24 Dez
Bukumatula 1/1999
„Vortrag“ zum Vortrag von Christa Falkenstein im „Sommercamp“ am 25. Juli 1998:
Beatrix Teichmann-Wirth:
Heute Abend werden wir Christa Falkenstein kennen lernen. Christa lebt seit Frühjahr dieses Jahres im ZEGG und hat sich davor im EOS-Netzwerk in Hannover engagiert; und jetzt engagiert sie sich im ZEGG in der Küche und im politischen Salon. In ihrem Vortrag wird sie ihre persönliche Geschichte mit dem ZEGG und den politischen Gedanken des ZEGG darstellen.
„Das Leben, das ich führen will, muss erst erfunden werden.“
Guten Abend. Jetzt ist das Sommercamp schon 24 Stunden alt, und ich denke, dass die meisten von Euch auch schon so einen gesteckt vollen Tag gehabt haben, wo das Zegg sich vorgestellt hat, wo die ganz unterschiedlichsten Menschen das von ganz unterschiedlichen Seiten gesehen haben. Ich will das jetzt irgendwie bündeln und mit meiner persönlichen Erfahrung und meinen Gedanken über das Zegg zusammenbringen. Es gibt so einen Leitsatz für den Vortrag, der gefällt mir gut und der heißt: „Das Leben, das ich führen will, muss erst erfunden werden.“ Und ich hoffe, dass Ihr durch dem Vortrag ein bisschen versteht, warum ich glaube, dass das Zegg ein Ort ist, der diese gewünschte Lebensweise zwar noch nicht unbedingt anbietet, aber die besten Chancen für ihre Erfindung anbietet.
Also zunächst zu meiner persönlichen Geschichte: Ich habe das Projekt Meiga vor jetzt etwas mehr als drei Jahren kennengelernt, nicht hier im Zegg, sondern an einem anderen Ort, auf Lanzarote, und in der darauffolgenden Zeit wurde das Zegg für mich immer wieder der Ort in Deutschland, wo man die Verbindung halten kann zu diesen Gedanken. Was mich immer wieder hierhergezogen hat, auch wenn ich es manchmal nicht ganz leicht fand, das will ich ganz kurz an so einem Erlebnis an einem meiner ersten Wochenenden erzählen.
Da fand ich mich plötzlich morgens in der hier üblichen Sonntagsmatinee sitzend mit Tränen in den Augen, in so einem richtig aufgeweichten inneren Zustand. Und ich habe überhaupt nicht gewusst warum, ich war ja schließlich nicht unglücklich, also es gab keinen Grund dafür. Ich weiß noch genau, dass es eine Matinee war, in der es um das Thema ging, dass die ganze Welt aus Energievorgängen aufgebaut ist, alles, auch das, was uns hier als fester Körper erscheint.
Und ich konnte da zuhören und habe alles verstanden, obwohl solche naturwissenschaftlich-technischen Vorträge und Gedankengänge nicht unbedingt mein Heimatplatz sind. In der Nacht vor dieser Matinee war ich sexuell mit einem Mann auf eine ganz innige und schöne Art und Weise zusammen gewesen. Und vor der Matinee hatte, wie das auch oft so ist, der Chor gesungen und ich wusste, dass ich die Berührung, die dadurch in mir entstanden war, nicht als sentimentale Regung abtun musste, sondern, dass sie ihren Platz haben durfte.
Das heißt kurz zusammengefasst, ich habe an dem Wochenende das erlebt, was der Zegg-Prospekt meint, wenn da geschrieben steht, das Zegg ist ein Platz in dem der Mensch als „Ganzes“ landen kann. Und das machte die Tränen in den Augen, das Gefühl, hier kann ich ankommen als Ganzes mit Geist und Herz und Sex und Seele. Und das ist ja ungeheuer viel. In den drei Jahren in Hannover war dann das Zegg immer wieder ein Ort für mich, um sich mit den Gedanken, die mir wichtig waren zu verbinden. Vor allem mit dem Gedanken der Gemeinschaft, Gemeinschaftsbildung, der freien Liebe und den politischen Gedanken, die ja einen wichtigen Hintergrund des Zegg bilden.
Es war für mich auch immer wieder ein Ort, wo ich auftanken konnte, wo es fast so was wie eine Supervision gab, zu dem, was man erlebt hat, was man gemacht hat und wo ich immer wieder andere getroffen habe, die das gleiche taten und wo viel Verbindung, Freundschaft entstanden ist, weil man die gleichen Themen, die gleichen Fragen teilte. Es ging immer wieder darum, wie ich das, was ich hier höre und was mir hier gefällt, in meinem eigenen Leben umsetzen kann. Wie kann ich daran weiter arbeiten in der Stadt, da wo ich bin.
Solche Fragen stellen sich wahrscheinlich einige von Euch, oder sie kommen noch auf während des Sommercamps. Die muss natürlich jeder für sich beantworten, dazu kann ich ja nichts Allgemeingültiges sagen. Trotzdem sage ich ein paar Sätze zu meinen eigenen Antworten. Meine Antworten hatten viel zu tun mit meiner Mitarbeit im EOS, diesem Stadtzentrum in Hannover, das heißt auch damit, dass ich mich mit diesen Gedanken von Gemeinschaft und freier Liebe immer wieder selber veröffentlicht habe.
Diese Arbeit war ein Punkt und meine Antworten haben viel zu tun gehabt mit dem Liebesthema, von Anfang an eigentlich. Einmal gab es da für mich als damals vierzigjährige Frau so einen neuen sexuellen Aufbruch, fast wie so ein zweites Mal, nachdem ich das erste Mal so mit sechzehn, achtzehn die Sexualität entdeckt hatte – es gab so einen zweiten Aufbruch, mich selbst noch einmal als sexuelles Wesen zu entdecken, in einem Alter, wo ja vielfach Frauen in unserer Gesellschaft glauben, dass sie, was das zumindest angeht, bereits zum alten Eisen gehören oder zumindest, oder auf jeden Fall mal für jüngere Männer nicht mehr interessant sind.
Und der zweite Punkt beim Liebesthema: Meine Antworten haben etwas zu tun gehabt mit einer neuen Art, meine Liebesbeziehung zu definieren, wo es dann nicht mehr mein Ziel war, einen Mann ganz für mich alleine zu haben, sondern gerade dadurch, dass es für ihn auch andere Frauen und für mich auch andere Männer gab, etwas darüber zu verstehen, was er eigentlich für einer ist, was er braucht und sucht und was ich für eine bin, was ich brauche und suche.
Und meine Antworten haben viel damit zu tun gehabt, wieder in eine Art persönliche Auseinandersetzung mit mir selber zu kommen. Die hat eigentlich da vor drei Jahren noch mal ganz neu angefangen. Damit bin ich auch bei einer anderen wichtigen Funktion, die das Zegg für mich gehabt hat und immer noch hat. Es ist für mich ganz stark ein Ort auch der persönlichen Entwicklung. Oft genug war es mir hier mulmig zumute unter den Blicken der anderen, wenn man so hier über den Platz geht oder irgendwas tut oder was sagt, und ich habe mich gefragt, wohin eigentlich meine Souveränität hin verschwunden ist, also die Souveränität, die man so hat, wenn man, was ich lange getan habe, in einer gehobeneren beruflichen Position arbeitet.
Das ist eine Souveränität, die gewinnt man einfach, weil es so ein Stützkorsett gibt von Rolle, Verhaltenskodex, institutioneller Rahmen, wo man so drinsitzt, ja, das hat man dann hier alles nicht mehr, das ist ein bisschen entblößend. Klar, dass es um eine andere Art, um innere Souveränität geht. Eigentlich muss man sagen „Substanz“, und die kann nicht verliehen werden. Auch im Forum oder in den Gruppen gab es immer wieder Situationen, wo ich mich selbst wieder erkannt habe in der Darstellung der anderen und wo auch die anderen in meinen Auftritten Dinge gesehen und erkannt haben, die ich vielleicht lieber nicht gezeigt hätte.
Dann kommt so eine Frage, weiß ja eh‘ schon jeder, was mit mir los ist; das ist einem natürlich nicht immer sympathisch. Und dann hat man das eben, das Gesehenwerden, das will man ja schließlich auch, und dann ist es anstrengender, als man gedacht hat. Bei mir zumindest hat es oft zu so was Mulmigem geführt oder zu einer Aufgewühltheit, die ich sonst so nicht kenne. Ich werde dann meistens erstmal schüchtern, bei anderen passiert genau das Gegenteil, ist auch klar, und das rückt sich dann zurecht.
Auf jeden Fall habe ich ganz schnell begonnen, auf die Menschen im Zegg zu projizieren, das heißt die ganzen Wünsche nach Ankommen, auch nach Führung, nach Menschen, die einen bei der Hand nehmen und einem sagen, wie das Leben geht, was unsere Eltern meistens nicht so richtig konnten, diese ganzen Sehnsüchte auf die Leute hier zu werfen. Wenn man das macht, statt sich nüchtern anzusehen, was fehlt noch, dann nimmt man wahrscheinlich irgendwann übel, dass man das alles nicht kriegt, was man sich erhofft hat; und dann hat man vergessen seinen eigenen Beitrag zu leisten. Denn ein Projekt wie das Zegg lebt ja auch von dieser Auseinandersetzung, das kann ja auf Dauer ohne ein lebendiges Außen, ohne diesen Austausch nicht bestehen.
Ich kann mich jedenfalls an diese Unsicherheiten und an diese verschiedenen Durchläufe, die ich hier erlebt habe, und dass ich dann manchmal gar nicht kommen wollte, an das alles kann ich mich noch gut erinnern. Ich habe jedenfalls gedacht, dass man nicht umsonst von „Durchläufen“ spricht, und dass das Zegg wahrscheinlich ein Durchlauferhitzer ist. Auf jeden Fall ist es ein Katalysator oder ein Vergrößerungsglas für die Themen, die man sowieso schon hat, das wird ja hier nicht erzeugt. Jetzt kommt ein kurzes Zitat und damit der Übergang vom persönlichen zum allgemeinen Teil: „In alten Zeiten gab es besondere Treffpunkte, um Freundschaften zu pflegen, um Erfahrungen auszutauschen, um Bildung weiterzugeben, um sich zu amüsieren, um miteinander anzubändeln und um sich mit den Kräften der Natur zu verbinden.
Nach der nordischen Göttin der Fruchtbarkeit und der Weisheit Aka nannte man diese Treffen zu ihren Ehren Akademia.“ Davon habe ich hier immer wieder etwas erlebt und daher wäre das einmal eine mögliche Antwort auf die Frage „was ist das Zegg?“. Wahrscheinlich ist es eine unterstützende Antwort, denn sie spricht auch die Zielgestalt dieses Ortes an, und deshalb gefällt sie vielen auch so gut und wird öfter zitiert. Das sind Sätze von Heide Göttner-Abendrot. Bei meiner Vortragsvorbereitung, auf der Suche nach Gedanken und Anregungen, habe ich die Zegg-Magazine der letzten Jahre durchgeblättert, und ich habe festgestellt, dass so über den Daumen gepeilt in jedem zweiten eine Reflexion über das Zegg drinnensteht und dass diese Reflexionen immer wieder neue Definitionen liefern.
Auf jeden Fall mehr, als man für einen Vortrag zu dem Thema „Was ist das Zegg?“ gebrauchen kann. Das Zegg ist ein Gemeinschaftsprojekt, ein Kulturmodell, ein Forschungslabor, ein internationaler Treffpunkt, ein Vernetzungspunkt; das Zegg ist ein Studienort für neue Lösungen der menschlichen Grundfragen, ist ein Platz für die Liebe, ist eine Erfahrungsschule. Das Zegg ist ein politischer Ort, ein Tagungszentrum, eine Sende- und Empfangsstation, eine Aufklärungs- und Informationsstätte und, und, und. Es gibt noch mehr, ich wollte aber nicht alle aufzählen. Augenfällig finde ich jedenfalls, dass es bei Zegg ein Innen und ein Außen gibt.
Es gibt die Gemeinschaft der Bewohner und es gibt all die nach außen gerichteten Aktivitäten: die Seminare, die Tagungen, Veröffentlichungen, die Bücher, die Öffentlichkeitsarbeit, alles was so dazugehört. Warum beides, Innen und Außen, eng zusammengehört und warum das Zegg gerade dadurch, durch diese Verbindung, für mich ein politischer Ort ist, dazu will ich jetzt noch was sagen. Dabei geht es nicht um alle Themen mit denen man sich hier im Zegg beschäftigt – von Kunst, über Ökologie, Technologie, Gartenbau bis zu Pädagogik und Spiritualität, sondern es geht um die, die ich für ausgesprochene Spezialitäten des Zegg halte: es geht um die Forschungsschwerpunkte sozusagen, und damit meine ich Gemeinschaftsaufbau und freie Liebe – ganz zufällig die Themen der beiden Sommercampwochen – das hat sich getroffen.
Das Zegg ist ein Forschungsort für die Grundfragen des Lebens. Zum Beispiel: wie leben Männer und Frauen zusammen in Liebe und erotischer Atmosphäre ohne Gewalt, ohne Eifersucht, ohne Clinch, auch ohne Resignation und Einsamkeit. Oder wie kann der Mensch mit der Natur und ihren Kreaturen zusammenleben ohne Zerstörung, ohne Ausbeutung, ohne Gewalt. Oder: Wie kann der Mensch eine neue Religiosität aufbauen ohne Dogma, ohne Denkverbot, ohne Kolonialismus und ohne Missionierung. Oder und wie können unsere Kinder aufwachsen ohne emotionale Ausbeutung und ohne Abhängigkeit.
Zu solchen Fragen geschieht im Zegg eine Art Selbstversuch. Das heißt, wie es das in der Wissenschaft immer schon bei engagierten Pionieren gegeben hat, machen auch die Menschen, die hier leben, eine Art Selbstversuch. Welche Bedingungen sind notwendig, damit eine Entwicklungsenergie entsteht und dauerhaft erhalten bleibt? Wie muss ein Alltagsleben gestaltet sein, wie muss die Arbeit gestaltet sein, wie die Ernährung usw., damit diese notwendige Energie nicht einfach aufsteigt und wieder verschwindet.
Deshalb ist es notwendig, immer eine innere Bewegung hier am Platz zu haben, deshalb ist hier gerade – nur zum Beispiel – ein Gemeinschaftskurs zu Ende gegangen, deshalb zieht man hier öfter mal um, deshalb wechselt man seine Arbeit, seine Ernährung oder alles gleichzeitig. Tatsächlich ist es ja so, dass man sich in diesen Grundfragen von Gemeinschaft – Macht und Sex und Geld und Liebe – das sind wahrscheinlich die wichtigsten, dass man sich da erstmal selbst zum Gegenstand der Forschung machen muss.
Wir kennen einige Antworten, aber wir wissen nicht alle Bestimmungsstücke dieser Antwort, das heißt also, dass da der Lehrer sich selber unterrichten muss oder der Heiler sich selber heilen muss, der Forscher muss sich erst mal selber zum Gegenstand seiner Beobachtungen und Experimente machen. Das Zegg kann auf Dauer nur ein Ort der Forschung und der Vermittlung dieser Ergebnisse sein, wenn es im inneren von einer lebendigen Gemeinschaft getragen ist und wenn es die Ideen, die es kommuniziert, selbst ständig erprobt und weiterentwickelt.
Wenn man innerlich der Arroganz erliegt zu denken, man hätte es schon, oder man sei mit irgend etwas schon fertig, dann wird man auch im Äußeren funktionärshaft, dann wird man unglaubwürdig. Man erliegt dann einem typischen kleinfamiliären Denken. Übrigens muss man nicht im Zegg wohnen, um auf so eine Idee zu kommen, dass man’s schon hätte. Also die Art der Fragen, diese Grundfragen, über die ich gesprochen habe, die sind ein wichtiger Grund dafür, warum Innen und Außen zusammengehören. Das forschende Innen ist eine Voraussetzung, sonst kann man nichts nach außen vermitteln, sonst wird’s leer.
Außerdem sehe ich ganz viele der Themen, mit denen sich das Zegg beschäftigt unter der verbindenden Überschrift „Öffnung“. Es geht ganz vielfach und immer wieder um Öffnung. Das muss auch so sein, es gibt keine geschlossenen Systeme auf der Welt. Es geht um die Öffnung des einzelnen mit seinen persönlichen Themen in die Gemeinschaft hinein, auch mit den Themen Liebe und Sexualität. Damit ist keine Öffnung um ihrer selbst willen gemeint, weil Öffnung einfach gut, oder Selbsterfahrung spannend ist, oder sonst irgendwas, es geht um eine Öffnung, die aus dem Wissen heraus kommt, dass die Themen des einzelnen nicht nur für das Individuum stehen, sondern dass sie umfassende Themen sind, geschichtliche Themen, universelle Themen.
Diese Öffnung und diesen Blickwechsel zu vollziehen – von der Schau auf die eigenen Themen als was ganz Privates zu dem Blick auf die eigenen Themen als was Geschichtliches, was Umfassendes – ist ganz einfach eine persönliche Entscheidung, wie man die Dinge betrachten möchte. Allerdings ist es eine Entscheidung, mit der man sich einiges einhandelt. Was ich damit meine, will ich kurz am Thema freie Liebe erläutern und das gilt für andere Themen in ähnlicher Weise. Freie Liebe ist ja nicht bloß in erster Linie eine Alternative zur bürgerlichen Ehe – das ist sie nebenbei auch, aber sie ist vor allem eine Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft.
Denn die bürgerliche Gesellschaft beruht genau auf diesem privaten Denken, und zur freien Liebe gehört ein universelles Denken. Das heißt also, freie Liebe ist eine Daseinsform, bei der man vor der interessanten Aufgabe steht, Schwierigkeiten beim Sex, in der Liebe, mit der Eifersucht, mit all diesen Dingen nicht mehr als private Neurose zu sehen oder auf sein persönliches Schuldkonto buchen muss, sondern sie im Sinne eines geschichtlichen Kategorienwechsels sehen kann. Dieser Blickwechsel auf das, was ich in der Liebe an Schönheit und Erfüllung, aber auch als Sehnsucht und Scheitern erlebe, der wirkt auch unmittelbar auf die Gemeinschaft zurück.
Wenn ich mich selbst mit diesem geschichtlichen Blick betrachte und mich nicht mehr mit schlechtem Gewissen und Schuldfragen abmühe, dann weitet sich sofort auch mein Blick auf die anderen, die ich dann auch nicht mehr ganz persönlich als erfolgreich, attraktiv oder blöd betrachte, vielmehr kann ich verstehen, welches Thema sich da personifiziert – bei mir wie auch bei den anderen. Wenn man diesen Blickwechsel, also diese Öffnung vollzieht, dann hört man auf, sich für seine eigenen Neurosen zu geißeln und sie als privates Versagen zu betrachten.
Allerdings kann man dann auch nicht mehr denken, dass irgend etwas damit getan wäre, dass man ein schlechtes Gewissen hat, oder dass man sagt, es geht ja bloß um mich, sondern man handelt sich mit diesem Blickwechsel Verantwortung ein für das, was man tut, weil man weiß, was ich für mich löse, löst sich auch für andere und wo ich blockiere, da blockiert es auch die anderen. Das ist auch in einer Gemeinschaft sicherlich eine Energiefrage.
So wie sich der einzelne öffnet mit seinen Themen und sich selbst zum Forschungsgegenstand macht mit der Frage, für welches Thema stehe ich hier, so betrachte ich auch die Gemeinschaft als einen größeren Organismus, der sich selbst zum Forschungsgegenstand macht, also eine Stufe größer geweitet, vom Individuum auf die Gemeinschaft, kommt derselbe Blickwechsel, dasselbe Thema noch mal. Bei Zegg heißt dieser Forschungsgegenstand kummunitäre Gemeinschaft. Die Bildung oder die Erfindung einer solchen Gemeinschaft, denn das gibt es wahrscheinlich noch gar nicht auf der Welt, ist auf jeden Fall eine hohe innere Aufgabe und es ist eine politische Aufgabe.
Diese Aufgabe bedeutet für jeden einzelnen ein Ich zu entwickeln, das aus der Wahrnehmung und der Anteilnahme handelt. Das ist etwas ganz anderes als ein Ego, das aus der Emotionalität heraus handelt – einmal so und einmal anders. Kommunitäre Gemeinschaften definieren sich weniger über die Gemeinschaft selbst, als über die einzelnen, die sie bilden. Diese Einzelnen müssen Verantwortung dafür annehmen, was um sie herum passiert und das was da passiert, was sie wahrnehmen, verbindlich in die Kommunikation einbringen; und man muss immer wieder Orte finden, von denen aus man geistig auf die Gemeinschaft und die eigene Aufgabe darin schauen kann. Für mich steht dem Begriff der kommunitären Gemeinschaft die charismatische Gemeinschaft gegenüber, wo die einzelnen sich um einen Führer oder einen Guru scharen.
Ich glaube, dass solche Gemeinschaften durch Emotionen zusammengehalten werden und dass sie letztlich in ihrer Grundstruktur nichts anderes sind als eine Serie von Zweierbeziehungen, nämlich die Beziehung jedes einzelnen zu seinem Führer oder seinem Guru, also im Prinzip gleichartige Zweierbeziehungen. Solche Gemeinschaften führen individuell in die Abhängigkeit und kollektiv ist das letzten Endes Faschismus. Das Zegg hat die Aufgabe, eine andere Form lebendiger Gemeinschaft zu entwickeln, die für jeden einzelnen den höchstmöglichen Freiraum, Sinn, Verantwortung, Freundschaft und Liebesmöglichkeit bietet. Mit diesem Thema Gemeinschaftsbildung und Forschung ist das Zegg also zutiefst ein politisches Projekt. Es macht die bisher privaten Themen von Sex und Liebe, Zusammenleben und Kommunikation öffentlich.
Diese Themen öffentlich zu machen, das heißt politisch zu bearbeiten, heißt, sie in einem allgemeingültigen, verallgemeinerbaren Sinn zu bearbeiten und in einem Kulturmodell zusammenzuführen. Mit einem solchen Vorhaben kann man nicht an irgendeiner Grundstücksgrenze haltmachen oder bei einer Unterscheidung zwischen Bewohnern und Gästen, da gehören Innen und Außen auf jeden Fall zusammen, sonst hätten da Inhalt und Form nichts miteinander zu tun.
Das Lebensmodell, das im Zegg aufgebaut wird, basiert also deshalb auf einer Gemeinschaft, weil Gemeinschaft ein von Menschen geschaffenes größeres Biotop ist, das genau diesem Ziel dient, nämlich den Menschen aus seinem persönlichen, alltäglichen, privaten Denken herauszuführen. Nur in der Gemeinschaft kann man diesen größeren Blick üben, den einzelnen stellvertretend für ein Thema für etwas Größeres zu sehen.
Zum Schluss noch mal die ganz politische Seite: Das Zegg ist ja als politischer Ort eine Aufklärungs- und Informationsstätte mitten in Deutschland und ich denke, das ist richtig so. Das Zegg kann und soll keine Insel oder Klause sein, das ist kein Rückzugsort, sondern ein ausgesetzter Ort und ich glaube, dass das vom inneren Sinn dieses Platzes her auch stimmt. Man könnte sonst das Ziel, diese Gedanken zu vermitteln und drumherum ein wachsendes Netzwerk aufzubauen, dann nicht verfolgen. Vermitteln kann man ja nur etwas, wenn man außer dem eigenen Standpunkt auch den Standpunkt, die Umwelt, die ganze Gedankenwelt des anderen kennt.
Wenn man das nicht kennt, führt man letztlich ein Selbstgespräch. Und deshalb ist es richtig, dass das Zegg mittendrin ist, auch da geht es ja um Verbundenheit und Öffnung. Natürlich ergeben sich daraus immer wieder Spannungen. Es ist ein Spagat zwischen bundesdeutscher Wirklichkeit und Vision – es knirscht zwischen Alltag und Utopie. Ich denke aber, die Aufgabe des Zegg ist es, dies als sein politisches Thema zu verstehen, das heißt eben es nicht zu beklagen, sondern es anzunehmen. Dem Zegg geht es da wie den meisten einzelnen Menschen, wie den meisten Individuen: man bewegt sich in der Spannung zwischen den kleinen intimen Träumen, die man für sich selber hat und den großen geschichtlichen Visionen.
Das Zegg als politischer Ort ist eben eine Sende- und Empfangsstation. Es sendet Bücher und Seminare, Tagungen, Briefe Diskussionen, Talkshows und natürlich auch Menschen, die für diese Ideen stehen. Und es empfängt Informationen und Erfindungen über Lebenswissen und Technologien, Bausteine alter und neuer Kulturen und auch wiederum Menschen, die dieses Wissen verkörpern und dafür stehen.
Das Zegg als Schnittstelle zwischen Senden und Empfangen steht also notwendigerweise in so einer Spannung zwischen der Aufgabe, die Botschaft so zu senden, dass der Empfänger sie dechiffrieren kann und der Notwendigkeit diese Botschaft nicht zu schmälern, nichts zurückzunehmen und nichts ungesagt zu lassen, was gesagt werden muss.
Das Zegg ist also ein politischer Ort. Nur so gesehen machen diese ganzen Grenzgänge und Experimente und Spannungen, über die ich gesprochen habe einen Sinn; man könnte es sonst weiß Gott gemütlicher haben. Aber ich denke, wir sind – und wir sollen es auch sein – Weltverbesserer, nicht als Schimpfwort, auch nicht als Zeichen für Weltfremdheit und Spinnerei, sondern weil es eine Notwendigkeit gibt, die Welt zu verbessern.- Danke.
Wer sich näher für das ZEGG interessiert:
Forschungs- und Bildungszentrum GmbH
Rosa-Luxemburg-Straße 89
D-14806 Belzig
Tel 0049 33841/595 10, Fax -12
Bücher:
Duhm Dieter: Aufbrauch zur neuen Kultur. Von der Verweigerung zur Neugestaltung. Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative. Verlag Meiga 1993
Duhm, Dieter: Der unerlöste Eros. Verlag Meiga 1991
Lichtenfels, Sabine: Der Hunger hinter dem Schweigen. Annäherung an sexuelle und spirituelle Wirklichkeiten. Verlag Meiga 1996
Lichtenfels, Sabine: Weiche Macht. Perspektiven eines neuen Frauenbewusstseins und einer neuen Liebe zu den Männern.
Verlag Berghoff and Friends, 1996a
24 Dez
Bukumatula 1/1999
außen stachelig – innen süß
Eine gemeinsame Kolumne körperpsychotherapeutischer Zeitschriften
Der Fahrstuhl von Peter Bolen
Dr. Meindl war mit dem Ansatz der autosuggestiven Entspannung in seinen inneren Dialog vertieft, als er sieben Minuten vor sechs Uhr in die Karolinengasse einbog, um in seine psychotherapeutische Praxis zu gehen. Er wußte, Fräulein K. würde nicht früher als fünf Minuten nach Sechs zu ihrer Stunde kommen, sie war noch nie pünktlich gewesen. Es blieb also genug Zeit, sich bequem umzuziehen, aufs Klo zu gehen, sich die Hände zu waschen und fünf nach Sechs entspannt die Türe zu öffnen, mit dem Ausdruck der heiteren Gelassenheit, den Therapeuten bei der Begrüßung verbreiten und dem Klienten den Eindruck vermitteln, nur auf ihn gewartet zu haben und sonst keiner kleinlichen Alltagssorge ausgesetzt zu sein.
Beim Betreten des Fahrstuhls, es handelte sich um einen jener liebenswürdigen Relikte der Gründerzeit, die altehrwürdige industrielle Schönheit mit umständlicher Handhabung verbinden und seit vielen Jahrzehnten mehr oder minder verläßlich – nach dem Einwurf einer Münze – deutlich hörbar dem ihnen zugedachten Auftrag nachkommen.
Die Außentür mußte sorgfältig geschlossen werden, die innere Schiebetür in den vorgesehenen Zapfen einrasten, und nach dem Drücken des zylindrischen Messingknopfes begann die betagte Konstruktion aufwärts zu rumpeln. Ein kurzer Blick in den beleuchteten Spiegel überzeugte Meindl über den korrekten Sitz der Frisur, und eine leichte Korrektur des Gesichtsausdrucks glättete die Anspannung über der Nasenwurzel zu einem fast heiteren Ausdruck professioneller Gelassenheit.
Das plötzliche Erlöschen der Innenbeleuchtung riß Meindl aus seinen Vorbereitungen. Der Fahrstuhl, nicht etwa der Aufzug, wie man gewöhnlich jene eher unpersönlichen Beförderungkabinen ohne auf-klappbare Sitzgelegenheiten mit Samtbezug und beleuchtetem, geschliffenem Spiegel zu nennen pflegt, blieb mit einem deutlichen Quietschen stehen. Er hatte sein geplantes Ziel, den zweiten Stock, der eigentlich wegen der Existenz des sogenannten Mezzanins ein dritter Stock war, um gute eineinhalb Meter verfehlt. Dies hatte zur Folge, daß Meindl, der trotz des urkundlich nachweisbaren Besitzes des kleinen d`s vor dem letzten Buchstaben in seinem Namen öfters ungerechtfertigter Weise mit einer bekannten Kaufhausgruppe in Zusammenhang gebracht wurde, gerade durch einen handbreiten Spalt auf seine Praxistür schauen konnte, aber sonst unrettbar festsaß.
Die vorgesehene Betätigung der für solche Eventualitäten vorhandenen Glocke führte zu keinem sichtbaren Erfolg. Es blieb die Wahl zwischen lautem Rufen oder geduldigem Warten auf zufällige Hilfe. Während sich in Meindls Kopf die Gedanken überstürtzten, wie lautes Rufen, keineswegs Schreien um Hilfe, eines Therapeuten im sonst gediegenen Bürgerhaus von den Parteien aufgenommen werden würde, verrannen unbeachtet die dritte, vierte und fünfte Minute nach sechs Uhr. Um den richtigen Ton in seiner, in vielen Schreiseminaren durchaus geübten Stimme zu bekommen, beschloß Meindl, seinen Ton sozusagen einzuschleifen, also leise beginnend immer lauter „der Fahrstuhl steckt“ zu rufen.
Zunächst fast unhörbar, gleichsam für sich memorierend, dann immer lauter werdend, sich sorgfältig vergewissernd, daß mit der Erhöhung der Lautstärke nicht etwa auch die Tonart höher würde, was dem Hilferuf Notcharakter gegeben hätte. Dieser Eindruck sollte keineswegs erweckt werden, eher gelassene Hinweise auf eine alltägliche technische Störung, also auf eine Situation, in die jeder Mensch kommen kann, ohne durch sein Mißgeschick Verwunderung oder gar Kritik auszulösen.
Er wurde in der Durchführung seiner Versuche sich bemerkbar zu machen jäh durch das Geräusch des sich öffnenden Haustores unterbrochen. Er realisierte noch nicht, in welcher Person sich die Inkarnation eines Retters seiner mißlichen Lage nähern würde. Er hörte zunächst die erfolglosen Versuche der Betätigung des Fahrstuhlknopfes und dann das zunächst zögernde, aber dann immer entschlossenere Geräusch sich nähernder Schritte im Stiegenhaus.
Da das Stiegensteigen in diesen ehrwürdigen Häusern mit ihren breiten Treppenabsätzen nicht leichter ist, aber doch gemächlicher vorangeht, brauchte es eine gewisse Zeit und zwei Stockwerke, bis Meindl klar wurde, zu welcher Person das Schnaufen, welches sich unbeirrbar seiner Praxistüre näherte, gehörte. Erst als die roten Stöckelschuhe mit den spitzen Absätzen an seinen Augen vorbeitrabten, wurde ihm klar, daß es sich um Fräulein K. handelte.
Die Perversion der Situation, Fräulein K., von der nur die Beine sichtbar waren, wörtlich „über sich zu wissen“, das Bewußtsein, die eigene Hilflosigkeit unmöglich kaschieren zu können und die gräßliche Vorstellung, einem sicherlich inkompetenten Hilfeversuch seiner permanent regressionsanfälligen Klientin ausgeliefert zu sein, trieben Meindl zu einer Kurzschlußreaktion. Er beschloß, einem Totstellrefex ähnlich, sich nicht bemerkbar zu machen.
Lautlos atmend, einen leichten Schweißausbruch auf seiner Stirne und unter seinen Achseln wahrnehmend, beobachtete er sich selbst, fast wie in Trance, wie er Fräulein K., oder genauer gesagt ihre Beine aus einer voyeuristischen Perspektive anstarrte, während sie wiederholt die Türglocke betätigte. Sie schien zu überlegen. Sie blickte auf ihre Uhr, begann umständlich in ihrer etwas überdimensionierten und daher unübersichtlichen Handtasche nach etwas zu kramen, um erfolglos mit dieser Tätigkeit aufzuhören und einfach zu warten.
Bei einem unbeteiligten Beobachter müßte der Anblick dieser zwei unbewegten Figuren, die kontaktlos zueinander verharrten, den Eindruck einer Bühne machen, wo zwei Akteure auf ihr Stichwort warten, welches nicht kommt und der Souffleur gerade eingeschlafen ist.
`Sie wird doch hoffentlich bald gehen, wenn sie merkt, daß ich weder anwesend bin noch verspätet komme´ versuchte Meindl die steigende Spannung in seiner Brust zu beruhigen. Aber nichts dergleichen geschah. Fräulein K. löste ihre Augen, die bisher erwartungsvoll auf die verschlossene Praxistür mit dem Messingschild „Dr. Reiner M. Meindl“ geheftet waren und begann ratlos herumzublicken. Meindl hatte vorauseilend, um auch nicht den geringsten Eindruck von Feminität aufkommen zu lassen, das `Maria´ im Namensschild durch das unpersönliche M. ersetzt und damit natürlich viele Phantasien, Fragen und unglücklicherweise sogar respektlose Witze bei seinen Klienten provoziert.
Die suchenden Augen von Fräulein K. erfaßten interessiert die teilweise sichtbaren Konturen des Fahrstuhls und in ihr Gesicht trat ein Ausdruck des Verständnisses, vielleicht im Zusammenhang mit der vorhergegangenen Erfahrung des mißglückten Benützungsversuches, bis sie plötzlich das regungslose Gesicht Meindls im Spalt sah.
Weitere Sekunden verstrichen nutzlos, bis Fräulein K. die ganze Tragweite der Situation erfaßte und mit dem Satz: „Aber Herr Doktor…“ den Kern der Situation berührte.
„Grüß Gott, liebe Hannelore“ war der erste Versuch Meindls, durch bewußt joviale Verwendung des Vornamens und damit einer zumindest vorübergehenden Festigung seiner Autorität, die Situation in den Griff zu bekommen. Bevor er jedoch mit einer banalen Erklärung wild aufkommende Phantasien bei Fräulein K. im Keime ersticken wollte und sorgenvoll nach eventuellen Vorzeichen eines Anfalls von irrem Kichern in ihrem Gesicht forschte, entglitt ihm durch eine unerwartete Reaktion der Klientin zum zweiten Mal die Führung des Gesprächs.
„Aber Herr Doktor, was machen Sie denn da…? Warum haben Sie nicht gerufen?“
Sekunden peinlichen Schweigens, der Nerv war bloßgelegt, die weiteren Geschehnisse ließen sich bereits wie auftauchende Gewitterwolken am Horizont eines schwülen Sommerabends in ihren Umrissen erahnen. „Wollten Sie mir ausweichen, um mich heute nicht sehen zu müssen? War ich denn nicht willkommen?“ Fleckige Röte begann sich im Gesicht der Klientin bemerkbar zu machen. „Aber ich bitte..!!“
Die dramatische Handbewegung, die die Glaubwürdigkeit der ehrlichen Entrüstung unterstreichen sollte, blieb jedoch durch den Aufzugsspalt unsichtbar und daher wirkungslos.
Während des Gesprächs mußte Fräulein K., um besser Kontakt mit Meindl aufnehmen zu können, eine leicht gebückte Stellung einnehmen, was ihr offensichtlich auf Dauer schwerfiel, und sie überlegte daher sich hinzuknien, um in besseren Kontakt mit ihrem Therapeuten zu kommen. Wie der aufgehende Mond erschien plötzlich das jetzt schon deutlich gerötete Gesicht des Fräuleins im Liftspalt.
„Ich wollte Sie nicht beunruhigen… Keineswegs mich irgendwie von Ihnen distanzieren.“ Meindl hatte bereits wieder die gewohnte Sicher-heit in der Stimme. Es war jenes Timbre mit dem leicht beschwörenden Unterton und der tiefen Resonanz, der ihm seit Jahren in Insiderkreisen den Titel der schönsten Telefonstimme Wiens eingebracht hatte. Das eindrucksvolle „Schönen guten Tag, Meindl…“ am Telefon soll eine der Erklärungen für die gar nicht so seltenen anonymen Anrufer sein, die nach dem Melden der Stimme kurz warteten, dann aber mit einem kaum hörbaren, aber von Meindl doch registriertem Seufzer wieder auflegten.
„Kann ich ihnen irgendwie helfen, Herr Doktor?“ Offensichtlich wurde verziehen, die Wende war eingeleitet.
„Vielleicht könnte ich den Hausbesorger verständigen oder bei einer Hauspartei um Hilfe bitten?“ Meindl nickte schweigend, da sich die Möglichkeit eröffnete, einerseits rasch aus seiner mißlichen Lage befreit zu werden, andererseits dem unangenehmen Gespräch, in dem er sich unerwartet und plötzlich in der Rolle des Hilfesuchenden befand, zu entkommen.
Wenig später kam Fräulein K. unverrichteter Dinge zurück. Der Hausmeister war nicht zu Hause und die zu Büros umfunktionierten Wohnungen um diese Zeit nicht mehr besetzt. Meindl wußte aus der Kenntnis der Familienumstände des Hausmeisters, daß dieser spätestens um sieben Uhr nach Hause kommen mußte. Noch trennten ihn quälende dreißig Minuten von seiner Erlösung.
Meindl dachte fieberhaft nach, wie er dem Gespräch eine unverfängliche Note geben könnte, obwohl ihm zunehmend bewußt wurde, daß er seit längerer Zeit das Bedürfnis hatte, aufs Klo zu gehen, was er in seinem sorgfältigen Zeitplan um zwei nach Sechs geplant hatte. Dieses vordergründige Bedürfnis lenkte ihn wesentlich von differenzierteren Überlegungen ab.
„Es tut mir so leid, Sie in dieser unangenehmen Situation zu sehen. Nicht genug damit, sich mit Patienten wie mir herumquälen zu müssen. Ich weiß, wie viel Sie arbeiten und was Sie alles auf sich nehmen. Ich bin so froh, bei Ihnen in Therapie sein zu dürfen, weil Sie sich so viel Mühe mit mir geben.“
Diese unterwürfige Art der Annäherung war Meindl peinlich. Wie oft war es geschehen, daß nach einer besonders erfolglosen Stunde Fräulein K. beim nächsten Mal mit einem riesigen Blumenstrauß vor der Tür stand und Meindl tief und nachdrücklich in die Augen schauend sagte: „Ich bin so froh, daß es Sie gibt!“
Ohne es verhindern zu können, entwickelte sich zunächst unmerklich, dann immer offensichtlicher durch den Kommunikationsspalt ein eigenartiger, pseudotherapeutischer Dialog, in dem Meindl defensiv deutete. Jede der Deutungen wurde freudig angenommen, um sofort von der nächsten quälenden Frage an den feststeckenden Therapeuten gefolgt zu werden.
Ein rascher, eigentlich überflüssiger Blick auf die Uhr bestätigte Meindl, daß es zehn Minuten vor Sieben war.
„Also Schluß für heute, meine Liebe“, versuchte er, auf gewohnte Anker zurückgreifend, den Redefluß seiner Klientin zu bremsen um gleichzeitig zu bemerken, daß der Liftspalt nicht nur seine Bewe-gungsfreiheit sondern auch seine Autorität einschränkte.
Weiter ergoß sich der Redefluß in den Fahrstuhl. Meindl verfiel langsam, ähnlich wie bei einer beginnenden Hypnose, in eine Art resignative Trance und empfand, seinen eigenen Widerstand langsam aufgebend, die Sprachmelodie zunehmend als durchaus angenehm und beruhigend. Wäre der Hausmeister nicht einigermaßen pünktlich im Stiegenhaus erschienen, hätte er sich völlig dieser einlullenden Stimme hingegeben, um, süße Zuwendung saugend, alsbald selbst der Regression heimzufallen.
Aber selbst die kompetente, zielgerichtete Intervention des Hausmeisters, der aufgrund seiner vor langer Zeit abgelegten Prüfung als Hilfsaufzugswart, eine vorläufige Diagnose der offensichtlichen Fehlfunktion des Fahrstuhls zu erstellen begann, führte zu keiner Unterbrechung von Fräulein K.´s Redefluß.
Schließlich, resignierend das Ende akzeptierend, versuchte sie noch umständlich Meindl für die Therapiesitzung, die ihrerseits ja keineswegs eine Sitzung und seitens Meindls doch ein Durchstehen gewesen war, zu bezahlen.
Heftige Proteste des noch immer nur teilweise sichtbaren Therapeuten nützten nichts. Fräulein K. schob eine Banknote durch den Spalt. Meindl, in der Angst, den Geldschein fallen zu lassen, ergriff ihn und
merkte sofort den schweren Fehler: die Breitschaft zur Geldannahme signalisiert zu haben, die er ja gleichzeitig heftig verleugnete.
Ein aus dem Unbewußten aufsteigender Impuls, dessen erschöpfende Deutung sicherlich einiger Therapiesitzungen bedurft hätte, ließ ihn dann doch seine Brieftasche öffnen, um nach dem Wechselgeld zu suchen. Dieser Vorgang dehnte sich endlos, da er kein Wechselgeld fand, während zugleich der Hausbesorger und Fräulein K. auf ihn einredeten. Schließlich, seinen wachsenden Unwillen mit der Situation nur noch knapp beherrschend, versuchte er, Fräulein K. durch den Spalt verständlich zu machen, daß er ihr den fehlenden Betrag für die nächste Stunde gutschreiben würde.
Der Hausmeister, fast in Tuchfühlung mit Fräulein K., begann zunehmend Interesse an der eigenartigen Kommunikation zwischen dem steckengebliebenen Psychotherapeuten und der nicht unattraktiven jungen Frau, die offensichtlich eine Patientin von Meindl zu sein schien, zu finden. Als er obendrein begann, die traute Diade durch aktive Teilnahme an dem Gespräch zu einer Triade zu erweitern – indem er sich einzumischen begann -, verlor Meindl vollständig seine Contenance. Auf das rührende Angebot, den Geldschein im nahegelegenen Kaffeehaus wechseln zu wollen, herrschte er den, durch seine situative Bedeutung zu einer Zentralfigur des Geschehens heranreifenden Hausmeister an, sich endlich um die Wiederherstellung der Aufzugsfunktion zu kümmern, anstatt sich ungefragt einzumischen.
Doch bekam die Triade „Retter-Verfolger-Opfer“ durch eine überraschende Rochade von Fräulein K. eine unerwartete Änderung in ihrer Dynamik. Sie fand, daß der Herr Doktor ungerecht sei und bedankte sich beim Hausmeister für die angebotene Hilfe. Überhaupt stieg das Interesse von K. an der Person des bereitwilligen aber mit wenig Dank bedachten Helfers. Zwischen den in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkten Personen im dritten Stock entfaltete sich nonverbal, aber für einen erfahrenen Beobachter durchaus bemerkbar, eine zunehmende persönliche Beziehung.
Der gefangene und auf Hilfe wartende Meindl trat zunehmend in den Hintergrund der Aufmerksamkeit seiner potentiellen Retter, waren doch Fräulein K. und der, mit einer gewissen väterlichen Autorität ausgestattete verständnisvolle Hausbesorger, in einen nur ihnen zugänglichen Raum der Realität getreten, wo für Meindl kein Platz mehr war.
Wild gegen seine situative Bedeutungslosigkeit kämpfend und zunehmend hilflos seinen Panikgefühlen ausgeliefert, begann Meindl im Aufzug zu schreien. Er hatte plötzlich die unsichtbare aber sehr mar-kante Grenze überschritten, die das Normale vom amtlich bescheinigten irrsinnigen Verhalten trennt und war sich trotz des Rausches der aufsteigenden Gefühlswallung dessen durchaus bewußt, sich selbst wie aus der Ferne betrachtend. Es war ihm nicht mehr möglich, etwaige Notbremsen zu ziehen, oder, wie Tiefenpsychologen vermuten würden, überstieg die Lust am Wahnsinn im Augenblick jeden angelernten Handlungsimpuls zur Selbstkontrolle.
Die plötzliche Auflösung der irrsinnigen Spannung, das fast heulende Schreien des Gefangenen und sein sinnloses Hämmern gegen die Fahrstuhltür hatten den physiologisch verständlichen Effekt des Einnässens zur Folge.
In diesem Augenblick hörte er ganz nahe seinem Ohr die besorgte, leicht resignative Stimme des Hausbesorgers:
„Aber Herr Doktor! Dafür haben wir sie studieren lassen?!“
24 Dez
Bukumatula 1/1999
Auf dass „die Information der freien Liebe sich soweit durchsetzt,
dass sie zellulär und selbstverständlich wird“ 1
Beatrix Teichmann-Wirth:
Das ZEGG, Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung, ist ein beständiger Versuch. In meinem Verständnis ein Versuch, das zu leben, was Wilhelm Reich erforscht und als Vision beschrieben hat. Denn für Reich musste es – verfolgt man seinen Lebenslauf, bei einer Vision bleiben: dass die Sexualität in ihrer Freiheit als Basis für individuelles und gemeinschaftliches Leben gilt.
Aber zunächst zu den Tatsachen:
Das ZEGG als Projekt ist vieles. Zunächst ein Ort in der Nähe von Berlin, wo Menschen seit 1991 (zur Zeit sind es an die 75 Erwachsene und deren Kinder) zusammenleben, und das mehrmals pro Jahr zu Seminaren, Workshops und Treffen einlädt und sich somit für Gäste und den Austausch öffnet. Zentral ist das jährlich stattfindende „Sommercamp“.
Es entstand in einigen Stufen, aus einem Projekt (MEIGA), das u.a. durch Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels ins Leben gerufen wurde und das zum Ziel hatte, sich selbst und das Zusammenleben mit anderen zum Forschungsgegenstand zu machen.
Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels seien an dieser Stelle hervorgehoben, weil sie durch ihre Veröffentlichungen einiges in mir und wohl auch in anderen bewegt haben.
Das Forschungsprojekt sollte „eine Antwort geben zu den brennenden ökologischen und psychologischen Fragen unserer Zeit auf der Grundlage einer soliden, humanen Gemeinschaftsbasis“ (aus: Lichtenfels, 96a, S.86).
Dies geschah, und diese Basis ist nach wie vor Kernpunkt der Lebensgestaltung im ZEGG, indem sich die Beteiligten intimsten inneren Fragen stellen. Zuallererst sind dies Themen wie Sexualität, Autorität, Macht, Konkurrenz und Eifersucht.
Neben diesem Forschungsbereich wird der Ökologie (Aufbau von Permakultur, Einsatz von Sonnenkollektoren und einer Pflanzenkläranlage) und dem schöpferischen Dasein, wie es sich in der Malerei, Bildhauerei und dem Musizieren äußert, großer Raum gegeben.
Das ZEGG berührt damit in seiner Grundlegung Fragen, welche Reich in den Mittelpunkt seiner Forschung stellte und zu einem seiner zentralsten Anliegen machte:
Dies alles versuchen, wie im nachfolgenden Vortrag zu lesen ist, die Menschen, welche am ZEGG mitarbeiten, zu verwirklichen. Sie leisten damit, meiner Ansicht nach, einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Reichschen Ansatzes – und dies im wahrsten Sinne des Wortes:
Dort, wo die Befreiung nicht beim individuellen Organismus stehen bleibt, sondern wo die Gemeinschaft als pulsierender Organismus wahrgenommen und gepflegt wird.
Dort, wo sich Menschen auf die Suche nach Formen begeben, die ein lebendiges, offenherziges, sich in der menschlichen Blöße zeigendes Miteinander möglich machen.
Dort, wo die Fürsorge für die Umgebung (pflanzlicher, ökologischer) Art nicht bei Konzepten stehenbleibt, sondern praktiziert wird. Wo der Kontakt zur Natur auf Neugier und Liebe und nicht auf Angst beruht.
Dort wo die Kinder in Freiheit ohne kleinfamiliäre Abhängigkeiten aufwachsen dürfen.
Dort, wo eine spirituelle Lebensweise erforscht wird, welche das Lebendige mit der eigenen inneren Stimme verbindet.
Dort, wo durch die Betonung des Weiblichen und der darin innewohnenden Kraft einer „weichen Macht“ dem Männlichen in Reichs Ansatz eine zweite (weibliche) Dimension an die Seite gestellt wird.
Es ist gut für mich zu wissen, dass es nicht allzu weit entfernt Keimzellen für heilendes Zusammenleben gibt, und ich könnte mir vorstellen, dass Wilhelm Reich, wo immer er jetzt sein mag, mit wohlwollenden Augen und Zufriedenheit darauf blickt.
1 zit. nach Sabine Lichtenfels
Bücher:
Duhm Dieter: Aufbrauch zur neuen Kultur. Von der Verweigerung zur Neugestaltung. Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative. Verlag Meiga 1993
Duhm, Dieter: Der unerlöste Eros. Verlag Meiga 1991
Lichtenfels, Sabine: Der Hunger hinter dem Schweigen. Annäherung an sexuelle und spirituelle Wirklichkeiten. Verlag Meiga 1996
Lichtenfels, Sabine: Weiche Macht. Perspektiven eines neuen Frauenbewusstseins und einer neuen Liebe zu den Männern. Verlag Berghoff and Friends, 1996a
24 Dez
Bukumatula 2/1999
Gespräch mit Andreas Duda über neue Lebensformen – ZEGG/Skan – im April 1998
Beatrix Teichmann-Wirth:
Nun ist bereits ein Jahr vergangen, als Andreas und ich uns zusammenfanden, um miteinander zu sprechen. Damals, an jenem sonnigen Tag im März, einen Tag bevor Andreas seine große Amerikareise antrat und 2 Stunden nach meiner Mammographie, welche die Basis für die Brustkrebsdiagnose bilden sollte. So hat sich seitdem viel Veränderndes, ja Wandelndes in unser beider Leben ereignet und es mutet fast fremd an, das Gespräch jetzt nochmals durchzusehen.
Beweggrund für das Gespräch damals war, meiner Begeisterung aufgrund der Lektüre von Sabine Lichtenfels‘ Büchern und Informationen zum ZEGG einen Boden zu geben, der Theorie die Wirklichkeit an die Seite zu stellen. Überdies wollten wir einen Austausch halten über Skan, Körperarbeit, Wilhelm Reich, Sexualität, Freiheit, die Liebe und spirituelle Sehnsucht… Es war der Beginn einer Beziehung, in der nicht die Form regiert sondern das lebendige Interesse aneinander – so wie es ja auch in der Grundlegung des ZEGG beabsichtigt ist.
Beatrix: Lieber Andreas, Du hast beide Bereiche am eigenen Leib erlebt – Skan-Körperarbeit und das Zusammenleben im ZEGG. Ich selbst habe lange Reichsche Körperarbeit erfahren und gelernt und spüre eine Sehnsucht den Bereich der Öffnung auszudehnen – in die Welt hinein, sodass die Pulsation nicht nur im eigenen Körper betont wird sondern in einem Pulsieren von Menschen-Gruppen.
Ich habe mich mit dem Modell des ZEGG nur theoretisch beschäftigt – habe die Bücher von Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels gelesen, Sabine selbst bei einem Vortrag in Wien erlebt und war von all dem sehr beeindruckt und aufgeregt über das, was da an Neuem stattfindet. Was mich ein bisschen zurückhält da mehr einzusteigen ist der Umstand, dass es sich bei ZEGG um gewachsene Strukturen handelt, wo meiner Vorstellung nach bereits feste Regeln und Formen bestehen. Es geht mir nun darum, in unserem Gespräch den programmatischen Aspekt durch den erfahrungsbezogenen zu ergänzen. Vielleicht beginnen wir zunächst mit Deinem Weg.
Andreas: Eigentlich bin ich über eine Freundin, die Veronika, über die Lektüre des Buches von Loil Neidhöfer, welches sie gelesen hatte zu Skan und auch zum ZEGG gekommen. Im ZEGG bin ich vom Besucher zu einem Mitgestalter geworden, vor allem, was die Berücksichtigung des Körpers anlangt – die sogenannte „Körperbewegung“ ist ja eine Entwicklung, welche es im ZEGG erst seit etwa eineinhalb Jahren gibt.
B: Das ist interessant. Es ist ja da offensichtlich eine genau umgekehrte Bewegung. Bei Reichscher Körperarbeit vom Individuellen zu größeren Organismen – dies vor allem nur in der Sehnsucht von „Körperbewegten“; meines Wissens gibt es noch keine realisierten Versuche zu lebendigen Gruppenorganismen. Beim ZEGG dagegen scheint die Entwicklung von außen – von Konzepten zu Lebensformen und deren experimentellen Umsetzung – zum Inneren, dem Individuellen und damit dem Körperlichen stattzufinden.
A: Ja, ZEGG war, seit ich es kenne, ein eher „kopflastiges“, geistig ausgerichtetes Projekt und ist es eigentlich immer noch, und zum Teil sehe ich hier auch sehr viel Naivität in dem Sinne – und das war auch mein größter Kritikpunkt -, dass sie an Themen wie Sexualität und Liebe arbeiten und forschen und diese fast ausschließlich auf der Ebene des Geistes und Intellekts beleuchten, erfassen und bearbeiten.
B: Wobei ich beim Lesen der Bücher gerade von Sabine Lichtenfels schon das Gefühl bekommen habe, dass sie sehr wohl einen organismischen Weg gegangen ist, wenngleich sie auch keine Körperarbeit erfahren hat, so als hätte sie sich zu etwas Größerem, Offenerem, zu subtileren Wahrnehmungsbereichen hin entwickelt. Vielleicht gilt das jedoch nicht für die Personen, welche ins ZEGG als Besucher kommen.
A: Ja, ich denke mir, es gibt da sicherlich eine gewisse Bandbreite von Menschen, die ganz stark auf einer geistigen Ebene ansprechbar sind, wobei ich jedoch glaube, dass es auf die Gewichtung ankommt. Lichtenfels und Duhm propagieren eigentlich sehr stark diesen geistigen und spirituellen Weg. Aber wenn man es auf der Gesamtebene sieht – und das ganze hat ja den Anspruch eines Gesamtkonzepts, dann muss meiner Ansicht nach das Körperliche auch eine Berücksichtigung finden, weil bestimmte Menschen einfach eine andere An-Sprache, nämlich über das Körperliche brauchen.
B: Ist es vielleicht vielmehr so, dass der körperliche Aspekt nicht bloß nicht vorkommt sondern, dass er fast ein bisschen geringgeschätzt wird?
A: Ja, er wird tatsächlich eher gering geschätzt, aber auch aus Angst, wobei man zwischen dem ZEGG in Berlin und Tamera in Portugal unterscheiden muss; diese zwei Projekte divergieren mittlerweile sehr stark, wobei das ZEGG sehr eigenständig wird in seiner Entwicklung, auch weil Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels nicht mehr ihren Fokus darauf gerichtet haben und mit dem Aufbau von Tamera stark beschäftigt sind.
B: Und wie würdest Du das charakterisieren, die Unterschiede in der „Tönung“ dieser zwei Projekte?
A: In dem Sinne, dass das ZEGG immer offener wird. So fand ich mit meinen Impulsen über den Tanz im Rahmen einer Tanzwerkstatt, wo Tänzer aus dem Umfeld des ZEGG zusammenkommen, eine große Akzeptanz für diese Art eigenständiger Untenehmungen, und wir wurden bereits nach kürzester Zeit eingeladen Tagungen mitzugestalten. Da gibt es also ein Interesse an körperlicher Bewegung und Ausdruck und daran, mit dem Körper wieder was zu tun, sich diesem Aspekt vorsichtig anzunähern.
B: Das ist interessant, weil, wenn das Körperliche so außen vor bleibt, dann bekommt ja die Sexualität, die ja dort so wichtig ist, einen ganz eigenartigen, weil abgekapselten Charakter, weil sie ja nicht im Fluss ist, eingebettet in eine sinnliche Atmosphäre, die dann weiter bis ins Genitale hineinfließt.
A: Ja, so ist es ungefähr. Ihre Ausdrucksformen sind überwiegend der Gesang, das Malen, mehr in Richtung künstlerisches Gestalten – und auch die Gestaltung der wunderschönen Anlage in Berlin. Jetzt fließen auch schon Theater und Tanz mit ein, oder auch diese indianische Form des Tantras – dem Quodoushka.
B: Hast Du eine Idee warum es da eine fast schon programmatische Scheu vor dem Körperlichen und körperlichen Ausdrucksformen gibt?
A: Ich vermute, dass dies sehr stark durch Dieter Duhm geprägt ist. Dieter ist Psychologe, der in früheren Jahren Erfahrungen in Körperarbeit gemacht hat, aber irgendwann einmal gefunden hat, dass es das nicht ist.- Wie auch Wilhelm Reich später einmal sagte, und darauf beruft sich Dieter Duhm, dass man das grundsätzlich gesellschaftliche Problem, die Heilung von Neurosen, nicht therapeutisch lösen kann, weil man ja dann für jeden Menschen einen Therapeuten bräuchte.
Dieter Duhm geht damit also auf die politische Ebene, hat aber damit meines Erachtens das Individuelle vergessen. Er denkt, dass eine gewaltlose Atmosphäre, verbunden mit Gemeinschaft und den dort erarbeiteten sozialen Strukturen und Methoden, gepaart mit geistiger Einsicht und willentlichem Bemühen alleine schon die „Heilung“ bewirken.
B: Also, wenn ich Reich richtig verstanden habe, ist es so, dass neue Strukturen auf der Ebene des Individuums und der Gesellschaft organisch wachsen sollen, d.h., es braucht sehr wohl eine Art Biotop, in welchem aber auch die individuelle Entpanzerungsarbeit stattfinden soll.
Das war ja auch meine Scheu wirklich einmal das ZEGG zu besuchen, dass die Art der individuellen Arbeit – zum Beispiel die Konfrontation in der Gruppe im sogenannten „Forum“ – meiner Entwicklung nicht mehr entspricht, und da war auch die Frage, wo mein Platz dort sein kann; und auch die Angst neuerlich mit Dogmen konfrontiert zu sein. Reich schreibt ja, dass Arbeit auf der strukturellen, auch individuellen Ebene geleistet werden muss, weil sonst Revolutionen nicht haltbar sind, wie er das ja auch für die russische Revolution gnadenlos darstellen konnte.- Aber jetzt zurück zu den beiden „Tönungen“ – ist Tamera so eine Art „Hochburg“?
A: Na ja, Hochburg. Es leben halt Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels dort, die diesen Platz aufbauen. Das ZEGG in Berlin ist eine Art Eingangspforte. Das ganze läuft unter der Schirmherrschaft von „Meiga“ und das ZEGG ist der Ort, wo Interessierte hinkommen und die Grundgedanken kennenlernen können, wo also der Schnittpunkt von Gesellschaft und dieser neuen Kultur ist, während Tamera wirklich als Heilungsbiotop geplant ist – als Vision in dem Sinn, dass es ein Lebensplatz ist, wo diese andere Kultur in allen Facetten und in der ganzen Komplexität gelebt werden kann.
B: Und ist es auch so, dass „gesiebt“ wird, wer Eintritt hat?
A: Nein, eher im Gegenteil, da gibt es sehr viel Einladung an verschiedene Menschen. Es siebt sich eher ganz natürlich aus, indem die einen begeistert und die anderen eher befremdet davon sind. Ich finde es auch gut, dass sie sich ganz viel Zeit lassen wollen – so an die 30 Jahre, es soll also sukzessive wachsen. Ein Problem dabei ist jedoch auch der Balanceakt zwischen organisch langsamem Wachstum und den finanziellen Notwendigkeiten und Realitäten.
B: Und dort finden auch Seminare statt?
A: Ja, die spirituellen Kurse, die Sabine Lichtenfels anbietet, die Kunstkurse von Dieter, jetzt findet gerade ein riesiger Gemeinschaftskurs mit etwa sechzig Personen statt. Oder auch Workcamps z.B. zur Olivenernte, zum Bau des Gästehauses, oder Workshops mit Referenten zu Themen wie Permakultur, Erdheilung, Ernährung, Butho, usw.
B: Was heißt das, Gemeinschaftskurs?
A: Ja, man lernt und erlebt die Methoden und Grundsätze des Gemeinschaftslebens, welche sie sich in all den Jahren erarbeitet haben. Und man erfährt, wie es ist in Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten, sich auseinanderzusetzen und eine klare und für alle sichtbare Kommunikation zu führen. Dafür haben sie für sich die Methode des „Forums“ entwickelt, wo sich eine Person aus der Gemeinschaft in die Mitte der Gruppe stellt und von sich erzählt, was sie gerade bewegt und beschäftigt. Auch ihre Arten des künstlerischen Gestaltens und Ausdrucks fließen in diese Gemeinschaftskurse mit ein.
B: Ist das so, dass man sich zu diesen Treffen z.B. jeden Abend zusammenfindet?- Wer halt will, oder …?
A: Nein, das ist eigentlich schon verpflichtend, wenn man sich als Mitglied des Gemeinschaftskurses begreift. Es gibt auch noch „geistige Stunden“, wo etwas zum Gemeinschaftsgedanken erzählt, oder aus einem der Bücher von Dieter oder Sabine gelesen wird, oder auch eine neue Idee, bzw. Erfahrung vorgestellt wird. Also eine Art Einführung in die Thematik, bzw. eine Vertiefung von Gelesenem.
Im Fokus steht jedoch das Sich zeigen, weil davon ausgegangen wird, dass über die Transparenz Vertrauen entsteht und man sich immer mehr traut, sich in all seinen Seiten zu zeigen. Ich finde es halt schade, dass bei der Forumsleitung, wo man eigentlich sehr fein energetisch wahrzunehmen hat, manche – so habe ich den Eindruck – mit den verschiedenen Energien nicht umgehen können, bzw. diese gar nicht wahrnehmen; hier spielt die Angst vor Emotionalität mit rein.- Emotionalität muss immer sehr kanalisiert sein dort, sie muss eine Gestalt haben im Sinne eines kreativen Ausdrucks.
B: Hast Du da den Eindruck, dass diese „Formung“ der Emotionalität zu früh stattfindet, dass hier also zu früh etwas in eine Form gepresst wird, auch wenn, wie ich meine, es letztendlich um die Handlung und die Gestalt bzw. Gestaltung geht?
A: Hier geht es um sehr feine Unterschiede. Es ist ein Bereich in den sie sich nicht vorwagen, und da schlagen sie halt oft an Punkten, wo es spannend wird, wo sich gerade jemand öffnen würde, einen Haken und stoppen somit den begonnenen Prozess der Öffnung und kehren vielfach ins Konzeptionelle und Rationelle zurück – aus Angst vor dem „Unbekannten“.
B: Hier wäre es eigentlich schön, damit zu bleiben, unterstützt durch eine Person, einen „facilitator“, ein Begriff, der von Carl Rogers stammt, dass es da also jemanden gibt, der die energetische Bewegung und den authentischen Ausdruck furchtlos unterstützt.
A: Ja, ich finde es auch schade, weil es ein tolles Forum wäre, ein Feld, das auch trägt. Das war ja auch meine Gespaltenheit zu Skan und ZEGG. Ich habe mir beim Lesen von Loil Neidhöfers Buch auch etwas anderes vorgestellt, nämlich, dass es bei Skan auch einen gesellschaftlichen Ansatz gibt, aber es war nur Ausbildung und im ZEGG war es umgekehrt. Hier hat der Körper und die Emotionalität keinen Platz gehabt, wo ich mir gedacht habe, dass sich die beiden doch gegenseitig bedingen und es auch ein Zusammenkommen von den beiden braucht.
B: Ja, ich war auch enttäuscht, dass das, was ja auch von Loil vor allem im zweiten Buch, „Disziplin der Lust“, so angeregt wird, dass das so wenig realen Ausdruck fand in unserer Skan-Gruppe, und dass dann im 3. Jahr, wo es um Fragen der freien Liebe gegangen ist, dass das so unbeantwortet geblieben ist, wobei ich nicht meine im Sinne einer dogmatischen Beantwortung der Frage, sondern eher um sich gemeinsam diesen Fragen zu widmen – wie man nun mit dieser, aus der körperlichen Panzerung befreiten Sexualität auch frei leben kann, wie man Treue verstehen kann jenseits der Monogamieforderung usw.
Da gibt ja leider auch Reich, wenn man seine biographischen Daten heranzieht kein Modell, wobei ich bisweilen den Eindruck hatte, dass er zwar zu tiefem vegetativen Kontakt fähig war, nicht jedoch zur Verbindlichkeit, zum Bleiben mit einem Menschen.
A: Diese Erfahrung der mangelnden Transparenz haben wir in unserer Skan-Gruppe auch gemacht, und da habe ich gemerkt, wie sehr ich mir diese Transparenz im Umgang miteinander, wie es im ZEGG gelebt bzw. zu leben versucht wird, gewünscht hätte.
B: Wie ist das bei Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm? Hast Du hier auch den Eindruck, dass da eine Art Abkapselung in die Ikonenhaftigkeit stattfindet?- Es ist ja bei jedem System die Gefahr, dass die Menschen, die das in die Welt gebracht haben, selbst nicht mehr weitergehen in ihrer Entwicklung.
A: Interessant ist, dass ja Loil vom privaten und gesellschaftlichen so sehr ins Spirituelle abwandert und eigentlich sagt, dass alle Veränderung hier sinnlos ist. Bei Sabine Lichtenfels ist es ähnlich – ihre „Steckenpferde“ sind die Spiritualität und die Traumforschung und die Arbeit mit Affirmationen, wobei ich mich oft frage, wieso sie glaubt, dass man mit Affirmationen allein etwas verändern kann, also das ist vielleicht eine „nette Begleitung“, aber das kann es doch nicht wirklich sein.
Traumforschung, also diesen Aborigines-Aspekt finde ich zwar ganz spannend, aber es erscheint mir dennoch zu wenig. Ich war einmal in Tamera auf einem Theater-Workshop, wo ich so gemerkt hab, dass es Ihnen nicht möglich war einen kontinuierlichen Energiebogen über diese zehn Tage zu spannen, bzw. mit so dichter und hoher Energie umzugehen, ohne sie gleich entladen zu müssen. Und meine Vermutung dabei ist, dass es an der Vermeidung bzw. Verdrängung der emotionalen Kraft und deren Dynamik lag.
B: Na ja, sich da hineinzuwagen bedarf ja auch einer Art „organismischen Wissens“, weil man dann gelassen bleiben kann, wenn man weiß, es geht seinen vegetativen Bogen, das dauert eine bestimmte Zeit, und in der Regel gibt es dann ein Herauskommen. Aber wenn man über diese Abläufe im eigenen Leib nichts weiß, bekommt man Angst.
A: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in diesem Feld, wenn da emotional etwas passiert, eine ungeheure Spannung in der Luft liegt, eine Angst und ein Schrecken, weil sie es nicht gewohnt sind auf der emotionalen Ebene zu arbeiten. Deshalb ist ja, was die momentane Entwicklung betrifft das Berliner ZEGG für mich gerade interessanter als Tamera, weil ich das Gefühl habe, dass Dieter und Sabine sehr wohl ihre eingefahrenen Linien haben und da wenig Raum für Neues ist.
Im ZEGG sind sie hingegen gerade aus ihrer „Isolationsstellung“ herausgekommen, und da sind die Tore auch relativ weit offen. Deshalb ist das auch ein ganz toller Platz, wo genau diese beiden vorhin erwähnten Aspekte zusammenkommen. Die Erfahrungen und Methoden aus dem ZEGG und meine zusammengesammelten Erfahrungen im Bereich Tanz und Körperarbeit. Ich habe z.B. letzten Sommer gemeinsam mit einer Frau, die im ZEGG lebt und die ich sehr schätze, eine Gruppe zum Thema „Kontakt und Bewegung“ gemacht. Da haben wir auch gemerkt, wie groß das Bedürfnis der Gäste nach beidem war.
Mit dieser Arbeit konnte der thematische wie atmosphärische Input körperlich verdaut und ausgedrückt werden, und somit bestand keine „Staugefahr“ mehr. So entstand dann auch innerhalb kürzester Zeit ein Vertrauensraum, wo viele sich mit ihren Anliegen und Fragen zeigen konnten. Das war auch eines meiner berührendsten Erlebnisse im ZEGG. Dass es zu einer Umsetzung und zu einem Zusammenkommen dieser beiden Konzepte an diesem Platz kam, und dass dies eigentlich genauso aufgegangen ist, wie ich es mir gewünscht hatte.
B: Weil Du das Vertrauen ansprichst: wie ist das mit der Sexualität – da gibt es diese viele geistige Arbeit, die Inputs auf dieser Ebene und dann gibt es sozusagen die Praxis der Sexualität. Wie gestaltet sich das, wie macht man das, wenn die Körper nicht frei sind?
A: Ich glaube, dass anfänglich die Faszination und Aufmerksamkeit viel mehr auf das Experimentieren, das Ausleben und Sprengen von Konventionen und von Tabus gerichtet war, um endlich mal die bürgerliche Moral und Enge hinter sich lassen und auf Entdeckungsreise gehen zu können. Und ich glaube, dass die Faszination eines Aufbruchs in neue Welten zu Beginn auch sehr aufweichend und öffnend wirken kann.
Doch wenn diese erste Öffnung einmal vorbei ist, dann gilt es Farbe zu bekennen, wenn es wieder eng und hart wird. Und an dem Punkt haben sie sich meiner Wahrnehmung nach an den Worten von Dieter orientiert und versucht über geistig willentliche Arbeit, den Schmerz der Eifersucht und des Verlassenseins zu bändigen und sich einzureden versucht, eben nicht eifersüchtig zu sein. Da haben sie scheinbar ein Bild in sich aufgenommen, das mit der eigenen Realität nicht übereinstimmt.
B: Da muss ja dann auch eine Wahnsinnsangst da gewesen sein, wenn man nicht fühlen darf, was man fühlt. Ist es jetzt eher so, dass das, was man ist, bejaht wird?
A: So ist es. Es schälen sich jetzt mehr und mehr die einzelnen Personen heraus, ihre eigenen Charaktere, ihre eigene Arbeit. Seit eineinhalb Jahren – da gab es einen Umschwung – sprechen die Menschen auf einmal von sich, wiederholen nicht Gelesenes, was und wie man es machen sollte, sondern sie sprechen von ihren Erfahrungen, davon, wo sie jetzt in ihrem Prozess stehen; es wird einfach viel griffiger, einige gehen nochmals zur Schule, sie gehen auch wieder vermehrt in Zweierbeziehungen zusammen, um diese zu vertiefen.
B: War das denn auch tabuisiert?
A: Das hat es schon gegeben, nur lässt man sich von vornherein dort, wo es wirklich schmerzhaft werden könnte nicht so tief ein. Es gibt zwar einen Menschen, mit dem du zusammen bist, wo es sicher auch eine Sehnsucht gibt nach Tiefe und Intimität, aber du bleibst dennoch auf der „vorgegebenen Linie“ in dem Sinne, dass du sagst mir ist meine sexuelle Freiheit wichtiger – eben das „ganz normale Spiel der Polaritäten“. Das sind dann immer genau diese Grenzgänge: sich tief einzulassen und trotzdem als sinnlicher, sexueller Mensch in der Welt zu stehen.
B: Ich weiß nicht ob das so wirklich stimmt – aber war das eine Form der prägenitalen Sexualität im Reichschen Sinne? Da kann man ja dann auch viel machen, weil es nicht wirklich etwas bedeutet, es hat nicht die Tiefe und es affiziert einen auch nicht energetisch so stark. Ist das so wie eine Art Experiment „wir erkunden uns“, so eine Art Doktorspiel?
A: Genau. Die „andere Seite“ findet erst jetzt statt, es ist eine ständige Veränderung, es ist nichts Fertiges. Das gefällt mir deshalb auch jetzt so gut, es ist offen, der Prozess geht weiter.
B: Das bekommt aber dann auch mehr Ernst, nicht den Todernst, nicht den dogmatischen, sondern den genitalen Ernst im Sinne Reichs.- Es wird von beiden, von Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm immer so betont, dass es um die Wahrhaftigkeit geht. Aber Wahrhaftigkeit fängt ja wohl dort an, dass ich weiß, was in mir los ist und dass ich auch dafür die Verantwortung übernehme, auch wenn es etwas in mir ist, was nicht frei ist. Es geht also um eine weitergehende Sehnsucht nach wirklicher Verbindung, um wirkliche Intimität
A: Ja, oder auch das Interesse am Gemeinschaftlichen, als Gemeinschaft zu wachsen und sich zu entwickeln. Es gibt auch immer wieder Wochen, die der Gemeinschaft gewidmet sind, wo sie sich um eine interne Stabilität bemühen.
B: Wie viele Menschen wohnen denn ständig im Berliner ZEGG?
A: Ungefähr 70 Erwachsene und etwa 20 Kinder. In Tamera sind es wesentlich weniger, so an die 10 Personen.
B: Hat das nicht auch sehr was Einsames dort, vor allem in den Wintermonaten?
A: Na ja, sie haben immer wieder Kurse und es sind auch Besucher dort. Es ist aber auch als etwas anderes gedacht: als spiritueller Raum, als Rückzugsbereich, wo Ruhe ist im Gegensatz zum ZEGG. Ich weiß jedoch auch zuwenig über Tamera. Der Platz ist jedenfalls traumhaft schön.
B: Wir wollten ja Sabine Lichtenfels zum Reich-Symposium im letzten Jahr nach Wien einladen.
A: Oft denke ich, sie heften sich den Reich an die Fahnen und begreifen nicht wirklich, was der meint. Aber wahrscheinlich ist das so, wenn du in einem Projekt drinnen bist, dass du dann jene Aspekte herausgreifst, die dir ins Konzept passen und die anderen lässt du draußen. Aber da verändert sich eben auch gerade einiges.
B: Das ist aber eine schöne Entwicklung, wo ich merke, dass da auch etwas in mir aufgeht.
A: Es gibt eben die verschiedensten Wege. Es finden ja auch Gastseminare statt, die zum Teil sehr körper- und emotionsbetont sind. Wie z.B. von Veresh, der schon zweimal Workshops dort gehalten hat oder die Quodoushka-Seminare aus der indianischen Tradition.- Die drei Aspekte – Skan, ZEGG und diese indianische, greifbare, erdige Spiritualität – die sind mir sehr wichtig.
B: Was die Transformation und Spiritualität betrifft, so ist mir beim letzten Buch „Weiche Macht“ von Sabine, das mir außerordentlich gut gefällt, aufgefallen, dass Sabine sehr persönlich schreibt, solange es um die eingeschränkte Liebe in ihrem Leben geht. Dann, mit dem“Einbruch des Neuen Zeitalters“ wird der Ton sehr programmatisch, übergeordnet und unpersönlich, und da ist keine Rede mehr davon, wie sie mit Eifersucht lebt und wie es ist, wenn man den Partner mit jemanden anderen in Zärtlichkeit sieht. Das hat mir richtig gefehlt.
A: Ja, das ist es ja genau, was ich meine; sie betonen den politischen, großen Gedanken, finden aber den Weg nicht zum Jetzt, zu dem, was jetzt real los ist. Darauf haben sie auch keine Antworten.
B: Na ja, da kann man ja auch keine Antworten darauf haben, die allgemein gültig sind.- Da geht es meiner Ansicht nach darum, dass man in der Frage bleibt. Das ist die Antwort, beständig dafür offen zu sein, wie ist es bei mir. Da hört sich die Programmatik auf, weil jeder seine eigene Entwicklung hat; mancher wird weiter sein, im wahrsten Sinne des Wortes, dass er mehr tolerieren kann. Und das wird auch bei jedem einzelnen phasenweise unterschiedlich sein; bisweilen kann man sehr offen sein und bisweilen muss man eng mit dem Partner zusammenkommen, das ist wie bei physiologischen Kurven.
A: Sie proklamieren ja mehr oder weniger den ganz eigenständigen, liebenden Menschen, der seine Liebespartner gleich gewichtet.
B: Das heißt, man kann mit mehreren intime Beziehungen haben, und hat mit jedem einzelnen etwas ganz Eigenes zu tun.
A: Es gibt keine „Nummer Eins“.
B: Und was ist da Deine Erfahrung?- Du lebst ja auch in einer Beziehung …
A: Da existieren für mich gerade zwei Seiten, wo die eine die der Intimität ist, des kontinuierlichen Miteinanders, wo ich merke, dass es mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist, mit mehr als einem Menschen so eine Tiefe und Nähe zu teilen, der also ganz klar die „Nummer Eins“ ist. Und auf der anderen Seite die Erfahrungen, mich so aus vollem Herzen an der Lust, Sinnlichkeit und Körperlichkeit zu erfreuen, als eine Art Sprache oder Ausdruck meines Selbst – sowohl in meiner Beziehung zu meiner Freundin wie auch zu anderen Frauen oder auch zu Männern.
B: Für Dich ganz persönlich spießt sich da nichts? Du kannst so sein in Deiner Leichtigkeit und in Deiner Herzensfreude und Freiheit und wenn Du dann Deiner Partnerin begegnest, kannst Du Dich mit derselben Freude und Tiefe auf sie einlassen?
A: Mit einer noch viel größeren Freude. Obwohl es auch hier Veränderungen gibt, und da habe ich erlebt, wie es halt so in Beziehungen ist: einer steht auf der einen Seite und der andere auf der anderen – und im Grunde genommen haben beide beides. Diese Angst habe ich nie an mich herangelassen. Ich habe mit einer anderen Frau genau die umgekehrte Position gehabt; da war ich in der Angst vor dem Verlassenwerden.
Das heißt, diese Angst gibt es bei mir genauso und gleichzeitig merke ich, wie sich durch wachsendes Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein etwas verändert, wo ich merke, ich bin es wert, dass jemand mit mir zusammen ist und dass ich Qualitäten habe, weshalb mich jemand nicht so einfach verlässt.
Also es gibt beides. So ist mir das, wie meine Freundin einmal mit jemandem im ZEGG ins Bett gegangen ist, voll „eingefahren“. Aber auf der anderen Seite habe ich auch damit umzugehen gelernt, es ist nicht mehr so diffus, wobei diese Problematik in der Beziehung nicht Alltag ist.- Es ist mein Potential an Lebensenergie, das ich zur Verfügung habe. Da möchte ich auf jeden Fall hin, das ist etwas, was nach wie vor aktuell ist. Ich habe nur auch den Angst- und Schmerzteil integriert. Ich stehe jetzt halt einfach in dem Zwiespalt – eine riesige Sehnsucht nach Tiefe und Intimität zu spüren und gleichzeitig möchte ich mich ausdehnen.
Ich fühle mich emotional gerade wie in der Pubertät, auch im Sexuellen, wo ich merke, dass ich mich da nie wirklich ausgelebt habe, nie wirklich auf Abenteuer gegangen bin, nie wirklich der Neugier nachgegeben habe, wo ich merke, ich bin ein sehr sinnlicher Mensch – und diese Sinnlichkeit steht für sich, sie hat im Grunde nicht direkt mit der Beziehung zu tun. Nicht in dem Sinne, dass sie für die Stabilität oder Intimität gefährdend wäre. Es geht nicht darum mir einen neuen Partner zu „angeln“, sondern um das sinnlich erotische Spiel und Erleben – eine wahre Quelle von Vitalität und Kraft!
B:Ich denke schon, dass die Felder in denen man lebt, sehr wesentlich sind, mit welcher Offenheit man lebt. Wenn man vor allem von „Monogamen“ umgeben ist, wie dies ja auch in der Skan-Gruppe war – mit Ausnahme von Brigitta Bolen, die an dem Weg der Öffnung in einer sehr mutigen und wahrhaftigen Weise drangeblieben ist -, gab es im wesentlichen niemanden, der das angetastet hätte. Und auch in meinen Erfahrungen mit Männern habe ich leider erfahren müssen, dass der possessive Anteil, das „Nicht-der-zweite-sein-Wollen“ so stark ist, dass es nicht möglich war mit zwei Männern in Liebe zu leben, wobei ich das Gefühl hatte, dass das für mich möglich wäre.
A: Ja, da ginge es darum durch die Grundängste zu gehen. Das ist jedoch auch etwas, wovor sie sich meiner Beobachtung nach im ZEGG noch schützen.
B: Da geht es ja auch darum sich zu zeigen und zwar in all dem, nicht nur in der anderen Art von Artigkeit und Souveränität – nicht eifersüchtig zu sein -, sondern in dem, was jetzt ist, also auch in den Gefühlen der zweiten Schicht nach Wilhelm Reich.
A: Wenn du dich mit diesen Themen in der Beziehung auseinandersetzt, dann macht das Leben Therapie mit dir.
B: Ja, es könnte die tiefe Auseinandersetzung in der Beziehung stattfinden, es braucht nur ein Gegenübertreten und ein Sich äußern, was für mich Sache ist in dem Moment.
A: Aber wenn wir als Paar in solche Tiefen kommen, bin ich überfordert wenn ich bzw. wir allein sind, da braucht es dann ein Umfeld. Deshalb geht es für mich da auch nur in der Gemeinschaft wirklich weiter – in der Gemeinschaft als größeres Gefäß.
B: Ist es jetzt im ZEGG auch schon so, dass man als Paar ein Umfeld findet? Ich habe gedacht, dass man zwar allein gut dort sein und seine Experimente machen kann, aber als Paar wird es nicht so gewürdigt, dass es hier eine bestimmte Dynamik gibt. Es bedeutet dann auch nicht so viel, wenn man allein hinfährt und seine Beziehungen auf einem bestimmten Level hält und das genießt; dann ist das zwar ein guter Urlaub, der aber nicht mit den eigenen Schattenseiten und Ängsten konfrontiert.
A: Ja, da hat sich sicher etwas verändert, weil ja jetzt auch viele in Beziehungen leben und sie auch die Tiefe suchen, und darin werden sie zunehmend unterstützt; es wächst jetzt eine größere Aufmerksamkeit und Vorsicht, was sexuelle Begegnung auch mit einem macht.
B: Da gibt es ja überhaupt Veränderungen – in dem Sinne, dass es energetisch subtiler wird, wo auch nicht mehr die „Entladung“ das Ziel ist. Das wäre dann auch im Sinne von Vorsicht und größerer Bewusstheit. Wobei hier aber die Gefahr besteht, dies in ein neues Konzept zu bringen, wie Sexualität zu gestalten ist.
A: Deshalb gefallen mir auch Menschen so wie es Al Bauman und Michael Smith waren, die einen „in seinem Sein“ lassen konnten.
B: Da erinnere ich mich, dass Michael in seinem Todesjahr einmal gesagt hat, dass die Sensibilität bei ihm über die Jahre dafür gewachsen ist, wie er und Ellen, seine Frau, in anderen Formen miteinander „strömen“ können, z.B. auch beim Spazierengehen. Herauszufinden also, was wann angesagt ist und auch offen dafür zu sein, wie die Sexualität jetzt in diesem Augenblick sein will: heftig oder sinnlich wahrnehmend.
A: Das ist ja die wahre Kunst in einer Beziehung: sowohl für sich eine differenzierte Wahrnehmung zu haben und zum anderen wahrzunehmen: was brauche ich in der Beziehung zum anderen. Und genau aus dieser Wahrnehmung heraus speist sich die Sinnlichkeit. Nicht so wie in den monogamen Beziehungen, wo zwei ausschließlich zusammen sind, eigentlich zusammenkleben und dann sich im Akt der Trennung in zwei getrennten Universen wiederfinden. Hier gilt dieses männliche Prinzip der Trennung, wo immer wieder Distanz und Trennung stattfindet. Da geht es darum, immer wieder Distanz zu schaffen, um neu hinschauen zu können und um Anziehung entstehen zu lassen.
B: Im Sinne dieser „gesunden Distanz“ finde ich, dass getrennte Räume wichtig sind. So finde ich es gut, dass Frauen mit Frauen und Männer mit Männern zusammenleben und dass man punktuell als Mann mit der Frau und als Frau mit dem Mann zusammenkommt. Und dass man in diesen Frauen- und Männerräumen auch die Geborgenheit und Sicherheit findet, welche man üblicherweise beim Partner sucht, der für diese Qualitäten voll und ganz zuständig ist.
A: Hier wird im ZEGG immer wieder stark experimentiert, z.B. dass bei den Gemeinschaftskursen Frauen und Männer getrennt in ihren Schlafräumen sind. Für gemeinsame Stunden gibt es die „Liebeszimmer“.- Es gibt sicher ganz Wesentliches, was Sabine und Dieter erarbeitet haben – und wenn das alles zusammenkommt und jeder etwas dazu beiträgt, dann kann das wirklich ein schönes Gesamtbild ergeben.
24 Dez
Bukumatula 2/1999
Zum Thema „Bücher“
Wolfram Ratz:
1959 wurde Mary Higgins, eine ehemalige Patientin von Chester Raphael, die Reich zwar nicht persönlich gekannt hat, an seiner Arbeit aber großes Interesse hatte, von Eva Reich zur Nachlassverwalterin eingesetzt. Higgins stellte dem Treuhandfonds auch einen größeren Geldbetrag zur Verfügung, um Orgonon in einen besseren Zustand zu bringen, da es nach Reichs Tod (1957) zu verfallen begann. Die Treuhänderschaft von Higgins blieb nicht ohne Widerspruch.
Reich hatte in seinem Testament festgehalten, dass die Originale seiner Arbeit fünfzig Jahre lang, also bis zum Jahr 2007, so zu verwahren wären, dass sie inhaltlich nicht verfälscht werden könnten. Higgins interpretierte das Testament so, dass Reichs Schriften – es handelt sich dabei vorwiegend um seine späteren Arbeiten – bis dahin überhaupt nicht zugänglich gemacht werden sollten, was zur Mystifizierung Reichs sicherlich beigetragen hat.
Eine gerichtliche Anfechtung durch Eva Reich blieb erfolglos. 1968 erschien dennoch die erste Publikation aus dem Nachlass – das Protokoll eines Interviews des Psychoanalytikers Kurt R. Eissler mit Reich („Reich speaks of Freud“). Und nach vielen weiteren Jahren erfolgte offenbar ein Wandel der editorialen Politik der Treuhänderin, der 1997 auch im deutschsprachigen Raum seinen vorläufigen Höhepunkt fand.
Aus Anlass der Wiederkehr des einhundertsten Geburtstags von Wilhelm Reich haben sich etliche Verlage, vornehmlich der Verlag Zweitausendeins, zur Publikation von bisher unveröffentlichten bzw. seit längerer Zeit vergriffenen Titeln entschlossen. Fast das gesamte Werk Wilhelm Reichs, einschließlich der späten Schriften, ist damit in deutscher Sprache, auch teilweise mit kritischen Kommentaren, intensive Forschungs- und langjährige Vortrags- und Publikationstätigkeit (Emotion) einen wesentlichen Beitrag geleistet.
Viele der experimentellen Untersuchungen Reichs sind auf den Gebieten der Biogenese, der Orgonphysik und der meteorologischen Beeinflussung nachvollzogen worden – zum Teil mit widersprüchlichen, zu Konflikten Anlass gebenden Interpretationen der Ergebnisse. Trotz unterschiedlicher Auffassungen – und vielleicht gerade deshalb – haben Heiko Lassek, Bernd Senf, Heike Buhl, Arnim Bechmann & Co. eine ungewöhnlich kreative Gemeinschaft gelebt – die, so hoffe ich – auch wenn Heiko Lassek bei der nächsten Generalversammlung der Wilhelm Reich Gesellschaft im Dezember d.J. seine Funktion als Vorsitzender zurücklegen wird -, auch in Zukunft bestehen bleiben wird.
Trotz aller Publikationsaktivitäten sind bedeutende Werke wie Reichs „Äther, Gott und Teufel“, „Sexualität und Angst“, oder Eisslers „Reich über Freud“, Reichs Briefwechsel mit A.S. Neill („Briefe einer Freundschaft“), die Reich-Biographie von Ilse Ollendorf-Reich, oder das Buch von Ola Raknes „Wilhelm Reich und die Orgonomie“, derzeit vergriffen.
Vor der Auflistung der derzeit über den Buchhandel erhältlichen deutschsprachigen Publikationen von und über Wilhelm Reich möchte ich noch darauf hinweisen:
Die Zusammenstellung von deutschsprachigen und derzeit über den Buchhandel beziehbaren Büchern von und über Wilhelm Reich wurde von mir sorgfältig recherchiert, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Zu Ihrer Information sei an dieser Stelle auch auf eine Initiative hingewiesen, die 1996 von Peter Freudl gestartet wurde:
Archiv für Körperpsychotherapie
(Text: Peter Freudl, gekürzt)
Das Archiv ist eine private Mediathek und Literaturdatenbank, deren Zweck es ist, die Schriften zur Körperpsychotherapie, die oft schwer zugänglich sind, für eine interessierte Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Das Archiv will die Tatsache würdigen, dass in den letzten sechzig Jahren ein enormes Wissen über den Zusammenhang von Körper und Psyche zusammengetragen und entwickelt wurde.
Das Archiv enthält eine Sammlung hauptsächlich deutscher, zeitgenössischer Materialien zur Körpertherapie: Bücher, Zeitschriftenartikel, Monographien, Broschüren, Videos und Tonkassetten, die sich mit Körperpsychotherapie im weitesten Sinne beschäftigen. Der Schwerpunkt des Archivs liegt auf Materialien in der Tradition Wilhelm Reichs. Es enthält also vor allem Literatur aus Biodynamik, Bioenergetik, Biosynthese, Core-Energetik, Neoreichianische Ansätze, Radix, Skan etc., aber auch Focusing, Feldenkrais, Alexander-Technik und ähnliches sind vorhanden.
Derzeit liegt der Bestand bei mehreren Hundert Monographien und Sammelbänden, darunter die von den wesentlichen Autoren der Körpertherapie geschriebenen (Reich, Lowen, Boyesen, Pierrakos, Boadella, Keleman, etc.). Das Archiv besitzt eine vollständige Sammlung aller bisher erschienen Jahrgänge von Energie & Charakter sowie Zeitschriften wie Ströme, Emotion, Dialog-Biodynamische Psychotherapie, Journal of Biodynamic Psychology, Orgone Energy Bulletin, Zeitschrift für Körperpsychotherapie, Skan Reader, Radix Journal, Bukumatula u.a.
Außerdem ist nahezu die gesamte Literatur vorrätig, die im Zusammenhang mit Biodynamischer Psychologie veröffentlicht wurde. Ein weiterer Schwerpunkt ist Literatur, die sich mit Körpertherapie und Psychosomatik im weitesten Sinne beschäftigt. Einige Videos und Tondokumente führender Körpertherapeuten wie von Lowen, Boyesen oder Boadella sind vorhanden.
Die einzelnen Dokumente und Materialien sind in einem professionellen Computerprogramm (Liman Pro) gespeichert, das aktuell über zweitausenddreihundert Einträge verzeichnet. Über 90% dieser Objekte sind tatsächlich in den Räumen des Archivs vorhanden. Der Bestand wird ständig aktualisiert. Die Speicherung sämtlicher Informationen in einer gut durchdachten und differenzierten Datenbank erlaubt detaillierte und schnelle Suchabfragen, so dass die Literatursuche zu einem beliebigen Thema sehr einfach erfolgen kann.
Es ist möglich, sich eine Literaturliste zu sehr vielen einzelnen Stichworten (Beispiel: Atmung) oder einer Kombination von Stichworten (Atmung, Bioenergetik oder: Reich, Krebs, Akkumulator, oder: Gegenübertragung, Borderline, etc.) zusammenstellen zu lassen. Der Preis dafür beträgt DM 30.- pro Liste, unabhängig von der Anzahl der Einträge. Auf Wunsch kann diese Liste auch mit Kurzkommentaren bestellt werden. Der Grundpreis dafür ist DM 60.-. Die Liste aller verfügbaren Schlagworte finden Sie auch im Internet. Bereits aufgrund einer Kundenanfrage erstellte Listen werden zu reduzierten Preisen angeboten (siehe Anhang).
Die erste Archiv-Publikation liegt seit März 1999 in dritter Jubiläumsauflage vor: „Schriften in Biodynamischer Psychotherapie 1969-1999“ mit zwei neuen, einführenden Texten in die Biodynamik und einem Glossar der wesentlichen biodynamischen Begriffe. (Preis: DM 25.- einschließlich Porto und Versand im Inland, Auslandszuschlag: jeweiliges Porto). Die zweite Archiv-Publikation „30 Jahre Energie&Charakter 1970-1999“ wird voraussichtlich anfangs 2000 erscheinen.
Seit Februar 1997 ist das Archiv auch im Internet über die Homepage: http://home.t-online.de/home/Peter.Freudl zugänglich. Hier können Sie beispielhaft ausgewählte Literaturlisten einsehen, sich über sämtliche verfügbaren Schlagworte des Archivs informieren oder interessante Archiv-Specials finden.
Anschrift:
Archiv für Körperpsychotherapie (AfKPT)
c/o Dipl. Psych. Peter Freudl, Holunderstr. 1, 25337 Elmshorn.
Telefon: +49 (0)4121 78473. Fax: +49 (0)4121 750 578.
E?Mail Adresse: Peter.Freudl@t?online.de
Internet: http://home.t-online.de/home/Peter.Freudl
Anhang:
Bereits erstellte aktuelle Literaturlisten:
24 Dez
Bukumatula 2/1999
Points & Positions und Hauterkrankungen – ein Pilotprojekt
Regina Hochmair:
Juckreiz ist eines der Hauptsymptome vieler Dermatosen (Hauterkrankungen). Die Wahrnehmung der Juckreiz-Empfindung ist mit der motorischen Antwort Kratzen als spinaler Reflex verbunden. Bei starkem Juckreiz werden die Patienten in ihrer Konzentrations- und Leistungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt, wobei Schlafstörungen eine besonders große Rolle spielen.
Das auf den Juckreiz folgende, teilweise exzessive Kratzen führt kurzfristig zum Nachlassen des Juckreizes, was in der Regel auf den durch Kratzen hervorgerufenen Schmerz zurückzuführen ist, der die Juckreizempfindung hemmt. Aufgrund dieser zunächst wohltuenden Auswirkung wird das Kratzen verstärkt.
Mit Verzögerung setzen jedoch strukturelle Veränderungen der Haut, die durch Aufkratzen entstehen, die Juckreizschwelle herab, und es treten in der aufgekratzten Haut Entzündungsreaktionen auf, die erneut zu Juckreiz und damit zu meist noch stärkerem Kratzen führen.
Juckreiz und Kratzen verstärken sich daher gegenseitig und können sich „aufschaukeln“. Dieser Circulus vitiosus kann ebenfalls durch diffuse Anspannung in Gang gesetzt werden, wenn das Kratzen -ursprünglich als Spannungsreduktion eingesetzt – als Folge Juckreiz auslöst. Auf diese Weise kann sich ein Teufelskreis ergeben, der in sogenannten „Kratzanfällen“ endet.
Tiefenpsychologisch wird der „Juckreiz-Kratz-Zirkel“ als Spannungsentladung unbewusster Affekte verstanden, der typischerweise manchmal Lustcharakter annimmt. Es wird zwischen Reiben und leichtem Scheuern auf der einen Seite und Juckreizkrisen auf der anderen Seite unterschieden. Diese können unterschiedlichen emotionalen Zuständen zugeordnet werden.
Ähnlich wie bei Schmerz ist die zentralnervöse Wahrnehmung und Verarbeitung auch von kognitiven Mechanismen wie Ablenkung/ Aufmerksamkeitszuwendung, subjektiver Kontrollierbarkeit und belastenden Emotionen wie z.B. depressiver Stimmung abhängig. Sogar die bloße Vorstellung von Juckreiz oder entsprechender Empfindungen kann diesen auslösen (sogenannter ideosensorischer Juckreiz).
Umgekehrt stellt Juckreiz bei chronischen Hauterkrankungen aufgrund seiner aversiven Erlebnisqualität auch einen psychischen Belastungsfaktor dar. Insbesondere bei Neurodermitis kann der extrem intensive Juckreiz das subjektive Wohlbefinden, Schlaf und Erholung sehr stark beeinträchtigen. Phasenweise können durch die erhöhte Reizbarkeit auch beträchtliche Belastungen für Partnerschaft und Familie erwachsen.
Zudem kann aufgrund des latent jederzeit provozierbaren Juckreizes eine ängstliche Erwartungsspannung aufgebaut werden (Angst vor dem Juckreiz). Zusätzlich kann die Vermeidung von juckreizauslösenden Situationen den Verhaltensspielraum erheblich einschränken, da Körperkontakt, Wärme und Schweiß, Juckreiz auslösen können, was z.B. das sexuelle Erleben beeinträchtigt.
Eine Ausweitung der Problematik ergibt sich aus der Tatsache, dass Kratzen auch auftritt, ohne dass es auf Juckreiz zurückzuführen ist, sondern auf situative und interne Auslöser wie z.B. diffuses Unbehagen, Ärger, Erwartung von neuen Situationen mit unklarem Ausgang, mentale Belastung, Zeitdruck, Langeweile und Entscheidungskonflikte.
1997 wurde im Wilhelminenspital der Gemeinde Wien, Abteilung für Dermatologie, eine psychodermatologische Ambulanz eingerichtet, die von mir geführt wird. In Zusammenarbeit mit der Psychodermatologischen Ambulanz im Allgemeinen Krankenhaus Wien, einer Liaisonambulanz zwischen Dermatologie und Psychiatrie (Dr. Mossbacher und Prof. Musalek), wurde ein Pilotprojekt mit folgender Hypothese gestartet: Juckreiz kann durch Points&Positions, einer von Will Davis entwickelten Reichianischen Methode der Körperpsychotherapie, positiv beeinflusst werden.
Das Projekt wurde auf der Dermatologischen Abteilung des Wilhelminenspitals durchgeführt. Es wurden zwanzig Patienten, die an chronischem Juckreiz – Juckreiz bei Hauterkrankungen und Juckreiz ohne Substrat (Pruritus sine materie) – von mir als Ärztin für Allgemeinmedizin, die in Psychosomatischer Medizin und Körpertherapie qualifiziert ist, untersucht.
Jeder Patient erhielt 5 Points&Positions-Sitzungen zu je 20 Minuten in durchschnittlich einwöchigem Abstand.
Folgende Instrumente wurden zur Evaluation des Behandlungsergebnisses eingesetzt: der Marburger Juckreiz-Kognitions-Fragebogen (JKF), der Marburger Hautfragebogen (MHF), die Visual Analogue Scale, die Hamilton Depression Scale (HAMD), die Hamilton Anxiety Scale (HAMA) und der Von Zersen-Befindlichkeits-/Selbstbeurteilungsfragebogen (BfS).
Spezifika der Fragebögen:
Juckreiz-Kognitionsfragebogen (JKF): erfasst typische Kognitionen, die bei starkem Juckreiz auftreten können. Der Fragebogen besteht aus zwei Skalen. Inhaltlich besteht die eine aus 10 Items zu Katastrophisierung und Hilflosigkeit, Kognitionen, die die Bewältigung von Juckreiz behindern. Die andere Skala enthält Gedanken, die die Bewältigung von Juckreiz fördern. Sie beziehen sich auf die Planung und Anwendung konkreter Bewältigungsstrategien. Z.B.
Das Jucken hört nie mehr auf | 1 2 3 4 5 |
Ich kann nichts dagegen | 1 2 3 4 5 |
Ich kratze mich wieder | 1 2 3 4 5 |
Ich sollte versuchen mich zu entspannen | 1 2 3 4 5 |
1= der Gedanke kommt nie vor
2= der Gedanke kommt selten vor
3= der Gedanke kommt die Hälfte der Zeit vor
4= der Gedanke kommt gewöhnlich vor
5= der Gedanke kommt immer vor.
Marburger Hautfragebogen (MHF): dient zur Erfassung spezifischer Dimensionen der Bewältigung von chronischen Hauterkrankungen. Er enthält sechs Skalen mit Items in Form von Aussagen, die auf dreistufigen Ratingskalen hinsichtlich des Zutreffens der Aussage eingeschätzt werden.< Dabei bedeuten: 1= überhaupt nicht zutreffend, 2= kaum zutreffend, 3= ziemlich zutreffend. Die Skalen sind folgenden Dimensionen zugeordnet:
Die Visual Analogue Scale ist eine graduierte Skala von 0-10, auf der der momentane Grad des Juckreizes markiert wird, wobei 0= gar nicht und 10= sehr stark bedeuten.
Die Hamilton Depression Scale (HAMD) ist eine Fremdbeurteilungsskala zur quantifizierten Beurteilung depressiver Patienten.
Hamilton Anxiety Scale (HAMA): die 14 Symptomgruppierungen beziehen sich auf psychische sowie auf somatische Auswirkungen der Angst.
Befindlichkeits-/Selbstbeurteilungsfragebogen (BfS): er erfasst das Ausmaß momentaner Beeinträchtigung subjektiven Befindens. Die Skala liegt mit Gegensatzpaaren von Eigenschaftswörtern vor. Die Probanden sollen für jedes Gegensatzpaar die Eigenschaft angeben, die ihrem augenblicklichen Zustand eher entspricht. Ist den Probanden die Entscheidung im Moment nicht möglich, dann ist die Rubrik weder noch anzukreuzen. Z.B.:
Ich fühle mich jetzt: eher aufgeschlossen – eher gehemmt – weder-noch
Insgesamt haben 20 Personen an der Untersuchung teilgenommen, davon waren 65% Frauen und 35% Männer. Die jüngste Person war 14 Jahre alt, die älteste 78 Jahre. Das Durchschnittsalter betrug 43,1 Jahre.
Das erste Auftreten der Krankheit reicht bei manchen PatientInnen bis ins erste Lebensjahr zurück, bei einem Patienten trat die Krankheit das erste Mal mit 70 Jahren auf. Im Durchschnitt trat die Krankheit mit 26 Jahren auf. Fast Dreiviertel der PatientInnen leiden mehr als sechs Monate an Hautsymptomen. 42 Prozent leiden das ganze Jahr darunter. 50% der Patienten haben die Diagnose Neurodermitis, 20% leiden an Pruritus sine materie (Juckreiz ohne Substrat) und der Rest kam mit den Diagnosen chronische Urticaria (Nesselausschlag), Psoriasis (Schuppenflechte) und seborrhoisches Ekzem. In den letzten 10 Monaten musste jeder Patient zumindest einmal stationär behandelt werden.
Aus der erhobenen Stichprobe sind folgende Ergebnisse vorzustellen:
add a) Faktoren, die die Krankheit beinflussen:
Im Laufe der drei Messzeitpunkte zeigten sich folgende Veränderungen in der Einschätzung jener Faktoren, die die Krankheit beeinflussen:
Dem Faktor „Veranlagung“ wurde im Durchschnitt am Ende der Untersuchungsreihe stärkerer Einfluss zugeschrieben als zu Beginn.
Dem Faktor „Psychische Belastung“ wurde im Durchschnitt am Ende der Untersuchungsreihe ein schwächerer Einfluss zugeschrieben als zu Beginn.
Dem Faktor „Umwelt“ wurde am Ende der Untersuchungsreihe im Durchschnitt ein schwächerer Einfluss zugeschrieben als zu Beginn.
add b) betroffene Stellen am Körper:
Es hatten:
weniger Personen am Ende der Untersuchung Symptome im Gesicht als zu Beginn
weniger Personen am Ende der Untersuchung Symptome am Hals als zu Beginn
mehr Personen am Ende der Untersuchung Symptome an den Händen als zu Beginn
weniger Personen am Ende der Untersuchung Symptome an den Armen als zu Beginn
mehr Personen am Ende der Untersuchung Symptome am Rumpf als zu Beginn
weniger Personen am Ende der Untersuchung Symptome an den Beinen als zu Beginn
Die eben beschriebenen Veränderungen (Unterschiede) im Auftreten der Symptome an unterschiedlichen Körperstellen sind in allen Fällen nicht signifikant.
add c) Stärke der Symptome:
Die Veränderungen in der Stärke der Symptome sind nicht signifikant, dennoch sollen die Ergebnisse kurz dargestellt werden.Im Durchschnitt war:
die Stärke der Symptome im Gesicht, am Hals, an den Händen, am Rumpf und an den Beinen am Ende der Untersuchung geringer als zu Beginn.
Aufschlüsselung nach Fragebögen:
JFK
Soziale Ängste/Vermeidung
Die Ergebnisse der JFK Skala zeigen signifikante Unterschiede in der Gesamtstichprobe, d.h., die Behandlung führte in der vorliegenden Untersuchung zu statistisch bedeutsamen Veränderungen. Kognitionen, die die Bewältigung des Juckreizes behindern, wurden im Verlauf der Untersuchung seltener.
Erhöhte Werte und damit für die Bewältigung von Juckreiz ungünstige Kognitionen hatten zu Beginn der Untersuchung 23,1% der Frauen; am Ende lag dieser Anteil bei 15,4%. Männer lagen zu Beginn bei 42,9% und am Ende bei 0,0%.
Bewältigung Interessanterweise zeigt sich bei dieser Skala des JFK, die die Planung und Anwendung konkreter Bewältigungsstrategien umfasst, ein genau umgekehrtes Ergebnis: im Laufe der Behandlung sinkt die Häufigkeit der Angaben, konkrete Bewältigungsstrategien anzuwenden, signifikant.
Sowohl bei Männern als auch bei Frauen steigt der Anteil derjenigen, die unter den kritischen Prozentrang von 16,1 fallen und damit einen Mangel an Bewältigungsstrategien erkennen lassen.
MHF
Soziale Ängste/Vermeidung
In der Gesamtstichprobe hat sich der Score für die MHF Skala zwar etwas verringert, diese Veränderung ist aber statistisch unbedeutend. Der Anteil jener Personen, deren Werte erhöht sind, sank in der Gesamtstichprobe von 43,9% auf 35,4%.
Juckreiz-Kratz-Zirkel:
Die Ergebnisse der MHF Skala zeigen signifikante Unterschiede in der Gesamtstichprobe, d.h., die Behandlung führte in der vorliegenden Untersuchung zu statistisch bedeutsamen Veränderungen. Ungünstige kognitive und behaviorale Reaktionen auf Juckreiz konnten verringert werden.
Der Anteil jener Personen, deren Werte erhöht sind, sank in der Gesamtstichprobe von 25% auf 5%. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass ausschließlich Frauen in dieser Skala erhöhte Werte hatten.
Hilflosigkeit
In der Gesamtstichprobe hat sich der Score für die MHF Skala zwar etwas verringert, diese Veränderung ist aber statistisch unbedeutend. Der Anteil jener Personen, deren Werte erhöht sind, sank in der Gesamtstichprobe von 15% auf 5%. Auffallend ist auch hier, dass ausschließlich Frauen in dieser Skala erhöhte Werte hatten.
Ängstlich-depressive Stimmung
In der Gesamtstichprobe hat sich der Score für die MHF Skala zwar etwas verringert, diese Veränderung ist aber statistisch unbedeutend. Der Anteil jener Personen, deren Werte erhöht sind, sank in der Gesamtstichprobe von 35% auf 30%.
Einschränkung der Lebensqualität
In der Gesamtstichprobe hat sich der Score für die MHF Skala zwar etwas erhöht, diese Veränderung ist aber statistisch unbedeutend. Der Anteil jener Personen, deren Werte erhöht sind, sank in der Gesamtstichprobe von 5% auf 0%. In dieser Skala hatten ausschließlich Frauen erhöhte Werte.
Informationssuche
In der Gesamtstichprobe hat sich der Score für die MHF Skala zwar etwas verringert, diese Veränderung ist aber statistisch unbedeutend. Der Anteil jener Personen, deren Werte erhöht sind, blieb in der Gesamtstichprobe gleich.
Visual Analogue Scale
Die Ergebnisse der Visual Analogue Scale zeigen signifikante Unterschiede in der Gesamtstichprobe, d.h., die Behandlung führte in der vorliegenden Untersuchung zu statistisch bedeutsamen Veränderungen. Zu Beginn der Untersuchung hatte nur ein Patient den Wert „1“ auf der zehnstufigen Skala (5%), am Ende der Untersuchung gaben 90% der PatientInnen diesen Wert an, d.h., jeder Patient, außer einem, erlebte den Juckreiz signifikant weniger.
HAMD
Die Ergebnisse der HAMD zeigen signifikante Unterschiede in der Gesamtstichprobe, d.h., die Behandlung führte in der vorliegenden Untersuchung zu statistisch bedeutsamen Veränderungen.
HAMA
Somatische Angst
Die Ergebnisse der HAMA Skala zeigen signifikante Unterschiede in der Gesamtstichprobe, d.h., die Behandlung führte in der vorliegenden Untersuchung zu statistisch bedeutsamen Veränderungen. Die Verringerung des Scores in dieser Skala weist auf eine Verringerung jener Symptome hin, die der Skala „Somatische Angst“ zugeordnet sind.
Psychische Angst
Die Ergebnisse des HAMA Skala zeigen signifikante Unterschiede in der Gesamtstichprobe, d.h., die Behandlung führte in der vorliegenden Untersuchung zu statistisch bedeutsamen Veränderungen. Die Verringerung des Scores in dieser Skala weist auf eine Verringerung jener Symptome hin, die der Skala „Psychische Angst“ zugeordnet sind.
Gradmesser der Angst
Der Gesamtscore des HAMA sinkt im Laufe der Untersuchung signifikant.
BfS
Die Befindlichkeitsskala erfasst das Ausmaß momentaner Beeinträchtigungen subjektiven Befindens. Die Ergebnisse des BfS zeigen Veränderungen (der Score sinkt) im Verlauf der Behandlung, diese sind aber statistisch unbedeutsam. Bei Männern war in dieser Untersuchung zwischen der ersten und der letzten Behandlung keine Veränderung (gleicher Score) zu beobachten:
Ergebnismittel in Prozent von Visual Analogue Scale, Juckreiz-Kratz-Zirkel, Befindlichkeitsskala, gegenübergestellt vor der ersten und nach der fünften Sitzung.
Zusammenfassung
Dieser erste Anfang einer Untersuchung von Juckreiz und Körperpsychotherapie zeigte, dass mit der spezifischen Methode Points& Positions ein Effekt erzielt werden konnte – und zwar nicht nur bei Patienten, die an Juckreiz ohne Substrat (Pruritus sine materie) sondern auch bei solchen, die an Juckreiz im Rahmen von Hauterkrankungen leiden. Es sollten weitere detailliertere Untersuchungen folgen, um die während der Untersuchungsperiode auftretenden Fluktuationen zu klären. Es wäre interessant, dies in einer kontrollierten Studie zu untersuchen.
Das Pilotprojekt wurde im Juni 1999 auf dem Psychodermatologenkongress in Paris vorgestellt. Es entstand in Zusammenarbeit mit Prof.Dr. Steiner, Prof.Dr. Partsch, Dr. Trost (Abteilung für Dermatologie) und Prof.Dr. Musalek (Abteilung für Psychiatrie, Allgemeines Krankenhaus Wien). Statistik: Gaby Dunetzky.
Literatur: Stangier, Ehlers, Gieler: Fragebogen zur Bewältigung von Hautkrankheiten (FBH); Hogrefe.
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Dr. Regina Hochmair ist Praktische Ärztin, Ärztin für Psychosomatische Medizin und Körpertherapeutin (Points&Positions, Radix) in 1190 Wien, Scheibengasse 3/2 (Tel.: 3684182).
24 Dez
Bukumatula 5/99
Eine gemeinsame Kolumne körperpsychotherapeutischer Zeitschriften
Die mystische Nuß von Peter Schreiber:
Ein Freund von mir bekam dieser Tage einen Brief aus Holland. Im Briefumschlag befand sich auch ein kleines Schächtelchen. In Großbuchstaben war zu lesen: Nicht öffnen, bevor Du den Brief gelesen hast!
Der Text lautete ungefähr so:
„Ich bin die Enkelin einer peruanischen Heilerin und habe ihr auf dem Totenbett gelobt, die mir anvertraute Macht einigen wenigen Menschen auf dieser Erde weiterzugeben. DU bist einer der drei Auserwählten … Während Du diese Zeilen liest, wirst Du vielleicht schon ein Knistern, welches aus dem Schächtelchen kommt, gehört haben.“ – Mein Freund zuckte unwillkürlich zusammen, tatsächlich hatte er bereits dieses merkwürdige Geräusch gehört, und es schien tatsächlich aus der kleinen Schachtel zu kommen. Beunruhigt las er weiter: „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo Du die Schachtel öffnen darfst!“
In der Schachtel fanden sich drei Teile einer Nuß, etwa in der Größe einer Haselnuß, nur etwas dunkler in der Farbe und härter in der Konsistenz. Als nun mein Freund die drei Nußteile auf seinen Schreibtisch legte, begannen sie sich nach kurzer Zeit plötzlich zu bewegen. Ohne Zweifel: sie ruckten, sie zuckten, drehten sich sogar auf den Rücken und manchmal sah es so aus, als ob sie zu springen versuchten.
Der Rest des Briefes lautete etwa so: „Die Nüsse würden alle Dinge in Deinem Leben umkehren, also schlechte Dinge würden besser werden, aber es könnten sich auch gute Dinge zum schlechteren verändern. Er sollte 100 D-Mark schicken und würde weitere Anleitungen bekommen. Diese Nüsse sollte er aber durch niemand anderen berühren lassen, sie unbedingt nach drei Wochen in den Abguß werfen und viel Wasser nachspülen.“
Zwei Tage später saßen wir zusammen in meiner Wohnung. Mein Freund nahm das Schächtelchen aus der Tasche und leerte den Inhalt auf meinen Schreibtisch.
Zu unserer Enttäuschung geschah nichts, keine Bewegung, nichts abnormales – doch nach etwa einer halben Minute begann sich zuerst die erste, dann die zweite und schließlich auch die dritte Nuß zu bewegen. Tatsächlich waren es ruckartige Bewegungen, Drehungen und ein Hin- und Herschaukeln.
Ich war sprachlos. Auch meine Frau kam hinzu und starrte verwundert auf das (vielleicht tatsächlich übersinnliche?) Phänomen.
Ich kam mir vor wie Sherlock Holmes. Ich nahm eine Lupe zur Hand: es war tatsächlich eine Nuß und sonst nichts, also organisches Material. Zumindest von außen war nicht zu erkennen, ob vielleicht irgendein Metall eingefügt worden war. Die Nußteile ließen sich mit einem Messer leicht schaben und ritzen …
Ich hatte eine Idee: Wir trennen die Nüsse.- Jede wurde in ein anderes Zimmer gebracht und wir beobachteten sie getrennt. Zunächst keine Bewegung, dann nach kurzer Zeit wiederum die gleichen Unruhebewegungen. Wir holten einen Magneten: Die Nüsse reagierten nicht darauf.
Wir gaben nicht auf, wir wollten es wissen: zwei weitere Ideen wurden geboren. Eine Nuß sollte über Nacht in den Kühlschrank gelegt werden, die andere wollte ich am nächsten Morgen zu meinem Zahnarzt bringen und von ihr eine Röntgenaufnahme anfertigen lassen. Dies würde uns Auskunft geben, ob sich etwas im Inneren der Nuß befand, was von außen nicht sichtbar war. Schließlich hatten wir die Idee, das botanische Institut der Universität Wien anzurufen und um Rat zu fragen.
Es kostete uns schon einiges an Überwindung, denn wer möchte schon gerne telefonisch einem Wissenschafter von einer magischen Nuß erzählen, die sich von selbst bewegt! Wahrscheinlich würde unser Gesprächspartner auflegen, bevor wir überhaupt alle Einzelheiten erklären könnten. Doch dann riefen wir an.
Das Phänomen war dem Institut bekannt. In der Nuß befand sich ein Wurm, eine Larve von einem Käfer, der im Stadium der Reifung ruckartige Bewegungen machte und damit die ausgehöhlte und daher leichte Nuß bewegte.
Mutig schnitten wir nun die Nuß auf: Die Larve war tatsächlich drinnen und bewegte sich munter auf der Unterlage weiter. Wenn wir in drei Wochen die Nuß nicht in den Abguß geworfen hätten, wäre aus ihr der fertige Käfer ausgeschlüpft und das Geheimnis hätte sich von selbst aufgelöst.
Das mit den einhundert Mark war einfach Bauernfängerei gewesen.
Wir blieben zurück mit einem Gefühl der Zufriedenheit über den Sieg der Ratio über den Aberglauben, aber doch auch ein wenig enttäuscht, nicht endlich einmal Zeuge eines wirklich übersinnlichen Phänomens geworden zu sein …
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Liebe Maroni-Leserin, lieber Maroni-Leser! Wir würden uns auch sehr über Deine Beiträge oder Kommentare für unsere gemeinsame Kolumne freuen. Wenn Du diesbezüglich bereits kreativ tätig warst oder werden willst: Hier ist Platz für Dich!
24 Dez
Bukumatula 5/1999
im Gespräch mit Felix Hohenau, dem Vorsitzenden der AABP
Wolfram Ratz:
„Ein Miteinander steht für mich allemal vor einem Nebeneinander“
Wolfram: Lieber Felix, Präsident der AABP …
Felix: (sichtbar verschnupft) Ich bin Obmann, wenn’st noch einmal Präsident sagst, dann …
W: Also lieber Obmann Felix: Du warst im September in Travemünde beim 7. Internationalen EABP-Kongress. Vielleicht kannst Du uns erzählen, was Dich dort beeindruckt, bzw. weniger beeindruckt hat. Ich wünsche mir, dass Du dann auch über die Situation der Körperpsychotherapie in Österreich berichtest.
F: Gut, also was hat mich beeindruckt: Der Kongress war diesmal von den Hauptvortragenden her sehr wissenschaftlich orientiert – es gab eine Reihe von Vorträgen, die die Körperpsychotherapie wissenschaftlich unterstützen. Ich möchte ein bisschen auf das Klima eingehen. Beim EABP-Kongress 1997 im Burgenland war es so, dass eine ziemlich starke Spaltung feststellbar war zwischen jenen Therapeuten, diese würde ich jetzt einmal als `Energetiker´ bezeichnen und denen, die mehr analytisch orientiert sind. Wenn man nicht auf den Redner geschaut hat, sondern in den Raum hinein, machte sich diese Spaltung bemerkbar, indem immer die eine Hälfte der Zuhörer verachtend und die andere Hälfte zustimmend geblickt hat.
Es gab wenig Bereitschaft, einander ernst zu nehmen. Das war diesmal ganz anders. Beide Richtungen hatten Platz nebeneinander, man hat die jeweils anderen nicht mehr als Bedrohung, als Verräter, oder als was auch immer, empfunden. Es gibt ganz einfach verschiedene Anschauungen – die einen haben mehr einen intrapsychischen und die anderen einen interpersonalen Standpunkt. Das sind zwei verschiedene Blickpunkte zum Therapieverständnis. Beide haben ihre Berechtigung und sind sinnvoll – und beide haben ihre Stärken und Schwächen.
Das entspricht ja auch dem menschlichen Dasein. Einerseits beziehe ich mich auf andere, andererseits gibt es auch Zeiten, in denen ich mich auf mich selbst beziehe und mit mir alleine bin – also intrapsychisch. Für mich hat das den Kongress sehr angenehm gemacht; es hat sozusagen kollegialer Respekt geherrscht, auch wenn manche Anschauungen nicht geteilt wurden. Noch etwas fand ich interessant: Es gibt ja in der Neo-Reichianischen Bewegung eigentlich von Anfang an eine Spaltung zwischen humanistisch orientierten Reichianern und mehr analytisch orientierten – analytisch ist vielleicht dafür ein falsches Wort, besser medizinisch – auch die Polarität atomistisch versus holistisch stimmt nicht ganz.
In den letzten Jahren hat man in Österreich, aber nicht nur hier, versucht, bezüglich der gesetzlichen Anerkennung möglichst wissenschaftlich aufzutreten und hat zum Teil eine Reihe von analytischen Konzepten aufgenommen. Dadurch haben sich auch diejenigen, die ganz klar humanistisch orientiert waren, vom humanistischen Gedankengut sukzessive wegbewegt, ohne dass das wirklich bemerkt worden wäre.
Das kann man anhand eines konkreten Beispiels sehen, etwa beim `Selbst-Konzept´: In den 80er und frühen 90er Jahren ging das Konzept von Maslow mehr und mehr verloren und wurde durch jenes von Kohut und Kernberg ersetzt. Die humanistische Grundeinstellung zur Arbeit und dem Klienten gegenüber wurde durch eine wissenschaftliche, teilweise analytische, ausgetauscht. Ich sage nicht, dass diese Wandlung jeder Körperpsychotherapeut mitgemacht hat, ich sehe das eher als Tendenz. Man hat dadurch vielleicht an Wissenschaftlichkeit und Professionalität auf der einen Seite gewonnen, aber auf der anderen Seite die humanistische Basis verloren.
Ganz grundsätzlich hat man früher die Psychotherapie bzw. die Körperpsychotherapie mehr als Wachstumsarbeit gesehen, ganz gleich wie krank oder gestört jemand war. Heute spricht man überhaupt nicht mehr von Wachstum, sondern stellt Diagnosen – wir rechnen ja teilweise mit den Krankenkassen ab – denen kein psychodynamisches Verständnis zugrunde liegt, sondern ein Symptomverständnis.
Oder man nimmt analytische Konzepte wie das der `Reife´ her: es handelt sich dabei um eine fast normierte `Reife´, die bestimmt ist und nicht vom Klienten definiert wird. Diese normierte Reife ist häufig gesellschaftskonform und angepasst und damit auch unlebendig. Mit der eigenen Lebendigkeit in Kontakt zu sein und das Leben auch aus diesem Fluss heraus zu gestalten, geht dabei verloren.
W: Wir waren gerade noch in Travemünde …
F: Wir haben uns jetzt ein paar Schritte von Travemünde entfernt, aber ich denke, das gehört dazu und ist wichtig.
W: Stand der Kongress auch unter dem Zeichen der wissenschaftlichen bzw. politischen Anerkennung?
F: Eigentlich nicht. Vor dem Kongress war die Situation ja so, dass die Körperpsychotherapie nicht in den höchsten Status der EAP (European Association for Psychotherapy, Anm. d. Hsg.), in den EWAO-Status, hineingekommen ist. Das ist jetzt passiert; sie wurde wissenschaftlich anerkannt. Damit ist die Körperpsychotherapie mit der Gestalttherapie, der Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse, etc., gleichgestellt.
Das hat sicher auch damit zu tun gehabt, dass die EABP jetzt nicht mehr nur eine Organisation von Einzelmitgliedern ist, sondern dass es ein zweites Standbein gibt; und zwar das `Forum´ der körperpsychotherapeutischen Schulen. Es sind europaweit zwölf Schulen anerkannt worden, darunter auch aus Österreich die ERI (Emotionale Reintegration; Anm. d. Hrsg.). Auf der politischen Ebene spielt das natürlich eine große Rolle. Innerhalb des Forums hat man versucht, eine möglichst weite Definition der Körperpsychotherapie zu finden und nicht auf die vorher erwähnte Spaltung einzugehen; es gibt Platz für beide Richtungen.
Es fällt mir schwer, konkret über den Kongress zu berichten. Durch die vielen Vortragenden unterschiedlicher Richtungen war es für mich nicht leicht eine Richtung in dem ganzen zu sehen – abgesehen von den Hauptvorträgen, aber das wurde ja von den Veranstaltern initiiert. Die Vorträge der Hauptreferenten waren bisher immer der große Schwachpunkt bei den Kongressen. Das war diesmal besser, indem man Wissenschaftler geholt hat, die die Körperpsychotherapie unterstützen, aber nicht aus der Körperpsychotherapieszene kommen.
Gut war auch, dass man die `Alten´ der Szene, also Eva Reich, Gerda Boyesen, Al Pesso, Malcolm Brown, usw. geehrt hat und sie mit ihren Vorträgen nicht den Kongress beherrschen ließ; die sagen ja seit zwanzig Jahren dasselbe.
W: Welche Vorträge haben Dich am meisten beeindruckt?
F: Am spannendsten waren sicher die Ausführungen und das Seminar von Bessel van der Kolk, der anhand von `Neuromapping´ aufzeigen konnte, dass bei posttraumatischen Störungen das Trauma durch verbale Psychotherapie nicht erreicht werden kann, sondern nur durch Einbeziehung des Körpers. Mich hat auch der Vortrag von Halko Weiss und Gustl Marlock über die Selbstkonzepte in der Körper-psychotherapie beeindruckt. Es war eine Besonderheit dieses Kongresses, dass Vorträge bzw. Präsentationen zu zweit gehalten wurden, wobei die beiden Vortragenden aus unterschiedlichen Schulen bzw. Richtungen kamen.- In diesem Fall kommt Halko Weiss von der Hakomitherapie und Marlock von der `Unitive Psychology´ von Stattmann.
W: Jetzt ist also die Körperpsychotherapie im Rahmen der EAP als gleichwertige Schule – so wie die Gestalttherapie, die Psychoanalyse, etc., anerkannt. Was bedeutet das jetzt praktisch?
F: Die Anerkennung auf dieser Ebene ist zwar sehr schön, aber es gibt nationale Gesetze, und da ist die Körperpsychotherapie nicht anerkannt. Das ist nicht nur bei uns so. In Deutschland z.B. geht’s allen humanistischen Richtungen ganz schlecht. Es ist ja so, dass EU-Gesetze vor nationalen Gesetzen stehen. Bis das in der Psychotherapie konkret umgesetzt sein wird, wird noch viel Wasser die Donau hinunter fliessen.- Zur Situation in Österreich: Es sind meines Wissens nach nur drei körperpsychotherapeutische Vereinigungen übergeblieben, die sich – bis jetzt vergeblich – um eine Anerkennung bemühen.
Das sind die `Emotionale Reintegration´, die Bioenergetiker und die `Konzentrative Bewegungstherapie´. Das AIK hat sich ja durch den frustrierenden Anerkennungsprozess aufgerieben und aufgelöst. Ich möchte jetzt aber von der Körperpsychotherapie weggehen und weiter ausholen: Falls der derzeit diskutierte Vertrag zwischen dem ÖBVP (Österr. Bundesverband für Psychotherapie; Anm. d. Hrsg.) und den Krankenkassen kommt, ist generell die derzeit noch vorhandene Methodenvielfalt in Frage gestellt.
Die kleineren Institute werden keine Ausbildungen mehr zustande bringen und zusperren müssen. Das würde in erster Linie humanistische Richtungen treffen. Selbst wenn die Körperpsychotherapeuten sich wirklich aktiv noch für eine Anerkennung einsetzten – derzeit herrscht ja generell Resignation – heißt das noch lange nicht, dass auf längere Sicht ein Überleben der Körperpsychotherapie gesichert wäre.
Dennoch meine ich, dass sich in Österreich alle Schulen, Organisationen und die einzelnen Körperpsychotherapeuten zusammentun und ein Institut gründen sollten. Das würde ich nach wie vor am sinnvollsten halten. Wesentlich gescheiter wäre es auch, die vier in Wien erscheinenden Zeitschriften, die eigentlich alle in ähnlich periodischen Abständen erscheinen, in eine einzige zusammenzulegen.
Ein Miteinander steht für mich allemal vor einem Nebeneinander. Man täte sich ökonomisch leichter, es gäbe inhaltlich mehr Substanz und die Veranstaltungsankündigungen sind logischerweise bei allen die gleichen, weil mehr Workshops, als die, die angeboten werden, gibt es nicht. So wie ich eine gemeinsame Zeitschrift für sinnvoll halte, so halte ich es auch für sinnvoll, dass die, die in der Körperpsychotherapie kompetent sind, zusammenarbeiten, und nicht jeder für sich dahin wurschtelt.
W: Hast Du dazu eine konkrete Vorstellung?
F: Auch wenn das im Moment nicht aktuell scheint, ist die Chance auf eine Anerkennung der Körperpsychotherapie ganz grundsätzlich von einem gemeinsamen Vorgehen abhängig. Im ÖBVP haben immer wieder einzelne gesagt, dass die Körperpsychotherapeuten so ein zerstrittener Haufen sind, dass sie es nicht schaffen werden, ein gemeinsames Institut zu gründen, was die Voraussetzung für eine Anerkennung wäre.
Gut, das war vielleicht nur taktisch gemeint, aber ich glaube, dass ein gemeinsames Auftreten trotzdem die größte Chance gehabt hätte bzw. immer noch hat. Im Zuge der Vertragsverhandlungen mit den Sozialversicherungsträgern – und da formiert sich eine relativ große Bewegung dagegen – könnte es bei der nächsten Generalversammlung des ÖBVP zu einer Strukturreform kommen, so dass sich dadurch auch die Situation für die Körperpsychotherapie von heute auf morgen ändern könnte. Nicht, dass ich die Chancen sehr groß sehe, aber die Möglichkeit dazu besteht. Solange wir aber ein kommunikationsloser Haufen sind, nützt uns das überhaupt nichts.
W: Du denkst an eine Vereinigung der `besten Köpfe´.
F: Nicht an eine Vereinigung der besten Köpfe – und auch nicht an eine der besten Körper – sondern an eine Auseinandersetzung und Zusammenarbeit aller Psychotherapeuten, die in ihre Arbeit den Körper integrieren. Ich stelle mir eine Zusammenarbeit auf zwei Ebenen vor. Politisch geht es um eine Anerkennung der Körperpsychotherapie, ganz unabhängig von den Ausbildungsinstituten. Und inhaltlich hätte ich gerne alle integriert – von der Analytischen Körperpsychotherapie bis zum Reich-Institut, aber auch die Bioenergetiker und die Konzentrative Bewegungstherapie.
W: Was könnte denn die österreichische Vereinigung der EABP, die AABP, zu einer Anerkennung beitragen, oder welche Funktion könnte sie dabei übernehmen?
F: Ich denke, es wäre wichtig, das überhaupt etwas passiert. Es geht nicht um die AABP, sondern grundsätzlich um die Bewegung. Natürlich würde sich die AABP als Dachorganisation dafür anbieten. Aber für die AABP besteht derzeit sehr wenig Interesse. Die Mitgliederzahl geht zurück; warum ist schwer zu sagen. Die Situation bei uns ist nicht rosig, aber die Situation in Deutschland zum Beispiel ist auch nicht rosig, aber die deutsche Vereinigung der EABP hat einen starken Zulauf von Körperpsychotherapeuten, weil eben die Situation überhaupt nicht rosig ist. Ob bei uns dafür Animositäten, die gewiss eine Rolle spielen, der Hauptgrund ist, das weiß ich nicht. – Zu AABP-Sitzungen kommen etwa fünf bis sechs Leute. Ich habe im letzten Februar die Initiative ergriffen, um das auf eine etwas andere Basis zu stellen. Ich habe viele Einladungen ausgesprochen, und da sind damals 24 Leute gekommen, aber das hat überhaupt keine Früchte getragen.
W: Was meinst Du, würden sie sich von der AABP erwarten?
F: Sie erwarten sich gar nichts mehr, es herrscht Resignation.
W: Glaubst Du nicht, dass sie sich eine Unterstützung erwarten, zum Beispiel für eine berufliche Anerkennung?
F: Hinter der Resignation erwarten sie sich sicher Anerkennung und Unterstützung. Die Bedrohung der beruflichen Existenz, vor der viele Angst haben, kann die AABP nicht wegnehmen. Die gibt es ganz einfach. Aus dem heraus ist verständlich, dass jeder für sich der nächste ist.
Jeder versucht das für sich irgendwie zu regeln. Es ist daher auch sekundär, ob man sich Körperpsychotherapeut oder sonst irgendwie nennt. Ich denke, das muss man akzeptieren. Es gibt auch etliche, die von der Therapie gut leben können und für nichts anderes Zeit haben. Also es gibt diese zwei Gruppen, und beide wollen bzw. können keine Energie dafür aufbringen.
W: Hast Du einen Wunsch als AABP-Präsident …
F: Obmann!!!
W: Also Obmann, hast Du eine Idee oder eine Vision, was die AABP für die Körperpsychotherapie in Österreich tun kann?
F: Eine Vision wäre die Bereitschaft zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung und die Zusammenarbeit. Die Frage ist aber: gibt es zur Zeit überhaupt eine Identität in der Körperpsychotherapie? Die meisten anerkannten Therapeuten, die körperorientiert arbeiten, sagen auf die Frage nach ihrem BeruF: `Psychotherapeut´, aber nicht Körperpsychotherapeut. Das heißt, es geht um eine Wiedererlangung der Identität. Das würde auch die Körperpsychotherapeuten dazu bringen, sich mit Inhalten auseinandersetzen.
Aus dieser Auseinandersetzung könnte dann vielleicht einmal eine gemeinsame Bewegung entstehen. Das wäre meine Vision. Und dass wir einen Verein wie die AABP haben, der für die politische Dimension verantwortlich ist. Es gibt momentan überhaupt keinen Schwung in der Szene und damit eine mangelnde Identifikation, viele entwickeln sich davon überhaupt weg. Aber das hat sicher auch damit zu tun, dass viele sich mit anderen Therapiemethoden auseinandersetzen. Wie ich arbeite ist ja immer auch davon bestimmt, welchen Einflüssen ich mich aussetze.
Ich habe das selbst erlebt. Wenn ich mich mehr analytischen Einflüssen aussetze, dann wirkt sich das auch ganz konkret in meiner Arbeit aus. Und wenn ich z.B. an einem Kongress teilgenommen habe, bei dem ich mich vielen Inputs körperpsychotherapeutischer Natur ausgesetzt habe, dann arbeite ich wieder mehr mit dem Körper. Wie ich als Therapeut arbeite, hängt damit zusammen, wie ich mich in der Fortbildung nähre.
W: Wieso ist dieser Schwung verlorengegangen? Hat das mit dem Psychotherapiegesetz zu tun, war die Körperpsychotherapie eine Modeerscheinung, oder …
F: Ja, von allem ein bisschen. Die Körperpsychotherapie war sicher einmal eine Modeerscheinung, so wie es heute die Systemische Familientherapie ist. Also es gibt immer Therapien, die gerade in Mode sind, und das hat natürlich sehr viel wieder mit dem Zeitgeist zu tun. Die Systemische Therapie, die als Kurzzeittherapie zielorientiert ist, passt sehr gut in unsere Zeit, so wie in den frühen 80er Jahren die Körperpsychotherapie der Zeit entsprochen hat. Der andere Aspekt ist, dass durch das Psychotherapiegesetz die Anerkennung des einzelnen im Mittelpunkt stand und sich viele in anderen Therapieverfahren umgesehen haben.
Das hat generell eine Wegbewegung von der Körperpsychotherapie gebracht, auch bei den Ausbildungen. Des weiteren liegt das natürlich auch in den Schwächen der Körperpsychotherapie selbst, dass man z.B. bis Ende der 80er Jahre das Beziehungsgeschehen stark negiert hat und man sich anderen Richtungen zuwenden musste, um diese Konzepte zu finden. In den späten 70er und frühen 80er Jahren hat man sich als Reichianer als etwas Besonderes gefühlt. Man hat mit anderen gar nicht geredet und es auch nicht für notwendig gefunden, sich mit anderen auseinander zu setzen.
Man hat diese Einstellung von Reich übernommen, hat Phobien gegenüber anderen entwickelt und sie überhaupt nicht ernst genommen und sich gleichzeitig dadurch in einer totalen Besonderheit erlebt. Das war keine sehr gesunde Basis und musste nach einiger Zeit zusammenbrechen. In der Enttäuschung über das Zusammenbrechen, hat man sich dann anderen Richtungen zugewandt. Körperpsychotherapie und das persönliche Leben waren ja damals sehr verquickt. Es hat sich herausgestellt, dass viele der Reichianischen Ansprüche nicht wirklich lebbar waren.
Häufig wurde dann das Kind mit dem Bad ausgeschüttet, man hat nicht gesehen, dass es daneben doch sehr viel Wertvolles gibt, was bewahrenswert ist. Wenn man heute Therapeuten anderer Richtungen fragt, was sie mit dem Begriff `Körperpsychotherapie´ verbinden, dann sagt ein erschreckend großer Teil: in erster Linie Missbrauch. Uns hängt der Missbrauch viel stärker nach als zum Beispiel der Gestalttherapie, obwohl er dort wahrscheinlich genauso häufig vorgekommen ist.
Die ganzen positiven Aspekte und Errungenschaften, die letztlich der Neoreichianismus gebracht hat wie die Sanfte Geburt, alternatives Schulwesen, etc., das wird überhaupt nicht mit uns in Zusammenhang gebracht. Da erhebt sich schon die Frage, was haben wir dazu beigetragen, dass das so gekommen ist.
W: Hast Du darauf eine Antwort?
F: Ich weiß es nicht wirklich. Eine Antwort darauf könnte sein: Enttäuschung. Enttäuschung insofern, als dass die Versprechungen der Reichianischen Therapie und deren Lehren sich nicht erfüllt haben, sich als Illusion herausgestellt haben. Aus dieser Enttäuschung heraus haben sich viele ganz abgewandt und distanziert, anstatt dazu ein stimmiges Verhältnis zu finden. Vielleicht ist das auch ein möglicher Umgang mit der Konkurrenz – indem man den anderen schlecht macht, macht man selbst ein besseres Geschäft. Aber auch das ist nur ein Aspekt, da gibt es sicher noch viele andere.
W: Ich habe Dich recht engagiert erlebt bezüglich des zu beschließenden Gesamtvertrags zwischen dem Hauptverband der Versicherungsträger und dem ÖBVP …
F: Na sehr engagiert nicht, ein bisschen halt. Auf die persönliche Existenzbedrohung – ob mit oder ohne Vertrag, das sehen einzelne sehr unterschiedlich – möchte ich nicht eingehen, sondern grundsätzlich etwas dazu sagen. Mit dem Abschluss des Gesamtvertrags wird die Methodenvielfalt gefährdet und der humanistische Ansatz mehr und mehr verloren gehen. Ich teile die Kritik zu diesem Vertrag mit Stemberger, Harald und Richard Picker und Oskar Frischenschlager. Was sich da zur Zeit entwickelt, halte ich für sehr positiv. Zum Beispiel die Gründung der AQA (Arbeitsgruppe Qualifizierte Alternative; Anm. d. Hrsg.). Das könnte zu einer Strukturreform innerhalb des Berufsverbands – der ja derzeit von oben nach unten organisiert ist – führen, so dass es zu einer Bewegung von unten nach oben kommt und sich vielleicht dadurch einiges grundlegend ändern könnte.
W: Vielen Dank für das Gespräch, lieber Präsident …
F: Obmann!!!
24 Dez
Bukumatula 6/1999
am 12. Oktober 1999 in Wien
Wolfram Ratz:
Wurden „Wahnsinnige“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in den mit 140 Zellen bestückten „Narrenturm“ gesperrt – mit der Behandlung: Schädelrasur und Traktierung der Kopfhaut mit giftigen Salben, mit Aderlass und Quecksilber-Fieberkuren oder der Verabreichung von Brechmitteln – hat sich die Behandlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts einigermaßen vermenschlicht. Durch die erfolgreiche Forschungsreise Sigmund Freuds durch die menschliche Seele, wurde in Wien 1922 – nach Berliner Vorbild – das Psychoanalytische Ambulatorium für Mittellose gegründet.
„Die Fundgrube“
Gleich nach der Promotion zum Doktor der Medizin setzte Wilhelm Reich ab 1922 die vielfältigen Tätigkeiten seiner Studienjahre fort. Neben seiner Analytikerpraxis bildete er sich an der Universität in Neuropsychiatrie weiter. Unter Julius Wagner von Jauregg hatte Reich die Gelegenheit, die verschiedenen Arten psychotischer Erkrankungen zu studieren, insbesondere der Schizophrenie. Reich war in der förderlichen Position, sowohl mit den führenden Köpfen der organisch orientierten Psychiatrie als auch denen der Psychoanalyse zusammenarbeiten zu können.
In dieser Zeit begann Reich auch mit der Arbeit am Ambulatorium. Dieser Arbeit blieb er bis 1930, bis zu seinem Umzug nach Berlin zunächst als erster medizinischer Assistent und dann als stellvertretender Leiter unter dem verdienten Psychoanalytiker Eduard Hitschmann treu. Freud hatte diese Einrichtung befürwortet, obwohl er davon wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zu erwarten schien.
Viele Psychoanalytiker teilten ihre Abneigung mit Freud, mit dem „Gesindel“ zu arbeiten. Es gab die Auffassung, dass es bestimmte `schlechte Charaktere´ gäbe, die sich für die analytische Behandlung nicht eigneten. Sie erforderte, hieß es, eine gewisse Höhe der seelischen Organisation im Kranken … Die Arbeit war also recht eingeschränkt auf umschriebene neurotische Symptome bei intelligenten, zur Assoziation fähigen Menschen mit `korrekt entwickeltem´ Charakter. (Kursivgesetzte Textteile sind Originalzitate Reichs.)
Für Reich hingegen wurde die Arbeit am Ambulatorium eine Fundgrube von Einsichten in das Getriebe der Neurosen unbemittelter Menschen. Ich arbeitete dort vom ersten Tag an als erster Assistenzarzt, im ganzen acht Jahre … Der Ansturm auf diese Einrichtung war so groß, dass wir uns nicht zu helfen wussten … Jeder Psychoanalytiker verpflichtete sich, eine Gratisstunde täglich zur Verfügung zu stellen. Viele Analytiker zogen es jedoch vor, sich von der Pflicht freizukaufen. In einem Brief stellt Reich 1926 fest: Fast niemand hat ein aktives Interesse am Ambulatorium.
Gleich nach der Eröffnung des Ambulatoriums herrschte rege und anwachsende Betriebsamkeit. Konsultierten im ersten Jahr 159 Patienten die Polyklinik, so waren es im nächsten Jahr bereits 354. Der Höchststand um 1924 war durch die Mithilfe der Wiener Tageszeitungen erreicht worden, die über das Ambulatorium berichteten und es zur Konsultation empfahlen.
„Der Hecht im Karpfenteich“
Reichs dortige Arbeit sollte nachhaltig Einfluss auf die Betonung der sozialen Aspekte in seinem Werk zeitigen. Das Ambulatorium diente in erster Linie der Behandlung von einfachen Arbeitern, Angestellten und Studenten, die sich eine private Behandlung nicht leisten konnten. Der massenhafte Andrang offenbarte auch die Grenzen der langwierigen psychoanalytischen Behandlung. Reich erkannte hier die Notwendigkeit vorbeugender sozialer Initiativen gegen Massenneurosen.
Die aufregende politische Stimmung jener Zeit musste einen tiefen Eindruck auf Reich gemacht haben. Der Einfluss der Russischen Revolution auf die besonders aktiven österreichischen Sozialisten, die vielen hochbegabten Intellektuellen, die überall über Marxismus schrieben und diskutierten, ließen seinen wachen und forschenden Geist nicht unberührt. Die Arbeit im Ambulatorium führte ihn zu dem Versuch Freuds und Marx‘ Lehren in Einklang miteinander zu bringen, was später sowohl von den Marxisten, als auch den Psychoanalytikern zurückgewiesen wurde.
Mit dem ihm eigenen Enthusiasmus stellte er etliche übereilte Postulate über die psychische und sexuelle Hygiene des Proletariats auf, die er später korrigieren musste. Zur selben Zeit war Reich Leiter des „Technischen Seminars“ für psychoanalytische Therapie. Viele amerikanische Analytiker, die zur Ausbildung nach Wien kamen, waren bei Reich in Therapie und nahmen an seinen Seminaren teil.
Reich fühlte sich rundum wohl – wie ein Fisch im Wasser. Nur über seine Wiener Kollegen – ausgenommen Freuds – äußerte er sich in einem später geführten Interview weniger begeistert: Sie waren fürchterlich langweilig. Etwa acht bis zehn Leute saßen herum … Jeder hatte eine Meinung über dies oder jenes … einer sagte dies, ein anderer das … Als ich hinzu kam, geriet alles irgendwie in Bewegung … Ich war wie ein Hecht im Karpfenteich.
Von der Charakteranalyse zur orgastischen Potenz
Reich war nicht nur mit den vielschichtigen seelischen Problemen der Armen konfrontiert, sondern erfuhr auch, wie wirtschaftliche Bedingungen dazu führten, die Leiden zu beeinflussen bzw. zu verschärfen. Die Psychoanalyse war im wesentlichen nur für Patienten der sozialen Mittel- und Oberschicht zugänglich, die unter Symptomneurosen litten. Reichs erstes veröffentlichtes Buch „Der triebhafte Charakter“ (1925) enthielt reichlich Material für ein erweitertes Verständnis der Persönlichkeit, da sich diese weniger durch konkrete Störungen auszeichneten, als durch eine insgesamt desorientiertchaotische Lebensweise.
Menschen wurden öfter als“Psychopathen“, denn als krank abqualifiziert. Sie wurden als antisoziale Elemente angesehen, die sich in Kriminalität, Sucht, unkontrollierte Aggressionsausbrüche, etc. flüchten.- Auch heute noch werden solche Menschen zwischen Gerichten, Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten hin- und hergeschoben.
Reich argumentierte für eine umfassende, systematische Theorie des Charakters, eine „psychische Embryologie“ (s. „Charakteranalyse“, erstmals 1933 als Buch erschienen). Er versuchte zu verstehen, wie es zu der charakterlichen Verschiedenheit der menschlichen Persönlichkeit kommt.
Reich definierte den triebhaften Charakter und unterschied ihn von der Symptomneurose und den Psychosen – heute unter dem Begriff „Borderline“ bekannt. Reichs diesbezügliche feinsinnige Unterscheidungen haben ihm den Ruf des „besten Diagnostikers unter den jungen Analytikern“ eingebracht (zit. Paul Federn).- Mit „Der triebhafte Charakter“ erlangte Reich beträchtliche Anerkennung unter Lehrern und Kollegen. Freud gratulierte persönlich mit „… reich an wertvollem Inhalt“.
Neben diesen Arbeiten verfasste Reich eine Reihe von Aufsätzen zur Sexualität, die damals in der psychoanalytischen Literatur einen echten Neuansatz darstellten. Diese Beiträge waren von Anfang an umstritten. Der Start verlief desaströs. Reich lieferte in seiner ersten Schrift über „Genitalität“ keine Definition die über das bestehende psychoanalytische Verständnis hinausging.
Er „vergaß“, was er mit „effektiver“ genitaler Befriedigung tatsächlich meinte. Die Aufnahme seines Vortrags dazu in der Psychoanalytischen Vereinigung beschrieb er so: Während ich vortrug, merkte ich eine Vereisung der Atmosphäre in der Vereinigung. Ich pflegte gut zu sprechen. Man hatte mir bis dahin immer interessiert zugehört. Als ich endete, herrschte eisige Stille im Raum. Nach einer Pause begann die Diskussion. Meine Behauptung, dass die Genitalstörung ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Symptom der Neurose wäre, sei falsch; ebenso die Behauptung, dass sich aus der Beurteilung der Genitalität prognostische und therapeutische Handhaben ergäben.
Zwei Analytiker behaupteten strikt, dass sie Haufen weiblicher Patienten mit völlig gesundem Genitalleben kannten. Sie schienen mir aufgeregter, als es ihrer gewohnten wissenschaftlichen Reserviertheit entsprach. Meine Stellung in diesem Streit war unvorteilhaft. Hatte ich doch selbst einräumen müssen, dass unter den männlichen Kranken sich viele mit anscheinend ungestörter Genitalität befanden. Bei den weiblichen Kranken war die Sache dagegen zweifelsfrei.
Reich revidierte seine Vorstellung, indem er selbst einräumen musste, dass es männliche Patienten gab, die trotz neurotischer Symptome anscheinend genital gesund waren. Die Kritik zwang ihn dazu, genauer zu definieren, was er mit einem „befriedigendem genitalen Leben“ meinte. Und Reich hat die Kritik an seiner Arbeit fruchtbar genutzt. Im Rahmen seiner Tätigkeit am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium untersuchte er anhand von Interviews und Fallberichten das Liebesleben von mehr als 200 Patienten. Dabei prüfte er:
Erneut war Reich von der Häufigkeit und Tiefe von genitalen Störungen beeindruckt. Er wurde misstrauisch gegenüber oberflächlichen Berichten von Patienten und Analytikern. Er war auf der Suche nach der Qualität der Genitaliät.
Reichs Untersuchungsmethoden sind nach heutigem Stand sicherlich unhaltbar, doch in jener Zeit waren sie besser als alle anderen auf diesem Gebiet.
Reichs zweiter Aufsatz zur Genitalität, veröffentlicht in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ unter dem Titel: „Die therapeutische Bedeutung der Genitallibido“ ist insofern von Bedeutung, weil hier zum ersten Mal der Begriff der „orgastischen Potenz“ auftaucht – ein Grundstein, zu seinem gesamten späteren Werk: Sie stellte den Küstenstrich dar, von dem aus sich alles andere ergab.
Das Ambulatorium und die Frage der „Laienanalyse“
Das Psychoanalytische Ambulatorium hatte als Behandlungs- Fortbildungs- und Forschungsstätte eine zentrale Funktion für die institutionelle Entwicklung der Psychoanalyse. Entsprechend dem Legitimationsdruck eines sich zu qualifizierenden Berufstandes beschleunigte sich die Organisation und Strukturierung der Ausbildungsfrage. Der Eintritt der Psychoanalyse in den Markt der psychosozialen Versorgung ließ die Schulmediziner aufhorchen, die wirtschaftliche Einbußen befürchteten.
Die Wiener Ärzteorganisation bewilligte die Errichtung des Ambulatoriums nur unter der Bedingung, „dass dort die psychoanalytische Behandlung und die wissenschaftliche Verwertung dieser Methode ausschließlich von Ärzten betrieben wird und sowohl als Lehrende wie als Lernende nur Ärzte in Betracht kommen, so dass Laien mit Ausnahme der Patienten der Zutritt zu diesem Institut versagt bleibt.“ (Hitschmann, 1932)
Die Anstalt wurde nach einem halben Jahr geschlossen und konnte erst dreieinhalb Monaten später, nach Intervention des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, wieder eröffnet werden. Die Konfrontation mit der Ärzteschaft um das Monopol der therapeutischen Tätigkeit verfolgt die Psychoanalyse – und daraus hervorgehend die Psychotherapie – bis heute.
In kaum einer anderen Frage hatte Freud so entschieden Stellung bezogen, wie in der Frage der „Laienanalyse“. Seine ironische Bemerkung: „Ich bin ein entschiedener Gegner der Laienanalyse, besonders der der Ärzte“, blieb auch von seinen Schülern konsequent unerhört und unverstanden.
Die Bemühungen zur Professionalisierung legen die Vermutung offen, dass das Laienthema hintangestellt wurde und erst mit der Anzeige des anerkannten Psychoanalytikers Theodor Reiks durch die Wiener Ärztekammer an den Magistrat am 10. Oktober 1924 wieder an Brisanz gewann: Am 23. Februar 1925 wurde Theodor Reik vom Magistrat die Ausübung der psychoanalytischen Praxis verboten.
Kein Geringerer als Wagner Jauregg verfasste zum Rekurs Reiks ein Gutachten: „Der Gefertigte beantragt, der Oberste Sanitätsrat möge dem Ministerium für soziale Verwaltung empfehlen, den Rekurs des Herrn Dr. Reik abweislich zu bescheiden.“ Das Gutachten wurde angenommen; die Wiener Ärzteschaft witterte ihre Chance, die öffentliche Meinung gegen die Psychoanalyse zu richten und diese damit als Konkurrenz zu schwächen bzw. auszuschalten.
In dieser Auseinandersetzung fallen klare Worte, die an Eindeutigkeit keine Wünsche offen lassen, etwa von Felix Deutsch: „Das Heilgeschäft ist eine ärztliche Sache. Das wäre der Weisheit letzter Schluss.“ Das Wort „Geschäft“ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen, denn kurz vorher heißt es: „Für Geld gesund machen darf nur der Arzt. Das steht im Gesetz.“ (Leupold-Löwenthal, 1978).
Diese Thematik hat auch Karl Kraus 1926 in Fackelmanier zynisch kommentiert: „Was die psychoanalytische Praxis anlangt, so wäre der Streit, ob vazierende Literaten oder dergleichen hervorragende Forscher zu ihrer Ausübung zuzulassen sind, am einfachsten und behufs Vermeidung jedweder zünftlerischen Vorurteile so zu entscheiden, dass man graduierte Ärzte, die sie ausüben, wegen Kurpfuscherei anklagt.“
Nach den Turbulenzen der ersten Jahre wurde das Ambulatorium 1929 um eine Abteilung für Psychosen und um eine Erziehungsberatungsstelle, in der so prominente „Laien“ wie Anna Freud, August Aichhorn oder Editha Sterba arbeiteten, erweitert. All dies wurde 1938 zerstört, als die Nazis sofort nach ihrem Einmarsch alle psychoanalytischen Aktivitäten und Einrichtungen verboten und die Ressourcen vernichteten. Nach dem Krieg gab es in der Stadt, von der fünfzig Jahre zuvor die Entwicklung der Psychoanalyse ausgegangen war, nur mehr zwei Lehranalytiker.
Am 12. Oktober 1999 wurde vom Bundesminister Caspar Einem das Wiener Psychoanalytische Ambulatorium wiedereröffnet. Die Festrede hielt Elfriede Jelinek. Das Ambulatorium versteht sich heute zum einen als Beratungsstelle und zum anderen sollen besonders sozial unterprivilegierte Patienten bei der Vergabe von Therapieplätzen unterstützt werden. Mit der Wiener Gebietskrankenkasse sind die Verhandlungen zur Refundierung der Honorarkosten jedenfalls im Laufen.
Information:
Psychoanalytisches Ambulatorium,
1010 Wien, Gonzagagasse 11/11
Tel.: 5330766.
Literatur:
Myron Sharaf, Der heilige Zorn des Lebendigen (Simon und Leutner 1994)
Karl Fallend, Wilhelm Reich in Wien (Geyer-Edition 1988)
24 Dez
Bukumatula 2/1999
„Die Auseinandersetzung mit Reichs Thesen ist für mich zu einer Lebensaufgabe geworden.“
Alfred Benedikt Zopf:
geboren 1955; aufgewachsen als viertes und jüngstes Kind im Goiserer Tal.
Geprägt war meine Kindheit einerseits durch die normale körper- und sexualfeindliche katholische Erziehung und andererseits, bedingt durch die geringe Präsenz der Eltern, viel Freiheit in den Wäldern, Bandengemeinschaften und den fehlenden Einfluss von Erwachsenen in dieser Kinderwelt – es war höchstens einmal ein Bauer, der uns wutentbrannt verfolgte. Manchmal begleitete uns die Angst, einem mit der „Goiserer Krawatte“ aufgehängten Mann im Wald zu begegnen – Bad Goisern hatte in den 60er und 70er Jahren die höchste Selbstmordrate Österreichs.
In den Wäldern von Goisern lebte auch ein zurückgezogenes, tragisches Erfinderschicksal namens Gug’n Christ, für uns Kinder natürlich unheimlich besetzt. Gleichzeitig spürte ich, dass er im Ort respektiert wurde. Für mich muss es jemand gewesen sein, der mit seiner Existenz die Normalität in Frage stellte. Den Goiserer Jörg Haider habe ich als guten Kasperltheaterpräsentator in Erinnerung. Er konnte sehr gut den Kampf des Guten mit dem Bösen darstellen.
Den Kindergarten erlebte ich eher als grauenhaften Ort. Als Disziplinierungsmaßnahme wurde ich von den katholischen Kreuzschwestern öfters in ein dunkles Kammerl gesperrt. Natürlich hatte ich viel Angst vor der Nacht und schlief fast immer mit kleinem Licht.
Während ich mich in der Volksschulzeit als Raufbold und zusammen mit meinem Freund Klaus als Bandenchef hauptsächlich über den Körper definierte, vollzog sich in der Hauptschulzeit eine Wandlung. Ich begann, mir über Gespräche und Diskussionen meinen Platz zu suchen; das Raufen legte ich ad acta. Stark prägend für diese Veränderung meiner Werte war damals sicher die Darstellung von Christus als Instanz für die Entscheidung darüber, was Recht und was Unrecht ist.
Das in dieser Figur begründete Annehmen oder Ablehnen dessen, was sich in der Welt abspielt, gab mir sicher auch die Kraft, als Jugendlicher mit meinen nationalsozialistisch eingestellten Eltern sehr harte Auseinandersetzungen zu führen. Über diesen Punkt stritt ich viele Jahre mit meinem Vater, erst als ich schon 25 war, versöhnten wir uns; mir wurde damals klar: auch ich werde für mein Leben Verantwortung tragen.
Zeitsprung – Anfang 1983:
Ich hatte gerade acht intensive Jahre als junger Heimerzieher hinter mir. Als Polaritäten erlebte ich das repressive System Erziehungsheim Steyr-Gleink und als mögliche Alternative die sozialpädagogische Wohngemeinschaft Villa Jussel in Hard am Bodensee.
Geschockt von den vielen Scheidungskindern in der Heimerziehung und auf der intensiven Suche nach meiner männlichen Identität – mein Vater konnte mir hier nichts Befriedigendes mitgeben – war ich beziehungsmäßig auf Distanz zu den Frauen gegangen. Ich erlebte mich als nicht beziehungsfähig. Ende 1982 war ich aus dem Berufsleben ausgestiegen und begann in Wien Erziehungswissenschaft zu studieren. Ich fühlte mich sofort sauwohl in der studentischen Freiheit und streckte meine Fühler nach allen Seiten aus. Studentische Politik wurde für mich sehr wichtig, – die Linke Alternative Basisgruppe zu einem besonderen Ort.
Einmal lernte ich auch einen Hahta Jogakreis kennen. Der autoritäre Führungsstil der Meisterin war für mich indiskutabel; auch wenn im Raum unglaubliche Energieschwingungen erlebbar wurden, verneinte ich ihre Art zutiefst.
Im Pädagogikstudium war mir schnell klar geworden, dass die Psychoanalytische Pädagogik für mich ganz wichtig werden würde. Ich beschäftigte mich intensiv mit den 20er und 30er Jahren, insbesonders mit August Aichhorn und Siegfried Bernfeld. Aber auch das ganze Umfeld der Reformpädagogik war für mich höchst interessant. Und da tauchte für mich das erste Mal der Name Wilhelm Reich auf.
Ich las einen seiner Texte im Psychoanalytisch Pädagogischen Almanach. Gerade zu dieser Zeit fielen mir in Wien Plakate über eine Wilhelm Reich-Tagung auf. Für mich eine Verpflichtung, mir das anzuschauen. Die Inhalte fesselten mich sofort; zum Teil gab es wütende Attacken auf Reich und seine Thesen. Mir wurde klar, dass ich bei Wilhelm Reich Wissen finde, das gesellschaftlich unerwünscht ist, aber Dinge anspricht, die sich mit meiner Lebenserfahrung decken. Ich empfand große Sympathie für die radikalen Äußerungen Reichs.
Von dieser Zeit an hat mich Wilhelm Reich nie mehr losgelassen. Meine Erkenntnis damals war: um Wilhelm Reich verstehen zu können, muss ich einmal die Psychoanlyse genau kennenlernen. Dabei stieß ich auf die Psychoanalytische Sozialtherapie, deren Zielsetzung es war, in einer dreijährigen Ausbildung Psychoanalyse im vorwiegend pädagogischen Bereich zu etablieren. In Diskussionen erlebte ich dort, 1984 bis 1987, sehr wohl die Akzeptanz von Wilhelm Reich, natürlich beschränkt auf seine Zeit in der Psychoanalyse. (Die Psychoanalytiker im Verein waren Harald Picker, Klaus Rückert und Max Kompein.)
Im Gegensatz dazu hatte ich auch ein Erlebnis der anderen Art. Ich wollte unbedingt eine mündliche Prüfung beim Psychoanalytiker Univ.Prof. Hans Strotzka ablegen, um ihn genauer kennenzulernen. Dies gelang mir auch: zusammen mit einem mir unbekannten Kollegen erschien ich zur Prüfung. Prof. Strotzka fragte den Kollegen, was er zur Zeit an psychoanalytischer Literatur lese. Er antwortete: „Ein Buch von Wilhelm Reich“. Schlagartig veränderte sich die Stimmung Strotzkas – er wurde ganz aggressiv. Mir blieb die Spucke weg. Der Name Reich genügte, um bei dem immer humorigen, wohlwollenden Professor eine hundertachtziggradige Veränderung herbeizuführen!
1987 gab es die Wilhelm Reich-Tage in Wien. Ich stritt damals mit Bernd Senf über seine Darstellung der Psychoanalyse, weil er sie für mich zu simplifiziert wiedergegeben hatte und weil ich empfand, dass eine Abwertung der Psychoanalyse gleichzeitig eine Abwertung Reichs und seiner ursprünglichen geistigen Heimat bedeutet.
Ich lernte dort auch Kurt Zanoll kennen, mit dem ich Erfahrungen aus dem Sozialbereich austauschte. Es war schön für mich, jemandem aus meinem beruflichen Umfeld zu begegnen.
Bei dieser Tagung erfuhr ich von einer Ausbildung in Emotionaler Reintegration. Meine Körper-Selbsterfahrung begann bei Angelika Scheffknecht. Diese erste intensive Auseinandersetzung mit einer Frau hat es mir ermöglicht, den Schmerz und die Trauer über meine innere Distanz zu Frauen zu empfinden. Der Sprung von der psychoanalytischen Gruppenerfahrung bei Johannes Ranefeld zur Therapie bei Angelika war sehr aufwühlend. Der Abschied von ihr nach zweieinhalb Jahren verlief irgendwie unglücklich – für mich aber auch passend zu meinen damaligen Frauenbeziehungen. Bald danach lernte ich meine Frau kennen.
Peter Bolens Art der Vermittlung genoss ich sehr. Ich habe in dieser Ausbildung sehr viel gelernt. Mein Bezug zu Reich wurde einerseits durch die Selbsterfahrung bei Angelika (sie war damals in SKAN-Ausbildung) und andererseits mit dem Einstieg in die Vegetotherapie gestärkt. Mein Selbstverständnis als Reichianer liegt in dieser Zeit begründet. Im kreativen `Sammelsurium´ der Emotionalen Reintegration entwickelte sich auch mein Bedürfnis, noch einmal intensiver in die Psychoanalyse einzusteigen.
Harald Picker und Klaus Rückert gründeten 1989 das Wiener Psychoanalytische Seminar als Alternative zum Wiener Arbeitskreis; ich stieg hier intensiv für sechs Jahre ein. Die Selbsterfahrung auf der Couch empfand ich als erkenntnisfördernd, aber bei weitem nicht so intensiv wie die Körperarbeit. Im Technikseminar zur Psychoanalyse wurde mir auch klar, dass mir die Körperarbeit mehr liegt, als die klassische Psychoanalyse mit ihrem distanzierten Setting.
1991 wurde ich ordentliches Mitglied im Wilhelm Reich Institut – für mich ein ganz wichtiger Schritt. Hier traf ich auch meinen „Vertrauten“, Kurt Zanoll, wieder.
Im gleichen Jahr entschied ich mich in Richtung SKAN-Ausbildung zu gehen. Im Sommer fuhr ich nach Aix, in die Provence, um auch die SKAN-Leute aus Deutschland kennenzulernen. Beatrix Wirth und Wolfram Ratz organisierten 1993 eine von Loil Neidhöfer und Petra Mathes geleitete SKAN-Weiterbildungsgruppe in Österreich, an der ich teilnahm. Bei Loil und Petra vertiefte sich mein Zugang zur Vegetotherapie; vor allem entdeckte ich mein Vertrauen in die intuitive Körperarbeit.
Schade, dass sich am Ende der Ausbildung unsere Gruppe spaltete. Für mich ist hier einiges ungeklärt geblieben.
Ein weiterer wichtiger Baustein für mein reichianisches Selbstverständnis war die Teilnahme an Seminaren mit Al Bauman und Emily Derr. Mich mit Wilhelm Reichs Thesen in ihrer vielfältigen Form auseinanderzusetzen, ist mir eine Art Lebensaufgabe geworden.
Auch wenn es mir wie A.S. Neill geht: manche seiner Forschungen, zum Beispiel die physikalischen Experimente, verstehe ich nicht. – Aber ich habe ja noch Zeit ……