs funktionalem Ansatz darstellen.
Funktionelle Bewertung
Der wichtigste Aspekt in Reichs Vermächtnis ist seine Differenzierung zwischen Verhalten und Funktionieren. Damit geht die Körperpsychotherapie weit über die Psychologie hinaus.
Das Funktionieren beruht auf der Organisation und dem Einsatz der Lebensenergie. Es handelt sich um eine spezifische, universelle Aktivität, die auch unter wechselnden Bedingungen – ungeachtet dessen, welche physische oder psychische Form die Lebensenergie annimmt – ,konstant bleibt. Der funktionelle Ansatz ermöglicht die Betrachtung der spontanen Organisation der Lebensenergie in all ihren unterschiedlichen Formen.
In der Points & Positions-Arbeit bewerten wir die Reaktionen des Klienten laufend funktional und nicht verhaltensbezogen. Wenn ein Klient Schlafprobleme hat und sich die Schlaflosigkeit nach einer Sitzung verschlimmert, müssen wir uns fragen, ob wir den Organismus nicht übererregt haben und er deshalb dem Geschehen nicht folgen kann. Wir erhalten eine pathologische Antwort in dem Sinne, dass das Abwehrsystem überwältigt wird, und – wenn dies länger anhält, werden wir Gegenreaktionen in Form von Muskelanspannungen, Projektionen, negativer Übertragung, etc., erleben. Zusätzlich sollten wir fragen: Haben wir den Outstroke der Pulsation aktiviert, wenn es in dieser Situation vielleicht besser gewesen wäre den Instroke zu mobilisieren?
Oder „erwecken“ wir den Organismus, indem wir die Kontraktion lösen und er mehr zu strömen und zu pulsieren beginnt? Und in welche Richtung erfolgt der Energiefluss – nach innen oder nach aussen?- Bleibt der Klient vielleicht in der Nacht wach, weil er jetzt fähig ist eine tiefere Pulsation zu tolerieren? Ist er fähig mehr an Erregung zu ertragen, weil sich die Depression aufhellt?- Dies wäre eine Betrachtungsweise, die die funktionale Ebene miteinbezieht.
Ich bin nicht so sehr am Verhalten oder am Symptom selbst interessiert – in diesem Fall an der Schlaflosigkeit, sondern an der Körpererfahrung. Dies hilft uns zu erkennen, aus welcher Ebene die Erfahrung stammt – aus der Verhaltensebene oder der tieferliegenden funktionalen Ebene. Und sie hilft uns auch zu unterscheiden, ob es sich um eine pathologische oder eine funktionelle Reaktion handelt.
Funktionell betrachtet würde ich die Aussagen dieses Klienten vorsichtig in Frage stellen. Obwohl er die ganze Nacht fast nicht geschlafen hatte, berichtete er, dass er sich am nächsten Tag ausgesprochen wohl fühlte. Er war sehr aktiv, aber nicht nervös, eher entspannt. Er nützte die Zeit für sich und ließ den Tag nochmals Revue passieren. Der Schlaf war dann tief und erholsam.
Bei dieser Schlaflosigkeit handelt es sich um eine funktionale Reaktion. Auf der Verhaltensebene wäre die Schlaflosigkeit zunächst ein sich verstärkendes, negatives Symptom. Funktional betrachtet sieht es jedoch so aus, als ob er sich auf einer tieferen Ebene wieder zu „bewegen“ beginnt – jedoch zu viel und zu schnell.
Ein anderes Beispiel handelt von einer Klientin, die berichtete, dass sie „depressiv“ sei. Sie bliebe immer zu Hause, wolle keine Freunde sehen, wäre müde und mache nichts, außer ganze Abende lang fernzusehen. Als ich sie fragte, wie es ihr mit ihrer „Depression“ ginge, meinte sie, dass sie sich eigentlich wohl fühle, aber ihr Verhalten in Frage stelle. Sie dachte, dass sie nicht soviel zu Hause sein und mehr ausgehen sollte.
Sie hatte mit einem ihrer Kinder wegen Schulproblemen Sorgen. Als ich sie dazu befragte, meinte sie, dass der Kontakt zu diesem Kind besser als je zuvor wäre und die Schulprobleme sich klärten. Sie berichtete auch, dass die Kontakte zu Freunden, obwohl sie diese weniger oft sehe, befriedigender als je zuvor wären.
Bei einem depressiven Mensch würde sich die Qualität des Kontaktes nach außen nicht intensivieren. Es liegt etwas anderes vor, was ihre „Depression“ erklären hilft: und zwar die Mobilisierung des Instrokes. Diese Frau ist eine nach außen orientierte Person, die eigentlich viele Interessen hat. Indem nun der Instroke mobilisiert wird, beginnt sie mehr nach innen zu gehen, sie kommt mehr zu sich „nach Hause“. Innerlich schätzt sie diesen Prozess und kann sich ihm anvertrauen. Äußerlich bzw. intellektuell ist sie verwirrt, dass vieles anders ist, als sie es gewohnt ist, und sie denkt, dass sie anders sein sollte. Aber dieser gedankliche Prozess ist nicht mit der funktionalen Ebene verbunden. Der Ursprung liegt auf der Verhaltensebene, auf der „Ich-Ebene“. Sieht man sich ihre „Symptome“ an, könnte man heraushören und sich denken, dass sie depressiv sei. Dies könnte sogar von unserer gemeinsamen Arbeit her stammen und uns veranlassen, das Therapiesetting zu verändern.
Funktional betrachtet geht es ihr jedoch gut. Die Arbeit zeigt Fortschritte, und wir können damit fortfahren, solange es ihr gut geht.
Points & Positions Körpertherapie
Die Points & Positions-Körperarbeit beruht auf der Reichschen Annahme einer Lebenskraft, die einem kreativen Prozess entspricht und psychische und körperliche Prinzipien vereint. Sie basiert auf diesem Verständnis, ist aber nicht auf den emotionalen Ausdruck beschränkt. Ich erachte jedes menschliche Verhalten als Ausdruck eines spezifischen energetischen Prozesses. Meine Arbeit stützt sich auf ein Pulsationsmodell, in dem sowohl physische Berührungen als auch verbale Arbeit von Bedeutung sind.
Physisch wenden wir sanften Druck auf bestimmte Punkte am Körper an. Und indem man den Körper in eine bestimmte Haltung bringt und dabei wieder sanften Druck ausübt, werden Spannungen gelöst und die Grundpulsation mobilisiert.
Das systematische Vorgehen erlaubt uns, mit dem Netzwerk- und Informationssystem, das vom Bindegewebe geschaffen wurde, in Kontakt zu treten. Auf diese Art kann der Organismus tief, langsam und sicher berührt werden.
Auch in der verbalen Arbeit folgen wir der Pulsation durch Fokussieren und Bewusstmachen.
Es macht keinen Unterschied, ob der Instroke oder der Outstroke remobilisiert wird. Beides wirkt zur rechten Zeit heilsam.
Verbale Techniken
Verbal arbeiten wir – wie in der Gestalttherapie nach Perls – hauptsächlich mit Fokussieren und mit dem Bewusstmachen des „Hier und Jetzt“. Wir arbeiten mit dem Klienten daran, dass er sich über Empfindungen, Gefühle und Gedanken bewusst werden kann und dass er sie benennen kann. (Um dazu Joseph Campel zu zitieren: „Wir suchen nicht nach der Bedeutung des Lebens, sondern nach der Erfahrung, lebendig zu sein.“)
Dies ermöglicht dem Klienten, dass er bewusster an seinem Heilungsprozess teilhaben und Verantwortung dafür übernehmen kann. Der Therapeut nähert sich der Rolle des teilnehmenden Beobachters. Die Bewusstseinsarbeit und das Fokussieren auf das „Hier und Jetzt“ hat auf der psychischen Ebene eine grenzbildende Wirkung.
Gerade bei Schizoiden ist es wichtig, auch das Körperbewusstsein in die Arbeit mit einzubeziehen, da er keinen direkten Kontakt zu seinem Körper hat. Entsprechend seiner starken Kontraktion spaltet er sich entweder von seinem Körper ab, oder missinterpretiert seine körperlichen Empfindungen und Erfahrungen. Es ist wichtig, ihn sicher „nach Hause“, in seinen Körper zurückzubringen, indem man ihn immer wieder auffordert, seinen Körper zu erspüren und die Empfindungen zu benennen. Es fällt ihm nicht leicht, Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Beurteilungen auseinander zu halten.
Schizoide sind oft intellektuell bzw. intellektualisierend. Der dünne, kontrahierte Körper erlaubt nur wenig an Pulsation, weil die Lebenskraft von der Peripherie zurückgezogen ist. Das wenige an Pulsation, das er zulassen kann, fließt buchstäblich in den Kopf. Kopf und Augen sind „überladen“, was eine Überentwicklung bzw. Abhängigkeit von diesem Segment zur Folge hat.
dass der Intellekt überentwickelt ist, hat seine Ursache oft in einem fortschreitenden Panzerungsprozess. Deshalb versuchen wir diesen Aspekt in der Therapie zu umgehen bzw. auszuschalten. Wir verstehen den überentwickelten Intellekt als Ressource oder als einen „verlorenen Freund“. Durch das Bewusstmachen von Körperempfindungen und durch das Fokussieren in der verbalen Arbeit, kann man diese gut entwickelte Eigenschaft zum Vorteil nutzen.
Man schafft Sicherheit, indem man diesen Menschen hilft, ihre starken Seiten zu nützen. Wir möchten sie nicht bedrohen, indem wir etwas von ihnen verlangen, was sie nicht tun können oder wollen.
Versucht man einen intellektualisierten Schizoiden „aus seinem Kopf zu bringen“, lässt man ihn alleine und schutzlos, verletzbar und angreifbar zurück. Der Intellekt ist sein wichtigstes psychisches „Erdungssystem“. In die „Höhle des Löwen“ zu gehen und mit dem Löwen Freundschaft zu schließen, hilft ihm, seinen Intellekt mehr als nur zur Verteidigung einzusetzen. Das kann sowohl für den Klienten als auch für den Therapeuten zu einem erfüllenden Erlebnis werden.
Der Klient bleibt auf sicherem Boden und fühlt sich „gesehen“. Dadurch wird er sich mehr öffnen und die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten können.
Die Arbeit mit dem Instroke
Die Entwicklung einer Methode, die den Instroke der Pulsation systematisch mobilisiert, ist ein entscheidender Durchbruch in der Arbeit mit sämtlichen plasmatischen Charaktertypen: mit Schizoiden, Oralen, Borderline- und anderen Angst-Strukturen. Die Methode ermöglicht, das Energiesystem des Organismus sicher und kontrolliert zu mobilisieren. Sie erlaubt die Klienten tief und sicher zu berühren, ohne gleich ihre ganze Angst, Traurigkeit und Wut zu mobilisieren.
In ihrer Struktur gefangen, verhalten sich diese Menschen kontraktiv. Ursprünglich kontrahierten sie gegen einen tatsächlichen Angriff auf die Integrität ihres Organismus. Später, im Erwachsenenalter, kontrahieren sie sowohl bei tatsächlichen Angriffen, als auch bei Begegnungen, die sie lediglich dafür halten. Hier geht es um ein großes Maß an Angst, an Schrecken, Misstrauen und Verlorenheit. All das ist nicht verschwunden, weil sie es verdrängt haben. Es lebt noch in ihrem Inneren, und auf der Körperebene wissen sie das und fürchten sich davor.
Das einfache Auflösen der Kontraktion würde zu einer Entlastung führen, geht aber mit der Gefahr einher, dass der Organismus wieder überwältigt wird. Aufgrund fehlender innerer Sicherheit, eines klar definierten Körpers, vertraulicher persönlicher Beziehungen, etc., sind sie schnell überwältigt und kontrahieren noch stärker oder brechen überhaupt zusammen.
Sowohl der Instroke als auch die Kontraktion sind nach innen gerichtet. Der Instroke der Pulsation unterscheidet sich jedoch von einer Kontraktion dadurch, dass er eine kontinuierliche Bewegung ist. Eine Kontraktion ist das Anhalten einer nach innen gerichteten Bewegung, die eine Blockade („blocking pattern“) erzeugt. Der Instroke ermöglicht ein Verdichten, ein Sammeln und ein Fokussieren. Es ist ein offener Fluss zu etwas hin, während die Kontraktion eine Bewegung von etwas weg ist. Im Status der Kontraktion, der Panzerung, findet sich alles an Angst und Zorn, was sie fühlen können. Der Instroke schließt diese sogenannten „negativen“ Gefühle auch mit ein, ebenso aber ihre Stärken – ihr Potential.
Die Mobilisierung des Instrokes erlaubt dem Organismus sich langsam und sicher nach innen zu öffnen, ohne das ganze innere Trauma zu aktivieren. Die ursprüngliche Pulsation wird kontaktiert und mobilisiert, nicht die Panzerung. Einmal „innen“ angekommen, fühlen sich Schizoide gefestigt und sicher – sowohl in sich selbst als auch in der Welt. Sie sind dann in einer stärkeren Position und können für sie bedrohliche Situationen besser handhaben. Sie bekommen wieder ein Gefühl von Kraft, das ihnen verloren gegangen ist – und ein Gefühl, wie sie in der Welt sein sollten. Nun sind sie vielleicht getrennt, aber nicht mehr isoliert; sie sind vielleicht zurückgezogen, aber nicht kontrahiert.
Neben dem nun mobilisierten Gefühl von Sicherheit und Kraft, schafft der Instroke zusätzlich „Raum“. Das gibt dem Schizoiden das Gefühl, einen Platz in der Welt finden zu können. Dies hat eine direkte Wirkung auf die alten Gefühle, keine Existenzberechtigung zu haben und vermindert sie. Nun gibt es einen Ort, wo er hingehen kann, um sich auszuruhen, wo er genährt werden und sich wieder aufladen kann. Diese Menschen verbringen den größten Teil ihres Lebens „fremd“ und „befremdlich“: als Einzelgänger, als Außenseiter, etc. Es ist für sie eine grundlegende Erfahrung, einen sicheren Platz in dieser Welt zu spüren, um ihre existentiellen Ängste überwinden zu können.
Der Stress, immer „außen in der Welt“ sein zu müssen, ist für kontrahierte Strukturen anstrengend und ermüdend. Wie schon früher festgestellt, brauchen sie so viel Energie, um nicht ganz zu „verschwinden“; es fällt ihnen schwer, sich zu zeigen! Selbst tägliche Routine, wie in die Schule oder zur Arbeit zu gehen, einzukaufen, soziale Verbindungen aufrechtzuerhalten, etc., verlangt vom Organismus etwas zu tun, was Schizoide eigentlich nicht tun wollen: nach außen gehen. Unglücklicherweise kann dasselbe für das therapeutische Setting genauso zutreffen.
Für eine kontraktive Struktur ist die Bewegung nach innen befriedigend. Ich meine hier nicht eine weitere Kontraktion, sondern das „Nach-innen-Strömen“, um sich auszuruhen und wieder aufzuladen. Sobald es dem unterbrochenen Instroke ermöglicht wird, sich zu vervollständigen, fällt die nächste Auswärtsbewegung leichter. Die Bewegung erfolgt mehr im Sinne eines Strömens nach außen, weniger durch „Pushen“, das zum Handeln drängt. Und dann, gelegentlich und langsam, beginnen sie sogar von sich aus, sich in die Welt hinausbewegen.
Dies hat zur Folge, dass der früh gefrorene Instroke – die lebenslange Kontraktion – endlich vollendet werden kann und der Klient jetzt sicherer und kontinuierlicher nach außen strömen kann; nicht weil er das muss, sondern weil er es von sich aus will. Es gibt ein eindeutigeres Gefühl sich willentlich von innen nach außen zu bewegen, weil nun die ersehnte Bewegung – der Fluss nach innen, vervollständigt wurde.
Die Klienten lernen sich selbst zu vertrauen, nicht nur ihrer Kontraktion und ihrer Wut. Vorher waren sie von ihrem physisch und psychisch kontrahierten Zustand abhängig, um sich irgendwie mit einem „Grounding“ und mit Kraft versorgen zu können. Dieses falsche, gefrorene „Grounding“ macht nun Platz für Bewegtes und Lebendiges. Ein Klient hat das einmal so beschrieben: „Es ist, als wäre eine `Sonne´ in mir, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich nicht nach Griechenland fahren muss, um mich dort in die Sonne zu legen, um genug an Wärme für den ganzen Winter zu bekommen. Ich kann sie mir selbst geben.“
Die Arbeit mit dem Instroke ermöglicht das Gefühl, dass eine Bewegung sicher sein kann, weil die Person das tut, was ihr am vertrautesten ist – sich zurückzuziehen. Es ist hier von Bedeutung, dass sie nach lebenslanger Kontraktion, Steifheit und Gefrorensein wieder in Bewegung kommt. Das Gefühl für Sicherheit war bisher auf seine zurückgehaltene und gefrorene Qualität angewiesen. Nun kann sie beides sein: sicher und beweglich. Die Bewegung nach innen gibt ein klareres und tieferes Gefühl, dem sie vertrauen kann. Es ermöglicht ihr, einen Platz in der Welt und einen Raum zu finden, wohin sie sich zurückziehen kann, wenn sie sich ausruhen, sich wieder aufladen will, oder sich schützen will.
Es gibt einen weiteren spontanen Prozess, der sich durch die Mobilisierung des Instrokes entwickelt: Wenn eine Person dem „Kern“ in einem Verdichtungsprozess näher kommt, wird es ihr möglich, sich selbst klarer zu erleben auch so zu definieren.
Vorher hatte die Kontraktion auch die Funktion, Grenzen zu ziehen. Jetzt gibt es ein wahrhafteres Gefühl für das „Selbst“, das sowohl stabiler als auch flexibler als früher ist. Es findet ein formender und gestaltender Prozess statt, der auch die Grenzen klarer definiert. Es entsteht ein Gefühl von größerer Distanz zu anderen – eine angemessene Distanz – wobei aber der Kontakt nicht verloren geht.- Ein Klient erzählte, dass er nach elf Jahren, in denen er mit Absicht dem Haus seines Bruders ferngeblieben war, jetzt ohne Probleme dahin gehen könne. Er identifiziere sich nicht mehr mit ihm: „Ich bin nicht mehr Teil dieses Spiels.“
Mehr noch: durch die Mobilisierung des Instrokes entsteht eine spezielle Art der Abgrenzung. Der Klient fokussiert seine Achtsamkeit immer mehr auf sich selbst und seinen eigenen Prozess. Er interessiert sich für sich selbst, nimmt sich wahr, definiert sich mehr im Sinne der Beziehung zu sich selbst, als zu anderen. Es entwickelt sich eine intrapsychische Struktur, die von großer Bedeutung sowohl für die Therapie als auch für den therapeutischen Prozess ist. Der Fokus der Therapie wird zur Erfahrung des Selbst in Beziehung zu anderen. Es mag eigenartig klingen, aber der Klient wird sich selbst gegenüber immer neugieriger.
Aus all dem entwickelt sich ein stärkeres und klareres Gefühl des Selbst. Wegen der frühen Störung war die Entwicklung des Selbst mit der tiefen, ganzkörperlichen Kontraktion in Konflikt geraten. Nun kann der Organismus beginnen, die unterbrochene Entwicklung zu vollenden. Hier geht es also nicht darum, Teile einer Abspaltung wieder zusammenzuführen, sondern um die Vollendung eines Entwicklungsprozesses, der nie stattgefunden hat!
Es kann nur etwas abgespalten werden, was bereits besteht, so wie das einige Schizoide ganz besonders im emotionalen Bereich tun. Sie werden ihre existentielle Angst, vielleicht ihre Wut, oder sogar ihre Sehnsucht abspalten. Das heißt, dass sich Angst und Wut bereits entwickelt haben, sich der Organismus aber dann davon zu distanzieren versucht.
Durch den Entwicklungsprozess, der nach der Re-Mobilisation des Instrokes einsetzt, kommt der Klient nun wieder mit den abgespaltenen Teilen in Kontakt. Er erlaubt eine abgebrochene Entwicklung fortzusetzen und ermöglicht dem Organismus zu lernen und Erfahrungen zu machen, die dieser Mensch vorher noch nie gemacht hat: Vertrauen und Liebe geschenkt zu bekommen, Sicherheit und ein Gefühl von Zugehörigkeit in einer Gemeinschaft zu haben.- Mit einem Wort: „Nahrung“.
Pulsation
Die Mobilisierung des Instrokes – sowohl über das Bindegewebe als auch durch verbale Arbeit – erfolgt subtil und langsam und erlaubt ein sicheres Vorgehen, so dass der Klient die Kontrolle über seinen eigenen Entwicklungsprozess behält und dafür auch Verantwortung übernehmen kann.
Wie schon erwähnt, wurde mir klar, dass es für die klassische Reichianische Arbeit Grenzen gibt, weil sie für einige Charaktertypen, einschließlich dem Schizoiden, schwierig und gefährlich sein kann.
Ein Grund dafür besteht darin, dass sich diese Strukturen energetisch primär in einer kontraktiven Einwärtsbewegung befinden. Sie bewegen sich nicht hinaus in die Welt: Exzessives Atmen, vorgegebene Bewegungen und Töne, explosive Entladung von Emotionen, etc. sind genau dem entgegengesetzt, was diese Menschen tun wollen – es wird von ihnen direkt als Eindringen und als Angriff erlebt.- Nicht dass sie das alles nicht tun wollten, aber sie sind dazu einfach nicht in der Lage.
Aus noch einem anderen Grund ist dieser Ansatz nicht wirklich hilfreich: er folgt nämlich nicht dem eigentlichen Weg der Lebenskraft. Die Lebenskraft fließt nicht linear, sondern bewegt sich in Art einer pulsatorischen Spirale. Das klassische Modell ist linear. Ein Beispiel: Legen sie sich hin, atmen sie, beginnen sie sich zu bewegen und Töne zu geben, und dann versuchen sie spontane Bewegungen zuzulassen. Die Technik führt sozusagen von Punkt A direkt zu Punkt B. In diesem Modell ist keine Pulsation eingebaut. Die Instroke-Arbeit erlaubt auch die Entwicklung von kleineren pulsatorischen Bewegungen, die sich mit der tieferen organismischen Pulsation verbinden können. Nach einiger Zeit kommt es zu einem Zusammenspiel. Wir setzen Pulsation ein, um mehr Pulsation zu erhalten.
Zusätzlich schafft der lineare Stil eine Alles-oder-Nichts-Situation, die für Borderline-Strukturen und insbesondere für Schizoide gefährlich ist. Um mit dieser Technik zu arbeiten, ist es notwendig, jegliche Kontrolle aufzugeben. Wenn sich der Klient in der Mitte einer Entspannungsphase befindet und dabei entdeckt, dass er noch nicht dafür bereit ist, ist es für ihn sehr schwierig, sich zurückzuziehen bzw. bis zum Ende weiterzumachen. Der Organismus beginnt abzublocken und sich zu verschließen. Oder es kommt zu einem frühzeitigen Zusammenbruch der Abwehr.
Die Techniken, die in der European Reichian School verwendet werden, beruhen auf einem stufenweisen Aufbauprogramm, das die Pulsationsbewegung des natürlichen Energieflusses zum Vorbild hat und auf der Reichschen Beschreibung der „Kreiselwelle“ beruht. Es ist eine pulsatorische Kreisbewegung nach vorne und wieder zurück. Wir verwenden dieses Modell sowohl in unserer manuellen Behandlung, als auch in unserer verbalen Arbeit. Beides beruht auf der natürlichen pulsatorischen Bewegung.
Die Arbeit ist – physisch wie psychisch – eine langsamere und sicherere Methode, als es das Reichsche Entladungsmodell ist. Es fördert die Entwicklung, dass der Klient bewusst im Vertrauen bleiben und, wenn notwendig, auch kontrollieren kann. Diese Kontrolle unterbricht den therapeutischen Prozess nicht, sondern fördert ihn in Wirklichkeit.
Augen und Pulsation
Mit den Augen arbeiten wir sehr strukturiert. Die Augen, die Hände und die Füße sind wesentliche Kontaktmöglichkeiten zur Realität. Wie „gegroundet“ eine Person ist – sowohl äußerlich wie auch innerlich, ist ganz wesentlich von einer gesunden Funktion der Augen abhängig. Neben physischen Übungen und dem Berühren von Punkten am Augensegment, verwenden wir prozessorientierte, verbale Übungen, die die Pulsation mobilisieren.
Vom Betrachten der Segmente her stellen die Atmung und gutes Sehen die ursprüngliche, ganzheitliche Pulsation des Organismus dar. Durch Bearbeiten des Augensegments können wir oft eine tiefe, primäre Pulsation erreichen.- „Wie man sieht, so lebt man.“
Verbal arbeiten wir mit Bewusstheit und Erfahrung, um Klarheit über den Pulsationszustand der Augen zu gewinnen. Und wir versuchen unter Zuhilfenahme verschiedener Techniken die Pulsation anzuregen.
Zum Beispiel fühlte ein Klient – zum ersten Mal -, dass er leicht und fröhlich aus den Augen „strömt“. Plötzlich meinte er, dass er vorsichtig sein müsse – und das Strömen und sein Wohlbefinden verschwanden. Und dann bemerkte er, dass dies typisch für sein Leben ist. Auch wenn alles gut läuft, muss er vorsichtig sein. Und mit dieser Vorsicht erstirbt die Möglichkeit, sich mehr auf das Fühlen einzulassen. Obwohl es keinen „wirklichen“ Grund gab, sein Strömen zu unterbrechen, tat er es ganz automatisch.
Es war für mich interessant von ihm zu hören, dass sein Vorsichtigsein von keinem Gefühl begleitet war. Es war einfach da. Er hat nichts gefühlt, nichts getan, es „passierte“ einfach. Dies ist Ausdruck seines Abspaltens von seinem kontrollierenden Über-Ich. Es geschieht automatisch, es widerfährt ihm einfach, so als ob ihn jemand anderer kontrollierte. Er spürt nicht, dass er sich das nun selbst antut. Es repräsentiert sein „typisches“ Lebensmuster: „Es passiert mir, ich kann nichts dazu tun, ich bin das Opfer.“
Zusammenfassung
Meine Absicht in diesem Artikel war, die Rolle des Plasmas und des Bindegewebes und deren Funktionieren als zentrales Element in der Entwicklung des Organismus systematisch aufzuzeigen. Es ist von Vorteil, dass damit das Reichsche Konzept der funktionalen Identität von Psyche und Soma nun auch auf biologischer Ebene nachvollzogen werden kann.
Diese biologische Betrachtungsweise hilft uns, die Auswirkungen von Frühstörungen, Schock und Trauma, besser zu verstehen. Und sie erlaubt uns im Umgang – nicht nur mit Frühstörungen, sondern mit sämtlichen Charakterstörungen, ein besseres Diagnostizieren, Evaluieren und Behandeln.
Will Davis
European Reichian School
Mas de la Capelle
Route de St. Come
F-30420 Sinsans
Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz
24 Dez
Bukumatula 6/1998
Anmerkungen zu einer Pädagogik nach Wilhelm Reich
Eberhard Krumm
(Meinem Lehrer, Univ.Prof.Dr. Richard Wisser, Worms, zum 72. Geburtstag am 5.1.1999 gewidmet.)
„Der Pädagoge hat nur eine Verpflichtung, seinen Beruf ohne Rücksicht auf die Mächte der Unterdrückung des Lebendigen kompromißlos auszuüben und nur das Wohl derer im Auge zu haben, die ihm anvertraut sind.“
(W. Reich, Die Funktion des Orgasmus, S. 26)
Als Wilhelm Reich am 3. November 1957 im Gefängnis an seinem gebrochenen Herzen starb, hinterließ er sein Vermögen dem Wilhelm-Reich-Infant-Trust-Fond. Er setzte damit der Nachwelt ein deutliches Zeichen, wie ernst es ihm war mit dem, was er in seinen Schriften immer wieder behauptet hatte: die wichtigste Aufgabe der Menschheit in den kommenden JAHRHUNDERTEN (!) bestehe darin, bei Säuglingen und Kindern durch geeignete Prophylaxemaßnahmen die Ausbreitung der emotionalen Pest zu verhindern.
Die emotionale Pest sah Reich als die gravierendste Charakterdeformation, die in Form einer immer weiter um sich greifenden Epidemie das traurige Resultat der immer lebensfeindlicheren Zwangserziehung darstellt. Da Reich die Auffassung vertrat, ein einmal krumm gewachsener Baum könne nie wieder ganz gerade gerichtet werden, was als Metapher so zu verstehen ist, dass keine noch so erfolgreiche Psychotherapie im Erwachsenenalter die in der Kindheit erlittenen seelischen Verletzungen völlig zu heilen vermag, sah er in einer orgonomischen Pädagogik eine wesentlich wichtigere Aufgabe als in der weiteren Ausarbeitung orgonomischer Therapie.
Folgerichtig gab Reich in den 1940er Jahren auf, weiter einzelne Patienten zu behandeln, weil er sich intensiv der orgonomischen Grundlagenforschung widmen wollte. Er konzentrierte sich dabei auf die Biophysik, die Klimaforschung, die Krebspathologien und deren Genese und die Kosmologie; es wird berichtet, dass er sich in seinem letzten Lebensjahr im Gefängnis mit Anti-Schwerkraft-Gleichungen beschäftigt habe. In diese Grundlagenforschung musste eine orgonomische Pädagogik eingebettet sein, besser: auf jener aufgebaut werden.
Und während Reich sich im Laufe seines Lebens mit fast allen Kollegen, waren diese Psychoanalytiker, Mediziner, Biologen oder Physiker, heillos zerstritt, währte seine wohl innigste und tiefste Männerfreundschaft mit dem Pädagogen Alexander S. Neill (1883 – 1973) trotz mancher Missverständnisse über zwanzig Jahre lang bis zu Reichs Tod.
Neill hat, und er gibt dies selbst oft genug in seinen Briefen zu, Reich an einigen Punkten seines Weges nicht verstanden oder ihm nicht folgen können, aber er setzte in seiner fälschlicherweise als antiautoritär bezeichneten Privatschule in Summerhill soviel an Reichianischer Theorie um, wie er davon verstand, bis hin zu vegetotherapeutischer Behandlung seiner Schüler und der Anwendung von Orgonakkumulatoren an seiner Schule.
Neill sah auch seine Grenzen und gestand diese Reich, der Ehrlichkeit über alles schätzte, aufrichtig ein. Es ist daher kaum erstaunlich, dass die beiden Männer sich gut verstanden und sich als Wissenschaftler bei dem beiderseitigen Interesse für das Arbeitsgebiet des jeweils anderen so viel zu sagen hatten.
Umso erstaunlicher ist, dass vierzig Jahre nach Reichs Tod weltweit keine einzige mir bekannte Schule existiert, die den Namen Wilhelm Reichs trägt und seine brennenden pädagogischen Anliegen in konkreten Schulalltag umsetzt. Neills Schule in Summerhill ist ein Einzelfall geblieben und Summerhill ist trotz aller Nähe zu Reichianischer Theorie keine Reichianische Schule. Man kann sich an dieser Stelle aber fragen, ob sich nicht der Schulalltag an privaten und öffentlichen Schulen in den vierzig Jahren seit Reichs Tod so verändert hat, dass viele Anliegen Reichs nun umgesetzt sind.
So ist der Unterricht heute viel praxisbezogener und freier als vor vier Jahrzehnten, als noch in den Gymnasien die Fächer Latein und Griechisch und als Methode der Frontalunterricht den pädagogischen Standard bestimmten. Machtmissbrauch und Gewaltstrafen seitens der Lehrer sind tabu, fast überall existieren schulpsychologische Dienste, findet durch Sozialarbeiter oder psychologisch ausgebildete Beratungslehrer an Schulen therapeutische Betreuung und insbesondere auch die von Reich so intensiv geforderte Neurosenprophylaxe statt.
Man denke nur an die umfangreichen Maßnahmen und erlebnispädagogischen Projekte zur Sucht- und Gewaltprävention, die allerorts stattfinden und von denen man zu Reichs Zeiten nur träumen konnte. Die Schule scheint lebendiger geworden, zu einem Ort, an dem Gefühle sich frei äußern dürfen und ernst genommen werden, so ernst, dass darüber sogar wichtige Zeit für die Sicherung der Leistungsstandards und der Wissensvermittlung geopfert wird. Wie sonst wäre die Warnung des deutschen Bundespräsidenten Herzog in einer öffentlichen Rede zu erklären, die Schulen nicht zu, so wörtlich, „pädagogischen Kuschelecken“ verkommen zu lassen.
Ist diese ironische Attacke eines Staatsoberhauptes nicht schon Indiz dafür, dass in den Schulen bereits geschieht und vorbereitet wird, was Politiker am meisten fürchten: die Untergrabung starrer staatlicher Strukturen und Autoritäten durch eine neue Erziehung, die statt verkopfter Paukerei nun die natürliche Lebensenergie der Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und sie ermutigt, ihre primären Bedürfnisse nach sozialer Wärme und zärtlichem Körperkontakt spontan selbst am Ort des wissenschaftlichen Lernens zu stillen, was in soziologischer oder pädagogischer Fachterminologie dann Förderung sozialer Kompetenz und emotionaler Intelligenz genannt wird? Findet also vielerorts schon Reich-Pädagogik statt, ohne dass man sie so nennt?
Ich meine: nein! Ich werde im Schlussteil dieses Essays erörtern, wie nach meinem Verständnis Reichianische Pädagogik in ersten Ansätzen praktisch umgesetzt werden könnte. Im Kontrast dazu werde ich mein klares Nein auf die oben gestellte Frage begründen. Ich werde aufzeigen, welche Reichianischen Elemente in heutige pädagogische Praxis und Theorie Eingang gefunden haben.
Dabei wird deutlich werden, dass der Kern der orgonomischen Forschungen und Erkenntnisse Reichs nach wie vor konsequent verleugnet, ja erbittert bekämpft wird und wir eben deshalb von einer Pädagogik für die Kinder der Zukunft, wie Reich sie sich vorstellte, weiter entfernt sind denn je. Im Hauptteil dieses Essays will ich das theoretische Fundament Reichianischer Pädagogik als Neurosenprophylaxe herausarbeiten, zuvor aber zeigen, wie Reich selbst zu seinen Lebzeiten pädagogisch gewirkt, nicht nur gedacht hat.
Mit anderen Worten: vorgestellt werden Reich als pädagogischer Praktiker im Detail, Reichs pädagogische Theorie in ihrem Kern, ihrer wesentlichen Essenz, und zum Schluss die Konsequenzen, die sich für einen Pädagogen heute ergeben, wenn er sich der im Motto zitierten Verpflichtung Reichs verpflichtet fühlt, damit Kinder überhaupt noch eine Zukunft haben.
REICH ALS PÄDAGOGISCHER PRAKTIKER
Der Philosoph und Pädagoge Jean Jaques Rousseau (1712 – 1778), einer der berühmtesten und fähigsten Denker der Aufklärung, schrieb den Erziehungsroman „Emile“, ein noch heute auf der Pflichtlektüreliste für angehende Lehrer ganz oben stehendes pädagogisches Standardwerk. Seine fünf Kinder gab er ins Waisenhaus. Mit den praktischen Erfordernissen eines Familienalltags mit fünf Kindern sah sich der Denker überfordert. In unserer theoriezentrierten Kultur quittiert man dieses praktische Versagen Rousseaus mit einer ironischen Bemerkung und diskutiert dann seine Theorien mit Eifer und Inbrunst, als ob sie sich nicht eben durch den Urheber derselben selbst diskreditiert hätten.
Nach Reich jedoch hat in der von ihm angestrebten Arbeitsdemokratie nur derjenige ein Wort mitzureden, der sich auf seinem Arbeitsgebiet nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bewährt hat. Reich zu Folge (Äther, Gott und Teufel, S. 167 ff.) muss sich insbesondere jeder Forscher neben der Frage nach seiner wissenschaftlichen Qualifikation die nach seiner „orgonomischen Potenz und Sensibilität“ gefallen lassen. Ein Pädagoge, der seine Kinder ins Waisenhaus abschiebt, stellt sich, milde gesagt, in ein sehr fragwürdiges Licht. Daher ist es nicht nur legitim, sondern notwendig, vor aller Diskussion um Reichs pädagogische Theorien die Frage nach seiner Bewährung als Vater und Lehrer aufzuwerfen.
Leider habe ich noch nicht die Gelegenheit gefunden, Peter Reichs Beschreibung seines „Traumvaters“ zu lesen, aber Dr. Eva Reich zeichnet in ihrem 1989 in Berlin gehaltenen Vortrag: Meine Erinnerungen an W.R. (in: J.Fischer, Orgon und Dor, die Lebensenergie und ihre Gefährdung, Berlin 1995, S. 130 – 154) ein Bild ihres Vaters, das ihn menschlich sympathisch macht, und zwar nicht nur trotz, sondern auch wegen seiner offenkundigen Erziehungsfehler.
So übersah, seiner Tochter zu Folge, Wilhelm Reich auf Grund seiner ideologischen Bindung an den Kommunismus in den zwanziger und dreissiger Jahren die real existierenden Bedürfnisse seiner Kinder. Ähnliche Fehler unterliefen ihm, wenn er mehr als Analytiker denn als Vater handelte. Dies beschreibt Eva Reich sehr anschaulich an einem Beispiel: wie ihr Vater ihren Glauben an Gott und ihre Zuflucht im Gebet, insbesondere in der Zeit, in der das Ehepaar Reich sich unter heftigen Streitereien trennte, als Onanieangst und beginnende Neurose interpretierte und sie entsprechend „behandelte“.
Eva Reich nennt das „ganz arg, eine schlimme Geschichte“ (a.a.O. S. 138) und kreidet ihrem Vater an, dass er „seine Kinder nach den Theorien behandelt hat und nicht nach dem Instinkt“ (a.a.O. S 136). Dieser Satz sollte jeden Reichianer in Hinsicht auf die Rangfolge von Theorie, Instinkt und Erfahrung sehr nachdenklich stimmen und entsprechende Schlüsse ziehen lassen, ebenso Eva Reichs Aussage, dass ihr Vater in seiner Begeisterung für das theoretische Wissen viel zu früh versuchte, seine Kinder mit politischen und psychoanalytischen Ideen vertraut zu machen, die sie als 4 – 10 Jährige gar nicht begreifen konnten.
Andererseits beschreibt Eva Reich ihren Vater mit großer menschlichen Wärme dort, wo dieser nach Instinkt handelte und sich dann als sehr fortschrittlicher Vater erwies, der viel Zeit mit seinen Kindern verbrachte, mit ihnen herumalberte und sie mit den Tatsachen des Lebens auf ehrliche Weise vertraut machte. Auch berichtet sie, dass er als Mediziner und Psychotherapeut bei ärztlichen Untersuchungen von Müttern und deren Babys „sehr zart und menschlich“ war und dieses Vorbild so stark auf sie wirkte, dass sie unter diesem Eindruck beinahe Kinderärztin geworden wäre (a.a.O. S. 145).
Einen Eindruck davon, wie Reich als pädagogischer und therapeutischer Praktiker in den zwanziger Jahren in Wien und 1930 – 1933 in Berlin in den von ihm gegründeten Sexualberatungsstellen wirkte, erhält man durch die kleine, 1929 in Wien publizierte Schrift „Sexualerregung und Sexualbefriedigung“. In deren Anhang beantwortet Reich fünfzig Fragen, wie sie ihm wohl täglich zu Themen wie Onanie, Geschlechtsverkehr der Jugend, Homosexualität, Sexualaufklärung an Schulen etc. gestellt wurden.
Er antwortet in einfacher, klarer Sprache, die deutlich seine Achtung, seine Ehrlichkeit und sein Ein-fühlungsvermögen gerade im Umgang mit jugendlichen Fragestellern aufzeigen. Manche dieser Fragen werden siebzig Jahre später immer noch gestellt, heute allerdings an Dr. Sommer und sein Beratungsteam in der Jugendzeitschrift „Bravo“ oder ähnlichen Magazinen. Die heutigen Antworten auf Fragen wie „Ist es schädlich, knapp vor dem Samenerguss die Onanie zu unterbrechen?“ (Frage Nr. 8 in Reichs Schrift) unterscheiden sich kaum von denen, wie Reich sie ehedem gab.
Viele Fragen, die damals wohl mit großer Scheu gestellt wurden, wie „Habe ich (20) das Recht, ein unberührtes Mädchen (17) zur Hingabe zu bewegen?“ (Frage Nr. 29) wirken heute überholt. Auch an dieser Stelle kann man sich fragen, ob Reichianische Beratungs praxis nach siebzig Jahren nicht viel tiefgreifender gewirkt hat als deren theoretisches Fundament, das in „Die Funktion des Orgasmus“ und „Der Einbruch der sexuellen Sexualmoral“ niedergelegt ist.
Lassen wir diese Frage noch kurz ohne Antwort. Dass es aber Sexualberatung für Jugendliche heute in breitesten Umfang gibt, daran hat die Pionier-tätigkeit Reichs großen Anteil. Aber war das alles, was Reich für seine „Kinder der Zukunft“ erstrebte, dass sie früher und besser sexuell aufgeklärt werden? Ist das schon die „biologische Revolution“, die Reich herbeiführen wollte?
DER THEORETISCHE KERN REICHIANISCHER PÄDAGOGIK
Es existiert meines Wissens kein systematisches Grundlagenwerk Reichs zu einer orgonomischen Pädagogik, wie es für die Psychoanalyse Anna Freud (in Band V und VII der deutschen Gesamtausgabe ihrer Werke, Frankfurt/Main 1989) vorgelegt hat. Ich vermag an dieser Stelle nicht zu erklären, warum dies so ist, denn Reich maß der Pädagogik allergrößten Stellenwert bei.
Umfangreiche, aber unsystematische und stets in einen anderen Kontext eingebundene Bemerkungen zur Pädagogik finden sich in Reichs spätem Werk „Der Christusmord“ von 1953 (1997 beim 2001-Verlag Frankfurt/Main mit einem Kommentar und einem Sachregister von P. Gäng und U. Hausmann in einer sehr schönen Ausgabe wieder aufgelegt, nachdem es jahrelang vergriffen war), sowie in dem von Beverly R. Placzek herausgegebenen Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und Alexander Neill (Zeugnisse einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1989). Im Kern indes hat Reich meines Erachtens den Ausgangspunkt und die Zielrichtung einer orgonomischen Pädagogik im Kapitel VII mit dem Titel „Eine missglückte biologische Revolution“ in „Die Funktion des Orgasmus“ ausgearbeitet (Dt. Ausgabe bei KiWi, Köln 1969, S. 167 – 215).
Mit Bezug auf dieses Kapitel mag ich die Leser der Bukumatula an dieser Stelle bitten, in diesem Monat der Geburtsstunde Reichianischer Pädagogik zu gedenken: sie erblickte in den Abendstunden des 12.12.1929 im ersten Obergeschoss des Hauses Bergstraße 19 im IX. Wiener Bezirk das Licht der Welt. Vor dem inneren Kreis der Schüler des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, in dessen Wohnung und in dessen Anwesenheit hielt Reich an diesem Abend seinen Vortrag mit dem Titel „Über Neurosenprophylaxe“. Er stellte darin vier Fragen:
Reichs Antworten auf diese vier Fragen führen konsequent zu einer pädagogischen Theorie, von der Reich damals noch dachte, es werde eine psychoanalytische Pädagogik sein. Er sollte indes an diesem Abend erfahren, dass die Psychoanalyse dabei war, sich mit den Mächten der Unterdrückung des Lebendigen anzufreunden, in Gestalt eines psychoanalytischen Sekundanten, den Sigmund Freud an jenem Abend vorstellte: den Todestrieb.
Zuvor jedoch zu Reichs Antworten. Sie lauten, sinngemäß und auf die Zielrichtung dieses Essays bezogen, wie folgt:
Ad 1: schon für das Jahr 1929, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Psychoanalyse als Therapieform noch keine vierzig Jahre bestand, sah Reich auf Grund des enormen Zulaufs zu seinen sexualpolitischen Versammlungen und Sexualberatungsstellen, sowie auf Grund der ihm dort vorgetragenen Fragen und Probleme, siebzig Prozent der Bevölkerung als dringend behandlungsbedürftig an.
Er sah deutlich, dass bei diesen 70% „Stadtneurotikern“ es sich um wirklich psychisch mehr oder minder kranke Individuen handelte, denen mit einer einmaligen Beratung nicht gedient war. Er sah, dass nicht nur einige Dutzend neurotischer Klein- und Großbürger, wie sie Professor Freuds Praxis bevölkerten, einer Psychotherapie bedurften, sondern zigtausende Frauen und Männer aller Bevölkerungsschichten, dass man also von einem „gesunden Volksempfinden“ oder einem zwar materiell beeinträchtigten, aber ansonsten seine Triebe frei auslebenden Proletariat, das von der viktorianischen Moral und ihrer Heuchelei nicht angekränkelt war, nicht sprechen konnte.
Bei der langwierigen Behandlungsform der Psychoanalyse und der noch geringen Anzahl ausgebildeter Analytiker bestand auch nicht der Hauch einer Aussicht, dieser Massenneurose in Form von analytischen Einzeltherapien Herr zu werden.
Daraus folgerte Reich, ad 2: dass die Psychoanalyse nicht länger bei der Erforschung von Einzelphänomenen psychischer Erkrankungen und bei der Einzeltherapie stehen bleiben dürfe. Deshalb durfte ad 3: die Psychoanalyse nicht auf ihren ursprünglichen Ausgangspunkt, die medizinische Neurologie und Psychiatrie beschränkt bleiben. Sie müsse, so Reich, als Wissenschaft in die Grenzgebiete anderer Wissenschaften eindringen und diese mit ihren Erkenntnissen und Schlussfolgerungen vertraut machen.
Reich dachte hierbei in erster Linie an die Soziologie und an die Pädagogik. Da es sich bei der von ihm diagnostizierten Massenneurose um ein soziologisches Phänomen handelte, bestand ad 4: Reichs Forderung an die Psychoanalyse als Wissenschaft darin, die gesellschaftlichen Faktoren der Entstehung kollektiver Neurosen herauszuarbeiten und, sofern möglich, eine Theorie zu entwickeln, wie nicht nur durch Individualtherapie, sondern eine großflächige Prophylaxe einer zunehmenden Erkrankung der Gesellschaft entgegengesteuert werden könnte.
Im Kern skizzierte Reich dann in seinem Vortrag, was er drei Jahre später in seinem Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ in Breite ausführen und wofür er, wieder ein Jahr später, in „Massenpsychologie des Faschismus“ ein Beispiel geben sollte: nämlich welche Elemente der Synthese aus sogenannter christlich-abendländischer Kultur und bürgerlich-kapitalistischer Zivilisation die Massenneurose erzeugen und wie sich diese Neurose in politischen Formen ausdrücken kann.
Auf Grund seiner Lektüre der Forschungen des Anthropologen B. Malinowski über das Geschlechtsleben der Trobriander in der Südsee sah Reich schon 1929, dass die von ihm festgestellte Massenneurose durchaus kein weltweites und insbesondere kein welthistorisches, sondern ein typisch westliches Phänomen waren, ein Produkt aus Sexualunterdrückung und Sexualverdrängung, die umso stärker werden musste, als die Arbeitsbedingungen einer mehr und mehr mechanisierten Gesellschaft immer stärkere Anpassung des Menschen an die technisierten Lebensbedingungen der auf Leistungsdruck und Erfolgszwang beruhenden spätbürgerlich-liberalen Gesellschaft forderten.
Das unheilvolle Zusammenwirken von sexualfeindlichen Moralvorstellungen und lustfeindlichen Zivilisationsbedingun- gen, die die Denk- und die Handlungsunselbständigkeit des Menschen fördern, wodurch sie indes für die Wirtschaft „funktionsfähiger“ werden, sah Reich als soziologische Kausalfaktoren der Genese einer kranken Gesellschaft. In „Massenpsychologie de Faschismus“ wies er dann schlüssig nach, wie der atavistische Appell an unterdrückte sexuelle und emotionale Sehnsüchte des Menschen von faschistischen „Rettern“ und „Führern“ machtpolitisch ausgenutzt werden konnte.
Da es gesellschaftliche Faktoren waren, die Reich als Auslöser der Massenneurose ausmachte, war es nur logisch, sie auch auf gesellschaftlicher Ebene zu bekämpfen. Ein gesellschaftliches Wesen aber wird der Mensch auf Grund seiner Sozialisation, sprich seiner Erziehung, und diese ist in unserer abendländischen Kultur schon seit Jahrhunderten keine Privatsache mehr, sondern sie ist gesellschaftlich reglementiert, dies etwa seit dem 16. Jahrhundert.
Hätte Wilhelm Reich die Studie des Soziologen Max Weber aus dem Jahr 1905 mit dem Titel „Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist“ gekannt, er hätte seine These von der gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklung in der Neuzeit noch eindrucksvoller untermauern können. Zeigt Weber doch auf, dass calvinistischer Puritanismus, kapitalistisches Denken, Leistungsdruck und allgemeine Schulpflicht eine verhängnisvolle Kausalreihe bilden.
Es ist eines der vielen Paradoxa der abendländischen Geistesgeschichte, dass ein vermeintlicher Fortschritt, nämlich die Aufklärung – die Emanzipation der Menschen von der mystisch-katholischen Bilderwelt des Mittelalters und den durch sie produzierten Ängsten -, dass der Kampf gegen das Analphabetentum breiter Volksschichten einherging mit einer neuen Knechtschaft: der Unterjochung der Triebe unter calvinistische Askese, des Körpers unter den Kopf, der kreativen Tätigkeit unter den Erfolgszwang, das Lernen unter den Leistungsdruck.
In allen zivilisierten Staaten existiert heute eine Schulpflicht, existieren Lehrpläne, Zensuren und Schulordnungen, werden Menschen als Lehrer nur dann zugelassen, wenn sie einen staatlich reglementierten Ausbildungsgang mit einem Staatsexamen abgeschlossen haben. Ob der examinierte Lehrer sich eine umfassende Geistes- und Herzensbildung jenseits des Fachwissens angeeignet hat, ob er gar weise ist, ob er über persönliche Autorität jenseits von wohlklingenden Titeln wie „Oberstudienrat“ verfügt, das wird nicht hinterfragt. Unsere Lehrpläne zielen auf den Erwerb möglichst vieler kognitiver Kenntnisse, man lernt „ochsen“, sich den „Stoff einzubleuen“.
Ob man die Stochastik im praktischen Alltag zum Ausfüllen der Lottoscheine je wird brauchen können oder ob man wirklich einen Nutzen davon hat, die Regierungsdaten aller Habsburger nebst ihrer Todesursachen aufzählen zu können, bleibt fragwürdig, aber ungefragt. Die Zensuren und die zwangsweise Unterordnung unter Leistungserwartungen machen Jugendliche in der kreativsten Phase ihres Lebens stumpfsinnig und in der idealistischsten Phase ihres Lebens, der Pubertät, der Phase beginnender Selbstbestimmung ihres Denken und Handelns, gefügig.
Die Operation mit der Angst vor dem Abgleiten in eine staatlich produzierte Massenarbeitslosigkeit tut das ihre. All dies dient dazu, den Eigenwillen der Jugendlichen zu brechen. Philosophen und Pädagogen redeten diesem Erziehungsziel, das Alice Miller in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ als „schwarze Pädagogik“ charakterisiert hat, jahrhundertelang das Wort. Nur zwei von vielen Beispielen mögen dies illustrieren. Platon (427 – 347 v. Chr.) empfahl, Kinder ab sieben Jahren aus dem individuellen Umkreis ihrer Familien zu entfernen, sie einer uniformen Lagererziehung zu unterziehen und schließlich sogar Heirat und Geschlechtsverkehr staatlich zu regulieren (Politeia 457 c ff.).
Hegel (1770 – 1831), Vollender des sogenannten „deutschen Idealismus“, forderte von der Erziehung ausdrücklich die Brechung des kindlichen Eigenwillens, „damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgerottet“ werde, wobei man „nicht glauben darf, bloß mit Güte auszukommen“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 174 Zusatz). Erziehern wird mit solchen Ideologien und Theorien das pädagogische Rüstzeug zur Untermauerung eines Nichts an persönlicher Autorität mitgegeben, die umstrahlt wird von der beamteten Staatsaura mit „jeder Menge Minuszeichen im Kugelschreiber“, wie mein ehemaliger Physiklehrer seine Machtmittel so treffend beschrieb.
Einfühlungsvermögen in die jugendliche Seele, psychologische Kenntnisse oder gar ein gerüttelt Maß Selbsterfahrung, ein Nachweis über ausreichende Fähigkeiten, die eigenen Lebensprobleme halbwegs sinnvoll lösen zu können, ist für Lehramtsanwärter weder im ersten noch im zweiten Ausbildungsgang vorgesehen. Dies war zu Reichs Zeiten so, dies ist noch heute so. Und hier liegen die Wurzeln der pädagogischen Misere. Diese ist jedoch nach Reich die Ursache der soziologischen Fehlentwicklung einer mehr und mehr psychopathischen Gesellschaft.
Es ist ein Glücksfall, wenn ein Lehrer sich die Erinnerung an die eigene seelische Zerrissenheit seiner Jugend bewahrt hat ohne den Hass zu verspüren, eigene Verletzungen an der ihm anvertrauten Jugend ausagieren zu müssen, der deshalb nach Instinkt und Erfahrung, nicht nach der Theorie zu handeln vermag und somit wirklich das Wohl der ihm anvertrauten Jugendlichen zu achten und zu hegen versteht. Der Normalfall ist jedoch ein anderer. Reich beschreibt ihn in Form einer flammenden Anklage in seiner „Rede an den kleinen Mann“ (S. 61 ff.) an einem Beispiel, das ihm offensichtlich deutlich vor Augen stand, dem Beispiel der „fassförmigen“, orgonomisch völlig verpanzerten Lehrerin.
Der Gerechtigkeit halber mag ich hinzufügen, dass das, was Reich hier über die „fassförmige Lehrerin“ schreibt, genauso gut auf die sonnengebräunten und anabolikabepackten, ebenso aber völlig verpanzerten Muskelmänner zutrifft, die heute vorzugsweise als Sportlehrer jugendliche Lebendigkeit ersticken. Reich schreibt: „…Erziehung heißt…, wenn man sie ernst nimmt, die Sexualität der Kinder korrekt handhaben.
Um die Sexualität der Kinder korrekt zu handhaben, muss man selbst erlebt haben, was Liebe ist. (Hervorhebung von Reich, A.d.V.). Du aber bist dick und fassförmig, ungelenk und körperlich abstoßend. Dies allein genügt, dich jeden liebreizenden, lebendigen Körper hassen, tief und bitter hassen zu lassen. Nicht, dass du unförmig und fassförmig bist, mache ich dir zum Vorwurf; nicht, dass du nie Liebe genossen hast…; nicht, dass du die Liebe in den Kindern nicht begreifst, ist dir zum Vorwurf zu machen.
Aber dass du aus deiner Not, aus deinem zerstörten, fassförmigen Körper, deiner Unschönheit, deinem Mangel an Grazie, aus deiner Unfähigkeit zur Liebe eine Tugend machst und mit bitterem Hass die Liebe in den Kindern erstickst, wenn du zufällig an einer `modernen´ Schule wirkst, dies ist dein Verbrechen…; dass du dich nicht bescheiden in eine kleine Ecke dieses Lebens zurückziehst, sondern diesem Leben deine Hässlichkeit, deine Falschheit, deinen bitteren Hass aufzwingen willst, der sich hinter deinem verlogenen Lächeln verbirgt!“
Reichs Worte sind deutlich genug: das von ihm korrekt als „Verbrechen“ bezeichnete Handeln findet tagtäglich in Klassenräumen statt. Entsprechend muss hier die Prophylaxe einsetzen. Es muss verstanden werden, wie die orgonomische Verpanzerung, wie die emotionale Pest entsteht und es muss verhindert werden, dass emotional pestilente Lehrer und Lehrerinnen Kindern ihren Hass auf das Leben unter dem Deckmantel von moderner Erziehung aufzwingen wollen – und dazu staatlich lizensiert werden.
Das richtige Verständnis dieser beiden Faktoren bildet den Ausgangspunkt Reichianischer Pädagogik als Neurosenprophylaxe. Der Blick zurück ermöglicht erst pädagogisch richtiges Handeln nach vorn, für die „Kinder der Zukunft“, die frei und ungepanzert heranwachsen sollen. Aber hier, wo wir nun im Kern der Pädagogik nach Wilhelm Reich angelangt sind, verspüren wir auch die Sprengkraft dieses Atomkerns. Am Kreuzweg vom analytischen Blick zurück und vom orgonomischen Blick nach vorn beginnt auch der Scheideweg von Psychoanalyse und Orgonomie, von Reich und Freud.
DIE „KERNSPALTUNG“
Jedes Individuum kommt ungepanzert und voller Lebenslust zur Welt. Die Verpanzerung und damit die systematische Abtötung des lebendigen Kerns des Individuums beginnt erst mit der neurotischen Erziehung durch Eltern, Lehrer und andere Autoritätspersonen der Gesellschaft. Um unseren Lebenskern herum bauen diese Erzieher die Schicht des Freudschen Unbewussten und machen es damit erst zum Unterbewussten, so Reich in seinem VII. Kapitel von „Die Funktion des Orgasmus“.
Um unseren biologischen Kern, der aus Lebenslust und Glückssehnsucht besteht, formieren sich unsere vielfältigen Gefühle, die wir indes, ebenso wie unseren Lebenskern, zu unterdrücken, zu verdrängen, in Schach zu halten lernen. Lebenskern und Gefühlsleben werden unterbewusst, weil unsere Kultur mit ihren mystischen, d.h. religiös-moralischen, und ihren mechanischen, d.h. soziologisch-ökonomischen Traditionen dies erfordern. In anderen Kulturen, wie etwa bei den Trobriandern, wird diese Forderung nach Triebverzicht und Gefühlsunterdrückung nicht erhoben, entsprechend fehlen in dieser Kultur auch, wie Malinowski und Reich nachgewiesen haben, die Charakteristika der neurotischen Gesellschaftsstörung, wie sie in unserer westlichen Welt vorliegt.
In Schach gehalten und vom Schachmatt bedroht, wird unsere Lebenslust, unsere Unabhängigkeit sowie unser Gefühlsreichtum durch jenen Firnis normierten Sozialverhaltens, das wir als Höflichkeit, Anstand, zivilisierte Manieren bezeichnen und worauf wir stolz sind. Diese dritte Schicht regelkonformen, kultivierten Verhaltens wird uns als gesellschaftliches Über-Ich anerzogen. Wer es in der Ausgestaltung dieser dritten Schicht um die Gefühlsschicht und den Lebenskern herum zur Perfektion bringt, gilt als wohlerzogen.
Wir werden erzogen, Leistung zu bringen und zu fragen, was uns ein bestimmtes Verhalten in bestimmten Situationen bringt; ob uns Leistung und unser Verhalten um unsere Menschlichkeit bringen, ob wir uns durch Leistung und angepasstes Verhalten vielleicht letztlich systematisch umbringen, das gilt als äußerst unbequeme Frage, die dem, der sie denkt, kaum gedankt wird. Wir lernen, zu funktionieren, Chefs in den „Hintern“ zu kriechen und danach die Ellenbogen zu gebrauchen, weil man, so Tucholsky, im Berliner Dialekt, „so rasch vajißt, wie man ruff, wie man ruff, wie man ruff-jekommen ist.“
Wir bilden uns und bilden uns fort, um mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten und bleiben stecken in den Verwicklungen unserer ungelebten individuellen Gefühle und im Gestrüpp unserer Sehnsüchte. Wir lernen, zu lernen und dabei cool zu bleiben, machen locker unseren Schnitt und schneiden uns dabei ins eigene Fleisch. Wir lernen, uns bei Lehrern und anderen Zensurengebern lieb Kind zu machen und verprügeln unsere lieben Kinder, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit dem Frust und den Aggressionen.
Wir lernen als Jugendliche an langen Schulvormittagen unsere Sexualität in Literaturanalysen auf Klausurpapier zu sublimieren oder in Darstellungen von dominant-rezessiven Erbgängen an Schiefertafeln, um als Erwachsene nach erbrachter Tagesleistung mit dem Sublimationsakt rezessiv im Rausch des Hochprozentigen zu enden oder im Studio bei der Domina mit Schaftstiefeln. Dies sind die Auswirkungen einer Pädagogik, die aus Angst vor den Kräften des Lebendigen, die sich so schwer mit technischer Organisation und angemaßten Autoritätsstrukturen vertragen, systematisch das Lebendige unter der ätzenden Tünche der kulturellen Sozialisation erstickt.
Denn unter der dritten Schicht sterben die Gefühle und zuletzt auch unser biologisch-psychologischer Lebenskern ab, wir gehen für den Rest unseres Lebens als Scheintote durch die Welt, wenn dieses Werk der Sozialisation gelingt. Die Forderung, die Reich aus dieser Situationsanalyse zieht und an den orgonomisch orientierten Pädagogen richtet, habe ich als Motto diesem Essay vorangestellt.
Mit seiner soziologischen Analyse und den pädagogischen Konsequenzen, die Reich daraus für den „Platz der psychoanalytischen Bewegung im gesellschaftlichen Getriebe“ zog, brachte er sich an jenem Abend des 12.12.1929 in einen schweren Konflikt mit Sigmund Freud, der letztendlich zum Bruch mit ihm führte. Denn Freud selbst war damals mitten darin, der Psychoanalyse einen kulturbildenden Platz „im gesellschaftlichen Getriebe“ zuzuweisen, allerdings durchaus nicht den des Sandes in demselben.
Auch für Freud war Psychoanalyse spätestens seit seinem Gradiva-Aufsatz von 1907, allerspätestens seit „Totem und Tabu“ von 1912 mehr als eine medizinische Therapieform. Psychoanalyse als Wissenschaft war für Freud ein Welterklärungsmodell, das in seinem revolutionären Charakter, so betont er am Ende der XVIII. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, dem Kopernikanischen oder dem Darwinschen in nichts nachstand. In seinem 1927 erschienenen Buch „Die Zukunft einer Illusion“ erhob Freud den Anspruch, die Psychoanalyse habe als wissenschaftliches Welterklärungsmodell sogar die Kraft, das mythologisch-religiöse Weltbild ablösen zu können, ohne freilich den metaphysischen Trost der Religion zu spenden.
Zum Zeitpunkt von Reichs Vortrag arbeitete Freud an seinem 1930 erschienenen Buch „Das Unbehagen in der Kultur“. In diesem Werk behauptet Freud, ausgehend von dem Gegensatz zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip, die Existenz eines eigenständigen, dem Lebens- oder Sexualtrieb dualistisch entgegengesetzten Destruktions- oder Todestriebes. Er benannte diese beiden Triebe nach Gestalten aus der griechischen Mythologie als Eros und Thanatos.
Freud sah die gesellschaftliche Lage pessimistisch. Darin glich er Reich, nicht aber in den Konsequenzen, die sich aus dieser Sicht ergeben konnten. Freud gab die Forderung des Lebens nach Glück auf und forderte die Anpassung an das Realitätsprinzip, und zwar das bürgerlich-westeuropäische Realitätsprinzip von 1930. Reich hingegen forderte, die gesellschaftliche Realität so zu verändern, dass sie wieder Lebensglück ermöglicht. Freud forderte vom Ich des bewussten Menschen, sein Triebleben mit den Anforderungen des kulturell-moralischen Über-Ichs und der Realität der Gesellschaft zu versöhnen.
Unter den herrschenden Umständen schien es ihm Glücks genug, das neurotische Elend in „normales Unglück“ zu verwandeln. Dabei sah er ganz klar die zunehmende, kollektive Selbstzerstörung der Menschheit. Indem er an diesem Punkt nicht konsequente Rebellion gegen die „Mächte der Unterdrückung des Lebendigen“ forderte, wie Reich dies tat, sondern versuchte, mit diesen Mitteln zu „kollaborieren“, um „Schlimmeres zu verhüten“, nämlich die mittlerweile erlangte wissenschaftliche Reputation der Psychoanalyse nicht zu gefährden, verließ Freud die Radikalität seines ursprünglichen Forschungsansatzes der sexuellen Ätiologie aller Neurosen. Freud betonte, seine Theorie vom Todestrieb sei eine reine Arbeitshypothese.
Er hatte jahrzehntelang die Sexualität, die Liebe, das Leben in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gestellt und tapfer gegen alle Versuche verteidigt, den Blick der Psychoanalytiker von diesem Mittelpunkt abzuwenden; er hatte dafür den Bruch mit Adler und Jung und den Fortbestand der psychoanalytischen Vereinigung riskiert. Und nun demontierte Freud das Zentrum seiner Lehre selbst, indem er ohne Not der menschlichen Zestörungswut die Stellung einer eigenständigen Kraft zuwies, die der Lebenskraft ebenbürtig sein sollte.
Es ist kaum ermessbar, was Freud damit tat: er formulierte das Welterklärungsmodell namens Psychoanalyse von einem holistischen in ein dualistisches um. Ein ähnlicher Vorgang von ähnlicher Tragweite lässt sich meines Erachtens nur in der antiken griechischen Philosophie beobachten. Ging Platon ursprünglich davon aus, das Böse sei nichts als ein Mangel an Gutem, so schuf er in seinem Höhlengleichnis mit seiner scharfen Trennung zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Dinge einen Dualismus, in welchem das Böse mit einem Mal als eigenständige Kraft dasteht.
Der Interpretationsunterschied ist fundamental: einen Mangel an Gutem kann man gegen Null verkleinern, gegen ein Böses an sich kann man nur ankämpfen oder sich mit ihm arrangieren. Mangel an Gutem ist eine Quantität, Böses „an sich“ eine neue Qualität. Ähnlich steht es mit Eros und Thanatos. Für Reich war Destruktivität nichts als ein Mangel, besser: eine Stauung an frei, lebendig und liebevoll gelebter Sexualität, aber keine eigenständige Triebkraft. Hass war für ihn nichts als gefrorene Liebe, die durch orgonomische Therapie wieder aufgetaut, zum Schmelzen und zum freien Sich-Verströmen gebracht werden kann.
Im Blick auch auf die pädagogischen Konsequenzen weigerte sich Reich, Freuds neuem Dualismus zu folgen. Denn eine Pädagogik, die davon ausgeht, dass Eros und Thanatos gleichwertige und damit gleich gültige, also auch gleichgültige Triebkräfte sind, wird folgende drei Möglichkeiten haben: Destruktivität erbittert, notfalls mit Gegengewalt, bekämpfen und in Schach halten zu müssen, oder, zweitens, sich mit ihr zu arrangieren, das heißt sie abzumildern und, notfalls mit Suchtstoffen oder Medikamenten, zu betäuben, oder, drittens, im Laissez faire zu enden, weil Destruktivität ja ebenso egal wertvoll oder wertlos ist wie die Lebenslust.
Destruktivität und Perversion können dann nicht mehr so begriffen werden wie im holistischen orgonomischen Weltbild Reichs, das entsprechend auch nicht drei, sondern nur eine pädagogische Verfahrensweise zulässt: Destruktion und Selbstdestruktion als fehlgeleitete, gehemmte Sexualität zu erkennen und zu heilen, sprich: in gesunde, ausgreifende Kreativität umzuleiten, nachdem die hemmenden Faktoren so gut als möglich beseitigt sind.
Indem Reich mit seiner Haltung den Bruch mit der Psychoanalyse provozierte, rettete er, welch ein Paradox, für die Kinder der Zukunft die Genialität der ursprünglichen Entdeckung Freuds, der ungeheuren Kraft des Eros, sowie das Bild von der Genialität und Tapferkeit des Menschen Sigmund Freud, der diesen Eros allein über Jahrzehnte gegen den erbitterten Widerstand nicht nur seiner medizinischen Fachkollegen, sondern einer ganzen Gesellschaftsordnung aus den Fesseln jahrhundertealter bigotter Moralbegriffe befreite.
Freud schließt seine pessimistischen Ausführungen über seine Arbeitshypothese, die alle seine Schüler aber sofort begierig aufnahmen, um eine kleine Wahrheit aus ihr zu machen, die Wahrheit vom Todestrieb, dem Thanatos, der nun an allem Schuld ist, mit einer Bemerkung, die dem „Unbehagen in der Kultur“ doch noch ein Happy End zu verschaffen bestrebt ist: er hoffe, Eros, der Lebenstrieb, werde eine Anstrengung unternehmen, um die Selbstzerstörung der Menschheit aufzuhalten. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, dass Reich es war, der im Namen des Eros diese Anstrengung unternahm, die ihm selbst alles andere als ein Happy End bescherte. Und diese Anstrengung war eine pädagogische, wie ja überhaupt das Wesen der Pädagogik, so schon Platon (Symposion 206 b ff.), in nichts anderem besteht als – Erotik.
KONKRETE ELEMENTE EINER
ORGONOMISCHEN PÄDAGOGIK
Ich denke, es ist, nachdem ich nun ausführlich über den theoretischen Kern Reichianischer Pädagogik und deren Sprengkraft gesprochen habe, klar geworden, dass siebzig Jahre nach seinem Vortrag und vierzig Jahre nach seinem Tod nichts von dem umgesetzt ist, worum es ihm wirklich ging. Denn trotz aller schulpsychologischen Dienste und trotz aller Lehrerfortbildungen bleibt die große Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer „fassförmig“, jetzt nicht im körperlichen Sinne gemeint: Fässer voller Komplexe, deren Inhalt samt Form die Schüler überrollen, wie die bösen Buben von Korinth, die bekanntlich nach solcher Prozedur, in diesem Fall Erziehung genannt, geistig und seelisch „platt gewalzt wie Kuchen sind“.
Mittels jener unbegrenzten Menge von Minuszeichen in ihren Kulis üben sie Macht über die durchschnittlich 28 Lebensläufe in jeder ihrer Klassen aus und fordern Respekt vor ihrer Autorität, ohne zu wissen, was dies Wort eigentlich meint: dass dieses Wort mit Wagemut zu tun hat, mit Echtheit, unermüdlicher Arbeit an sich selbst, mit Aufrichtigkeit und Verantwortung, nicht nur der Institution Schule oder dem Kultusministerium gegenüber, sondern auch im Sinne jener von meinem Lehrer Richard Wisser so bezeichneten situationellen Verantwortung, die verlangt, in jeder Situation jedem Schüler aufrichtig Rede und Antwort zu stehen. Kinder und Jugendliche bemerken und achten natürliche Autorität und rebellieren gegen angemaßte Autorität, sofern sie noch nicht völlig pestilent verbogen sind.
Sie stehen in ihrer Rebellion ungeschützt, denn noch existiert keinerlei Verpflichtung für Lehrer, kompromisslos gegen die Mächte der Unterdrückung des Lebendigen, das man sogar zuweilen im Licht des Destruktionstriebes völlig uminterpretieren kann, vorzugehen. Im Gegenteil, ein Lehrer, der dies aus eigenem Antrieb tut, wird sich von Kollegen, dies habe ich am eigenen Leib erfahren, heftigsten Angriffen ausgesetzt sehen. Als solchen Angriff verstehe ich auch die eingangs zitierten Worte des deutschen Bundespräsidenten; es ist ein Angriff auf jene milden Ansätze von Menschlichkeit und emotionaler Wärme im Schulalltag, die selbst schwer neurotische Lehrer und Lehrerinnen durchaus entfalten können, Ansätze, die aber von dem, was Reich für Kinder als angemessen und orgonomisch und psychisch gesund erachtete, weit entfernt sind.
Auch die umfangreiche und durchaus einfühlsame Sexualaufklärung, wie sie im Biologieunterricht und in vielen Jugendzeitschriften betrieben wird, ist allenfalls im Detail das, was Reich unter „Förderung des Lebendigen“ als Ziel seiner Pädagogik begriff. Denn Reich begreift unter Sexualität bekanntlich, was indes auch viele, viele Reichianer vergessen haben, weit mehr als Sextechniken und Lustgestöhn oder die erektive und ejakulative Potenz beim Mann. Nicht umsonst spricht Reich in dem zitierten Abschnitt aus der „Rede an den kleinen Mann“ davon, dass der Pädagoge, der den Namen verdient, selbst die Liebe erlebt haben muss, um die Sexualität der Jugendlichen korrekt zu handhaben.
Reich wurde nicht müde zu betonen, dass die genitale Umarmung und der Orgasmusreflex nur bei völliger emotionaler Offenheit und vertrauensvoller Hingabe an den Partner möglich ist. Während aber Kinder und Jugendliche heute in Bezug auf die „technische“ Ausführung des Sexualaktes weitaus aufgeklärter sind als zu Reichs Zeiten und auch bei immer liberaleren und aufgeklärten Eltern immer freiere Möglichkeiten finden, jugendliche Sexualität ohne Scham und Scheu zu leben, während Lehrer bei Klassenfahrten, statt nächtliche Zimmerkontrollen durchzuführen, Kondome verteilen, jedes Kinderzimmer und jede Jugendherberge also auf dem besten Wege ist, zu einer abendländischen Bukumatula im Sinne der Trobriander zu werden, währenddessen findet eine emotionale Verarmung und Vernachlässigung der Jugend statt, die in der Geschichte ihres Gleichen sucht. Cool sein gilt als chic, von der Palette der Gefühle sind der Hass und die Sentimentalität, allenfalls die Sehnsucht übrig geblieben und die nur deshalb, weil die Spice-Girls sie besingen und die Protagonisten von „Gute Zeiten-Schlechte Zeiten“ sie vorspielen.
Ich überzeichne hier bewusst, denn ich beobachte in der Tat eine enorme Verrohung unter Jugendlichen im Alltag, eine mehr und mehr zunehmende Gefühlslosigkeit und Gleichgültigkeit oder Sprachlosigkeit gegenüber Gefühlen. Ein Leser, der Jugendliche bittet, ihm spontan ein Dutzend Gefühle nur mit den entsprechenden Begriffen wie Angst, Zorn, Zärtlichkeit, Freude, Liebe, Trauer etc. zu nennen, wird sein blaues Wunder erleben. Damit korreliert der zunehmende Alkohol-, Cannabis- und Extacykonsum unter Jugendlichen, von härteren Drogen ganz zu schweigen.
Unsere Gesellschaft ist zur Suchtgesellschaft geworden, diese Entwicklung hat Reich in ihrem ganzen Ausmaß noch gar nicht absehen können. Und „positive“ Leitbilder, an denen Jugendliche sich heute orientieren, sind auch zumeist solche, die das coole Image des Narzissten pflegen und dahinter ihre Gefühlsarmut verstecken. Der antrainierte Waschbrettbauch und der knackige Po zeigen an, dass der Penis wohl ebenso hartgesotten ist wie die Bauch- und Backenmuskulatur, der Muskeleigner jedoch starke Gefühle ebenso effektvoll abzuschmettern vermag wie ein Waschbrett einen Tennisball. Sprechen Sie einmal mit solch gut gebauten, durchtrainierten Leitbildern über das Wort Hingabe. Es war für Reich ein zentraler Begriff.
Sehe ich nicht allzu schwarz? Ist, wenn schon nicht der Schulalltag menschenfreundlicher geworden ist als zu Zeiten Reichs, wenn schon die Sexualaufklärung an Schulen am Kern dessen vorbeigeht, was Reich darunter verstand, aber nun doch immerhin frei und ungehindert stattfindet, ist nicht zumindest ein drittes großes Anliegen Reichs verwirklicht, das der Selbstregulation des natürlichen Organismus? Werden nicht Jugendliche mit Montessori-Pädagogik oder dem seit kurzem schwer in Mode gekommenen konstruktivistischen Ansatz nach Watzlawick zu immer mehr Selbständigkeit und Mündigkeit geradezu spielerisch hingeführt? Lernen Jugendliche nicht mehr als je zuvor, ihr Lernen selbst zu organisieren, wie Reich dies vom freien, lustvoll lebenden Menschen beschrieb?
Hat nicht die „antiautoritäre“ Erziehung seit den Achtundsechzigern einiges in dieser Hinsicht verändert? Nein, auch da mag ich alle Illusionen dämpfen, denn Reich selbst forderte in puncto Selbstregulierung schon zu Lebzeiten dazu auf, weil er spürte, dass sich „fortschrittliche“ Pädagogen auf diesen Begriff stürzen würden wie auf die Perle in der Auster, um die Schale, in die sie eingebettet ist, nämlich die orgonomische Theorie, dann achtlos wegzuwerfen. Am 29.02.1956 schreibt Reich an Neill: „Es wäre sehr nützlich, wenn Du die Begeisterung über die gegenwärtigen Möglichkeiten der Selbstregulierung…etwas dämpfen könntest. … Andernfalls wird daraus eine neue, verhängnisvolle Religion der `Selbstregulierung´ OHNE echte VERÄNDERUNG der TIEFENSTRUKTUR DES MENSCHEN, die dann weitere 2000 Jahre ihre tödlichen Wirkungen ausüben wird.“ (Zeugnisse einer Freundschaft S. 574; Majuskel-Hervorhebungen von Reich selbst.)
Die gesellschaftlichen Bedingungen sind eher ungünstiger geworden als zu Reichs Lebzeiten. Die Massenseuche der Suchterkrankungen etwa war noch gar nicht absehbar, obwohl sich bereits 1935 wenige hundert Meilen von Reichs späterem Wirkungsort Rangeley, Maine in Akron, Ohio die Anonymen Alkoholiker formierten. Reich nennt im „Christusmord“ die Umkrempelung der Pädagogik zur Neurosenprophylaxe eine „Jahrhundertaufgabe“. Die angeführte Briefstelle zeigt, dass das Ausweichen vor der pädagogischen Hauptaufgabe, der Veränderung der Tiefenstruktur des Menschen, die Fehler von Jahrhunderten auf Jahrtausende hin projiziert. Was also ist zu tun, was kann JETZT getan werden, um den mühsamen und langwierigen Prozess der Entpanzerung der Menschheit endlich in Gang zu setzen?
Zu allererst: anfangen müssen WIR, die wir noch mit dem Panzer und sämtlichen darin eingezwängten neurotischen Charakterstrukturen groß geworden sind. Wer sonst soll es tun? Wer je als Pädagoge die Gnade erfahren durfte, durch eine körperorientierte Therapie oder Fortbildung auch nur den Hauch einer Ahnung davon zu erhalten, was Befreiung der Lebensenergie und des Gefühlsausdrucks aus körperlichen Muskelverspannungen und pseudomoralischen Verkrustungen bedeutet oder bedeuten kann, ist aufgerufen, dieses Wissen, diese Erfahrung in praktisches Handeln umzusetzen, kompromisslos das Lebendige und dessen freie Entfaltung zu beschützen.
Er wird dies gerne tun und den Mächten der Unterdrückung des Lebendigen rücksichtslos entgegentreten, nicht nur obwohl, sondern gerade weil er die Narben der eigenen Verkrustungen, den krumm gewachsenen Stamm des Baumes noch spürt, wenngleich die Krone nun dem Licht entgegenstrebt. Der krumm gewachsene Baum muss die zarten, jungen Bäumchen beschützen, damit sie nun gerade heranwachsen können und er wird sich neidlos an diesem Anblick erfreuen können. Der orgonomisch orientierte Pädagoge von heute ist in derselben Position wie Moses, der das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt, zwar sieht und den Weg dorthin in etwa kennt, es selbst aber nicht mehr betreten wird, denn der Weg ist länger als ein Menschenleben.
Aus dieser Lagebeschreibung heraus möchte ich, der ich mich Reichs Forderungen und Folgerungen ganz und gar verpflichtet weiß, sieben Nahziele für die pädagogische Praxis von heute formulieren, quasi als anfängliche Wegweiser für die ersten Schritte auf dem jahrhundertelangen Weg:
SCHLUSS
Was wir tun, ist immer Stückwerk. Der Reichianische Pädagoge von heute ist vergleichbar dem Maurer, der siebzig Jahre nach Grundsteinlegung des Kölner Doms Stein auf Stein fügte, wissend, den Bau, dessen Bild er aus den Konstruktionsplänen erschließen konnte, nie vollendet in der Wirklichkeit vor sich zu sehen. Er baute auf einer Schutthalde römischer Relikte. Erst 524 Jahre später stand die Kathedrale in der Pracht da, in der wir sie seit 150 Jahren wahrnehmen. Die Dombauhütte ist unermüdlich beschäftigt, immer wieder Details auszubessern und zu erneuern. Der Dom wird nie wirklich vollendet sein.
Ich wünsche uns diesen Mut, diese Vision, diese Unverdrossenheit, unter dem Wirrwarr aus Ziegeln, Brettern, Nägeln und Seilen, im Schweiß unseres Angesichts, oft auch einsam und unter dem Gelächter derer, die da höhnen „wozu das Ganze, ist doch eh´ wurscht!“ dennoch lust- und vertrauensvoll Stein auf Stein zufügen und immer wieder zu prüfen, ob das Fundament noch steht: Die Funktion des Orgasmus, wie Reich sie bestimmt hat. Und, da die Lebenenergie, einem Wort Alexander Lowens zu Folge, der Schwerkraft entgegenwirkt, immer wieder zu prüfen, ob die Richtung des Baues für die Kinder der Zukunft, deren Zukunft so ungewiss ist, noch stimmt: entgegen dem Zeitgeist, der das Flache liebt, schlank, gotisch, schwerelos und elegant – nach oben!
Biographische Notiz: Eberhard Krumm * 07.03.1959 arbeitet als Lehrer für Philosophie und Geschichte an einer Privatschule in Bonn. Er hat sich als Beratungslehrer bei der psychoanalytischen Kinder- und Jugend-lichentherapeutin Annette von Mühlendahl, Köln, und dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien, aus- und weitergebildet. Er betreibt eine private Lebens- und Erziehungsberatungspraxis für Jugendliche und deren Eltern in Bonn. In Bukumatula 4 und 5/97 erschien vom selben Autor der Aufsatz „Wilhelm Reich und die Philosophie“.
Der Autor dankt an dieser Stelle herzlich Christiane und Manuela Keßelheim für die aufmerksame Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anregungen für die Textgestaltung, sowie Wolfram Ratz für die geduldige und interessierte Begleitung in der Entstehung und Endfassung des Essays.