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Bukumatula 1/2007

Wilhelm Reich und Anna Freud:
Reichs Vertreibung aus der Psychoanalyse

Transkript eines Vortrags von Lore Reich-Rubin am Goethe Institut in Boston am 21. März 1997,
anlässlich der Wiederkehr des 100. Geburtstags von Wilhelm Reich.
Lore Reich-Rubin, M.D.
Übersetzung aus dem Englischen: Wolfram Ratz; redigiert von Jutta Zopf

Editoriale Anmerkung:

Die Zustimmung zum Abdruck dieses Artikels wurde uns nach Durchsicht von Lore Reich-Rubin gegeben. Die in Zitaten angeführten Quellen sind zum Großteil auch auf Deutsch in Buchform erschienen. Indexangaben beziehen sich auf die englischsprachigen Ausgaben.

Der Artikel beschreibt die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Wilhelm Reich in der psychoanalytischen Gemeinschaft wegen seiner Marxistischen Ideologie und politischen Aktivitäten, sowie wegen seiner Kritik am Todestrieb. Es werden die Hintergründe beschrieben, wie es durch politische Manipulation im Zusammenspiel von Ernest Jones und Anna Freud zum Ausschluß Reichs sowohl aus den psychoanalytischen Gesellschaften in Wien und Berlin, als auch aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) kam.

Es werden die Reaktionen Reichs auf diese Ereignisse beschrieben und wie Druck auf andere Psychoanalytiker, die Reich unterstützten, ausgeübt wurde; ebenso eine Revision der Geschichte des Ausschlusses. Es wird der Begriff „verrückt“ diskutiert, so wie er in der psychoanalytischen Bewegung verwendet wurde. Weiters werden die persönlichen Eigenschaften Anna Freuds behandelt, die in der Gegenübertragung zur Vereinnahmung von Kindern und Frauen, insbesondere als Patientinnen führte. Kurz angesprochen wird die Einstellung zur Sexualität sowohl von Sigmund als auch von Anna Freud und wie dies zum Bruch mit Reich führte. Beschrieben werden auch Ähnlichkeiten in Anna Freuds Handlungen gegenüber den Kindern der Burlinghams und den Kindern Reichs.

Dieser Artikel behandelt die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Reich und Anna Freud in den 1920er und 1930er Jahren vor dem Hintergrund der ideologischen und politischen Hauptströmungen dieser Zeit. Die Auseinandersetzung wird sowohl aus politischer Sicht als auch mit Sicht auf Persönlichkeitsstörungen beschrieben. Sie endete mit dem Ausschluss Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Ich schreibe aus zwei Blickwinkeln. Zunächst als Psychoanalytikerin, die die vorhandenen Dokumente auf diesem Gebiet zu interpretieren versucht. Der zweite ist mehr persönlicher Natur. Wilhelm Reich war mein Vater.

Von Reichs Lehranalyse zur Theorie der Gegenübertragung

In den letzten Jahren sind viele geschichtliche Fakten aus Briefen und Biographien aufgetaucht, die erst nach dem Ableben gewisser Leute freigegeben worden sind. Beispielsweise erschienen zwei Bücher über Anna Freud, die ich als hauptsächliche Quellen zu Annas Persönlichkeit und Charakter heranziehe. Das eine ist eine Biographie von Elizabeth Young-Bruehl (1) und das andere: The Last Tiffanyvon Michael Burlingham (2). Seine Großmutter war Dorothy Burlingham, die Anna Freuds Gefährtin fürs Leben war.

Im letzten Jahr erschienen in Wien und Basel einige Bücher, die sich mit Reich beschäftigen: Karl Fallend schrieb Wilhelm Reich in Wien (3) und als Herausgeber mit Bernd Nitzschke: Der Fall Wilhelm Reich (4) und Fenichels Rundbriefe, die bei Stroemfeld erschienen sind (5). Die Rundbriefebeinhalten eine über zehn Jahre (1934-1944) geführte Korrespondenz zwischen Fenichel und einer kleinen Gruppe auserwählter Analytiker. Über meine Mutter kamen sie in meinen Besitz. Obwohl unter Druck gesetzt, begrub ich diese Briefe nicht in den Freud-Archiven im Library of Congress, sondern übergab sie einem Verleger. Persönliche Informationen über Reich erhielt ich durch Gespräche mit meiner Mutter und anderen Mitgliedern der Familie.

Ich werde jetzt meinen Vater beschreiben: Er war kein Heiliger. Er war ein sehr schwieriger Mensch, aber ich werde das heute, zur Feier der Wiederkehr seines Geburtstags, nicht weiter betonen. Mich interessierte die Tatsache, dass es da einen Mann gab, der sich enthusiastisch und tatkräftig der Psychoanalyse verschrieben hat. Zur Psychoanalyse kam er unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst nach Ende des Ersten Weltkriegs und als er noch Medizinstudent in Wien war.

Schließlich wurde Reich Direktor der Wiener Psychoanalytischen Polyklinik. Er leitete dort auch das Technische Seminar von 1924 bis 1930. Anhand von Quellen, die in diesem Artikel angeführt sind, läßt sich herauslesen, dass er sehr angesehen war und viele Freunde in der psychoanalytischen Gemeinschaft hatte (3:45), (6). Richard Sterba beschreibt die Gemeinschaft, die Reich außerordentlich wichtig war, als eine ungewöhnlich fest zusammengewachsene Gruppe, so dass Mitglieder, z.B. jüngere Leute, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Psychoanalyse gestoßen waren, oft innerhalb der Gruppe heirateten. Das war auch der Fall bei meinem Vater und meiner Mutter, die auch Psychoanalytikerin wurde.

Irgendwie bekam Reich dann Probleme mit seinem zweiten Analytiker, Paul Federn. Heutzutage sind wir an der Übertragung und Gegenübertragung sehr interessiert. Zwar wußte man damals schon etwas über die Übertragung, aber praktisch nichts über die Gegenübertragung. Ich glaube, dass Federn eine heftige Gegenübertragung meinem Vater gegenüber entwickelte und alle heute gültigen Regeln der Vertraulichkeit, was etwa das Sprechen über einen Patienten betrifft, ignorierte. Statt dessen verbrachte er Jahre damit, Freud dazu zu bringen, Reich loszuwerden, auch aus dem Technischen Seminar und der Polyklinik (3:195-202). Mein Vater beschwerte sich bei Freud, er betrachtete das als Verfolgung. Federn hatte keine Ahnung, dass er in eine Gegenübertragung verwickelt war. Er hielt Reich für verrückt und wollte ihn loswerden. Es sei hier angemerkt, dass Freud bis ca. 1930 nicht auf Federn eingegangen ist (4:250), bis sich andere Stimmen gegen Reich erhoben, insbesondere die von Anna Freud.

Die Reaktionen meines Vaters auf Federns Verfolgung finde ich interessant. Ich denke, dass er zuerst ziemlich deprimiert darüber war, obwohl das nirgendwo nachzulesen ist. Das stückle ich aus Bemerkungen meiner Mutter über eine schwere depressive Episode, in die mein Vater 1927 geschlittert ist und diezu einem Fall von schwerer Tuberkulose führte, zusammen.

Dann aber, nach seinem Aufenthalt in einem Davoser Sanatorium, entwickelte er eine brillante technische Innovation. Sie hatte damit zu tun, der negativen Übertragung des Patienten auf die Spur zu kommen. Es erscheint mir so, als ob er sich entschieden hätte – bewusst oder unbewusst – seinen Analytiker, Federn, zu lehren, wie er die Analyse hätte durchführen sollen. Reich schrieb dann das Buch Charakteranalyse(8). Auf fast einhundert Seiten wird die negative Übertragung behandelt und dass man diese verstanden haben muss, bevor man jemanden analysieren kann. Das ist heutzutage keine so erstaunliche Theorie mehr.

Die Psychoanalyse hat sich derart mit Übertragung und Gegenübertragung beschäftigt, dass diese Idee gang und gäbe geworden ist. Aber zu jener Zeit war das Konzept der Gegenübertragung ziemlich revolutionär – und für die Psychoanalytiker nicht akzeptierbar.

Reich hatte eine sehr kreative Art mit für ihn traumatischen Erlebnissen umzugehen. Dieses Muster – großen Unmut zu spüren, um dann daraus einen neuen theoretischen Schluss zu ziehen, war ein Muster seines Lebens. Sein anderer heilender Abwehrmechanismus trat langsam zur selben Zeit zutage: Wenn er aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde, gründete er eine neue Gruppe und schloss neue Freundschaften. Während seines ganzen Lebens entwickelte er viele neue Theorien als Antwort auf Rückschläge und bildete immer wieder neue Gruppen. Aber ich bin meiner Geschichte voraus.

Obwohl Federn darin nicht erfolgreich war, einen Keil zwischen Reich und Freud, bzw. die psychoanalytische Gemeinschaft zu treiben, gelang das Anna Freud sehr wohl, wie ich später erläutern werde.

Der „Austritt“ Reichs aus der IPV

Als Reich die Zugehörigkeit zu den Psychoanalytikern verlor, entwickelte er immer engere Kontakte zunächst zu den Sozialisten und dann zu den Kommunisten (3). Als er dann von der psychoanalytischen Gruppe ausgeschlossen worden war, übersiedelte er 1930 von Wien nach Berlin und gründete eine neue Gruppierung und ein neues Netzwerk. (Es muß erwähnt werden, dass Reich 1934 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde und – wie wir alle wissen, in späteren Jahren ein erklärter Antikommunist wurde.)

1930 verließ er Wien und ging nach Berlin. Da er zunehmend radikales Gedankengut vertrat, gab er vor nach Deutschland zu gehen, um gegen die Nazis anzukämpfen. Auch in Wien breitete sich der Nationalsozialismus immer mehr aus, und er sah sich dort einer potentiellen Gefahr ausgesetzt. Das war wahrscheinlich eines seiner Motive für den Umzug; aber er wurde auch aus der eigenen psychoanalytischen Gruppe hinausgedrängt – was ein persönlicher und schmerzhafterer Grund war.

Während der späten 1920er Jahre war er ein sehr lautstarker Kommunist. Gleichzeitig gab es in Wien viele Kollegen – wenngleich nicht alle – die sehr konservativ waren. Einige Psychoanalytiker waren sehr links eingestellt und radikal. Sowohl Anna als auch Sigmund Freud waren sehr konservativ. Es waren schwierige Zeiten, so dass Reichs Radikalität besonders auffiel. Die Freuds waren verärgert. Sie fürchteten, dass die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit mit Kommunismus gleichgesetzt würde.

Ich muss sagen, dass ich wirklich nicht weiß, wie sehr Sigmund Freud von sich aus noch engagiert war. Seine Krebserkrankung wurde 1923 diagnostiziert. Zunehmend übernahm Anna Freud die Geschäfte der psychoanalytischen Organisation. 1932 wollte mein Vater eine Abhandlung über den masochistischen Charakter herausbringen. Freud lehnte die Veröffentlichung strikt mit der Begründung ab, dass es eine kommunistische Abhandlung wäre.

Es gab einigen Druck auf Freud (4:35) und schließlich stimmte er einer Veröffentlichung unter der Bedingung zu, dass die Zeitschrift einen Hinweis anzubringen habe, dass es sich um einen kommunistischen Beitrag handle. Nur durch das Engagement von Leuten wie Ernst Kris und Siegfried Bernfeld wurde dieser Artikel in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyseveröffentlicht (8:208, 3:166). Eine Wiederveröffentlichung findet sich jetzt im Buch Charakteranalyse(8). Ich habe den Beitrag darin unlängst gelesen und erachte ihn als ausgezeichnete Darstellung des Masochismusproblems.

Reich griff darin den Todestrieb an, eine Theorie, die Freud in dieser Zeit entwickelt hatte. Die Kommunisten meinten natürlich, dass es keinen Todestrieb geben könne, weil das Leid der Menschen durch die Gesellschaft entstünde. Deshalb empfand Freud den Angriff meines Vaters auf den Todestrieb aus einer kommunistischen Sicht her kommend. Natürlich gibt es gegenwärtig einige wenigeTheoretiker, die an den Todestrieb glauben, jedoch die pessimistische Formulierung Freuds erheblich modifiziert haben.

Reichs Text war ein ganz ausgezeichneter psychoanalytischer Beitrag. Aber es war offensichtlich, dass Reich offen eine von Freuds Theorien angriff. Das war unter den Psychoanalytikern nicht üblich. Freud genoss große Verehrung und sie schrieben ihm ihre Ideen zu; wenn sie mit ihm unterschiedlicher Meinung waren, haben sie ihre eigenen Gedanken geschickt in spätere Beiträge eingebracht. Es gibt keinen Zweifel daran, dass mein Vater 1932 kein von den Freuds gerne gesehenes Mitglied mehr war und das auch wusste. Deshalb verbarg er es nicht länger, wenn er anderer Meinung war.

Nun wurden Briefe aus dem Jahr 1933 publiziert (9), in denen Anna Freud Ernest Jones nach England schreibt, dass Freud, ihr Vater, keine Zeit für Diskussionen habe und nur wünsche, Wilhelm Reich loszuwerden (9:59). Wie ich schon sagte, weiß ich nicht, ob dieses Ansinnen von Anna oder von Freud selbst kam. Aber die Korrespondenz zwischen Anna und Ernest Jones läßt keinen Zweifel offen, dass Anna intrigierte und Jones nach und nach von der Richtigkeit dieser Maßnahme überzeugte. Sie war besonders darüber erzürnt, dass Reich, nachdem er Deutschland verlassen hatte, 1933 wieder in Wien auftauchte und eine radikale Rede hielt. Sie meinte, dass das eine Gefahr für die psychoanalytische Bewegung wäre (4:68).

Annas Ansicht war, dass man Politik nicht mit der Psychoanalyse vermischen dürfe (9:59). Jones, der zunächst das Recht, eigene politische Meinungen haben zu können vertrat, näherte sich langsam Annas Sichtweise an. Nachdem er Reich persönlich getroffen hatte und ihn mochte, zögerte er eine Entscheidung zu treffen; Anna trieb ihn an, indem sie ihm belastendes Material aus ihrer Analyse mit Reichs Frau, meiner Mutter, preisgab (9:60). Danach begann Jones eine heftige Kampagne gegen Reich. Er schrieb der Dänischen Regierung (9:59) und später der Holländischen Regierung (9:71), um sie vor Reich zu warnen.

Und sowohl er als auch Freud schrieben an die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung und verlangten eine Auflösung der Mitgliedschaft Reichs (9:71). Jones und beide Freuds befürchteten, dass die Psychoanalyse mit Kommunismus gleichgesetzt werden würde. Nachdem Jones mit seinem britisch geprägten bürgerlich-liberalen Gewissen gekämpft hatte, schlug er vor, dass Psychoanalytiker sich nicht aktiv in der Politik engagieren sollten.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass Anna oder Sigmund auch mit Max Eitingon in Kontakt waren. 1933, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war, schrieb Eitingon (4:69), der das Berliner Institut leitete, Reich, dass er sich vom Institut fernhalten solle, da sie nicht wünschten, dass er in dessen Räumlichkeiten festgenommen wird.
Eitingon übermittelte diese Botschaft an Reich, der aus Gefälligkeit seine Mitgliedschaft am Berliner Institut zurücklegte. Eine Anmerkung sei hier gemacht: Als Reich 1930 Wien verließ, teilte ihm Anna mit, dass er nicht gleichzeitig der Wiener und der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft angehören könne. Daher legte er auf ihre Aufforderung hin seine Mitgliedschaft in Wien zurück.

Diese Darstellung des freiwilligen Rücktritts Reichs aus der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, die von den meisten Psychoanalytikern geglaubt wurde und die ich in der ursprünglichen Fassung auch teilte, stellt sich als gänzlich falsch heraus. Beim neuerlichen Lesen der RundbriefeFenichels (5:Brief VIII), die mir im Original vorlagen – geschrieben einzeilig und auf Florpostpapier – wurde mir eindeutig klar, dass Reich keine Ahnung hatte, dass er von der Mitgliederliste gestrichen worden war.

Er fand es heraus, als er die Veranstaltungsbroschüre der IPV bei seiner Ankunft beim Kongress 1934 las. Und ironischerweise wandte er sich an Anna Freud in der Annahme um Hilfe, dass dies Müller-Braunschweig in eigener Verantwortung angerichtet habe. (Letzterer war Nachfolger von Eitingon.) Details zur Geschichte von Reichs Ausschluss aus der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und dass er darüber nicht informiert worden war, kann man bei Fallend nachlesen (3:224-25).

Bei Fallend & Nitzschke (4:Kapitel 2) kann man ersehen, wie es den deutschen Analytikern unter den Nazis ergangen ist. Ob die Analytiker mit den Nazis kooperierten oder nicht ist umstritten. Nitzschke meint, dass sie das taten. Um diese ganze Periode ins rechte Licht zu rücken: Ich bin mir sicher, dass sowohl Ernest Jones als auch die Freuds – wie auch Winston Churchill zu dieser Zeit (1934) – dachten, dass die Kommunisten eine größere Bedrohung als die Nazis wären.

1934 fand einer der Sommer-Kongresse der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung im schweizerischen Luzern statt. Mein Vater fuhr völlig ahnungslos dorthin. Er lebte in Dänemark und war nahe daran, ausgewiesen zu werden – wie sehr Jones als Anstifter dabei verantwortlich war, ist nicht bekannt. Er kam zu diesem Kongress und fand heraus, dass er von der Mitgliederliste der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft gestrichen worden war. Zu dieser Zeit war Anna Freud Vorstandsmitglied und Ernest Jones Präsident der IPV.

Sie teilten Reich mit, dass er nicht mehr Mitglied der IPV wäre, da er kein Mitglied der Berliner oder irgendeiner anderen lokalen Organisation mehr sei. Die Statuten der IPV besagten, dass er kein Mitglied mehr sein könne. So warfen sie ihn wegen eines formaltechnischen Grundes, der von ihnen selbst kreiert worden war, hinaus. Sie meinten, dass er natürlich zurückkommen könne, sobald er einer nationalen Organisation beigetreten sei. Aber da hatte Jones sich schon mit allen Vertretern der assoziierten Gesellschaften getroffen und sie dazu gebracht, dass sie Reich nicht akzeptieren würden (5:Brief VIII). Des weiteren wurde der Antrag der Skandinavischen Gesellschaft um Aufnahme zurückgestellt, nachdem sie die Bedingung nicht akzeptiert hatten, Reich die Mitgliedschaft zu verweigern.

Als dann ein, zwei Jahre später – mein Vater war inzwischen nach Norwegen gezogen – die Norweger als neu gegründete nationale Organisation um Mitgliedschaft in der IPV ansuchten, wurden sie abgelehnt. Daher konnte Reich nie wieder Mitglied werden (5:Brief VIII). So wurde das arrangiert. Zuerst manövrierten sie ihn aus seinen nationalen Gesellschaften und erklärten ihm dann, dass er, da kein Mitglied einer nationalen Organisation, auch kein Mitglied der internationalen Vereinigung sein könne.

Fenichel plante ursprünglich, Anträge zur Verteidigung Reichs zu stellen, beschränkte sich dann aber auf Proteste bezüglich Verfahrensfragen. Ein kleiner Ausschuss – bestehend aus Fenichel, Hartmann, Wälder, Glover, Sarasin und Anna Freud – behandelte Fenichels Anträge. Fenichel wurde mitgeteilt, dass Reich wieder aufgenommen werden würde, falls ihn die Mitglieder wünschten, dass er aber unerwünscht sei. Daher wäre es besser, wenn sich Reich wegen seiner politischen Aktivitäten und seiner Kritik an Freuds Todestrieb aus der IPV heraushalte. Reich habe beides in die Theorie der Sexualökonomie aufgenommen und dafür würde der IPV verantwortlich gemacht werden (5:Brief VIII).

Aus den Rundbriefengeht ganz klar hervor, dass Fenichel keine Ahnung hatte, dass Anna Freud mit Jones dieses Komplott geschmiedet hatte. Es war ihr möglich, sich gänzlich im Hintergrund zu halten, so als wäre sie wie alle anderen in dieser Gruppe.

Nachwirkungen des Ausschlusses – die „linken“ Analytiker

Es sind die Nachwirkungen dieses Ausschlusses, über die ich sprechen möchte. Jenen Sommer verbrachte ich mit meinem Vater. Auf Umwegen reisten wir in die Schweiz. Mit dem Schiff fuhren wir – um Deutschland zu meiden – von Dänemark nach Belgien. Den ganzen Sommer verbrachten wir zusammen. Er war in einer ausgesprochen guten Stimmung, es ging ihm gut. Aber nach seinem Ausschluss aus der IPV ging er, wie meine Freunde das zu nennen pflegen „buchstäblich in die Luft“.

Er war außer sich vor Wut und stritt mit meiner Mutter und stritt auch mit ihr, wenn wir Kinder zugegen waren. Ich bin mir sicher, dass er mit allen möglichen Leuten Streit hatte. Er war wirklich sehr aufgebracht. Er erholte sich rasch, indem er seinen effektiven Problembewältigungsmechanismus einsetzte, den ich zuvor erwähnt habe. Zuerst gründete er um sich herum eine neue Gruppe in Norwegen, deren Mitglieder, soweit sie noch am Leben sind, sich gerne an ihn erinnern. Dann durchbrach er den psychoanalytischen Schranken, den Körper zu berühren und entwickelte sich in Richtung Vegetotherapie (aus der später die Bioenergetik hervorging).

Um zur Geschichte zurückzukehren: Wichtig ist anzumerken, dass die Psychoanalytiker, die Reich unterstützten – Fenichel, eine ganze Gruppe in Berlin und viele Leute in Wien – sich eingeschüchtert fühlten. Sie konnten sich nicht äußern. Sie hatten Angst davor, selbst ausgeschlossen zu werden. Ich meine, dass diese Gefahr real war. Fenichel zum Beispiel fühlte sich 1936 noch behandelt wie ein verlorener Sohn, der in den Schoß der Gemeinde zurückgekehrt war, um von seinen Wiener Kollegen gesagt zu bekommen: „Nun siehst du, dass Reich verrückt ist“ (5:280). Als meine Mutter 1931 nach Berlin übersiedelte, wurde ihr zum Beispiel die Aufnahme in die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft aus undurchschaubaren Gründen verweigert – sie hatte sich Anna Freuds Wünschen widersetzt, indem sie wieder mit meinem Vater zusammenging.

Aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus fand Fenichel im Schreiben seiner RundbriefeTrost. Es gab damals keine Kopiergeräte. Er fertigte jeweils dreizehn Kopien mit Blaupause auf Florpostpapier auf seiner Schreibmaschine an und sandte sie an alle Freunde, die linksgerichtete bzw. marxistische Analytiker waren. Diese Briefe waren streng vertraulich und geheim. Meine Mutter war eine von denjenigen, die die Rundbriefeerhielten.

Als meine Mutter viele Jahre später im Sterben lag, wurden sie von einem anderen Empfänger der Rundbriefe aus ihrem Schrank entwendet, um zu verhindern, dass jemand weiß, dass sie überhaupt existierten, bzw. wer sie erhalten hatte – aus Angst, dass deren marxistische Vergangenheit bzw. Opposition zur organisierten Psychoanalyse bekannt werden würde. Das zeigt, wie verängstigt diese ehemals linken Analytiker waren; niemand sollte wissen, dass sie je die Rundbriefeerhalten haben. Der Dieb bekam jedoch Schuldgefühle, gestand mir den Diebstahl und überbrachte mir die Rundbriefein einem Einkaufssack. So wurden die Papiere gerettet. Es gibt bestimmt noch weitere Kopien, aber ich habe das kompletteste Set.

Wie erging es nun dem Rest der Analytiker? Die Mitglieder des linken Flügels befürchteten, auch ausgeschlossen zu werden und hielten sich bedeckt; aber sie bildeten eine geheime Gruppe, die zusammenhielt – und sie hatten die Rundbriefe. Die restlichen Analytiker verbanden sich durch Stillschweigen. Die Geschichte von Reichs Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ist nur in Fenichels Rundbriefenachzulesen. Niemand anderer hat je erwähnt, was mit Reich geschehen ist.

Die Umschreibung der Geschichte – Dabeisein ist alles

Dann kam es zu einer Umschreibung der Geschichte. Ernest Jones schrieb eine Biographie über Sigmund Freud, in der nachzulesen ist, dass Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung „ausgetreten“ sei – „Reichs politische Einstellung führte sowohl zu einer persönlichen als auch zu einer wissenschaftlichen Entfremdung“ (10:191). Der Ausschluss wurde aber von Jones selbst vorangetrieben! Wahr ist, dass Reich – nachdem er ausgeschlossen und zurückgewiesen worden war, bzw. mitgeteilt bekommen hatte, dass er wegen seiner „sexualökonomischen“ Ideen kein Mitglied sein könne -, böse wurde und Jones anbrüllte, dass er dann eben nur ein Sexualökonom wäre.

Die Analytiker begannen hervorzustreichen, dass Reich „verrückt“ sei und dass das der wahre Grund für seinen Ausschluss gewesen sei. Es sollte hier angemerkt werden, dass die Bezeichnung „jemand sei verrückt“ dafür verwendet wurde, eine Reihe anderer Leute, einschließlich Rank, Rado und Tausk aus der analytischen Gemeinschaft hinauszuwerfen. Es hatte Versuche gegeben, auch Ferenczi aus demselben Grund auszuschließen. Tatsächlich legte Anna Freud genau in der Zeit, in der Reich ausgeschlossen wurde auch den Grundstein zu Rados Hinauswurf (11:281-282).

Einige Analytiker begannen mit großem Vergnügen Geschichten zu erzählen. Das ist typisch für den Wiener Humor. Sie sagten, dass Reich nach Luzern kam und ein Zelt direkt vor dem Kongreßhotel aufgestellt habe und er mit seiner Geliebten dort logiert habe. Sie sagten auch, dass er ein großes Messer bei sich getragen habe. Die Wahrheit ist vergleichsweise profan. Reich hat sein Zelt nicht vor dem Hotel, sondern am Campingplatz aufgestellt.

Die Frau war nicht seine Geliebte, sondern seine Lebensgefährtin. (Meine Mutter strebte eine Scheidung an und hatte ihn verlassen.) Er hatte kein Geld, daher campierte er, und es ist dabei üblich ein Messer mit zu haben. Sie wiesen auch auf seinen Wutanfall nach seinem Ausschluss hin, um hervorzuheben, wie wenig er sich selbst unter Kontrolle hatte. Niemand hat das alles je gegenüber seinen Kindern erwähnt. Wir hatten keine Ahnung, warum er bei diesem Kongreß so wütend war. Es schien, als ob plötzlich seine Sicherungen durchgebrannt wären.

Im Laufe der Jahre sind nun eine Reihe von Analytikern auf mich zugekommen. Sie kommen mit diesem naiven Gesichtsausdruck, irgendwie verlegen und meinen: „Er war wirklich ein großer Mann. Was geschah mit ihm? Ist das nicht traurig?“ Normalerweise geht man nicht zu jemandes Kind und sagt: „Dein Vater war verrückt.“ Man tut das einfach nicht, das wäre unhöflich. Aber es steckt da eine Art Drang dahinter. Sie müssen das tun, es ist zwanghaft. Ich glaube, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie alle beim Kongress mit dabei waren. Sie alle wussten über die Geschehnisse Bescheid und niemand sprach darüber. Und dann begannen sie die Geschichte umzuschreiben.

Ich will nur ein paar Beispiele anführen: Sterba etwa. Er war ein enger Freund meines Vaters. Es gibt Bilder, die sie beim Schifahren zeigen, ich glaube, das war 1931, und sie verbrachten eine schöne Zeit miteinander (7). Aber er erzählte Sharaf (6:147), dass er mit Reich seit 1927 Schwierigkeiten gehabt hätte. Warum ging er dann mit Reich in den dreißiger Jahren Schifahren? Sterba war nach Detroit emigriert. In den 50ern kam er nach New York, um einen Vortrag zu halten (12).

In seinem Vortrag, er findet sich abgedruckt in „Psychoanalytic Quaterly“, spricht er davon, was die Charakteranalysenicht für ein schlechtes Buch sei. Sterba meinte, dass man schon beim Lesen des Buchs Wilhelm Reichs Paranoia erkennen könne. Was hat Sterba dazu veranlasst, das zu tun? Sein Vortrag war kein Beitrag, der psychoanalytisches Wissen gefördert hätte; vielmehr ging es ihm darum, sich in der psychoanalytischen Gemeinschaft wieder zu etablieren. Weil er ein Freund Reichs war, war er suspekt. Um bei den aus Europa emigrierten Analytikern, die besonders in New York Anna Freud außerordentlich nahe standen, „in“ zu sein, präsentierte er diesen Beitrag.

Eine andere Person, die Geschichte umgeschrieben hat war Helene Deutsch, die die Biographie Confrontation With Myself – Selbstkonfrontation. Die Autobiographie der großen Psychoanalytikerin(13) geschrieben hat, in der sich eine drei Seiten lange Lobeshymne auf Anna Freud findet (13:140-143). Das Buch wurde 1973 herausgegeben und vermutlich in den Jahren davor geschrieben. Paul Roazen schreibt in der Einleitung der 2. Auflage seiner Deutsch-Biographie (11:vii-viii), dass Anna Freud enormen Druck auf Helene ausgeübt hat, nachdem sie Werbung für Roazens Buch Brother Animal – Bruder Tier gemacht hatte. In dem Buch geht es um eine kritische Betrachtung von Sigmund Freuds Umgang mit Victor Tausk.

Roazen meint, dass dies Helene veranlasst habe, mit ihm über etliche Jahre hinweg keinerlei Kontakt zu pflegen. Mit anderen Worten: Deutsch schrieb ihre Autobiographie ein, zwei Jahre nach ihrer ernsthaften Auseinandersetzung mit Anna Freud. Es kommt mir vor, als ob dieser Abschnitt der Autobiographie, der mit Anna Freud zu tun hat, Teil ihres Versuches war, um in die Gunst des engeren Kreises wieder aufgenommen zu werden. Anna hatte zu dieser Zeit enorme Macht in der IPV und in der American Psychoanalytic Association, besonders an der Ostküste.

Jahre später söhnten sich Deutsch und Roazen wieder aus und sie gab ihm die Erlaubnis, ihre Briefe durchzusehen und ihre Biographie zu schreiben (11). Darin taucht ein gänzlich anderes Bild bezüglich ihres Verhältnisses zu Anna und Sigmund Freud auf. Offensichtlich hatte sie eine Menge Schwierigkeiten sowohl mit Anna als auch mit Sigmund Freud. Es steht eindeutig fest, dass Deutsch Wien verlassen hat und 1933 nach Boston gekommen ist, aber nicht nur wegen der politischen Situation in Österreich, sondern weil sie sich auch in dem Kreis, den Anna rund um Freud in seinen letzten Jahren aufgebaut hatte, nicht wohl fühlte. „Was gut ist für Freuds Genie und sein Alter und für Anna, die sich dem väterlichen Leitgedanken ausgeliefert hat, wird für die anderen zur Massenneurose.“ (11:288)

Aber zusätzlich hielt es Deutsch für notwendig, die Geschichte, Reich betreffend, zu verdrehen. Trotz der enormen Reputation Deutschs in der Psychoanalyse glaube ich, dass sie sich durch ihre Verbundenheit mit Reich „belastet“ fühlte und sich wieder zu etablieren versuchte. Mit Schrecken hatte sie mitverfolgt, wie Rado aus dem engeren Kreis hinausgedrängt wurde. Neben anderen Problemen hat „Anna die Herzlichkeit der Denkschrift für Ferenczi, die Rado 1933 veröffentlicht hat, nicht gutgeheißen“ (11:281). Dies läßt darauf schließen, dass Anna versuchte, diejenigen, die sich freundlich gegenüber Leuten verhielten, die „out“ waren, auch ins „Out“ zu drängen.

Deutsch hatte sich auch positiv über Reich geäußert. Sie hatte es vorgezogen, sein Seminar zu besuchen und nicht Annas, das zur gleichen Zeit stattfand. Laut Sharaf (6:152) hatte sie „das Technische Seminar mit Reich genossen und großen Nutzen daraus gezogen“, obgleich sie in ihm einen „Fanatiker“ sah. Sie war sogar eine der wenigen Psychoanalytiker, die Reich getroffen haben, nachdem er nach Amerika ausgewandert war.

Aber in ihrer Autobiographie ist sie nicht nur Reich gegenüber sehr kritisch, was sie wirklich gewesen sein könnte, sondern sie schreibt, dass sie selbst ein Seminar mit der Absicht iritiiert habe, um „seine Ideen zur ausschließlichen Handhabung der negativen Übertragung in der Eröffnungsphase“ unglaubwürdig zu machen (13:157-158). Aber das kann nicht ganz stimmen. Nicht nur weil sie geäußert hat, dass sie es genossen habe, sondern auch deshalb, weil das Seminar 1924 begonnen hat und Deutsch in diesem Jahr in Berlin war. Daher gehe ich davon aus, dass sich Deutsch – um in die engere Gruppe um Anna Freud wieder zurückkommen zu können – gezwungen sah, ihre Illoyalität von vor fast fünfzig Jahren wiedergutzumachen, indem sie verbreitete, dass sie nur an Reichs Technischem Seminar teilgenommen hätte, um es in Misskredit zu bringen.

Von einem Vorkommnis aus dem Jahr 1986 möchte ich noch erzählen. Sharaf und ich waren von der American Psychoanalytic Association zu einer Podiumsdiskussion über die Geschichte der Psychoanalyse eingeladen worden. Die Kinder von Wiener Psychoanalytikern wurden gebeten über ihre Eltern zu sprechen. Eingeladen waren die Kinder von Reich, Siegfried Bernfeld und von Ernst Kris. In meinem kurzen Beitrag erwähnte ich, dass Robert Wälder Reichs Beitrag zum Masochismusproblem nicht veröffentlicht hatte und fuhr dann in meiner Rede fort. Ganz am Ende der Diskussion stand Gutmacher, ein in der Zwischenzeit verstorbener Analytiker aus Philadelphia, auf und sagte: „Haben sie nicht etwas vergessen?“

Ich fragte: „Was?“. Ich wusste nicht, was er wollte. Er sagte: „Reich war verrückt. Das ist es, was sie ausgelassen haben.“ Ich erkannte erst später, warum er das gesagt hat: weil ich Wälder dafür kritisiert habe, dass er den Masochismus-Artikel nicht veröffentlichen wollte. Und Gutmacher war ein Schüler Wälders. Damals verstand ich überhaupt nicht, was los war. Beim Abhören der Tonbänder der Podiumsdiskussion stellte ich zu meinem Bekümmern fest, dass genau zu dem Zeitpunkt, als es zu diesem Vorfall gekommen war, die Bänder gewechselt wurden; so gibt es darüber keine Aufzeichnung.

Anna Freuds Charaktereigenschaften und ihre Einstellung zur Sexualität

Aber warum gab es soviel Aufregung um Reich? Was war das für eine Stimmung, die sie dazu brachte, so ruhig zu bleiben und dann die Geschichte umzuschreiben, um sich von Reich zu distanzieren? Der schreckliche Aufruhr in Europa war ein Teil davon. Die Nazis waren an der Macht, Menschen wurden verhaftet, und die Kommunisten betrieben aktiv einen Umsturz. Die Psychoanalytiker waren verängstigt. Aber es passierte auch einiges in der psychoanalytischen Gemeinschaft. Bis 1911 (14) hatte sich eine orthodoxe Haltung etabliert; aber in den späten zwanziger und in den dreißiger Jahren hatten die Probleme mit dieser Haltung mit Anna Freud zu tun, die aufgebaut wurde, die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft zu übernehmen und dann auch die internationale.

Freud unterstützte sie, um ihre Macht zu festigen. Aber Anna hatte auch eine – nennen wir es – Persönlichkeitsstörung. Sie musste wirklich immer die Nummer Eins sein (15). Das heißt, Anna schien eine sehr unaufdringliche Person zu sein. Niemand hätte erwartet, dass sie so manipulativ und bestimmend war – und dass es für sie so wichtig war, die Nummer Eins zu sein und von allen bewundert zu werden. Tatsache ist: Wenn man sich nicht mit ihr zusammentat, war man „out“.

Sterba war zum Beispiel „out“, aber alle Leute, die in Wien „in“ waren, waren ihre großen Freunde. Als sie 1938 nach England kam, trat diese Charaktereigenschaft noch deutlicher zutage. Das bekamen alle mit, auch Ernest Jones, der sie zuvor so verteidigt hatte. In England angekommen fand Anna heraus, dass Melanie Klein, ihre große Rivalin in der Kinderanalyse und mit der sie bezüglich Theorie und Technik eine unterschiedliche Auffassung hatte, dort behaglich lebte und von allen bewundert wurde. Anna begann das gleiche Spiel von neuem – dass man ihr gegenüber loyal war, sonst „war man kein Analytiker“.

Dasselbe hat sie auf subtile Art und Weise auch in Wien getan. Aber jetzt tat sie es öffentlich. Die Briten haben sich aber um einiges mehr der Demokratie verschrieben und wollten davon nichts wissen. So bildete sich eine Gruppe um Melanie Klein und Anna Freud zog sich mit einer kleinen Gruppe loyaler Gefolgsleute nach Hampstead zurück, aber ihren tatsächlich engsten analytischen Kreis gab es in den USA. Der Rest der britischen Analytiker wurde als „mittlere Gruppe“ bezeichnet; sie enthielten sich einer Parteinahme.

Um zur Situation in Wien zurückzukehren: Ich muss sagen, dass mein Vater auch kein „Teamspieler“ war. Er musste auch die Nummer Eins sein. Damit war ein Zusammenprallen der Persönlichkeiten vorprogrammiert. Es ging vor allem darum, dass er Anna Freuds Drang zur Nummer Eins nicht durchschaute. Ich habe schon erwähnt, dass sie ruhig und zurückhaltend war. Laut Fenichel gab es im Wiener Institut einen Gang, an dessen einem Ende in einem Klassenzimmer Anna Freud das unterrichtete, was später als das Ich und die Abwehrmechanismenpubliziert wurde, während am anderen Ende Reich unterrichtete, was dann als Charakteranalyseerschien.

Beide hielten ihren Unterricht zur selben Zeit, und man konnte nicht an beiden teilnehmen. Da diesen zwei Büchern sehr unterschiedliche Zugänge zur Theorie der Charakterstruktur zugrundelagen, kann man im Rückblick erkennen, dass es in Wien bereits eine Stimmung zur Parteinahme bezüglich der Theorie gab. Das ist der Grund, warum Deutsch, die das Seminar meines Vaters besuchte, in späteren Jahren bezüglich ihrer Achtung für ihn einen Rückzieher machen musste.

Der Gedanke, dass Uneinigkeit in der Theorie akzeptierbar war, hat sich in den 1950er Jahren bis New York herumgesprochen. Als ich in Ausbildung am New York Psychoanalytic Institute war, hatte Melanie Klein einfach einen schlechten Ruf. Ihre Bücher wurden nicht gelesen, man schaute auf sie herab, während Anna Freud als großer Guru angesehen wurde. Heute wird Melanie Klein geschätzt und als Vorreiterin der gängigen Objekt-Beziehungstheorie angesehen, die der heutigen Psychoanalyse viel näher steht. Anna Freud muss sich mit den Ich-Psychologen abfinden, und nur wenig von ihrer Arbeit wird zitiert.

Es waren auch verdeckte Gegenübertragungen, die Anna Freud wünschen ließen, Reich loszuwerden. Zunächst wurde über Anna Freud in Wien spaßhaft von der „Eisernen Jungfrau“ gesprochen; das war ein mittelalterliches Foltergerät in Form einer hohlen Frauenfigur, die das bedauernswerte Opfer mit Eisenspitzen durchbohrte. Während der Zeit, in der Reich sie kannte, hatte sie offensichtlich keinen Sexualpartner und der Spitzname war wohl auch ein Hinweis darauf.

Manche meinen, dass Dorothy Burlingham später ihre Geliebte wurde. Andere meinen, dass das niemals eine sexuelle Beziehung war, obwohl sie später gemeinsam lebten. Jedenfalls weiß man mit Sicherheit, dass sie nie einen männlichen Liebhaber hatte. Solange mein Vater Mitglied der psychoanalytischen Gemeinschaft war, hielten sowohl Sigmund als auch Anna Freud viel von Sublimation durch Arbeit. „Man muß Sexualität nicht offen ausleben, man könne sie sublimieren“ (1:107). Aus dem Buch The Last Tiffanygeht zum Beispiel klar hervor, dass Dorothy Burlingham sich nach ihrem Mann gesehnt hat, sich nach Sexualität gesehnt hat.

Die Freuds taten alles, um Dorothy von ihrem Ehemann getrennt zu halten. Sie behaupteten, dass man keinen Sex braucht, wenn man hart arbeite. Freud sagte das zu Robert Burlingham, als dieser ihn für ein Interview aufsuchte. Anna Freuds ganzer theoretische Schwerpunkt lag in der Abwehr von Instinkten. Deshalb bin ich mir sicher, dass sie sich durch Reich persönlich angegriffen fühlte, wenn er behauptete, dass man neurotisch wäre, wenn man keinen vollständigen Orgasmus habe – dass ein unvollständiger Orgasmus die Quelle von Neurosen wäre. Und hier ist diese Frau, die keinen Orgasmus kennt. Laut Young-Bruehl hatte Anna in ihrer Jugend Schwierigkeiten zu masturbieren, woraufhin Freud sie in Analyse nahm (1:103-107). Das heißt, dass er tatsächlich seine eigene Tochter bezüglich ihres Sexuallebens analysierte!

Inzwischen lebte Freud in großer Enthaltsamkeit. Nachdem seine Frau nach der Geburt von sechs Kindern sich ihm verweigerte, gab er im Alter von vierzig Jahren sein Sexualleben auf. Also hatten beide, Anna und Sigmund, sehr altmodische Anschauungen über Sexualität. Freuds frühere Interessen hatten sich geändert. Wie aus den neuen, komplett vorliegenden Briefen von Freud an Fließ (15:44) hervorgeht, hatte Freud in seiner ersten Ehezeit große Sexualprobleme. Er begann über die Behandlung der Neurasthenie nachzudenken. „Die einzige Alternative wäre freier Geschlechtsverkehr zwischen jungen Männern und ungebundenen jungen Frauen … sonst blieben als Alternativen Masturbation, Neurasthenie … Syphilis … Durch die Unmöglichkeit eines solchen Lösungsansatzes scheint die Gesellschaft zum Opfer unheilbarer Neurosen verdammt zu sein.“

Das heißt, Freuds ursprüngliche Gedanken über Sexualität und Gesellschaft waren den Verkündigungen meines Vaters, Jugendlichen sexuelle Freiheit zu gewähren und die Notwendigkeit, die Gesellschaft durch eine Liberalisierung des Geschlechtslebens der Bevölkerung zu ändern, viel näher. Dennoch waren sich Reich und Freud, was Masturbation betrifft, nie einig. Als Freud um die Sechzig war und Krebs hatte, war er vermutlich am Thema Sexualität nicht mehr sonderlich interessiert. Mein Vater scheint zu spät in der Psychoanalyse angekommen zu sein.

Peter Heller schreibt über einen Urlaubsaufenthalt Anna Freuds am Grundlsee (16) im Jahr 1930 (ich habe auch viele Sommer am Grundlsee verbracht, und ich bin mir nicht sicher, ob Hellers Datierung korrekt ist): Sie blieb an dem einen Ende des Sees und am anderen Ende vergnügten sich die jungen Analytiker mit Sonnenbaden und Sexspielen. Anna hat das sehr mißbilligt (16:337-338). Heller erzählt, wie Berta Bornstein in einem Boot mitten am See Sex hatte (16:340). Obwohl sie gleichen Alters waren, muss man annehmen, dass diese jungen Analytiker sehr anders als Anna Freud waren.

Unglücklicherweise ist Reich gerade in der Zeit zur Psychoanalyse gestoßen, in der die ganze Theorie über Sexualität eine Änderung erfuhr – der Schwerpunkt verschob sich hin zur Erforschung des Ich. Für Anna mußten Reichs Theorien bedeutet haben, dass sie nicht „normal“ war.

Eine andere Quelle der Gegenübertragung Annas auf Reich hat mit Annas komplizierten Beziehungen zu ihren Patienten und zu Kindern zu tun. Einerseits führt Steiner (9) die gute Seite ihrer mütterlichen Hingabe an – veranschaulicht durch ihre Besorgnis gegenüber potentiellen Flüchtlingen (nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren) – außer Reich -, die sie ihre „Sorgenkinder“ nannte. Andererseits wurden Leute zu Rivalen, wenn sie ihre fürsorgliche Rolle nicht einnehmen konnte. Sie hatte auch einen ausgeprägten Hang gegenüber ihren Analysanden, besonders den Kindern, besitzergreifend zu sein und die Tendenz, sie von Konkurrenten fernzuhalten. Ihre eigenen Worte beziehen sich auf zwei der Kinder der Burlinghams als Patienten: „[Ich habe]Gedanken, die mich bei meiner Arbeit begleiten, aber nicht dort hin gehören … manchmal denke ich, daß ich sie nicht nur gesund machen will, sondern gleichzeitig … für michselbst habenwill.“ (1:133)

Ungeachtet dieser aufschlußreichen Aussage und zum Schaden der Kinder der Burlinghams hat Anna ihrer Sehnsucht nachgegeben, so dass sie schließlich über die Mutter und über die vier Kinder verfügte, indem sie sowohl die Rolle als deren anderer Elternteil, als auch als deren Analytikerin einnahm (2). Und Sigmund Freud, bereits in schwächlichem Zustand, schloss sich diesem Programm an. In der Folge hat Anna Freud Theorien zur Technik der Kinderanalyse mit Betonung darauf entwickelt, dass das Kind keine erwachsene Person sei, und der Analytiker das Kind ebenso „erzieht“ und das in Wirklichkeit besser mache als die Eltern. Ich bin mir sicher, dass dieses „Besitzergreifen“ in ihrer Beziehung zu meiner Mutter, die 1927 ihre Patientin war, eine große Rolle spielte (siehe unten).

Anna Freuds Einflußnahme auf die Kinder der Burlinghams und Reichs

Zwischen den Vorkommnissen in meiner Familie und jenen in der Familie der Burlinghams gibt es einige Ähnlichkeiten. Der Beginn Anna Freuds Analyse mit den vier Kindern der Burlinghams fiel in die selbe Zeit wie der Beginn ihrer engen Freundschaft zu deren Mutter. Beide Freuds waren sehr bemüht, die Kinder von deren Vater, Robert Burlingham, fernzuhalten, weil er „verrückt“ war. Er hatte offenbar eine Bipolare Affektive Störung und so wurde ein Kontakt mit ihm für die Kinder als schlecht erachtet.

Anna schrieb ihm, dass seine Besuche aus Amerika seine Kinder belastet hätten und er nicht mehr kommen solle (2:201-202). Gleichzeitig bemühte sich Anna die Kinder zu überzeugen, dass Treffen mit ihrem Vater schlecht für sie seien. Anna brachte auch Freud dazu, Dorothy in Analyse zu nehmen – und dann fuhren alle gemeinsam in den Urlaub – Freud, Dorothy, ihre Kinder und Anna. Das war sehr gemütlich und überhaupt nicht abstinent, wie es die psychoanalytische Technik in dieser Zeit einforderte. Als Robert trotzdem kam, teilte ihm Freud mit, dass er, Freud, Dorothy helfen würde, ihre sexuellen Bedürfnisse in Bezug auf Robert zu überwinden (2:203, 208). Die Kinder kamen nie darüber hinweg, dass sie von ihrem Vater getrennt wurden.

Unglücklicherweise hat diese Geschichte Parallelen zu den Geschehnissen in meiner Familie. Meine Mutter war 1927 in Analyse bei Anna Freud. Anna erklärte ihr, dass sie den sexuellen Kontakt zu Reich einstellen solle, weil er „verrückt“ sei. Anna sagte meiner Mutter, dass sie kein zweites Kind bekommen solle. (Das bin ich.) Ich glaube, dass Anna – eingeweiht in die Ehestreitigkeiten meiner Eltern – versucht hat, Freud gegen Reich zu beeinflussen, genauso wie es Federn getan hat. Meine Mutter widersetzte sich Anna und ging 1931, kurz nachdem sie sich getrennt hatten, wieder zu meinem Vater zurück. Ich glaube, dass Anna ihr diese Illoyalität nie verziehen hat, so dass meine Mutter danach immer kämpfen musste, um im engeren Kreis der Wiener Analytiker bleiben zu können.

Meine Schwester, aber glücklicherweise nicht ich, wurde in Analyse zu Berta Bornstein geschickt, die in Supervision bei Anna Freud war (obgleich das Young-Bruehl bezweifelt). Es gab niemand anderen, der als Supervisor in Frage gekommen wäre. Meine Schwester erzählte mir, dass die Analyse mit Berta darin bestanden habe, dass sie wieder und wieder betonte, dass ihr Vater „verrückt“ sei. Das war die Analyse.

In Erinnerung habe ich eine Bergtour – meine Schwester muss damals um die zwanzig Jahre alt gewesen sein – mit meiner Mutter, Berta Bornstein und meiner Schwester. Berta Bornstein fing wieder an: „Nun siehst du, dass er verrückt ist. Erkennst du das nicht?“ Schließlich spuckte meine Schwester sie an, so verärgert war sie. Um zur Analogie der Situation der Burlinghams zurückzukehren: Berta Bornstein schrieb an meinen Vater einen Brief (unveröffentlichter Brief von Wilhelm Reich an Annie Reich, Bornstein zitierend, 1934), in dem sie ihm mitteilt, dass er sich von seinen Kindern fernhalten soll, auch nicht schreiben oder anrufen soll, weil das Evas Analyse beeinträchtigen würde.

Er, der ehrenwert und naiv war und keinen Hang zum Manipulieren hatte, akzeptierte dies. Er meinte sogar: „Ich möchte mich in die Analyse nicht einmischen“. Das hatte eine sehr schädliche Auswirkung auf mich, da mein Vater für etliche Jahre aus meinem Leben verschwand. Und ich hatte keine Ahnung, warum. Diese Erfahrung verursachte auch spätere Trennungen.

Um zusammenzufassen: Anna Freud hatte viele neurotische, persönliche Motive, die sie antrieben, Wilhelm Reich loszuwerden und gleichzeitig machte es ihre Persönlichkeit den anderen Analytikern schwer, mit Wilhelm Reich ein ungestörtes Verhältnis zu haben. Im gegebenen politischen Rahmen dieser Zeit war es für diese beiden Menschen unmöglich einen Zusammenprall zu vermeiden, was letzt-lich zu Reichs Vertreibung aus der Psychoanalyse geführt hat.

__________________________________

Anhang:

1) Young-Bruehl E. Anna Freud: a biography. New York: Summit Books; 1988.
2) Burlingham M. The last Tiffany: a biography of Dorothy Tiffany Burlingham. New York: Atheneum; 1989.
3) Fallend K. Wilhelm Reich in Wien: Psychoanalyse und Politik. Wien: Geyer Edition; 1988.
4) Fallend K., Nitzschke B. Der Fall Wilhelm Reich: Beiträge Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Ed. (Hg.) Karl Fallend & Bernhard Nitzschke. Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch #1285; 1997.
5) Fenichel O. Vol. I, 119 Rundbriefe: (1934-1945). Ed. Johannes Reichmayer & Elke Mühlleitner. Frankfurt/Main und Basel: Stroemfeld; 1998.
6) Sharaf M. Fury on earth: A biography of Wilhelm Reich. New York: St. Martins Press; 1983.
7) Sterba R. Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers. Frankfurt/Main: S. Fischer; 1985.
8) Reich W. Character analysis: Third Edition. New York: Orgone Institute Press; 1949.
9) Steiner R. It is a new kind of diaspora. Int. R. Psycho-Analysis 1989; 16:35-72.
10) Jones E. Vol. III, The life and work of Sigmund Freud. New York: Basic Books;1957.
11) Roazen P. Helene Deutsch: A psychoanalysts life. 2nded. New Brunswick: Transaction Publisher; 1992.
12) Sterba R. Character resistance. Psychoanalysis Quaterly 1951; 20:72-76.
13) Deutsch H. Confrontations with myself: an epilogue. New York: WW Norton & Co. 1973.
14) Bergman,M. The historical roots of psychoanalytic orthodoxy. Int. Journal of Psychoanalysis. 1997; 78:69-86.
15) Freud S. The complete letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fließ: 1887-1904. Ed. Jeffery Masson. Cambridge MA: Belknapp Press; 1985.
16) Heller P. A child analysis with Anna Freud. Madison CT: International Universities Press; 1990.

Anmerkung zur Autorin:

Lore Reich-Rubin promovierte an der NYU/College of Medicine und schloß ihre Fachausbildung als Psychiaterin am Albert Einstein Medical Center Bronx, ab. Sie graduierte am New York Psychoanalytic Institute und ist Mitglied der American Psychoanalytic Association und der Psychoanalytischen Gesellschaft in Pittsburgh und im dortigen Institut Lehrbeauftragte. Vor kurzem hat sie ihre Arbeit als klinische Assistenzprofessorin für Psychiatrie an der Medical School der University of Pittsburgh zurückgelegt.

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  • Buk 1/07 WRI-Klausur in Bad Pirawarth

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    Bukumatula 1/2007

    Bericht über die WRI-Klausur in Bad Pirawarth

    Wir fühlen uns für die außerordentliche Generalversammlung am 12. Mai 2007 gerüstet
    von
    Josef Friedrich Pühringer:

    Vorgeschichte:

    Am 21. Jänner 2007 fand wie jedes Jahr zu dieser Zeit die ordentliche Jahreshauptversammlung des Wilhelm Reich Instituts (WRI) statt. Dabei erreichten die Entwicklungen der letzten Monate ihren Höhepunkt. Es hatten immer weniger Leute an der Organisation und Durchführung von Workshops und Vorträgen mitgewirkt. Und für diejenigen, die dennoch mitarbeiteten, war es mehr Pflichterfüllung und lästige Verpflichtung.

    Diese länger andauernde Entwicklung führte dazu, dass der größere Teil der Vorstandsmitglieder von ihrer Funktion zurücktreten wollte, sich aber keine neuen Leute fanden, die diese Ämter übernommen hätten. Dies führte zu der äußerst ungewöhnlichen Situation, dass der alte Vorstand damit formal im Amt blieb und für Samstag, 12. Mai 2007, eine außerordentliche Generalversammlung zur Wahl eines neuen Vorstandes angesetzt wurde. Außerdem hat Wolfram Ratz, langjähriger Sekretär und „Urgestein“ des WRI, angekündigt, seine Funktion mit Jahresende zurückzulegen.
    Die Zeit bis zur außerordentlichen Generalversammlung sollte dazu genutzt werden, um dem WRI neue Ziele und Strukturen zu geben, damit die Arbeit im WRI wieder lustvoll und kreativ sein kann.

    Klausur:

    Am Sonntag, dem 18. Februar 2007 fand aus diesem Anlass in Bad Pirawarth (im Weinviertel, ca. eine halbe Autostunde von Wien entfernt) in den Räumlichkeiten des dortigen Kurshotels [1] eine Klausur statt. Es haben sich zehn Leute eingefunden und den ganzen Tag, unterstützt durch verschiedenste Moderationstechniken, neue Strukturen und Inhalte für das WRI erarbeitet.

    Hauptergebnisse:

    „Das Wilhelm Reich Institut ist ein erhaltenswerter Kulturgutträger.“ (Walter Kreuzer)- Dies wurde auch zum „heimlichen“ Motto der Klausur.

    Das WRI soll schlanker und flexibler werden:

    Nachdem sich die Strukturen des WRI über die Jahre hinweg verfestigt haben, werden nun einige tiefgreifende Änderungen vorgenommen. Der Vorstandsoll ein schlankes Aufgabengebiet haben, das heißt, er wird von Organisationsaufgaben entlastet, und die Anzahl der Vorstandssitzungen wird von einmal pro Monat auf zwei bis vier pro Jahr reduziert. Er soll für Kontinuitätsorgen und nur mehr für Kernaufgabendes Vereines verantwortlich sein.

    Die eigentliche Arbeit, wie z.B. die Organisation von Workshops und Vorträgen, soll von Arbeitsgruppenübernommen werden. Sie sollen alle Aufgabenübernehmen, die für Veranstaltungen notwendig sind. Es sind auch Arbeitsgruppen vorstellbar, die ausschließlich wissenschaftlich arbeiten wollen.- In diesen sollen sich Leute zusammenfinden, die sich für ein spezielles Themainteressieren und gemeinsam daran arbeiten möchten.
    Der Vorstand soll in diesem Zusammenhang das Auftreten im Rahmen des WRI und finanzielle Angelegenheiten regeln.

    Kurzfristige Maßnahmen:

    Zum einen soll der jetzige Vereinssekretär Wolfram Ratz entlastet werden, zum anderen sollen aber auch Wege gefunden werden, um die bisherigen Tätigkeiten anders zu verteilen und abzuwickeln.

    Dies umfasst:

    • Die Sektretärstätigkeiten (Bearbeitung der Post, Schreiben von Briefen, etc.) sollen ausgelagert werden.
    • Telefonische Anfragen sollen durch ein eigenes WRI-Handy beantwortet werden. (Das stellt zum einem die Kontinuität sicher und zum anderen kann diese Aufgabe flexibel auf verschiedene Leute aufgeteilt werden.)
    • Ein Kassier soll Finanzen und das Kassabuch verwalten.
    • Der „Newsletter“ bleibt in der bisherigen Form bestehen. Die WRI Homepage (http://www.wilhelmreich.at), soll durch eine FAQ [2] und detaillierte Informationen über die Struktur des WRI ergänzt werden. Der Internet-Auftritt soll das WRI nach außen hin transparenter machen und Fragen im Vorfeld beantworten können.
    • Die vielfältigen Aufgaben zur Erstellung von bukumatula sollen an verschiedenste Leute delegiert werden.

    Es ist auch angeregt worden, einen WRI-Stammtisch einzurichten. Dieser soll eine lose Zusammenkunft sein, der die Möglichkeit bietet sich auszutauschen und über spezielle Themen zu diskutieren Er soll auch für Außenstehende die Möglichkeiten bieten, die WRI-Mitglie-der kennenzulernen und Fragen rund um das Thema „Wilhelm Reich“ stellen zu können.

    Ich wünsche allen Beteiligten viel Freude bei der Umsetzung dieser Ideen.

    Dankesworte:

    Am Ende sei nochmals allen gedankt, die sich einen Tag lang so engagiert an der Klausur beteiligt haben. Besonders hervorheben möchte ich Günter Hebenstreit, der die Klausur geschickt und souverän moderiert hat, sowie Regina Hochmair, die die angenehmen Räumlichkeiten für die Klausur organisiert hat.

    ______________________________________________

    [1] Hier werden die ersten vorsichtigen Versuche zur Umsetzung von Wilhelm Reichs Therapieansätzen in der Stressprävention gemacht. (http://www.kurhotel-pirawarth.at)

    [2] Englische Abkürzung für „Frequently Asked Questions“, was in etwa „häufig gestellte Fragen“ bedeutet.

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  • Buk 2/07 Wilhelm Reich im 21. Jahrhundert

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    Bukumatula 2/2007

    Wilhelm Reich im 21. Jahrhundert

    Interview mit Dr. Heiko Lassek über die Orgonomie-Sommer-Tagung
    Wolfram Ratz:

    Tagung zum Thema „Wilhelm Reich im 21. Jahrhundert“, die vom 29. Juli bis 1. August in Orgonon/USA stattfinden wird. (Information: www.wilhelmreichmuseum.org)

    Wolfram Ratz: 50 Jahre nach Reichs Ableben geht es in der diesjährigen Orgonon-Konferenz um die Öffnung des Wilhelm Reich-Archivs, um die Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien und um das Filmprojekt „Sparks of Life“ von Kevin Hinchey. Du wirst dort auch als Referent auftreten.- Was kann man sich unter dem Motto „Wilhelm Reich im 21. Jahrhundert“ erwarten?

    Heiko Lassek: Ich denke, dass Wilhelm Reich als einer von ganz wenigen großen Theoretikern, aber – und das Entscheidende ist – auch Praktikern für einen Paradigmenwechsel steht. Es wird sich herausstellen, dass die Grundlage seiner Erforschung einer universellen Energie – einer primordialen, das heißt, einer allem Geschehen unterliegenden, aber erzeugenden Energie – ihn als einen der bedeutendsten Pioniere des 20. Jahrhunderts auszeichnen wird.

    Ich weiß allerdings nicht, wie man sein schöpferisches Gesamtwerk durch Exponate oder Materialien zur Geltung bringen kann, wie das in der Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien geplant ist.- Meiner Meinung nach geht das nur durch persönliche Erfahrung. Und das ist für mich die entscheidende Ebene: Dass es ein ganz anderes Denkmodell gibt, mit dem man unglaublich viele Facetten der Wirklichkeit einordnen, erfassen und begreiflich – das ist für mich ein sehr bedeutsames Wort „begreiflich“, also greifbar – machen kann. Unser gegenwärtig technisch sehr erfolgreiches Modell nennt sich „Naturwissenschaft“, eine materialistisch-orientierte Wissenschaft, ohne irgendeinen Bezug zu Geist oder Seele. Und Reich ist einer der wenigen wirklich bedeutenden Denker, der einen Paradigmenwechsel ermöglicht.

    Für mich ist das Entscheidende, dass eine Praxis der energetischen Informationsübertragung, die aus der Theorie Reichs und durch seine Experimente entstanden ist, heute von abertausenden von Menschen durchgeführt wird – ob das in der Naturheilkunde ist, in der Biologie, in der Waldsterbensforschung oder in der Revitalisierung von Seen. Es gibt unglaubliche und unzählige gelebte, realisierte Erfahrungsbereiche, in denen die „Wissenschaft vom Lebendigen“, die Reich begründet hat, Realität geworden ist. Dies ist für mich der entscheidenste und wichtigste Punkt: Diese Praxis ist da.

    W: Inwieweit haben Reichs Erkenntnisse in die heutige Medizin Eingang gefunden?

    H: Da kann man vieles aufzählen: Es geht von der Psychosomatik der Krebserkrankung, der Charakterstruktur, bis hin zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen, der Erforschung genetischer Veränderungen durch radioaktive Niedrigstrahlung, dem plötzlichem Zelltod durch Bläschenbildung. Es gibt unzählige Beispiele. Aber ich finde dies alles nicht so wichtig.

    Es geht um eine Wissenschaft vom Lebendigen, es geht um ein ganz neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit, es geht um eine ganz neue Einschätzung davon, was Energie damit zu tun hat – dies ist natürlich nicht im Interesse der pharmazeutischen Industrie. Es geht hier der Blickwinkel zurück auf die Seele des Menschen, auf die Energiestruktur des Menschen, auf die Charakterstruktur des Menschen, auf die Persönlichkeit des Menschen – und wir begreifen Krankheiten als autobiografisch. Ich kenne keine krebskranken Menschen. Ich kenne nur Menschen, die an Krebs erkrankt sind.

    Es macht einen großen Unterschied, ob ich eine Objektivität nach draußen setze – wie die Diagnose Krebs -, oder ob ich sehe: da sind Menschen die unter einer bestimmten Erkrankung leiden. Das ist ein Punkt, den Reich sehr klar herausgearbeitet hat – „that makes the difference“. Es macht einen großen Unterschied, ob ich jemandem sage, er ist ein Krebskranker, oder ob ich ihm sage, er ist ein Mensch, der an einer Erkrankung leidet, die man schulmedizinisch Krebs nennt – das ist ein gigantischer Unterschied, wie man einem Menschen gegenüber tritt.

    W: Du wirst in Orgonon auch als Referent auftreten. Worüber wirst Du sprechen?

    H: Mein großes Anliegen von Jugendzeit an war – und deshalb habe ich Physik und Medizin studiert – das Thema Lebensenergie. Was ist dieses Prinzip, das wir im 20. Jahrhundert im westlichen System scheinbar oder im Wesentlichen aus der naturwissenschaftlichen Forschung ausgeschlossen haben?- Dies führte dazu, eine Grund-energie, eine Beseeltheit der Materie völlig wegzulassen, ja sie zu bekämpfen. Und darüber werde ich sprechen: Über die Gegenüberstellung westlicher und östlicher Lebensenergieforschung, weil es im Osten eine völlig andere Vorstellung hiervon gibt.

    Wir im Westen erscheinen ja unglaublich mächtig, vergessen aber, dass Asien unglaublich viel mächtiger ist und teilweise – von der Tradition her – ein unschätzbares Wissen um grundlegende Lebensprozesse bewahrt hat. In dieser Tradition gibt es einen zentralen Begriff, der für uns nicht übersetzbar ist und in der chinesischen Standardenzyklopädie mit 21 verschiedenen Bedeutungen und 79 Binomina übersetzt wird; dieser Begriff heißt „Chi“. Wir können das nicht einfach – wie die heutige westliche Literatur dies handhabt – mit „Energie“ übersetzen. Das habe ich in Artikeln und vielen Vorträgen – auch seit Jahren in Wien – dargelegt: Energie ist nur ein Aspekt von Chi.

    Es ist mir ganz wichtig zu sagen, das Reichs „Orgon“ einem, der organischen Welt nahe liegenden, schon kondensierten „Chi“ entspricht, und da bin ich in völliger Übereinstimmung mit dem Stammhalter der höchsten philosophischen Schule des Taoismus, Professor Lu Jinchuan.- Ganz nebenbei: Als ich 1996 die Ehre erhielt, sein Schüler zu werden, hat mich Dr. Eva Reich darin wunderbar unterstützt, sich sogar sehr gefreut. Sie sagte mir: „Mein Vater hatte sechzig Jahre, die Taoisten dreitausend Jahre lang Zeit, um diese grundlegenden Prozesse zu erforschen – du wirst viel lernen.“

    Und noch ein Nachsatz: Professor Lu Jinchuan, der Goethe, Fichte, Herder, Schelling, Heidegger, Sartre besser als die meisten westlichen Gelehrten kennt, ließ sich den ins Chinesische nie übertragenen Reich durch seine Schüler übersetzen. Im November 1999 erklärte er in London vor seinen engsten Schülern Reich als den für ihn bedeutendsten westlichen Forscher und Denker.

    W: Als jemand, der noch nie dort war: Wie kann man sich Orgonon vorstellen?

    H: Orgonon umfasst ein etwa 70 Hektar großes Gebiet und liegt inmitten von Seen im US-Staat Maine, südlich der kanadischen Grenze. In diesem damals fast völlig unerschlossenen Gebiet machte Reich Anfang der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Urlaub und wurde sehr an sein geliebtes Norwegen erinnert, das er hatte verlassen müssen.

    Für einen äußerst geringen Preis erwarb er dieses große Areal, das sich an einen wunderschönen See, den Mooselegmontik, anschmiegt und mit Hügeln und Wäldern durchsetzt ist. Wie Peter Reich mir letztes Jahr aufzeichnete, bauen die Seenketten dort eine sehr ungewöhnliche, hochenergetische Atmosphäre auf, was für Reich wohl ausschlaggebend war, diesen Ort zum Zentrum der Erforschung der Orgonenergie zu wählen.

    Nach zahlreichen Besuchen in Orgonon gehe ich davon aus, dass sich hier durchgeführte Experimente, z.B. zur Elektrostatik oder Meteorologie nicht – ich phantasiere jetzt mal – in Kairo oder Moskau in gleicher Weise replizieren lassen.- Heute ist Orgonon ein Wilhelm Reich Museum und die wichtigsten Gebäude konnten mit ungeheurem privaten finanziellen Aufwand erhalten werden. Wenn man Reichs Wohngebäude, das Observatorium, betritt und durch die Bibliothek und seine Arbeitsräume geht, ist es so als ob er gerade mal eine Pizza – er liebte Hirschbraten und Pizza – holen gegangen wäre. Dies ist der fast alleinige Verdienst der von allen wenig geschätzten Treuhänderin Mary Boyd Higgins und zahlreicher privater Sponsoren.

    Übrigens stand hinter Higgins immer ihr früherer Therapeut, späterer Mentor und ehemalig engste Mitarbeiter Reichs: der erst vor wenigen Jahren verstorbene Dr. Chester M. Raphael, mit dem sie auch die amerikanischen Reich-Ausgaben editierte und bei Farrar, Strauss & Giroux publizierte. Dr. Raphael war immer der „Adler“ im Hintergrund, der mir übrigens beim Nachvollzug der Blutdiagnostik Reichs schon Anfang der achtziger Jahre und bei der Arbeit mit an Krebs erkrankten Menschen ganz wertvolle Unterstützung gegeben hat.

    Es ist mir ein ganz persönliches Anliegen, hier ein paar Worte zu Mary Higgins zu sagen, ohne die es Orgonon heute nicht mehr geben würde – ob es ohne sie erhalten werden kann steht in den Sternen. Higgins – und wie erwähnt im Hintergrund Dr. Raphael – waren fast fünfzig Jahre lang damit konfrontiert, dass alle, aber auch alle, etwas von ihnen wollten: Aufzeichnungen über geheime Experimente Reichs, über UFO-Beobachtungen, verschwundene Materialien, Tagebücher, Buchrechte, Filmrechte, etc. – aber niemand war bereit, etwas dafür zu tun oder etwas zu geben … eine bittere Rolle für die beiden.

    Da Higgins aus einer einigermaßen begüterten Familie kommt und Dr. Raphael ein respektierter New Yorker Psychiater war, gelang es ihnen einen kleinen „Senioren-Unterstützerkreis“ unter Einsatz all ihrer persönlichen und materiellen Ressourcen aufzubauen: den „Wilhelm Reich Infant Trust Fund“, dessen exklusives Ziel der physische Erhalt von Orgonon war.

    W: Wer ist Kevin Hinchey, der auch anläßlich der Eröffnung der Wilhelm Reich Ausstellung nach Wien kommen soll?

    H: Kevin Hinchey habe ich in Zusammenhang mit einem Filmprojekt über Reich – dazu komme ich noch später – im Juli letzten Jahres auf seinen Wunsch hin getroffen; gehört hatte ich nur durch Peter Reich von ihm. Mit mir am Tisch war mein Freund Antonin Svoboda, der hier in Österreich als Filmproduzent (coop 99) und Regisseur recht bekannt ist. Ich war ganz überrascht über Hincheys Offenheit und Freundlichkeit; er hat sogar seinen Fernzug wegfahren lassen, um länger mit uns beisammen sein zu können.

    Kevin hatte im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern Urlaub in Maine gemacht, und an einem Regentag – der typische Grund für Besucher, in das entlegene Orgonon zu fahren – besuchten sie das Wilhelm Reich Museum. Irgend etwas, so erzählte er uns, hat ihn damals erfasst und nicht mehr losgelassen. Und so fuhr er immer wieder hin und war Mary Higgins bei diversesten Arbeiten behilflich – und wurde ihr Vertrauter.

    Er ist heute Mary Higgins Stellvertreter und wird noch in diesem Jahr die Leitung von Orgonon übernehmen. Mary Higgins hat sich ein eigenes kleines Haus für sich und ihre beiden Schäferhunde `Ping´ und `Pong´ bauen lassen, um dort ihren Lebensabend – sie ist um die Neunzig – zu verbringen. Kevin ist Mitte Vierzig und steht nun vor der fast unlösbaren Aufgabe, Orgonon erhalten zu müssen. Er möchte die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen und bat ganz tief um Kooperation und Mithilfe – und lud mich als Sprecher nach Orgonon ein. Ich habe ihn zutiefst sympathisch in Erinnerung.

    W: Auf der Tagung in Orgonon wird auch Hincheys Filmprojekt „Sparks of Life“ vorgestellt. Was weißt du darüber?

    H: Hinchey hat Antonin Svoboda und mich sogar per E-Mail darum gebeten, gemeinsam „Sparks of Life“ – es ist ja zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ein Projekt – zu verwirklichen. Der Film soll unter anderem durch den Verkauf von Rechten und anderen eventuellen Einnahmen den Erhalt von Orgonon gewährleisten.- Nun ist es aber so, dass Antonin und ich ein eigenes Filmprojekt haben und wir seit fast fünf Jahren an der Recherche und dem Drehbuch arbeiten und wir in den letzten beiden Jahren sogar geringfügig für Reisen, Unterkunft, Mietwagen, etc. von der EU unterstützt wurden. Wir sind da nicht in Konkurrenz. Aber ich glaube, eine Deckungsgleichheit des erarbeiteten Materials können wir nicht erreichen.

    W: 50 Jahre nach Reichs Ableben wird – testamentarisch von ihm verfügt – sein Archiv im November dieses Jahres geöffnet.

    H: Gerüchten nach besteht Reichs Nachlaß aus 200 in der Bibliothek der Harvard Medical School eingelagerten riesigen Containern. Die Zahl stimmt übrigens, nur nicht die Dimension. Wie ich von Dr. Eva Reich und Kevin Hinchey weiß, sind es ca. 200 Boxen, jeweils etwa im Ausmaß eines größeren Postpakets. Eva kennt die Inhalte; wir haben erst vor anderthalb Jahren noch einmal darüber gesprochen.

    Außer Büchern und anderen Publikationen – die wir alle in Berlin und Wien im Original oder als Kopien, auch als Mikrofilm, vorliegen haben, Briefen, Tagebüchern – mit Ausnahme der hochinteressanten Forschungsperiode der fünfziger Jahre sind mit „Passion of Youth“, „Beyond Psychology“ und „American Odyssey“ bereits alle veröffentlicht – sowie einige wenige experimentelle Aufzeichnungen über Pendelexperimente – ist da nichts Bahnbrechendes zu erwarten. Warum auch? Das uns seit Jahren zugängliche Material reicht für jahrzehntelange Forschungsarbeit.

    Da muss man das wenige Unbekannte in den Archiven nicht mystifizieren. Und der „Infant Trust Fund“ hat auch kein Geld, es in absehbarer Zeit zu katalogisieren. Wir haben in den letzten dreißig Jahren die Bionforschung, die Blutdiagnostik, den Orgonakkumulator, den „medical dor-buster“, die Krebsbehandlung, die behandlungsrelevante Unterscheidung von Energietypen des menschlichen Körpers und sogar jahrelang die meteorologischen Experimente mit dem „cloudbuster“ nachvollzogen und überprüft.

    In Wien hat mein geschätzter Freund und langjährige Obmann des Wiener Reich Instituts, Mag. Günter Hebenstreit, die psychophysiologischen Wirkungen des Orgonakkumulators und die bioelektrischen Untersuchungen zur Funktion von Lust und Angst im menschlichen Nervensystem klinisch-experimentell durchgeführt und universitär veröffentlicht.- All dies oben Angeführte ist einmalig seit Reichs Ableben im Jahr 1957.

    W: Magst Du noch etwas über Euer Wilhelm Reich-Filmprojekt sagen?

    H: Gerne. Antonin Svoboda und ich kennen uns seit über fünf Jahren. Er kam 2001 zu meinem Vortrag am Psychologischen Institut in Wien und war den überwiegenden Teil der anschließenden zweijährigen Orgontherapie-Ausbildung anwesend – trotz seiner zahlreichen Auslandsaufenthalte -, die zu seinem Beruf als Produzent und Regisseur gehören. Er hat die Funktionen und Ausdrucksformen der Energie also hinreichend in seinem eigenen Organismus erfahren und erlitten. Er ist einer der feinfühligsten Männer, denen ich je begegnet bin.

    Anlässlich unserer ersten USA-Recherche meinte Dr. Richard Blasband über ihn: „He ist the less-armored male being I ever treated.“. So war eigentlich Freundschaft damals schon vorgezeichnet. Und dadurch, dass ich in den letzten sechs Jahren – durch Deine unermüdliche Arbeit ganz oft nach Wien kommen durfte – und Antonin seinerseits manche Produktionsabläufe nach Berlin verlegen konnte, haben wir neben gemeinsamen Urlauben auch viel Gesprächs- und Arbeitszeit miteinander verbracht.

    Das Projekt trägt den Arbeitstitel „Creation“ – nach dem im Gefängnis verschwundenen, nie wieder aufgefundenen Manuskript Reichs über Schwerkraft und die Funktion der Antigravitation. Reich arbeitete während seiner Inhaftierung in Lewisburg an dieser Schrift. Besuchern zeigte er immer wieder die Weiterentwicklung seiner Arbeit. Der Bibliothekar und der Gefängnispfarrer sahen ihn fast anderthalb Jahre – bis zu seinem plötzlichem Tod am 3. November 1957 – mit ganzen Stapeln von Manuskriptseiten in der Gefängnisbibliothek arbeiten. Nichts von alledem wurde jemals nach seinem Tode gefunden. Ohne jede Mystifizierung: das ist doch seltsam, nicht wahr?

    Das erklärt auch unseren Arbeitstitel. Wir hatten am Anfang auch Alternativen: z.B. „The Man with the Child in his Eyes“-, frei nach einem Lied von Kate Bush – oder „Staatsfeind Nummer Eins“ – aber das erschien uns dann doch als zu reißerisch.- Antonin Svoboda arbeitet als Regisseur und Produzent an dem Filmprojekt; ich fungiere mit viel Freude als wissenschaftlicher Berater. Durch die von Media-Projekt in Brüssel unterstützte Recherche für ein „treatment“, das ist ein „Vor-Drehbuch“, konnten wir bisher zweimal in längeren Aufenthalten an der USA-Ost- und Westküste meine alten Freunde und Lehrer besuchen und interviewen.

    So zum Beispiel Dr. Eva Reich, ihre wunderbare Tochter Renata, Peter Reich und seine Frau Susan – alle haben uns einen schönen Aufenthalt bereitetet. Auch Ilse Ollendorf, Peters Mutter und Reichs ehemalige Ehefrau, zu der uns Peter auf seine Anregung hin begleitete: 97-jährig und nur ein bisschen auf Stockunterstützung angewiesen, erinnerte sie sich hellwach an unsere Abende in Myron Sharafs Haus in Boston, und wir plauderten über Reichs Eß- und Trinkvorlieben.- Dann die unglaublich anstrengende Autofahrt nach Orgonon, das gerade geschlossen war. Die, wie vorher erwähnt, von allen ungeliebte Mary Higgins war über unseren Besuch völlig überrascht und führte uns – 88-jährig – stundenlang durch alle Gebäude und das Gelände von Orgonon.

    Und fast eine Woche lang verbrachten wir mit Dr. Richard Blasband und seiner Tochter Eve auf dem Weg von Kalifornien nach Oregon, um auch bei einer eher langweiligen Konferenz von James DeMeo vorbeizuschauen. Ich erwähne das deshalb, weil dadurch Antonin Zugang, wie wohl kein anderer – denn diese Leute leben sehr zurückgezogen – zu Informationen bekommen konnte, die nirgendwo schriftlich niedergelegt worden sind; dies bezieht sich insbesondere auf die Zusammenkünfte mit Peter Reich.-

    Die schwierigste Seite unserer Arbeit war die juristische: Erarbeitung notarieller Verfügungen unter US-Medienrecht für Zitate, Sequenzen aus Originalveröffentlichungen Reichs, Szenen aus Biographien wie Peter Reichs „A Book of Dreams“ und Myron Sharafs „Fury on Earth“, Dreherlaubnisse auf Orgonon, etc., etc. Wir sind weit gekommen, auch mit Hilfe eines New Yorker Staranwalts, Dr. Paul Blasband, Richards Bruder, der mit der Materie bestens vertraut war und uns umsonst beraten hat.

    Zum Film: Drehbücher sind immer Goldschätze und große Geheimnisse. Ein berühmter, weltweit agierender Berliner Produzent wollte schon unsere Arbeit für mehrere Millionen erwerben und im persönlichen Gespräch allein zwanzig Millionen Euro aus seinem Privatvermögen zur ersten Stufe der Realisierung einsetzen – so fasziniert war er von dem Stoff, mit dem er sich schon vier Jahre lang beschäftigt hatte, aber an Peter Reich, Eva und die anderen nicht herankam. Das ist die Filmwelt.

    Die war mir auch fremd, und da habe ich viel Neues kennen gelernt. Nach vielen durchgespielten Varianten beginnt „Creation“ 1934 mit Reichs Ausschluss aus der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ und begleitet Reich unter minutiöser, detailreicher Entwicklung von Dänemark und Norwegen in die USA. “Creation“ beinhaltet Unmengen an Originalzitaten, notariell abgesicherten Szenen aus Myron Sharafs, Ilse Ollendorf-Reichs und Peter Reichs Biographien sowie mündlichen Mitteilungen.

    Auch Eva Reichs Unterrichtungen spielen eine große Rolle und das unveröffentlichte „Second Book of Dreams“ Peter Reichs. Es wird ein Spielfilm, der sich aber mit Ausnahme dramaturgischer Elemente ganz an dem wirklich Geschehenen orientiert. Ein Mittelpunkt wird das Gerichtsverfahren bilden. Der Film endet mit Reichs Tod im Gefängnis; hier arbeiten wir viel mit dem Material „USA against Wilhelm Reich“ des kürzlich verstorbenen Jerome Greenfield und Peter Reichs „A Book of Dreams“.

    W: Und wer wird die Hauptrolle spielen?

    H: Nach langer Überlegung haben wir uns für Wolfram Ratz entschieden… Und als Abschluss-Song kommt „Heroes“ oder „Welcome to Reality“ von David Bowie. Nun beginn mal schön mit dem Schauspielunterricht…

    W: Am besten wendest Du Dich in dieser Angelegenheit an meinen Sekretär, der Dir auch meine Bankverbindung bekanntgeben wird.

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    Bukumatula 2/2007

    Wie weit hat W. Reich Marx verstanden?

    Fritz Erik Hoevels:

    Das Werk von Marx (und des im allgemeinen Bewußtsein viel zu sehr in dessen Schatten stehenden Engels, ähnlich wie Tinbergen viel zu wenig neben Lorenz gewürdigt wird) ist umfangreicher, heterogener und voraussetzungsvoller als dasjenige Freuds.

    Während die Psychoanalyse ihren experimentellen Hauptgegenstand sozusagen überall zur Verfügung hat (nämlich das eigene Subjekt, das es mit einer besonderen, grundsätzlich einfachen Methode zu objektivieren gilt), ist der Gegenstand der Ökoanalyse, wie wir die Lehre von Marx und Engels nennen sollten, weil sie den Ausdruck »Marxismus« nicht mochten, der direkten, gar experimentellen Beobachtung nicht zugänglich, sondern erschließt sich nur durch die Bearbeitung einer erheblichen externen Datenmenge; diese Marx/Engels’sche Ökoanalyse erfordert also neben der Kenntnis ökonomischer Daten und Abläufe vor allem ein erhebliches historisches Wissen, ohne welches sie so wenig überprüfbar und anschaulich bzw. persönlich einleuchtend sein kann wie die Lehre von der Artentstehung bzw. Organismenevolution ohne erhebliche positive Kenntnisse in Spezieller Biologie und verwandten Disziplinen, oder die Psychoanalyse ohne Verarbeitung eines satten Quantums eigener und zur Kontrolle auch fremder freier Assoziationen und damit exemplarischer objektiver Individualgeschichte und deren subjektiver Besetzung.

    Während Reich letzteres zweifellos so gründlich und engagiert geleistet hat wie jeder ernstzunehmende Vertreter der Psychoanalyse, brachte er zu ersterem aus seiner persönlichen Vergangenheit weder nennenswerte Voraussetzungen mit, noch hatte er später genügend Zeit, sie sich anzueignen; die etwa zwei Jahre (1927–1929), die er dafür angibt und nach welchen wir ihn auch als bekennenden Marxisten erleben, reichen dafür einfach nicht aus, auch nicht für ein »Genie«.

    Wie fast alle Menschen, bei denen dies eintritt, lernte Reich die Lehre von Marx und Engels durch politische Aktivisten (oder Sympathisanten von deren Politik) kennen, welche behaupteten, diese Lehre ihrer Aktivität zugrundezulegen; das ist nahezu unvermeidlich, denn die staatlich unterhaltene Wissenschaft wollte damals wie zuvor und bis heute von der Ökoanalyse freiwillig nichts wissen, und man lernte sie daher von ihr entweder gar nicht oder nur in polemischer Brechung kennen. Wenn aber ein System sachlicher Behauptungen – und keine Wissenschaft kann etwas anderes sein – nur oder hauptsächlich über eine um den Sieg kämpfende und zugleich von Verfolgung bedrohte Partei wahrgenommen werden kann, bevor man sich – wenn es überhaupt noch dazu kommt – mit den Originalen beschäftigt, so kann es leicht sein, daß diese von vornherein mit normativen Ansätzen belastet sind und diese dadurch – verhängnisvollerweise, wird man sagen dürfen – als deren Bestandteilaufgefaßt werden und dadurch Parteinahme und Aussagenüberprüfung vermengen.

    Wir wissen spätestens aus Reichs frühen Tagebüchern, daß er den »Marxismus« nicht nur von vornherein mit dieser Belastung kennenlernte, sondern daß diese auch noch dadurch erschwert wurde, daß mindestens ein redegewandtes Individuum, das sich zum Wortführer der Marx/Engels’schen Positionen aufschwang und von seinen Zuhörern einschließlich Reich zunächst auch so empfunden werden mußte, der spätere Springer-Kolumnist (d.h. Pro-US-Propagandist) William Schlamm, diese Verquickung ausgerechnet mit solchen moralischen Positionen vornahm, die denjenigen von Marx und Engels ganz zuwiderliefen und stattdessen am ehesten denjenigen des Faschismus entsprachen (also Mussolinis und Hitlers sowie deren ideologischen Vorläufern).

    Reich brauchte eine gewisse Zeit, um diese Entstellung zu durchschauen, und die Heftigkeit seiner Betonung des Individuums als letzten moralischen Bezugspunkt, wie ihn Schlamm und gewiß nicht wenige seiner damaligen, irregeleiteten Gesinnungsgenossen im Gegensatz zu Marx und Engels offen geleugnet hatte, mag hier ihre unmittelbare Wurzel haben.[1]

    Nun mag es mancher ungerecht finden, die Vermengung des wertenden und des sachlichen Aspekts nur bei den erklärten Anhängern von Marx und Engels getadelt zu finden, unabhängig davon, wie die Wertung erfolgt, da ja auch das berühmte Duo in dieser Hinsicht keine Zweifel offen läßt – die Emanzipation des Individuums, die volle Entfaltung seines humanen Potentials läßt sie die von ihnen beschriebenen oder behaupteten Zusammenhänge immer wieder gemäß dieser Zielsetzung bewerten, unabhängig davon, daß sie diese Emanzipation in nennenswertem Ausmaß und in leidlicher Stabilität nur auf gesellschaftlicher und daher kollektiver Grundlage für möglich hielten.

    Freilich unterscheidet diese stattgehabte Wertung bzw. permanente Wertungsmöglichkeit die Ökoanalyse grundsätzlich von keiner anderen angewandten oder anwendbaren Wissenschaft wie z.B. der Medizin: daß Tausende von Frauen aus Bequemlichkeit und, wie heute manches ähnliche in unseren Kliniken unter dem Vorwand der »Müllvermeidung«, Kostenersparnis qualvoll zu Tode gebracht wurden, machte Semmelweis im buchstäblichen Sinne längst nicht so verrückt wie die in diesem Zusammenhang entstandene und festgehaltene Leugnung der von ihm entdeckten Infektionswege durch die ärztliche Sanitätsbürokratie. Daß man Patienten nicht aus Kostengründen und Liebe zur bequemen Gewohnheit Qual und Tod ausliefern soll, ist eine moralische Forderung und keine wissenschaftliche Aussage; bringen wir jedoch eine neugewonnene wissenschaftliche Aussage, z.B. über die Folgen gewisser sparsamer bzw. »umweltfreundlicher« Klinikhygiene, mit jener aus den menschlichen Wünschen abgeleiteten moralischen Forderung zusammen, so ergibt sich daraus eine zwingende Handlungsanweisung.

    Dennoch hat diese Moral oder irgendeine andere dabei niemals einen Bestandteil der Medizin bzw. Wissenschaft überhaupt gebildet, so wenig wie die für Marx und Engels typische Forderung nach allseitiger menschlicher Emanzipation einen solchen ihrer Ökoanalyse.

    Es ist leicht zu erkennen, daß ein solcher Einbau moralischer und daher subjektiver Postulate in den »Marxismus«, egal mit welch fanatischem Bekenntnis zu diesem er vorgetragen werden mag, oder in die Psychoanalyse, die Medizin oder irgendeine sonstige Wissenschaft, dieser jede Seriosität raubt und daher gründlicher als alles denkbare andere schadet; sowünschen sich eine Lehre immer nur deren Feinde.

    Daß aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann (d.h., daß daraus, daß etwas so ist, z.B. die Menschen sterblich oder die Primatenfortpflanzung sexuell, keineswegs abzuleiten ist, daß es auch so sein soll) hat Reich zwar aus anderen Gründen heraus immer wieder betont, jenen nämlich, die Marx das Wort »Fetischisierung« prägen ließen, aber es paßt auch zu unserem Zusammenhang: jede Wissenschaft erschließt uns – bei erfolgreicher Forschung – nur das Sein, egal welchen Gegenstandes, das Sollen aber ist letztlich nur aus unseren Wünschen ableitbar, ob das dem Gepfaff und seinen säkularen Nachgeburten nun paßt oder nicht (diese Erkenntnis stammt in ihrer klassischen Form übrigens von Hume, nicht von Max Weber, dem sie gerne zugeschrieben wird, auch von ihm selbst, der sie allerdings in ihrer Anwendung parteilich verzerrt, Hume nicht).

    So weit dürfte Reichs Position mit derjenigen von Marx und Engels zusammenfallen und ihn entsprechend von jeder Art Gepfaff abgrenzen; aber so grundlegend diese Voraussetzung der Wissenschaft ist, so pauschal ist sie auch. Die Erkenntnistheorie bannt wohl viele Irrtümer, bewirkt aber noch keine Erkenntnis; die Festlegung der Rahmenbedingungen für Wissenschaft steht noch vor der Ausübung derselben.

    Hat also Reich die Ökoanalyse von Marx und Engels vollständig verstanden – oder nicht? Diese Frage ist davon zu trennen, wie weit seine Versuche, sie anzuwenden, im Einzelfall zu treffenden oder zu fehlerhaften Resultaten geführt haben; denn daß etwa seine Rekonstruktion, wie das Inzesttabu entstanden sein soll, am Ende seines Trobrianderbuchs gründlich mißglückt ist, wird wohl niemand bestreiten – diese entgleiste prähistorische Phantasie liest sich wie eine Engelsparodie und liegt in ihrem Wahrheitsgehalt weit unter Freuds analogem »wissenschaftlichen Mythos« vom Urvatermord, der als häufiges Phänomen in der menschlichen Frühgeschichte, natürlich jenseits von allem lamarckistischen Gallimatias, von der neueren Primatologie/Anthropologie viele Stützen erhält (die Sprache dürfte zwecks Festigung vorzugsweise männlicher Dyaden entstanden sein, die damit unvergleichlich effektiver in den Rangkämpfen mitmischen und sich außerdem erstmals zu Triaden etc. erweitern lassen; damit wird die Alphastellung in der Horde für deren Inhaber prekärer, bis einer derselben schließlich auch das Mittel beherrscht und so zu einer Art Leibwache kommt).

    Aber Reichs anthropologischer Unfug wirkt nicht wie ein Mißverständnis der ökoanalytischen Klassentheorie der gesellschaftlichen Einrichtungen und deren standardisierten Rationalisierungen (»Ideologien«); Reichs Fehler besteht vielmehr darin, daß er seine theoretisch benötigten Gesellschaftsklassen aus grauer Vorzeit allzu abenteuerlich und empirielos zusammenphantasiert, und wohl auch aus diesem Grund, d.h. weil er es selber merkte, ist er später nie wieder auf diese seine unglückliche prähistorische Theorie zurückgekommen.

    Dagegen hat er ansonsten, d.h. bezüglich der unmittelbar beobachtbaren Phänomene seiner Zeit, die Klassengrundlage der Ideologien, Gesetze und politischen Einstellungen sogar meisterhaft erkannt und auch im Detail und selbständig nachgewiesen, wie seine »Massenpsychologie des Faschismus« beweist; seine Analyse der drei Schwerpunkte der Klassengrundlagen des Faschismus (bäuerliche und kleinbürgerliche Familienbetriebe sowie das wachsende Heer der Staatsangestellten und ökonomisch-juristisch ähnlicher Formationen) hebt sich, besonders durch seine originelle und erhellende, ohne die Psychoanalyse in ihrer Bedeutung nicht angemessen durchführbare Analyse der jeweils spezifischen Familienstruktur, nicht nur sehr vorteilhaft von den thematisch zugehörigen Äußerungen anderer Freudschüler (und Freuds äußerst kargen und beiläufigen eigenen), sondern auch der erdrückenden Masse aller heutigen egal welcher Provenienz ab, was freilich aus politischen Gründen kein Wunder ist.

    Aber wenn Reich auch Marx’/Engels’ Klassentheorie der Ideologie, vielleicht sogar die umfassende Basis-Überbau-Theorie richtig erfaßt hat, was wiederum der KPD, die sich von ihr zugunsten Stalins entfernte, gar nicht paßte (da sie sie andernfalls auch auf die Sowjetunion hätte anwenden müssen, wie das vor allem Trotzki in seiner »Verratenen Revolution« so einleuchtend vorgeführt hat), so erlag er doch bei dem Herzstück der Ökoanalyse, nämlich der Werttheorie, seinem Hang zu vitalistischer Mystik. »Gesetzt, ein solcher ostasiatischer Brotschneider [d.h. ein Malaie, der seinen Nahrungsbedarf von wilden Sagopalmen decken kann]brauche 12 Arbeitsstunden zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse.

    Was ihm die Gunst der Natur unmittelbar gibt, ist viel Mußezeit. Damit er diese für sich selbst verwende, ist eine ganze Reihe geschichtlicher Umstände, damit er sie als Mehrarbeit für fremde Personen verausgabe, ist äußerer Zwang erheischt. Würde kapitalistische Produktion eingeführt, so müßte der Brave vielleicht 6 Tage in der Woche arbeiten, um sich selbst das Produkt eines Arbeitstags anzueignen. Die Gunst der Natur erklärt nicht, warum er jetzt 6 Tage in der Woche arbeitet oder warum er 5 Tage Mehrarbeit liefert. Sie erklärt nur, warum seine notwendige Arbeitszeit auf einen Tag in der Woche beschränkt ist. In keinem Fall aber entspränge sein Mehrprodukt aus einer der menschlichen Arbeit angebornen okkulten Qualität.«[2]

    Genau eine solche okkulte Qualität schreibt Reich ihr aber in seiner Selbstdarstellung »Menschen im Staat« zu, wo wir die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit Marx kennenlernen: »Der Tauschwert und der Gebrauchswert einer toten Ware sind identisch. (…) Dagegen verhält sich die einzige lebendige Ware, die ›Ware Arbeitskraft‹, anders, gerade weil sie lebende Kraft ist. Bei ihr sind Tauschwert und Gebrauchswert nicht identisch. Bei ihr ist der Gebrauchswert weit höher als der Tauschwert« (p. 47 der Nexus-Ausgabe).

    Das ist er nun so wenig wie die Arbeitskraft die einzige lebende Ware (welch letzteres schon jeder Viehtransport zeigt, auch jeder Hefewürfel im Supermarkt); da der Gebrauchswert niemals in der Art des Tauschwerts quantifizierbar ist (es läßt sich kein gemeinsames Maßfür den Gebrauchswert verschiedenartiger Güter konstruieren), kann er auch nicht höher als irgendein anderer Wert sein. Was Reich meint, ist, daß die durch die Nutzung (den Gebrauch) der Arbeitskraft durch ihren Käufer erzeugten Gegenstände mehr wert sind als die Arbeitskraft selbst, da der Wert beider in den zu ihrer Erzeugung nötigen Arbeitsstunden liegt.

    Genau dieser Wert erzeugt ihren Preis auf dem Markt, wenn Angebot und Nachfrage ausgeglichen sind; für den Preisausgleich bei der Ware Arbeitskraft sorgen die Streikbrecher aus der »industriellen Reservearmee«, heute vor allem die sogenannten Ausländer, d.h. die zuströmenden Bürger jener und nur jener Staaten, in denen entweder keine Arbeiterbewegung eine Wertsteigerung der Arbeitskraft (i.S. von MEW XVI 148; s.a. MEW XXIII 185) hatte bewirken können oder aber in denen militärischer Druck überlegener Feinde das allgemeine Lebensniveau niedrig gehalten hatte.

    Nun wollen wir nicht so beckmesserisch sein; Reich »meint« ja etwas Richtiges, auch wenn er mit Marx’ Terminologie nicht ganz zurechtkommt. (Unglücklich ist auch, daß er dessen Originalität an der falschen Stelle würdigt [siehe p. 45]; die Wertlehre, die Marx verwendet, geht bekanntlich – und auch bei Marx zu lesen – auf Ricardo und Adam Smith und nicht ihn selbst zurück. Erst als Marx sie mit allen Konsequenzen auch auf den »Arbeitsmarkt« anwendete, ließ die bürgerliche Ökonomie sie wie eine heiße Kartoffel fallen und regredierte auf den von Reich ihrer vormarx’schen Epoche zugeschriebenen Unverstand, den sie seither immer verzwickter mathematisiert, aber unwandelbar beibehält, und so muß sie sowohl Reich wie uns auch in Schule und Literatur begegnet sein.) Was aber sollen wir von Sätzen wie diesem halten? –: »Bei Marx ruht die gesamte sozialökonomische Konzeption auf dem lebendigen Wesen der menschlichen Arbeit. Arbeit ist eine grundsätzliche biologische Tätigkeit, die schon primitiven Lebewesen eigen ist.

    Der Mensch unterscheidet sich in seinen Arbeitsfunktionen von anderen niederen Tieren nicht durch die Tatsache, daß er arbeitet; das tun alle Lebewesen, sonst könnten sie nicht existieren« (p. 61; die »Erfindung von Werkzeugen« soll dagegen das spezifisch menschliche an der Arbeit sein). Müssen wir Reich hier noch einmal durch Marx’ Gleichnis von der »besten Biene und dem schlechtesten Architekten« korrigieren (MEW XXIII 193), mit dem Marx auf die Zielvorstellung als dem Wesen menschlicher Arbeit hinweist?!

    Gewiß haben Schimpansen manchmal auch schon eine, das zeigten Köhlers Experimente auf Teneriffa, und von Goodall wissen wir inzwischen, daß sie auch sehr rohe Werkzeuge herstellen, aber sie halten nicht lange durch, und gerade dieses Ertragen einer Mühe– nichts anderes, außer »Unannehmlichkeit« im weitesten Sinne, ist die ursprüngliche Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes – um eines Zieles willen heißt Arbeit (labor, work) im Neuhochdeutschen, und in diesem Sinne tritt sie nur beim Menschen auf, ist also, seit es nur noch eine Menschenspezies gibt, spezifisch menschlich.

    Reich dagegen will sie, genau wie die tatsächlich schon vor der Vielzelligkeit (»crossing over«), aber lange nach den ersten Lebewesen, entstandene Sexualität, noch auf der gleichen Seite seines Buches zu einer von zwei »objektiven Grundfunktionen des Lebendigen« machen; das hat weder mit Marx noch der Biologie etwas zu tun – Stoffwechsel, die wirkliche Grundfunktion des Lebendigen, ist keine Arbeit – wohl aber mit Mystik.[3] Offensichtlich ist Reich, dessen vitalistische Tendenz hier die nötige Nüchternheit stört, auf das von Marx und Engels so oft verwendete Stichwort von der »lebendigen Arbeit« vs.der »toten Arbeit« »angesprungen«.

    Dabei ist der metaphorische Charakter dieser Ausdrucksweise äußerst einfach zu erfassen: so wie das Leben keine Substanz, sondern ein Prozeß ist – nämlich die Aufrechterhaltung einer Homöostase mit chemischen Mitteln, weswegen es keineswegs Energie produziert oder enthält, sondern vielmehr dauernd verschlingt, um sein inhärentes Defizit auszugleichen –, ebenso ist die Arbeit ein Prozeß (Ablauf) und keine Substanz, weswegen man sie währendihres Ablaufs als »lebendig«, die Spuren ihres Ablaufs, nachdemdieser vorbei ist, als »tot« bezeichnen kann (die Spur ihres vergangenen Ablaufs ist das Produkt, in welchem sie sich mit den Worten von Marx »vergegenständlicht« hat, nicht anders als sich ein gewisser Teil der Lebensprozesse in einem Leichnam vergegenständlicht; der Rest derselben vergegenständlicht sich während seines Ablaufs in den körpereigenen Stoffen und Ausscheidungen, besonders anschaulich in Adenosintriphosphat und Kohlendioxyd).

    Sapienti sat;die Suche nach einem vitalistischen Mysterium endet immer in einem Holzweg, es gibt nun einmal keines, und seit Wöhlers Harnstoffsynthese weicht es vor den Erkenntnisfortschritten der Menschheit so kontinuierlich zurück wie der liebe Gott.

    Es erübrigt sich festzustellen, daß Reich nach dieser Unklarheit im Fundament kein angemessenes Verständnis der darauf aufbauenden, sehr komplexen ökonomischen Analyse von Marx entwickeln konnte, egal, welche Mängel diese haben mag oder nicht, und es finden sich folgerichtig auch keine Spuren davon in seinem Werk. Ebenso zeigte er auch keinen Ansatz zur politischen Analyse, soweit diese nicht psychologisch, sondern spieltheoretisch zu leisten war. Eine Art mathematischer Spieltheorie ohne jeden subjektiven Aspekt ist es aber, die auch das Verständnis ökonomischer wie biologischer Vorgänge entscheidend ermöglicht; sie war Reichs Sache nicht, Marx und Engels jedoch gewohnte Denkweise, so ernst sie das Subjekt stets nahmen, wo es hingehört.

    Schließlich ist noch Reichs Loyalität zu jener praktischen Politik zu würdigen, die er mit Recht als Resultat der Marx-Engels’schen Erkenntnisse ansah, wenn man diese in der Nachfolge ihrer Gründer mit humanistischer Zielsetzung verbindet, also der kommunistischen.

    Es ist Reichs Tragik, seine im Ausführungsfall mit Sicherheit nützlichen Hinweise zur Verbesserung der KPD-Aktivität ebenso wie seine dabei einsatzfähigen Broschüren (v.a. »Der sexuelle Kampf der Jugend«) gerade zu einem Zeitpunkt beigesteuert zu haben, wo die dazugehörige Organisation das Ziel des politischen Siegs nicht mehr verfolgte (falls sie das nach der Ermordung Levinés in München überhaupt noch einmal so ernsthaft fertigbrachte wie Lenin und Trotzki in Rußland), da sie subjektiv wie materiell von ihrer sowjetrussischen Mutterpartei abhing, deren fest im Sattel sitzende Führung ihre Territorialherrschaft nicht mehr durch ausländische »Abenteuer«, d.h. Siege riskieren wollte, welche die zu ihrem vorübergehenden Glück noch uneinigen herrschenden Klassen der kapitalistischen Länder zu einem koordinierten Militärüberfall hätten reizen können, welchen in einen innerimperialistischen Bürgerkrieg umzuwandeln Stalin weder Lust noch moralische Kraft hatte; wie für einen Schachspieler, der ausschließlich defensiv spielt, die Niederlage feststeht, so war damit für die Sowjetunion der Weg zu Gorbatschow vorgezeichnet.

    Für die zielbewußte Kühnheit eines Reich, die nur noch mit der unbedingten Solidaritätsbereitschaft eines Lenin zu allen Gegnern und Opfern des Zarismus einschließlich der religiösen Sekten und nationalen Separatisten zu vergleichen ist, ohne welche seine Partei nicht hätte siegen können, war da kein Platz – dies hätte einen Siegeswillen vorausgesetzt, wie ihn die Masse der KPD-Mitglieder gewiß substanziell mitbrachte, aber gegen eine Führung, welche entgegengesetzten Absichten dienstbar war, nicht entfalten konnte. (Dieses Verhältnis spiegelt sich beispielsweise im »Broschürenkampf« der Sexpol.)

    Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Reich, der in diesem Zusammenhang die kindlich-individualistische Ebene unheimlicher »Modjus« nicht ernsthaft überschreiten konnte, dieser militärisch-politische Hintergrund klar war; auf dem entgegengesetzten, wie er noch wenige Jahre vorher zumindest teilweise bestand, hätte er persönlich geschichtswirksam werden können. (Dieser unglückliche Hintergrund erklärt auch, warum die KPD – die KPÖ war zur Geschichtswirksamkeit immer zu klein geblieben, Österreich hatte von innen her keine Chance – niemals eine »Anti-Kornilow-Taktik« hatte entwickeln können, wodurch als Folge dieses Mangels die SPD Hitler den Weg zur Macht ebenso unaufhaltsam bahnte, wie dies andernfalls Kerenski mit Hitlers oder Pinochets russischem Möchtegern-Vorläufer getan hätte, wenn der Siegeswille der Bolschewiki diesen nicht jenen dem KPD-»Ungeschick« diametral entgegengesetzten Ausweg gewiesen hätte und damit einen Erfolg Kerenskis, damit aber Kornilows und somit den andernfalls ersten Faschismus der Geschichte vereitelte.)

    Ein kommunistischer Führer hätte Reich aufgrund der beschriebenen Mängel niemals werden können; aber eine bedingungslos zum Sieg strebende kommunistische Führung hätte, als makrohistorisch dessen Chance für kurze Zeit bestand, sie durch Nutzung seiner Beiträge und Erkenntnisse erheblich vergrößert.- Schade.

    _____________________________

    Dr. Fritz Erik Hoevels, Dipl.-Psych., geb. 1948 in Frankfurt/Main, studierte Psychologie, Altertumskunde und Literaturwissenschaft in Freiburg i.Br., wo er heute als Psychoanalytiker tätig ist. Er ist der Gründer des leninistischen „Bundes gegen Anpassung“, welcher bis heute Diskriminierung und Verfolgung trotzen konnte, die „Ketzerbriefe“ herausgibt und dessen Aktivität und Zielsetzung in dem von Hoevels herausgegebenen Dokumentenband „30 Jahre Ketzer“ belegt ist. Hauptwerke: „Marxismus, Psychoanalyse, Politik“; „Psychoanalyse und Literaturwissenschaft“; „Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse“. Daneben Herausgeber und Übersetzer Hyam Maccobys („Jesus und der Jüdische Freiheitskampf“; „Der Mythenschmied – Paulus und die Erfindung des Christentums“). Zahlreiche politische Beiträge in den „Ketzerbriefen“ und wissenschaftliche in den Zeitschriften „Praxis der Psychotherapie“ sowie „System ubw“; die religionswissenschaftlichen darunter wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und als Sammelband herausgegeben, darunter Chinesisch, Vietnamesisch, Russisch und Polnisch. Arbeitet gegenwärtig an einem Werk „Wie unrecht hatte Marx wirklich?“.

    Verweise:

    [1]»Aber in einem gebe ich ihm [sc.Schlamm]auch affektiv nicht recht: daß jeder Einzelne ein Teil des Ganzen zu sein verpflichtet sei, um dem objektiven Geistzu dienen. (…) Ich will nicht vor allem der ›Gemeinschaft‹ dienen und dann Ich selbst zu sein versuchen (…) Wenn ich mir selbst diene, dann (…) wird in allen jenen Taten, die ich zu meiner Selbstgestaltung begehe, jener von Schlamm postulierte Dienst von selbst enthalten sein« (Leidenschaft der Jugend, KiWi 348, p. 139).- Reich hat dann später – in Marx’ und Engels’ gemeinsamem „Zirkular gegen [sc. Herrmann] Kriege“ (MEW IV 3-17) seine Position gegen Leute wie Schlamm, d.h. Gepfaff bis Faschisten, noch einmal aufs deutlichste bestätigt gefunden und in seiner „Sex-Pol-Zeitschrift“ veröffentlicht. In der Tat wehren sich die beiden Gründer des „wissenschaftlichen“ (d.h. die Wissenschaft bewußt nutzenden) Sozialismus hier ebenso treffsicher wie entschlossen gegen die übelste Form der Verpfaffung jeglicher denkbarer politischer Lehre, die überhaupt möglich ist: „’Wir haben noch etwas mehr zu tun, als für unser lumpiges Selbstzu sorgen, wir gehören der Menschheit [sagt Kriege sozusagen als Vorläufer Schlamms oder Hitlers, der dafür das „Volk“ einsetzt]’. Mit diesem infamen und ekelhaften Servilismus gegen eine von dem ‚Selbst’ getrennte und unterschiedene ‚Menschheit’, die also eine metaphysische und bei ihm sogar religiöse Fiktion ist, mit dieser allerdings höchst ‚lumpigen’ Sklavendemütigung endet diese Religion wie jede andere.“ (MEW IV 15. Cf. auch ibid. P. 12: „Hier predigt Kriege im Namen des Kommunismusdie alte religiöse und deutschphilosophische Phantasie, die dem Kommunismus direkt widerspricht. DerGlaube, und zwar der Glaube an den „heiligen Geist der Gemeinschaft“ ist das Letzte, was für die Durchführung des Kommunismus verlangt wird.“

    [2]MEW XXIII 538. – Cf. auch kurz zuvor: »Mitten in der westeuropäischen Gesellschaft, wo der Arbeiter die Erlaubnis, für die eigene Existenz zu arbeiten, nur durch Mehrarbeit erkauft, wird sich leicht eingebildet, es sei eine der menschlichen Arbeit angeborne Qualität, ein Surplusprodukt zu liefern.«

    [3]Daß von dieser angeblich urbiologischen Arbeit ein Weg zu Reichs quietistischer »Arbeitsdemokratie« abzweigt, ist kaum zu übersehen. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß es ein für Ichstärke und -entwicklung wichtiges, aber von jeder dira necessitaswenigstens zunächst subjektiv getrenntes menschliches Arbeitsbedürfnis wirklich gibt; am einfachsten beobachten wir es bei Künstlern, Freizeitgärtnern oder burgenbauenden Kindern. Es ist am angemessensten wohl nichtmit der klassischen Sublimationstheorie zu erfassen; ich habe stattdessen diejenige der primärnarzißtischen Besetzung von Ichfunktionen (genauer: deren Wahrnehmung in actuwird besetzt) im Gegensatz zu derjenigen von Körperteilen oder -funktionen, vorgeschlagen (im 7. Kapitel meines Reich-Buchs). Natürlich hat auch dieser Vorgang, wie jeder subjektive, seine neuronale Basis, aber nun einmal nicht auf Zellniveau; nur dann läge eine »biologische Grundfunktion« vor, von welcher wir aber selbst bei präpongiden Affen, geschweige denn Vögeln oder Fischen, wenig oder nichts beobachten können. Eine subjektive Besetzung von Körperteilen dagegen, nicht nur eine Schmerzwahrnehmung, kann aber deren neuronaler Apparat wegen der Nützlichkeit des »Körperschemas« vielleicht schon leisten. (Es kann sein, daß das Spielenmit der Besetzung von Ichfunktionen phylogenetisch verwandt ist; wir pflegen es freilich wegen seiner mangelnden externen Zielausrichtung als Antithese zur Arbeit zu betrachten, die sich im Gegensatz zu ihm ohne unmittelbaren Zwang bzw. den Tieren unzugängliche innere Zielvorstellung nur bei unserer Art beobachten läßt.)

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    Bukumatula 3/2007

    Rede über Wilhelm Reich

    Zur Gedenktafelenthüllung für Wilhelm und Annie Reich in Berlin 2007
    Andreas Peglau:

    Als mich Regine Lockot fragte, ob ich heute über Wilhelm Reich sprechen könnte, habe ich etwas Zeit gebraucht, bis ich dazu „Ja“ sagen konnte. Denn ich finde es schwierig, Reich in so kurzer Zeit gerecht zu werden – ohne ihn und seine Leistungen zu verkleinern. Oder ihn zu idealisieren. Speziell Letzteres werde ich aber nicht vermeiden können.

    Denn ich denke, es findet schon dadurch ein Stück Idealisierung statt, wenn man die Persönlichkeit, den Charakter, das Privatleben desjenigen, über den man spricht, ausblendet. Trotzdem will ich mich weitestgehend auf den Therapeuten, Arzt und Forscher Wilhelm Reich beschränken, wenn ich mit Ihnen jetzt eine Art Schnelldurchgang durch sein Leben unternehme – mit einem etwas längeren Zwischenstopp hier in Berlin. Anschließend möchte ich etwas dazu sagen, warum mir persönlich diese Tafeleinweihung wichtig ist.

    Wilhelm Reich wurde 1897 als Kind jüdischer Eltern in der Bukowina, im damaligen Österreich-Ungarn, geboren. 1957 starb er in einem US-amerikanischen Gefängnis. Er hat also in diesem Jahr 2007 sowohl seinen 110. Geburtstag wie auch seinen 50. Todestag.1

    Reichs Jugend war überschattet vom tragischen Verlust seiner Eltern. Als er 13 Jahre alt war, ertappte er seine Mutter beim Ehebruch und berichtete dies dem Vater. Die Mutter nahm sich daraufhin das Leben. Der Vater konnte das nicht verwinden und zog sich – wohl ebenfalls in suizidaler Absicht – drei Jahre später eine Lungenentzündung zu, an der er verstarb. Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass diese Ereignisse Wilhelm Reich, der ab 1918 in Wien Medizin studierte, auf besondere Weise für Sigmund Freuds Ideen empfänglich machten.

    Reich schloss sich jedenfalls bald der Psychoanalyse an, behandelte, forschte, publizierte, knüpfte dabei insbesondere an Freuds Libido-Theorie an, bereicherte die Analyse u.a. um wesentliche Erkenntnisse zur Behandlungstechnik. Für all das wurde er von Sigmund Freud zunächst sehr geschätzt und gefördert.

    Erfahrungen mit staatlicher Unterdrückung machten Reich ab 1927 zum begeisterten Anhänger des Marxismus, den er mit der Psychoanalyse zu verbinden suchte. Wobei er fürs erste offenbar erfolgreich verdrängte, wie sehr ihn das in Widerspruch zum Hauptstrom der Psychoanalyse – und zur `Vaterfigur´ Freud – bringen musste.

    Da Reich – wie Freud 30 Jahre zuvor – darauf stieß, wie massenhaft verbreitet neurotisches Elend ist, erkannte er, dass die Neurosenbehandlung durch die Neurosenprophylaxeergänzt werden musste. U.a. gründete er zu diesem Zweck 1928 die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“. In mehreren Beratungsstellen wurden hier Erwachsene und – heiß diskutiertes Novum damals – Jugendliche zu Geburtenkontrolle, Sexual- und Beziehungsproblemen beraten. 1930 zog Reich von Wien nach Berlin; seine Familie folgte.

    Reich schloss sich dem Berliner Psychoanalytischen Institut an, wurde Lehranalytiker und Mitglied der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“. Insbesondere der Kreis „linker“ Analytiker um Otto Fenichel, zu dem sich auch Erich Fromm und Edith Jacobson gesellten, wurde für ihn wichtig.

    Zugleich schloss sich Reich der Kommunistischen Partei Deutschlands an. Seine sogenannte „kommunistische Zelle“ befand sich unweit von hier, in der „Künstler-Kolonie“ am Barnay-Platz. Sein „Politischer Leiter“ war dort der Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz, sein „Agit-Prop“-Leiter der Schriftsteller Arthur Koestler. Mit Unterstützung der Kommunistischen Partei initiierten Reich und andere den „Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“ und organisierten überall im Land entsprechende Informationsveranstaltungen und Beratungsmöglichkeiten.

    Reich selbst baute in der Charlottenburger Schloßstraße2u.a. mit Edith Jacobson und Annie Reich eine Sexualberatungsstelle auf, in der kostenlos Hilfe geleistet wurde.- Und er engagierte sich weiter in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen.

    Auch das, was er dabei erlebte, regte ihn an, seine analytischen Kenntnisse auf soziale Fragen anzuwenden.
    So schreibt Reich über die Mai-Kundgebung der KPD von 1931:

    „Am 1. Mai meldete ich mich zum Ordnerdienst. Die Ordner … hatten die Aufgabe, den Zug zu flankieren und vor angreifender Polizei zu schützen. Ich begleitete mit meinem Trupp einen Kinderzug. Die Kinder sangen frisch und fröhlich … Manche Lieder waren streng verboten. So der ,Rote Wedding´ von Erich Weinert. Als das Lied erklang, stürzten sich mit einem Male Dutzende Schupos von den Autos und schlugen blind in die Kindergruppe hinein. Es gelang uns noch im letzten Augenblick, unsere Hände so fest ineinanderzufügen, dass die Polizistenkette nicht voll durchbrach. Wir redeten auf die Schupos ein. Ich staunte über das Maschinelle dieser Polizistenüberfälle. Immer wieder hatte ich bei solchen Gelegenheiten den Eindruck, dass an die Stelle eines lebendigen Denkens und Fühlens eine automatisierte Reaktion tritt: Verbotenes Lied – Knüppel vom Gurt!“3

    Wie, fragte sich Reich, kam diese Reaktion zustande? Wie verlieren Menschen ihr Fühlen, Mitfühlen und eigenständiges Denken?

    Oder: Reich sah die braunen Kolonnen der SA durch Berlin marschieren und vermerkte: „Sie unterschieden sich in Haltung, Ausdruck und Gesang nicht von den kommunistischen Rotfrontkämpferabteilungen.“4

    Und nicht nur das: Die SA- und NSDAP-Mitglieder stammten sogar aus den selben – meist proletarischen – sozialen Verhältnissen wie ihre kommunistischen Kontrahenten. Wie war das möglich, obwohl die Arbeiterklasse doch – marxistisch betrachtet – nahezu zwangsläufig auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts stehen sollte?

    Und: Wie war es möglich, dass Hitler – entgegen allen angeblich objektiven Entwicklungsgesetzen, auf die sich die Kommunisten beriefen – zum Siegeszug ansetzte?

    Reichs Antworten, sehr verkürzt:

    Klassenzugehörigkeit wird überlagert oder negiert durch seelische Verhältnisse, wie sie seit vier- bis sechstausend Jahren typisch sind für das Patriarchat. Da die autoritäre Erziehung die gesunden Bedürfnisse der Menschen nach Liebe und Sexualität unterdrückt, lässt sie zugleich Hass entstehen – welcher sich aufstaut, weil auch er in der Kindheit nicht ausgedrückt werden darf.

    Und keiner anderen Partei gelang es so gut wie den Nazis, autoritäre Führung, Ersatzziele für die ungestillte Sehnsucht nach Liebe und Sexualität – und Ventilefür den aufgestauten Hass anzubieten. Somit entfachten Hitler und seine Anhänger eine Kraft, die vielfach stärker als jedes angebliche „Klassenbewusstsein“ war. Ausführlich lässt sich das in Reichs „Die Massenpsychologie des Faschismus“ nachlesen, geschrieben ab 1930 in Berlin, erschienen in der Urfassung 19335, zu großen Teilen sicher hier in dieser Wohnung verfasst. Denn, wie mir Lore Reich Rubin vor zwei Tagen in einem Gespräch sagte: „Es gab einen, für uns Kinder ,verbotenen Bereich´ in dieser Wohnung: den Arbeitsplatz unseres Vaters, wo er auch an seinen Büchern und Artikeln arbeitete.“6

    Durch seine Beschäftigung mit dem Thema begriff Reich auch, dass es sich beim deutschen Faschismus wohl keineswegs um eine vorübergehende Randerscheinung handeln dürfte, sondern um eine machtvolle Massenbewegung mit großem, wenn auch vorwiegend destruktivem Potential. Eine Bewegung, vor der Reich dementsprechend immer wieder öffentlich warnte. Und dies tat er, nach allem was ich weiß, konsequenter, lauter und offensiver als sämtliche anderen Psychoanalytiker.7

    Das jedoch vertiefte noch mehr Reichs Gegensätze zu Freud und zur „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“. Denn diese hofften, durch Vermeidung von Konflikten mit dem – vermeintlich kurzlebigen – Hitler-Regime, das Überleben der Psychoanalyse in Deutschland sichern zu können. Deshalb befürworteten sie – wenn auch zähneknirschend – den Anpassungskurs des sich zunehmend „arisierenden“ Vorstandes der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ an das Nazisystem.8

    Diesem Kurs stand Reich als jüdischer Kommunist doppelt im Weg. Daher wurde ihm zunächst im Februar 1933 verboten, die Räume des Berliner Psychoanalytischen Institutes zu betreten. Im Juli 1933 – drei Monate, nachdem seine Schriften zusammen mit denen Sigmund Freuds vor der Berliner Humboldt-Universität öffentlich verbrannt worden waren – wurde Reich dann aus der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ ausgeschlossen.9

    1934 folgte der Ausschluss aus der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“, zu dem, neben Reichs Engagement für den Marxismus und seinem offen antifaschistischen Auftreten, auch seine Ablehnung der Todestrieb-Theorie bzw. sein Festhalten an der überragenden Bedeutung der Sexualität beigetragen hatte.10

    Und – nicht zu vergessen: Reichs Charakter. In einer – wie mir scheint – Mischung aus Naivität und Selbstüberschätzung hatte er gemeint, seine Sichtweise auf die Psychoanalyse sei die einzig gültige. Und er werde die Mehrheit der Analytiker schon von deren Rich-tigkeit überzeugen können. Zwei Irrtümer, wie sich herausstellte.

    Zur selben Zeit, 1934, wurde Reich auch aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen – auch hier, weil er angeblich der Sexualität zu große Bedeutung beimaß, und damit, wie es hieß, „vom Klassenkampf ablenke“. Außerdem, so eine kommunistische Ärztin: „Im Proletariat gibt es keine Orgasmusstörungen.“11

    Wie tief die Verletzung durch diese zeitgleichen Ausschlüsse ging, lässt sich erahnen, wenn man weiß, dass Reich mehrfach die Psychoanalyse als „die Mutter“, die marxistische Sozialwissenschaft als „den Vater“ seiner eigenen Anschauungen bezeichnet hat.12 Aber diese Trennungen waren zugleich eine Befreiung: Nun konnte er seine Ideen kompromissloser vertreten und weiterentwickeln als je zuvor.

    Zunächst konzentrierte sich Reich auf die Körperpsychotherapie.

    Und ich meine wirklich DIE Köperpsychotherapie, denn – salopp gesagt: Er hat sie erfunden. Wovon heute selbst manche Körpertherapeuten nichts mehr wissen oder wissen wollen.

    Und ein ganz wesentlicher Teil dieser „Erfindung“ dürfte tatsächlich genau hier, in diesem Haus in der Schlangenbader Straße 87 stattgefunden haben. Denn erst 1929 begann Reich, sich diesen Zusammenhängen bewusst zuzuwenden.13 Und erst hier in Berlin konnte er sie systematisch anwenden und vertiefen. Und das natürlich vor allem: in seiner therapeutischen Praxis, welche wiederum – ab 1931 – sich hier befand, in den Wohnräumen der Familie Reich.

    Wie auch Eva Reich bestätigt, die berichtet: „Ich musste meine ganze Kindheit über verschwinden, wenn die Patienten wechselten. Die sollten nicht wissen, dass da eine ganze Familie lebt“.14– Und Lore Reich Rubin ergänzt: „Meine Eltern hatten getrennte Schlafzimmer. Morgens verschwanden die Betten und aus den Schlafzimmern wurden Behandlungsräume.“ Und sie erinnert sich, dass diese Zimmer bzw. die dazugehörige Wohnung im 2. oder 3. Stock dieses Hauses gelegen haben.15

    Wir stehen also wohl – etwas überhöht formuliert – vor dem „Geburtshaus der Körperpsychotherapie“.- Wie ging diese „Geburt“ vor sich?

    Frau Lockot verdanke ich den Hinweis auf eine Passage in Reichs, ebenfalls 1933 erschienenen Buch „Charakteranalyse“, die diesen Vorgang illustriert: Wilhelm Reich berichtet darin über die Behandlung eines sexuell schwer gestörten jungen Mannes, der von Größen-Ideen geprägt war und seinen Vater stark idealisierte.

    Reich schreibt: „Es war zunächst nicht leicht, den Patienten dazu zu bewegen, das trotzige Agieren der Kindheit zu reaktivieren … Ein vornehmer Mensch … kann doch derartiges nicht tun … (Ich) versuchte es zuerst mit der Deutung, stieß aber auf völliges Ignorieren meiner Bemühungen. Nun begann ich, den Patienten nachzuahmen …“ Dadurch verunsichert, offenbar auch verärgert, reagierte der Patient „einmal mit einem unwillkürlichen Aufstrampeln. Ich ergriff die Gelegenheit und forderte ihn auf, sich völlig gehen zu lassen.

    Er begriff zuerst nicht, wie man ihn zu derartigem auffordern könne, aber schließlich begann er mit immer mehr Mut, sich auf dem Sofa hin und her zu werfen, um dann zu affektivem Trotzschreien und Hervorbrüllen unartikulierter, tierähnlicher Laute überzugehen. Ganz besonders stark wurde ein derartiger Anfall, als ich ihm einmal sagte, seine Verteidigung seines Vaters sei nur eine Maskierung seines maßlosen Hasses gegen ihn. Ich zögerte auch nicht, diesem Hass ein Stück rationaler Berechtigung zuzubilligen. Seine Aktionen begannen nunmehr einen unheimlichen Charakter anzunehmen. Er brüllte derart, dass die Leute im Hause ängstlich zu werden begannen. Das konnte uns nicht stören, denn wir wussten, dass er nur auf diese Weise seine kindliche Neurose voll, affektiv, nicht nur erinnerungsmäßig, wiedererleben konnte.“16

    Reich berichtet dann davon, wie im Laufe der folgenden Stunden herausgearbeitet werden konnte, dass der Patient den Therapeuten mit diesem Verhalten provozieren wollte, so böse und streng zu werden – wie es einstmals der Vater des Patienten gewesen war. Reich verwendete also viel Zeit darauf, dieses Strampeln und Schreien in lebensgeschichtliche Zusammenhänge und in die therapeutische Beziehung einzuordnen. Mit anderen Worten: Er hat sehr wohl „analytisch“ mit diesem Material gearbeitet. Und somit, aus meiner Sicht, hier die Psychoanalyse nicht verlassen – sondern bereichert: um das systematische therapeutische Einbeziehen von Körper und Emotion.

    Sigmund Freud schrieb 1917: „Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nicht durch den Stoff, den sie behandelt … charakterisiert. Man kann sie auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden, wie auf die Neurosenlehre, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes, als die Aufdeckung des Unbewussten im Seelenleben“.17

    Die Aufdeckung des Unbewussten im Seelenleben – das hat Reich meiner Meinung nach sowohl in seiner Körperpsychotherapie, als auch in den Büchern „Charakteranalyse“ und „Massenpsychologie des Faschismus“ in hervorragender Weise getan. In den darauf folgendenJahren gerieten allerdings das Einbeziehen von Lebensgeschichte, Beziehung – und Psyche – bei Reich zunehmend in den Hintergrund zugunsten der direkten Arbeit mit Körper und Energie. Was in meinen Augen heißt, dass hier ein weiteres Fortschreiten zugleich mit einem großen Verlust erkauft wurde. Aus der Körperpsychotherapie wurde die Körpertherapie.

    Zurück zur Biografie, damit zugleich: weg von Berlin.

    Im Frühjahr 1933 musste Reich, auf den Fahndungslisten der Nazis stehend, nach Skandinavien emigrieren. Hier behandelte und forschte er weiter, versuchte, auf experimentellem Weg Aufschluss zu bekommen über bio-elektrische Vorgänge im menschlichen Organismus und über die Entstehung des Lebens. Dabei kam er einer kosmischen Energie auf die Spur, die er später „Orgon“ nannte und die in vieler Hinsicht dem ähnelte, was andere Kulturen als „Chi“ oder „Prana“ bezeichnen.

    Aber auch diesem Thema näherte sich Reich wieder in originärer Weise: als Naturforscher. Er dokumentierte diese Energie, konzentrierte sie in sogenannten Orgon-Akkumulatoren, nutzte sie zur Behandlung von leichten und schweren Krankheiten bis hin zu Krebs, untersuchte ihre Wechselwirkung mit atomarer Strahlung und ihre Wirkung im Wetter- und Klimageschehen. Zu letzterem Zweck baute er Apparaturen – sogenannte Cloudbuster, „Wolkenbrecher“ – mit denen er, wieder gut dokumentiert, in verschiedenen Wüstengebieten Regen erzeugte.18 Das war aber schon 1952. Und diese Wüsten befanden sich in den USA – wohin Reich 1939, nach vergeblichen Versuchen, in Skandinavien dauerhaft Fuß zu fassen, emigriert war.

    In den USA, in Maine, kaufte er sich eine Farm, baute ein Laboratorium und ein Observatorium zur Erforschung lebensenergetischer Prozesse und wandte sich parallel dazu der Behandlung von Autismus und Schizophrenie zu. Inspiriert von seinem Freund Alexander Neill – dem Initiator und Leiter des „Summerhill“-Projektes – erweiterte Reich nun auch sein Konzept für Neurosenprophylaxe auf Geburtsvorbereitung, natürliche Geburt und nichtautoritäre Erziehung.

    In den USA geschah es aber auch, dass Reich – ab 1947 – denunziert wurde als jemand, der in seinen Orgon-Akkumulatoren angeblich Geisteskranke zum Orgasmus zwinge und mit Sex und Scharlatanerie Geld mache. Nach einer Art Hexenjagd wurde Reich 1956 gerichtlich verurteilt die Akkumulatoren zu zerstören und alle Publikationen zu vernichten, in denen das Wort „Orgon“ vorkam.

    Da er der Meinung war – und dies so auch öffentlich kundtat – kein Gericht der Welt habe über wissenschaftliche Erkenntnisse zu entscheiden, kam er dem nicht nach. Wegen dieser Zuwiderhandlung wurde er zu zwei Jahren Haft verurteilt. Bevor Reich seine Haft antrat, musste er mit ansehen, wie zum zweiten Mal in seinem Leben seine sämtlichen Bücher und Publikationen – einschließlich früher Werke wie „Die Massenpsychologie des Faschismus“ und die „Charakteranalyse“ – auf staatliche Anordnung hin verbrannt wurden.19 Reichs Hoffnung, US-Präsident Eisenhower würde im letzten Moment für eine Begnadigung sorgen, da die Wahrheit seiner Erkenntnisse doch klar erwiesen sei, erfüllte sich nicht. Im März 1957 wurde Reich in die Bundesstrafanstalt in Lewisburg, Pennsylvania, verbracht.

    Am Morgen des 3. November 1957 verstarb er dort, 60jährig, an Herzversagen.

    Soweit zu Wilhelm Reichs Lebensgeschichte. Aus den biografischen Fakten geht schon ein Grund hervor, warum ich diese Tafel wichtig finde: Reich hat in Psychoanalyse, Körperpsychotherapie, Medizin, Soziologie, Biologie, Physik und Ökologie Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt, von denen viele meiner Meinung nach für die Lösung aktueller Probleme Bedeutung haben. Zum Beispiel

    1. Der Klimawandel:Sollte uns diese sich zuspitzende Bedrohung nicht veranlassen, Reichs Berichte zu wetter- und klimaregulierenden Lebensenergieflüssen auf unserem Planeten vorurteilslos auf den Prüfstand zu stellen – statt sie unbesehen als Unfug abzustempeln?
    2. Der Rechts-Radikalismus:Sollte uns die Tatsache, dass bislang aus Politik und Wissenschaft keine wirklich konstruktiven Lösungsvorschläge dazu kommen, nicht veranlassen, neue – oder eben auch: verdrängte alteThesen – dazu zu berücksichtigen?Vor vier Wochen hat das „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ eine Studie unter dem Titel: „Not am Mann“20 veröffentlicht. Darin wird festgestellt, dass aus den östlichen Bundesländern 1,5 Millionen Menschen abgewandert sind – vor allem jüngere, gut qualifizierte Frauen. Dementsprechend herrscht in manchen ostdeutschen Regionen ein Überschuss an – vor allem jüngeren, schlecht qualifizierten – Männern von bis zu 25 Prozent. Und siehe da: Je größer dieser Männerüberschuss, desto stärker die Tendenz zu Rechtsradikalismus. Als Ursache dafür werden in der Studie – wie üblich – vor allem Arbeitslosigkeit, Bildungsnotstand, Politikverdrossenheit, Mangel an „Werten“ diskutiert. Über mögliche Zusammenhänge zwischen Rechtsradikalismus und mangelnden Gelegenheiten zu Liebe und Sexualität steht dort fast nichts.- Genau das aber hat Reich ausführlich erläutert und beschrieben.21

    Aber ich habe noch einen weiteren Grund, warum ich dieser Tafel-einweihung Bedeutung beimesse: In der letzten Zeile des Tafeltextes, ganz unten und relativ klein, steht:

    „Gesponsert von der Wilhelm-Reich-Gesellschaft und von Psychoanalytikern der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung.“ Und unter den Gästen dieser heutigen Veranstaltung sind nun auch Vertreter allerdort angeführten Gruppen. Ich möchte das nicht als bloßen Zufall abtun.

    Vor 30 Jahren schrieb Wolf E. Büntig in der Enzyklopädie „Psychologie des 20. Jahrhunderts“22:

    „Wilhelm Reich ist ohne Zweifel die umstrittenste Figur in der Geschichte der Psychoanalyse. Dabei ist Reich mitzuverdanken, dass die therapeutische Technik der Psychoanalyse zu einer systematischen lehr- und lernbaren Methode wurde. Reich war zunächst einer der kreativsten, wissenschaftlich geschultesten und konsequentesten Schüler Freuds und später einer der hervorragendsten Neuerer der Psychologie des 20. Jahrhunderts. Er griff Freuds revolutionäre Ideen zu einem Zeitpunkt auf, als Freud selbst in manchem resigniert hatte und revolutionäre Ideen für die psychoanalytische Bewegung höchst inopportun wurden. Er gehörte zum engsten Kreis um Freud und war einer der wichtigsten Funktionäre der Psychoanalytischen Vereinigung in Wien.“

    Und – Einschub von mir: Als einer der ganz wenigen Analytiker, die sich offensiv gegen das NS-Regime stellten, war Reich auch in dieser Zeit jemand, auf den die Psychoanalyse – wenigstens im Nachhinein – allen Grund hätte, stolz zu sein.

    Aber, setzt Wolf Büntig fort: „1934 wurde seine Zugehörigkeit für die Psychoanalyse so unbequem, dass man sich seiner … entledigte …“ Und Büntig schließt: „Trotz allem, was wir von der Psychoanalyse über die Macht der Verdrängung gelernt haben, scheint der Vorgang der Verdrängung Reichs aus der Psychoanalyse schier unglaublich.“

    Ich denke, an der hier geschilderten Misere hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert. Und nun hängt hier diese Tafel.

    Es mag naiv sein, dürfte von manchem von Ihnen auch rundweg abgelehnt werden, aber ich wünsche mir, diese Tafel wäre ein Zeichen dafür, dass sich die Ansätze von Freud und Reich in Zukunft wieder mehr durchdringen, dass sich Psychoanalyse und Körpertherapie gegenseitig wieder mehr befruchten. Nicht nur, damit Psycho-undKörpertherapeuten ihrer – meiner Meinung nach objektiv gegebenen -gesellschaftlichen, politischen Verantwortung wieder mehr gerecht werden. Sondern auch im Interesse der Patienten BEIDER Therapieformen.

    Der Psychoanalytiker und Körpertherapeut Tilmann Moser schreibt dazu:

    „Körpertherapie kann oft zaubern, was die Mobilisierung von Affekten und das Tempo wie die Wucht angeht, mit denen sie tief verborgenes Material an die Oberfläche zu holen vermag … Ich konnte … daran teilnehmen und hatte das zwiespältige Gefühl vom raschen Einstieg in den Fahrstuhl in die Tiefe, bei oft nicht ausreichender Verarbeitung nach dem `Wiederauftauchen´ … Damit möchte ich diese Therapieformen nicht im geringsten entwerten, sondern nur darauf hinweisen, dass es eventuelle Leerstellen im therapeutischen Umgang mit Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung gibt, so wie es in der Psychoanalyse große Leerstellen im Umgang mit dem Körper gibt … Von daher rührt das negative Urteil der Tiefenpsychologen, wenn die verschreckten, antherapierten oder auch `aufgerissenen´ Patienten dort landen, wie auch umgekehrt die Körpertherapeuten sich genießerisch oder entsetzt die Haare raufen, wenn sie Patienten, verzweifelt oder erstarrt trotz oder wegen langjähriger Analyse, zu sehen bekommen. Die förderlichen Austauschprozesse könnten in beide Richtungen verlaufen.“23

    Patienten, so Tilman Moser, sollten nicht wählen müssen “zwischen beziehungsscheuer Körpertherapie und körperscheuer Beziehungsanalyse“.24

    Dem kann ich mich nur anschließen.
    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

    _____________________________________________

    Literatur:

    1) Zu den biografischen Fakten vgl. M. Sharaf, „Wilhelm Reich. Der heilige Zorn des Lebendigen“, Simon und Leutner 1994, D. Boadella, „Wilhelm Reich“, Fischer TB 1988
    2) M. Rackelmann, „Was war die Sexpol?“, emotion 11, 1994, S. 75
    3) W. Reich, „Menschen im Staat“, Stroemfeld 1995, S. 157
    4) ebenda, S. 171 f
    5) in Reichs eigenem Sexpol-Verlag erschienen, vgl. auch die 3., korrigierte Auflage bei KIWI 1987
    6) Lore Reich Rubin bei einem Treffen mit Mitgliedern der Wilhelm-Reich-Gesellschaft am 19.6.2007. Zitiert mit freundlicher Genehmigung von Frau Reich Rubin
    7) vgl. u.a. A.Peglau: „Wilhelm Reich zwischen 1930 und 1945“, emotion 17, Ulrich Leutner 2007,Lockot, „Erinnern und Durcharbeiten“, psychosozial 2002
    8) vgl. K. Brecht u.a., „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter“, Michael Kellner 1985, auf den S. 99/ 101/ 103/ 105/ 117 ist hier eindeutig dokumentiert, wie mit Reich umgegangen wurde
    9) vgl. K. Fallend/ B. Nitzschke: „Der Fall Wilhelm Reich“, suhrkamp TB 1997
    10) vgl. K. Fallend/ B. Nitzschke: „Der Fall Wilhelm Reich“, suhrkamp TB 1997
    11) W. Reich, „Menschen im Staat“, Stroemfeld 1995, S. 193
    12) u.a. in: W. Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, KIWI 1986, S. 22
    13) „Ich begann 1929 zu begreifen, dass der Ausgangskonflikt der seelischen Erkrankung (der ungelöste Widerspruch von Luststreben und moralischer Versagung), sich in Form der muskulären Störung physiologisch strukturell verankert.“ (W. Reich: „Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus“, KIWI 1987, S. 194)
    14) in Ruth Priese: „Zur Überwindung des ,heiligen Zorns´ in Eva Reichs Leben“, 1999, emotionelle-erste-hilfe.de
    15) siehe Anmerkung zu 6)
    16) 1933 erschienen im Sex-Pol-Verlag, zitiert aus Raubdruck, um 1970, S.249 f, bzw. KiWi 1989, S. 299 ff
    17) Sigmund Freud: „Vorlesungen“, GW Bd. 11, S.403 f, Fischer TB 1999
    18) vgl. W. Reich: „OROP Wüste“, Zweitausendeins 1995, siehe dazu auch A. Bechmann: „Über Wilhelm Reichs OROP Wüste“, Zweitausendeins 1995
    19) ausführlich in Jerome Greenfield: „USA gegen Reich“, Zweitausendeins 1995
    20) Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: „Not am Mann. Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht“, Berlin 2007
    21) z.B. in „Die Massenpsychologie des Faschismus“, KiWi 1986, S. 40 ff
    22) in Dieter Eicke: „Tiefenpsychologie“, Band 3: Die Nachfolger Freuds, Beltz Verlag Weinheim und Basel 1982, S. 254 – zunächst erschienen im Rahmen von Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“
    23) T. Moser: „Berührung auf der Couch“, Suhrkamp TB 2001, S. 202
    24) ebenda, S. 199

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    Bukumatula 3/2007

    Der Körper in der Therapie

    „The Body In Therapy“ von Richard A. Blasband
    Übersetzung aus dem Englischen von
    Tina Lindemann:

    Der Körper hat in den letzten Jahren im Verständnis des Individuums als Einheit und in der therapeutischen Arbeit theoretisch und praktisch an Wichtigkeit gewonnen. Mit Therapie meine ich hier Interventionen in die kognitive und emotionale Struktur des Individuums mit dem Ziel Erleichterung, Besserung oder Heilung emotionaler und/oder kognitiver (die Wahrnehmung/Erkenntnis betreffende) Funktionsstörungen zu erreichen. In den meisten Fällen geschieht dies in Form von Psychotherapie mit oder ohne ausdrückliche Aufmerksamkeit auf den Körper.

    In der Psychoanalyse wurde eine Beachtung des Körpers erstmalig ausdrücklich von Ferenczi1)beschrieben und dann von Groddeck2)praktiziert, aber ein Verständnis der großen Tiefe der Beziehung zwischen Körper und Geist gab es bis zur Arbeit Wilhelm Reichs und seiner Formulierung der charakterlichen und muskulären „Panzerung“3)nicht. In der Folge lieferten Studenten Reichs, wie Alexander Lowen4),5) und Charles Kelley6), und andere von Reich ganz und gar unabhängige, wie F. M. Alexander7), ihre eigenen Beiträge auf diesem Gebiet. Heute fallen all diese Disziplinen – während sie organisatorisch und mit ihren Ausbildungswegen unabhängig voneinander bleiben – doch mehr oder weniger unter den gemeinsamen Oberbegriff der somatischen oder körperorientierten Psychotherapie.[1]

    Meine Ausbildung machte ich bei Elsworth F. Baker, der von Reich beauftragt war Psychiater in dem auszubilden, was Reich „Psychiatrische Orgon Therapie“ nannte. In der letzten Entwicklungsphase seiner Forschung entdeckte Reich die „Orgonenergie“, eine Lebensenergie die allen Lebewesen, der Atmosphäre und dem Kosmos innewohnt. Dementsprechend nannte er seine therapeutische Disziplin „Psychiatrische Orgon Therapie“, deren Ende – wenn der Patient in der Lage war seinen tiefsten Gefühlen nachzugeben – durch den freien Fluss der Orgonenergie durch seinen Körper gekennzeichnet war. Während ich einiges über die anderen Therapieformen, die den Körper mit einbeziehen weiß8),9), kann ich mit Autorität nur über die Psychiatrische Orgon Therapie und ein wenig über ihre Bedeutsamkeit für die anderen Disziplinen sprechen.

    Reichs Entdeckung der muskulären Panzerung entsprang direkt der Untersuchung der Charakterstrukturen seiner Patienten. Die Charakteranalyse war Reichs grundlegender Beitrag zur psychoanalytischen Technik. Im Wesentlichen fand Reich heraus, dass er, indem er mit seiner Aufmerksamkeit ausdauernd und konsequent bei der negativen Übertragung des Patienten und mehr bei der Formals beim Inhaltdes verbalen Ausdrucks blieb, in der Lage war, besser mit den Abwehrmechanismen des Patienten umzugehen und so tiefer und sicherer in die Struktur der Neurose vordringen konnte. Jeder Patient hatte eine charakteristische Artin der er sich ausdrückte.

    Durch das Fokussieren darauf – sei es ein wiederholter oder chronischer Gesichtsausdruck, die Art zu sprechen, die Haltung, der Gang, etc. – und indem er dies dem Patienten wieder und wieder beschrieb, ihn kopierte und gelegentlich das Verhalten bezüglich seiner aktuellen und vergangenen Funktionen analysierte, fand Reich, dass die Patienten, oft nach anfänglichem Ärger über Reichs „Angriff“, schließlich die weicheren, nachgiebigen Gefühle zuließen, gegen die ihre Abwehrstrukturen sie schützten. Durch das systematische Arbeiten am Charakter des Patienten gab Schicht um Schicht von Impuls und Abwehr nach, bis Reich empirisch herausfand, dass im „Kern“ jedes Individuums ein auf natürliche Art aggressives, verantwortliches, unabhängiges, frei liebendes und sexuelles Lebewesen war.

    Mit der Manifestation des Kerns des Patienten und der entsprechenden Kapazität zur vollen Entladung von übermäßigen energetischen Erregungen in der sexuellen Umarmung (orgastische Potenz)[2]löste sich die neurotische Struktur auf.

    Als Reich entdeckte, dass der Charakterpanzer in bestimmten Mustern chronischer muskulärer Anspannung verankert war, durchlief die charakteranalytische Behandlung eine bedeutsame Veränderung. Er entdeckte die muskuläre Panzerung, als er mit einem Patienten arbeitete, der eine starke, hartnäckige Abwehrstruktur hatte. Indem er die Aufmerksamkeit des Patienten andauernd auf dessen „hart-näckige Sturheit“ lenkte, ließ dieser schließlich die Verteidigung fallen und seinen Nacken entspannen.

    In der Folge wurde er abwechselnd von sympathischen und parasympathischen Erregungen und Gefühlen überflutet. Für Reich war offensichtlich, dass sich zusätzlich zu den Vorstellungen, dem Verhalten und dem gehaltenen Auftreten die Sturheit des Patienten auch buchstäblich in der Rigidität der Muskeln seines Nackens manifestierte.[3]Reich fuhr fort, solche physischen und psychischen Muster bei anderen Patienten zu beobachten und kam zu dem Schluss, dass sich die muskuläre Panzerung in bestimmten Mustern manifestierte, die mit emotional ausdrucksstarken Segmenten des Körpers korrespondierten.

    Diese Segmente umfassen das Augensegment, das orale Segment, das Hals/Rachen-Segment, die Brust (mit den Armen und dem Rücken), das Zwerchfell, den Bauch und das Becken (mit den Beinen). Nachdem der muskuläre Panzer eine funktionell identische Facette des Charakterpanzers ist, dient er den gleichen Zielen wie dieser: Sowohl den Kontakt mit der äußeren Welt aufrecht zu erhalten und gleichzeitig als Abwehr blockierter Impulse zu dienen.

    Zwei Segmente, das orale und das Beckensegment, beinhalten erogene Zonen. Im natürlichen Verlauf der Kindheitsentwicklung wird die Sehnsucht nach Kontakt in diesen Zonen, und zusätzlich den Augen, erfüllt, und die Lebensenergie (Orgonenergie) kann weiter frei in diesen Segmenten und im Körper als Ganzes pulsieren. Die Person ist „lebendig“. Die ungepanzerten Augen sind strahlend, beweglich und zu gutem Kontakt mit anderen und der Welt fähig und können Flirten, Liebe, Angst oder Ärger frei ausdrücken.

    Die Lippen des Mundes sind voll, rosig und warm, der Mund erscheint weich und ist fähig Liebe, Angst oder Ärger auszudrücken; die Stimme ist angenehm und tönend. Das Becken ist beweglich, warm und in der Lage, sexuelle Empfindungen vollständig anzunehmen und auszudrücken. In der genitalen Umarmung pulsiert der Organismus im Ganzen und gibt im Orgasmus dem vollen Schwung der durch den Körper wogenden Energie nach. Das Becken schwingt rhythmisch nach vorn, während der restliche Körper der Energiebewegung nachgibt. Reich nannte dies den „Orgasmus-Reflex“. Sein Vorhandensein ist ein Zeichen für die Fähigkeit zur vollständigen Hingabe.[4]

    Die Panzerung eines Segments umfasst auch alle Organe, die in diesem Segment enthalten sind, von der Vorder- bis zur Rückseite des Körpers. Sie dient dazu, den freien Fluss der Lebensenergie in der Längsrichtung des Körpers zu blockieren. Im oralen Segment zum Beispiel beinhaltet die Panzerung die Kiefermuskulatur, die Gewebe des Mundes, und sie dehnt sich bis zu den Muskeln an der Rück- und Unterseite des Kopfes aus. Die Zunge ist nicht beteiligt, da sie im Halssegment entspringt. Auch zu diesem Segment gehören alle neuronalen Verbindungen und Drüsen, die im und um den Mund herum liegen.

    Die Funktion der Panzerung im oralen Segment ist es, Gefühle zurückzuhalten, die durch den Mund ausgedrückt werden. Dazu gehören Weinen, Ärger und Angst, also alle Emotionen die über den Mund ausgedrückt werden können. Die Panzerung des Mundsegments beginnt meistens im frühen Kindesalter mit der Unterbindung des Dranges, an der Brust der Mutter zu saugen. Nach Elsworth Baker14)gibt es zwei Arten dieser Panzerung.

    Diese sind gehemmt, wenn keine oder fast keine Befriedigung des Saugimpulses an der Brust stattfand, undunbefriedigt, wenn nur eine teilweise Befriedigung möglich war – meist durch eine vorzeitige Beendigung des Stillens. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Befriedigung ein Ergebnis des bioenergetischen (emotionalen) Kontaktes des suchenden Mundes des Säuglings mit der Brustwarze der Mutter ist. Natürlich muss dazu auch ein mechanischer Kontakt hergestellt werden, aber der Körperkontakt allein führt nicht zur Befriedigung. Der Mund des Kindes muss energetisch lebendig und suchend sein, und die Brustwarze muss ebenso energetisch lebendig und in der Lage sein, Kontakt herzustellen und ihn aufrecht zu erhalten.

    Auch muss die Mutter das Kind lieben und liebevoll halten, so dass das Kind diese Liebe und Sicherheit spüren kann. Befriedigung beim Stillen legt das Fundament für ein Leben mit dem Gefühl der Sicherheit im Kind an. Ernste emotionale Traumata einmal ausgenommen, wird das Kind mit der Fähigkeit zur freien Energiebewegung in das Mundsegment und zur vollen energetischen Pulsation aller Zellen und Gewebe dort erwachsen werden. Er/Sie wird in allen oralen Belangen Genuss empfinden, wird leicht orale Befriedigung erfahren und in der Lage sein, sich durch den Mund vollständig auszudrücken.

    Empfindet die Mutter beim Stillen Schmerzen, oder sind die Brüste emotional „tot“, oder erfährt die Mutter beim Stillen genitale Sensationen verbunden mit Angst oder Scham, so wird der Kontakt an der Brust vermindert oder unterdrückt. Ohne Befriedigung kommt es zu Unsicherheit. Wenn es zur kompletten Hemmung kommt, wird das Kind Schwierigkeiten beim Essen und häufig Verdauungsprobleme haben, manchmal ein Leben lang. Solche Kinder wachsen zu Erwachsenen mit dünnen Lippen, gehemmtem Sprechen und mit einer Neigung zum Sarkasmus heran; sie sind häufig deprimiert und haben ein niedriges Energieniveau.

    In den Fällen mit teilweiser Befriedigung wird das Kind volle bis übervolle Lippen haben und ständig nach der Vervollständigung der Befriedigung suchen. Diese Menschen werden zu viel essen, zu Übergewicht neigen und zu viel sprechen; und sie neigen zu vielerlei Exzessen, wie Rauchen, Alkoholismus und anderen Drogenabhängigkeiten. Orale Charaktereigenschaften die auf der Panzerung dieses Segmentes beruhen, färben oft den fundamentalen Charaktertyp. So kann ein phallisch-narziss-tischer Charakter mit einer oralen Blockade trotz eines niedrigen Energielevels einen starken inneren Antrieb und Durchsetzungsvermögen haben und viel schaffen.

    Ungefähr zur gleichen Zeit in der Reich die muskuläre Panzerung entdeckte, reiften seine früheren, auf der Psychoanalyse basierenden Konzepte einer energetischen Basis der Neurosen durch eigene Experimente zum Ursprung des Lebens („Bione“)15), experimentelle Studien zur bioelektrischen Basis der Emotionen10)und letztlich zur Entdeckung der Orgonenergie im Lebendigen, der Atmosphäre und im Kosmos15).

    Mit der Entdeckung der Orgonenergie formulierte Reich sein Verständnis der Neurosen und deren Behandlung um. Was er aufgrund seines Fokus´ auf die Rolle des vegetativen, autonomen Nervensystems und in der Behandlung von Neurosen zuvor „Vegetotherapie“ genannt hatte, wurde zur „Psychiatrischen Orgon Therapie“, als die Aufweichung der Panzerung und der freie Fluss der Lebensenergie durch den Körper zum Ziel der Therapie wurden.[5]

    Indem er die biophysikalische Grundlage für Freuds Libido-Konzept gefunden hatte, verstand Reich Gesundheit als die Kapazität, überschüssige, aufgestaute Energie durch den Orgasmus zu entladen. Blieben diese überschüssigen Energien unentladen – so nahm er an – konzentrierten sie sich in zuvor etablierten vegetativen (autonomes Nervensystem) Blockaden („Fixierungen“) und reaktivierten die Neurose. „Genitalität“, die erwachsene Stufe der psychosexuellen Entwicklung, die die „Orgastische Potenz“ zulässt, wird ursprünglich in der Kindheit angelegt, mit dem uneingeschränkten (ungepanzerten) Fluss der Energie durch den Körper mittels der Befriedigung der natürlichen erogenen Zonen. Sie wird im Erwachsenenalter durch die regelmäßige orgastische Entladung in der liebenden genitalen Umarmung mit einem heterosexuellen Partner aufrechterhalten.[6]

    Der neurotische Charakter entsteht, wenn in der Kindheit zwar Energie ins Becken strömt, sich aber aufgrund von Hemmungen durch die äußere Welt (Eltern, Institutionen) keine Genitalität etabliert. So kommt es zur Bildung der Grundlage für hysterische Charaktere bei Frauen, die letztlich in der Jugend fixiert wird, wenn der Vater die Zurschaustellung der Sexualität der heranwachsenden Frau ablehnt; und zu phallisch-narzisstischen Charakteren bei Männern und Frauen, wenn das Zeigen der Geschlechtsorgane in der Kindheit aufgrund von Kastrationsängsten verboten wird.

    Die Lebensenergie wird in der Beckenpanzerung eingefroren. Das Resultat ist ein chronischer Drang, sich mit phallischer Aggressivität gegen die Angst vor Kastration zu verteidigen. Dem allen liegt die Angst vor spontaner Bewegung und Empfindung zugrunde, die Reich „Orgasmusangst“ nannte. Es ist das Ziel der Therapie, den Panzer zu entfernen oder ausreichend aufzuweichen, so dass die Energie wieder frei durch den Organismus fließen kann. In diesem Prozess der Bewältigung fluten blockierte Gefühle an die Oberfläche. Mit der Unterstützung des Therapeuten lernt der Patient diese Energiebewegung zu tolerieren, die anfangs meist als „Angst“ oder „Terror“ wahrgenommen wird. Schließlich werden Kastrations- und Orgasmusangst spürbar werden, die schwer zu ertragen sind; und auch hier wird der Patient ermutigt diesen Gefühlen nachzugeben und seine genitalen Ängsten anzunehmen.

    Der therapeutische Prozess beinhaltet gleichzeitig die Arbeit am charakterlichen wie auch am muskulären Panzer. Der Patient muss mit der Art und Weise, in der er sich verhält, und mit der muskulären Spannung, die diese Eigenschaften aufrechterhält, in Kontakt gebracht werden. Der Therapeut tut dies, indem er ihm zeigt, wieer geht, spricht, aussieht, etc., während er gleichzeitig manuell arbeitet, also tiefe Massagen in Bereichen der Panzerung durchführt. Meist sind dies Stellen, an denen Sehnen an Knochen ansetzen. Dies ist schmerzhaft, und wie man sieht, muss der Patient sehr motiviert sein sich zu verändern und ein ausreichend starkes Ego haben.

    Man beginnt die Arbeit an der muskulären Panzerung mit dem Hauptaugenmerk auf die Segmente oberhalb des Zwerchfells, es sei denn, der Patient ist in einem Zustand sehr niedrigen Energieniveaus. Dies ist die einzige Situation, in der die Arbeit am Becken so früh in der Therapie sinnvoll und auch sicher ist.[7] Meistens jedoch widmet man sich anfangs den Augen (einer Verlängerung des Gehirns) und der Atmung. Ersteres ist notwendig, damit der Patient den Kontakt mit sich und der Welt aufrechterhalten kann.

    Fast jeder hat eine Blockade in den Augen, und es ist wichtig, dass sie hinreichend ungepanzert sind, damit die Therapie voran schreiten kann, ohne in chaotische Bahnen zu geraten. Die Atmung ist wichtig, um ein Energieniveau aufzubauen und zu erhalten, das die Emotionen an die Oberfläche des Organismus drängt. Sehr wenige Patienten, überhaupt sehr wenige Menschen, atmen bis nahe an ihre volle energetische Kapazität. Einer der besten Wege, schmerzhafte Gefühle zu unterdrücken ist es, den Atem anzuhalten. Säuglinge und Kinder halten in beängstigenden Situationen spontan die Luft an. Dies passiert ihnen in einer lebensfeindlichen Umgebung jeden Tag hunderte Male. Im Erwachsenenalter ist dann die Brust in einem Zustand chronischer Einatmung erstarrt.

    So arbeitet man vom Kopf hinunter zum Becken, das man bis zuletzt in Ruhe lässt. Parallel dazu schreitet die charakterologische Arbeit fort, um Schicht für Schicht die charakterlichen Haltungen abzutragen, die die Gefühle verstecken. Die kombinierte Arbeit führt zu spontanem emotionalen Loslassen und einer Vertiefung der Therapie.[8]Die Beziehung zum Therapeuten und auch zu wichtigen Personen im Leben des Patienten vertieft sich. Manchmal sind radikale Veränderungen des Arbeits- oder Liebeslebens notwendig, um sich weiter zu bewegen. In diesem Fall diskutiert der Therapeut diese Angelegenheiten mit dem Patienten und unterstützt seine Entwicklung in Richtung Gesundheit.

    Referenzen:

    1) Braatoy, T. 1954. Fundamental of Psychoanalytic Technique. N.Y.: John Wiley & Sons, Inc.
    2) Groddeck, G. 1961. The Book of the It. N.Y.: Vintage Books.
    3) Reich, W. 1949. Character Analysis. N.Y.: Orgone Institute Press.
    4) Lowen, A. 1971. The Physical Dynamics of Character Structure. N.Y.: Collier.
    5) ——. 1957. Bioenergetics. N.Y.: Coward, McCann & Geoghegan, Inc.
    6) Kelley, C., Ed. 1978–80. Radix Journal.
    7) Maisel, E. 1995. The Alexander Technique. N.Y.: Corel Publishing.
    8) Blasband, R. A. 1975. Book Review: Alexander Lowen’s Physical Dynamics of Character Structure & The Language of the Body. Journal of Orgonomy 9(2):252–63.
    9) ——. 1980. Book Review: Three “NeoReichian” Journals. Journal of Orgonomy 14(2).
    10) Reich, W. 1942. The Function of the Orgasm. N.Y.: Orgone Institute Press.
    11) ——. 1935. Psychischer Kontakt und Vegetative Strömung. Beitrag zur Affektlehre und charakteranalytischen Technik.Sex-Pol-Verlag.
    12) ——. 1937. Orgasmusreflex, Muskelhaltung und Körperausdruck. Zur Technik der charakteranalytischen Vegetotherapie.Sex-Pol-Verlag.
    13) ——. 1949. Character Analysis. N.Y.: Orgone Institute Press.
    14) Baker, E. F. 1967. Man in the Trap. N.Y.: Farrar, Straus, & Giroux.
    15) Reich, W. 1948. The Cancer Biopathy. N.Y.: Orgone Institute Press.
    16) ——. 1948. The Cancer Biopathy. N.Y.: Orgone Institute Press.

    Literaturverzeichnis:

    [1]Alexander-Practitioner bezeichnen sich selbst nicht als Therapeuten per se, sondern als Lehrer. Der Prozess befähigt den Klienten zu intensiviertem Kontakt mit sich selbst und dazu, durch seine Aufmerksamkeit Energie auf gesunde Weise durch seinen Körper zu bewegen. Alexander-Arbeit ist hocheffektiv für die Schulung der Selbstwahrnehmung und betont die massiven Veränderungen des Organismus, die für die Gesundheit wichtig sind. Nach vielen Jahren persönlicher Erfahrung ist mein Eindruck von dieser Arbeit, dass sie auf lange Sicht nicht ganz so tief geht wie die Orgontherapie, jedoch in wundervoller Weise synergetisch mit der Orgontherapie zusammen wirkt, und in den Händen des richtigen Practitioners ausgezeichnete Unterstützung liefert.

    [2]Reich verwandte besondere Mühe darauf, die orgastische Potenz, die völlige Hingabe an einen geliebten Partner beim Sex, vom normalen Sexualverhalten abzugrenzen. Letzteres ist meist bar von Liebe und ist entweder durch kräftiges Stoßen oder Passivität auf Seiten des Mannes bzw. ähnliche Verhaltensweisen der Frau charakterisiert, abhängig von der jeweiligen Charakterstruktur. In der Neurose kann man sich seinem Partner nicht hingeben, und die Entladung ist, bestenfalls, unbefriedigend.10)

    [3]Reich dokumentierte seine Entdeckung der muskulären Panzerung 193511)und 193712)auf Deutsch und 194210)und 194913) auf Englisch.

    [4]Es ist interessant, dass der Beckenreflex (Orgasmus) in medizinischen und biologischen Texten unerwähnt bleibt. Der Grund ist der, dass er selten gefühlt oder gesehen wird. Bei der großen Mehrheit der Menschen verhindert die Panzerung das Auftreten des Reflexes, oder wenn er auftritt ist er verzerrt oder nicht voll ausgedrückt. Reich beschrieb eine „Viertakt-Formel“ für den Orgasmus – mit mechanischer Schwellung mit Spannung der Gewebe, die zu bioenergetischer Ladung, bioenergetischer Entladung und schließlich mechanischer Entspannung führt. Diese Sequenz ist immer an irgendeiner Stelle unterbrochen, wenn das Individuum gepanzert ist.10)

    Das fast allgegenwärtige Vorhandensein muskulärer Panzerung bedingt, dass die meiste Forschung betreffend psychosomatischer Probleme an menschlichen Probanden nur als „Norm“ verwertbar ist. Die Ergebnisse werden jedoch fälschlicherweise als „Gesundheit“ verstanden. Letzteres ist sicherlich nicht richtig. Die durchschnittliche Person in der westlichen Gesellschaft ist – vom Standpunkt der Kapazität für die freie Pulsation der Bioenergie durch ihren/seinen Körper her gesehen – nicht gesund. In einem solchen Zustand ist der sympathische oder der parasympathische Ast des autonomen Nervensystems im chronischen Zustand der Übererregung. Traurigerweise hat die westliche Medizin keine Ahnung was „Lebendigkeit“ und „Gesundheit“ wirklich ist.

    [5]Diese Bezeichnung unterscheidet die Behandlung emotionaler Beschwerden von der physischer Funktionsstörungen mit Hilfe der physikalischen Orgontherapie mittels des Orgonakkumulators (ORAC). Der ORAC ist eine Vorrichtung, die Reich zufällig entdeckte, als er versuchte, die Strahlung, die von bestimmten Bion-Kulturen abgegeben wurde, sichtbar zu machen. Der ORAC akkumuliert Orgonenergie aus der Atmosphäre, die so dazu benutzt werden kann, bestimmte Beschwerden zu heilen.16)

    [6]Bei Vorträgen werde ich häufig gefragt, ob Homosexuelle Orgastische Potenz haben können oder nicht. Die Antwort ist „Nein“, aus einem einfachen Grund: Die Orgastische Potenz erfordert, im Unterschied zum genitalen Höhepunkt, einen hohen Grad gesamtorganismischer Erregung vor der Entladung. Dieser kann nur durch die beiderseitige Erregung erreicht werden, die auftritt, wenn die Schleimhäute zweier Personen unterschiedlichen Geschlechts durch Reibung miteinander in Kontakt stehen. Die stärkste Erregung findet in der Vagina und am Penis statt. Oraler und analer Verkehr mögen außerordentliche Gefühlssensationen hervorrufen, jedoch nicht die unwillkürlichen, pulsatorischen Bewegungen und das Erbeben des gesamten Organismus, die die vollständige energetische Entladung erlauben. Dies bedeutet nicht, dass diese Formen der Sexualität nicht von einigem Wert bezüglich der energetischen Entladung sind. Das sind sie, doch mit der Zeit wird sich die nicht vollständig entladene Energie zu einem Grad aufbauen, der nicht befriedigend entladen werden kann und so Reizbarkeit und schlussendlich Neurosen zur Folge haben wird.

    [7]Vorzeitige Arbeit am Becken kann große Mengen an Energie freisetzen, mit denen umzugehen der Organismus Schwierigkeiten haben kann. Häufig kommt es dann vor, dass der Patient ein anderes Segment erneut „panzert“, zum Beispiel die Augen oder den Mund, um die freigewordene Energie zu binden. Dies kann zu einem so genannten „Haken“ (hook) führen, wobei es extrem schwierig wird, das wieder gepanzerte Segment zu lösen, solange das Becken offen bleibt. Der Patient fühlt sich in diesen Situationen hilflos und hoffnungslos. Gelegentlich kann ein solcher „Haken“ auch spontan auftreten, aber meist ist er die Folge mangelhafter therapeutischer Technik.

    [8]Indem man systematisch und konsequent von den oberflächlichen zur tieferen Charakterstruktur, vom Kopf zum Becken hin arbeitet, findet eine natürliche Konzentration und Fokussierung von prägenitaler zu genitaler Libido statt. Frühzeitiges Arbeiten an genital libidinösen Problemen oder das zu frühe Lösen der Beckenpanzerung kann zu einer „chaotischen“ Situation führen, aus der es keinen Ausweg gibt, oder dazu, dass sich der Patient verstärkt davor schützt, seine genitalen Probleme zu lösen. Arbeitet man nur am Körper außerhalb des Kontextes der Charakteranalyse, arbeitet man „blind“. Findet eine emotionale Öffnung statt, so ist sie gewöhnlich durch das erneute „Verpanzern“ des Patienten zeitlich begrenzt. Das Verstehen des Charakters des Patienten sagt dem Therapeuten „wohin er zu gehen hat“, um die Therapie zu vertiefen.

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  • Buk 4/07 Wilhelm Reich Gedenkjahr 2007

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    Bukumatula 4/2007

    Wilhelm Reich Gedenkjahr 2007

    Rückblick auf ein Jahr der Widersprüche
    von
    Regina Hochmair:

    Der erste Widerspruch eröffnete sich mir am 18. Februar, als wir eine Klau-sur in Bad Pirawarth unter dem Motto: “Wilhelm Reich Institut – ein erhal-tenswerter Kulturgutträger“ abhielten. Ich war überrascht zum dritten Mal seit meiner langjährigen Mitgliedschaft im WRI das Gefühl zu bekommen, auf einem sinkenden Schiff zu sein. Die Ursachen blieben und bleiben mir immer noch verborgen. Die Teilnehmenden schienen noch im Winterschlaf zu sein; sie wirkten kraftlos, mitunter gelangweilt und ideenarm. Die Tatsache, dass ein Ort geschaffen wurde, an dem die therapeutische Arbeit Wilhelm Reichs ein- und fortgeführt werden kann, konnte die Gemüter nicht erwecken. Da habe ich mich gefragt, was ist los im WRI? So manche spra-chen von Rücktritt, Auflösung, von einer kreativen Ruhephase – und das ausgerechnet im Jahr 2007.

    Zum Glück kam die Kraft. Sie kam aus der kulturellen Welt, dem Motto vom Februar selbstregulativ folgend. Tania Golden, Ingrid Sturm und Hubsi Kramar überzeugten mit ihrem „Reich-Andenken“. Wir ließen uns beflügeln und zupften uns gleichzeitig die Federn aus, was den zweiten Widerspruch aufzeigte.

    Wir haben für Werbezwecke Geld in die Hand genommen, damit viele Menschen auf unsere Veranstaltung am 3. November aufmerksam gemacht werden. Leider ist diesem Aufwand nicht der entsprechende Lohn gefolgt. Das lag vielleicht an der Aufforderung „pay as you wish“. Es blieb beim Investment von Idealisten, die unterm Strich ein dickes Minus einfuhren.

    Darauf können wir in Ausnahmesituationen wie diesem Gedenkjahr bauen, aber wir können uns diese Mentalität in Zukunft nicht mehr leisten, wenn das WRI weiterhin aktiv sein möchte. Da müssen wir auch wirtschaftlicher denken und handeln.

    Am Ende dieses Reich-Jahres muss ich als Abschlussdiagnose dem Verein doch noch ein Burnout mit einer Sinn- und Wertekrise diagnostizieren. Viel-leicht ist das auch der Grund, warum sich etliche Mitglieder zurückgezogen haben.
    Der Widerspruch Nummer Drei: Wir haben ein viel gelobtes Programm an-lässlich der Wiederkehr des 50. Todesjahrs Wilhelm Reichs zustande gebracht und hätten einen guten Anlass mehr aus dem zu machen, was vor

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  • Buk 4/07 Ein REICHes Erbe

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    Bukumatula 4/2007

    Ein REICHes Erbe

    Wilhelm Reich im Original – Zitate aus fünf Jahrzehnten
    von
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Einführung:

    Reichs Hinterlassenschaft, das, was er in die Welt gegeben hat, macht seinem Namen alle Ehre – es ist reich. In alle Dimensionen: in die Tiefe gehend, das biologische Fundament, die Essenz des Lebens berührend und in der Breite seiner Forschungsbereiche und in deren Verbindung von Gesellschaft und Persönlichkeitsstruktur, von Psyche und Soma, von Sexualität und Politik, von Arbeit und Wissen. Sein Werk reicht aber auch bis in himmlische Höhen, und das nicht nur, was das Regenmachen betrifft, sondern auch im Berühren der kosmischen Dimension des Lebens.

    So vielfältig und reichhaltig Reichs Schaffen auch war, so wenig gewinnt es nach wie vor weiterführende Beachtung. So war es mir als große Reich-Liebende ein Anliegen, dieses Erbe in unserer individuellen Wirklichkeit zu vergegenwärtigen und zu erkunden, wie es in uns weiterlebt. Dazu habe ich eingeladen, am Morgen seines 50. Todestages, am 3.11.2007. Intimität, Innigkeit und Vertiefung hab ich mir gewünscht, und tatsächlich sind nur wenige gekommen in die Praxis O.K., in die Onno Kloppgasse, und in diesem kleinen Kreis fand sie dann auch statt, die von mir gewünschte Innigkeit.

    Erneut bin ich in der Zeit der Vorbereitung eingetaucht in seine Schriften und auch in meine Texte, allesamt Liebeserklärungen an ihn, meinen Wilhelm Reich. In diesem neuerlichen Eintauchen wurde ich zunehmend hellhörig auf Essentielles, auf das, was ich als Kernaussagen empfinde.

    So möchte ich Reich im Original zu Wort kommen lassen, in einer sehr persönlichen Auswahl von solchen Essentials, es sind Zitate über Gott und die Welt und Zitate, welche den Menschen Reich spüren lassen. Ich habe sie nicht nach Themenbereichen geordnet sondern nach Zeiträumen beginnend mit dem sehr persönlich getönten Buch „Jenseits der Psychologie“ aus den Jahren 1934-1939 über das Eissler-Interview aus dem Jahre 1952 und schließlich auch aus Jürgen Fischers nachtodlich über ein Medium geführtes Gespräch mit „Willie Reich on Earth again“, das für mich ein wahrer Schatz ist, stellt es doch eine konsequente Fortführung des Reichschen Werkes dar.

    Impulsreferat:

    50 Jahre war der Nachlass von Wilhelm Reich verschlossen, jetzt, heute wird das Archiv geöffnet. Reich meinte, die Welt sei bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht reif für sein Spätwerk. Dies aufgrund der „strukturell charakterologischen Unfähigkeit zur Freiheit“. Die Vielzahl an teilweise herabwürdigenden Artikeln und Kommentaren zu diesem Ereignis, lassen daran zweifeln, dass dies jetzt bereits der Fall ist.

    Seine Schriften haben mich selbst wieder sehr angerührt und aufgewühlt, wie immer, wenn ich in Reich eintauche.
    Reich ist unbequem, es will nicht gelingen, dass ich ihn auf dem Sofa liegend lese, das eine oder andere interessant finde, Reich pocht bei mir an innerste Türen, Türen der Sehnsucht, der Rebellion, des Aufbegehrens bisweilen der Wut.

    Nein, liegen bleiben kann ich da nicht, will vielmehr im umfassenden Sinne aufstehen im Gewahrsein meiner Angst, lebensverändernde Schritte tun. So war es auch diesmal in der Vorbereitung auf diesen Tag. Immer spüre ich auch, wenn ich mich berühren lasse von dem von Reich Geschriebenen meine Liebe zu ihm, so wie ich glaube, das zu verstehen, was er erkunden und aufzeigen wollte.

    So will ich im Folgenden auf das eingehen, was ich als essentiell an seinem Werk finde und dann, wo es Möglichkeiten einer Fortführung für uns gibt. Essentiell sind für mich 3 Qualitäten oder vielmehr Dimensionen:Näher besehen handelt es sich dabei um nach wie vor fest verankerte Tabus in unserer Gesellschaft.

    Wahrhaftigkeit:

    Alle seine Erkenntnisse sind aus Reichs persönlicher Entwicklung hervorgegangen, aus seiner ihm eigenen Genauigkeit und Radikalität in der Selbsterkundung. Das findet man vor allem in seinen biographischen Aufzeichnungen „Jenseits der Psychologie“ und „Leidenschaft der Jugend“, wo er sich schonungslos offenbart und in aller Menschlichkeit zeigt. Und diese Aufhebung zwischen Persönlichem und Allgemeinem, zwischen Subjektivität und vermeintlicher Objektivität, fußt wie alles auf einer wissenschaftlichen Grundlage, wo er das naturwissenschaftliche Modell auf eine neue Ebene stellte, der funktionellen Denkmethode.

    „Die Rede von der objektiven Wissenschaft wird völlig lächerlich, wenn man naturwissenschaftlich denkt. Denn die wissenschaftliche Forschung wird nicht von objektiven Wissenschaftlern, sondern von lebenden Organismen betrieben. Objektiv wird die Wissenschaft dann, wenn dieser Organismus keine Angst vor der Erkenntnis hat. Sonst wird der Streit um wissenschaftliche Fragen ein Kampf von Organismen gegen oder für Lust beziehungsweise Unlust. Dies ist bei Fragen die Sex berühren, regelmäßig der Fall.“ (Jenseits der Psychologie, S. 332)

    Diese Angst vor Erkenntnis lebt in uns allen, und auch wenn wir könnten, weil durch eine Vielzahl von Körpertherapiesitzungen unsere Körper auf die Wahrheit erfühlend aufmerksam gemacht wurden, so bedarf es dennoch unserer Bereitschaft hinzusehen, anzuerkennen, was ist, jetzt, hier, doch wie Reich sagt: „Die Angst der Leute, die zu mir kommen, vor Verlust der üblichen Lebensart ist kolossal.“ (Jenseits der Psychologie, S. 350)

    Diese Wahrhaftigkeit, dieser Mut, sich selbst zu erkennen und sich zu erkennen zu geben, soll auch einen Ausdruck den anderen Menschen gegenüber finden. Sharings der eigenen jetzt für mich gültigen Wahrheit sind – dann wenn richtig angewandt – ein sehr hilfreiches Modell.

    Freiheit:

    Reich hat die Voraussetzungen für eine Freiheit der Wahrnehmung geschaffen – in seiner charakteranalytischen Vegetotherapie mit dem Ziel der orgastischen Potenz, der freien Pulsation der Orgonenergie im Körper. Es ist damit eine Voraussetzung gegeben, dass man sich ganz „zur Verfügung hat“, für unseren Ausdruck und unsere Erlebensfähigkeit; er hat jedoch auch aufgezeigt, dass diese Freiheit große Angst macht („… denn es gibt keine größere Sehnsucht und keine größere Angst als die vor der Freiheit“).

    „Das Nein zum Lebendigen ist in ihren Strukturen, nicht in ihrer Sehnsucht, nicht in ihren positiven, bewussten Wünschen – sie sind alle anständige und gute Menschen. Es ist in ihrer Struktur, es ist irgendwie in ihrem Gewebe, in ihrem Blut. Sie können nichts ertragen, was mit Orgon-Energie zu tun hat oder mit Lebensenergie oder damit, was sie Gott nennen oder mit ihren tiefsten Sehnsüchten nach Liebe und Erfüllung. Sie können es nicht ertragen und sie fürchten es aufgrund ihrer Strukturen…“ (zit. aus „Alone“)

    Es handelt sich nicht um eine kleine Freiheit, sondern um eine Freiheit der Hingabe an das Leben und damit auch an das Sterben alles Festgewordenen, Identitätsstiftendem.

    Liebe:

    Im Grunde, an der Basis durch alle Schichten seines Werks geht es Reich immer um die Liebe, es ist dies nicht eine sentimentale Liebe, wiewohl sich Reich in seinen Liebesbriefen an Elsa Lindenberg sehr wohl des öfteren mal hinreißen lässt zu schwelgen und dies in einer bisweilen rührend kindlichen Sprache (wenn er z.B. von ihren „Brüstchen“ spricht, nach welchen er sich sehnt) tut.

    Es ist ein Verständnis von Liebe als „ungestörtem orgonotischen Kontakt“, ein tiefes in Verbindung treten mit dem anderen – dem anderen wer oder was es auch immer sein mag, zu gestatten, mich zur berühren, mich anrühren zu lassen, das was Martin Buber, und davor schon Jacob Moreno als die Fähigkeit zur Begegnung beschreiben, zu riskieren, dass diese wahrhafte Begegnung uns beide verändert.

    Orgonomie ist Liebe, sagt Reich und er meint damit die Fähigkeit, Eindrücke auf sich wirken zu lassen, im sprichwörtlichen Sinne in mir wirken zu lassen.

    Wenn wir uns das wirklich in der ganzen Tragweite vergegenwärtigen, so ist ein so geführtes Leben gänzlich anders als es ist, wenn wir getrennt bleiben. Das würde sich in der Therapie in einer radikal fühlenden Teilhabe ausdrücken, dort, wo ich mich nicht so sehr mit den Inhalten des Klienten beschäftige, sondern aus meiner Präsenz heraus wirke, alle Hüllen der therapeutischen Identität gleichsam opfernd der Verbindung von mir zum andern.

    Eine fühlende Teilhabe – oder wie Reich es nennt meine Organempfindung – würde es unmöglich machen, Tieren oder Pflanzen, der Mutter Erde derart Gewalt anzutun, wie es nach wie vor tagtäglich geschieht. In der in meinem Organismus gefühlten Vergegenwärtigung – und ich muss es so deutlich aussprechen – den lieben Augen einer Kuh, dem watschelnden Gang einer Ente oder des Gesichtsausdrucks eines Schweins und darüber hinaus im Wissen um die derzeit gängigen Tötungspraxis, ist es (mir) unmöglich, Fleisch zu essen. Thich Nhat Hanh spricht von „barmherzigem Essen“. Trennung verursacht Leid. Reich hat die bioenergetische Basis dieses Getrenntseins in der Panzerung beschrieben und das verbundene strömende Sein im Begriff der Genitalen Potenz.

    In einem medial geführten Interview (Skan-Reader) spricht Reich von der Eigenliebe als allerheiligste Pflicht des Menschen.

    Ich dachte zunächst daran, in der Vorbereitung auf diesen Morgen fein säuberlich auf die Weiterentwicklungsmöglichkeiten des Reichschen Werkes für uns Erben einzugehen. Auf die Bereiche der Therapie, der Sexualität und Liebe, der Krebsprophylaxe und der Neurosenverhütung. Und da gäbe es ja viel zu sagen und auch viel zu fragen, wie wir denn nun arbeiten, ob wir den energetischen Fluss überhaupt noch nützen, wie es mit unserer Sexualität bestellt ist, ob dies noch ein Wert ist, letztlich ob wir „sitzen“…

    Dennoch wollte ich dies an dieser Stelle nicht ausführen, denk ich doch, dass es am Einzelnen liegt oder vielmehr an der Gemeinschaft von Gleich-Gestimmten, wie wir dieses Erbe – nein nicht verwalten – sondern vielmehr fortführen.

    Als ich die von Reich verfassten Schriften nochmals durchging, fiel mir einiges auf, z.B. das Verständnis des Menschen als „Menschen-Tier“, wo die grundsätzliche, existentielle Freiheit des Menschen unberücksichtigt bleibt, auch die Beziehung gegenüber dem vegetativen Kontakt und vieles mehr. Und als ich mich aufmachte, diese Verlängerungen, Ausdehnungen zu erkunden, kam mir der oben erwähnte gechannelte Text entgegen, wo Reich eingesteht, dass er die menschliche Freiheit unterschätzt habe und auch die menschliche Fähigkeit, mit vorhandenen Blockierungen zu leben.

    „Mein Weg der Orgonomie ist ein Menschheits-Entwicklungsweg, der es den Menschen ermöglicht, sich in Freiheit zu entwickeln und in Freiheit die eigenen Entscheidungen zu fällen. Die Orgnonomie kann es der Menschheit ermöglichen, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu lieben und zu achten und dann neu zu überlegen, was der Mensch möchte, um dann in Freiheit – ich betone: in wahrer Freiheit zu tun, was jeder Mensch für richtig erachtet. Es ist ein gefährlicher, doch ein wahrhaftiger Weg.“ (SKAN Reader, S. 41)

    So will ich zum Schluss den oben genannten drei Dimensionen – Wahrhaftigkeit, Liebe und Freiheit – drei weitere hinzufügen, als Herausforderung für uns im Leben mit dem Reichschen Erbe:
    Es ist dies zunächst die Verantwortung, die Bereitschaft zu antworten und die Fähigkeit, die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, wie immer es jetzt ist. Dann ist es die Bereitschaft und die Entscheidung zu einem anderen Leben, zu einem Leben, das der Wahrhaftigkeit und Liebe Rechnung trägt und schließlich ist es eine Art commitment, eine innere Verpflichtung zu einer bestimmten Lebensweise, man könnte es nach Al Baumann auch eine „Disziplin der Lust“ nennen oder wie der Zenlehrer Claude AnShin Thomas meint: „In eine andere Form des Lebens kann man sich nicht hineindenken, dies kann man nur tun.“

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  • Buk 4/07 Biofeedback-Therapie

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    Bukumatula 4/2007

    Biofeedback-Therapie

    Buchbesprechung
    Dario Lindes:

    von Winfried Rief und Niels Birbaumer
    Schattauer Verlag: 2. Auflage (April 2006)
    Geb. Ausgabe: 330 Seiten; Preis: 49,95 €
    ISBN-13:978-3794523955

    Die Methode:

    Mit dem englischen Begriff Biofeedback(dt. „Lebensrückmeldung“) wird eine Methode aus der psychosomatischen Forschung und der Verhaltenstherapie bezeichnet, bei der Veränderungen biologischer Zustandsgrößen von Körpervorgängen, die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung nicht zugänglich sind, mit technischen (elektronischen) Hilfsmitteln beobachtbar, d.h. dem eigenen Bewusstsein wahrnehmbar gemacht werden. Biofeedback wird häufig zur Entspannung, aber auch zur Rehabilitation (z.B. erlahmter Muskeln) eingesetzt.

    Körpereigene Vorgänge, die der Homöostase dienen, sind dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich, so dass bei Dysregulationenauch nicht bewusst auf den Regelkreis eingewirkt werden kann. Biofeedback dient dazu, mittels physiologischer Messungen eine Körperfunktion (wie zum Beispiel Puls, Hautleitwert oder Hirnströme) dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Dies geschieht im allgemeinen durch Töne (Lautstärke, Tonhöhe oder Klangfarbe) oder Visualisierungen (Zeiger oder Balkengraphiken). Der Patient versucht durch diese Rückkopplung eine Verbesserung der Regulation durch operante Kontrolle zu erzielen.

    Eine mögliche Umsetzung in der Praxis sieht folgendermaßen aus: Der Patient sitzt vor einem Computer. An seinem Finger ist eine Messsonde angebracht, die den Hautleitwert und damit indirekt den Grad des Sympathikotonus, also der inneren Erregung misst. Dieser Messwert wird auf dem Monitor angezeigt, so dass der Proband ein Feedback über seine biologische Sympathikotonus-Funktion erhält. Bei Migränepatienten wird zusätzlich ein Messgerät an einer Stelle der Stirn angebracht, an der der Puls fühlbar ist. Auf dem Bildschirm werden vier Angaben als Kurvendiagramm gezeigt: Wohlfühllinie, Körpertemperatur, Pulsschlag und wenn der Proband einen speziellen Gürtel trägt, zusätzlich die Atemkurve. So lernt der Proband „in den Bauch“ zu atmen, und wird feststellen, dass sich im entspannten und kontrollierten Zustand der Puls der Atmung anpasst. Ein weiteres Programm zeigt die Weite der bei Migräne geweiteten Adern als vergrößerten roten Kreis auf schwarzem Hintergrund. Der Migränepatient lernt durch anfängliches Probieren und späteres vertieftes Üben den Durchmesser der Adern nur mit seiner Willenskraft deutlich zu verringern. Die Übungen werden erst mit Bildschirm erlernt und später ohne Sicht auf die Werte trainiert. Die Methode ist sogar für Kinder mit Migräneanfällen als geeignet belegt worden und kann auch von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen (Taubheit, körperliche Behinderung, etc.) praktiziert werden.

    Für die Rückkopplung an das menschliche Bewusstsein kommt eine Reihe von biologischen Ist-Werten in Frage:

    • Atemfrequenz
    • Blutdruck
    • Pulsfrequenz
    • Gehirnströme mit Hilfe des EEG
    • Hauttemperatur
    • Hautwiderstand, Hautleitwert (Hautfeuchtigkeit durch Schweiss-produktion)
    • Magnetfelder der Gehirnströme mit Hilfe der MRI
    • Muskelpotentiale mit Hilfe der Elektromyographie
    • Sauerstoffgehalt des Blutes

    Mit Biofeedback können Patienten lernen, eigene körperliche Prozesse zu beeinflussen. Dies ist bei verschiedenen Krankheiten sehr hilfreich wie z.B. bei (Kopf-, Rücken-) Schmerzen, Bluthochdruck, Inkontinenz, Tinnitus, verschiedenen psychischen und psychosomatischen Störungen, Schlafstörungen oder ADHS. Dieses sehr praxisorientierte Buch stellt neben den wissenschaftlichen Grundlagen und den Indikationen für eine Behandlung vor allem auch das praktische Vorgehen ausführlich dar.

    Auf diese Weise eröffnet Biofeedbackdem Leser faszinierende Einblicke in die Welt des psychosomatischen Funktionierens: es zeigt, wie wir durch Lernprozesse und willentliche Einflüsse eigene Körperfunktionen beeinflussen können, um zur Heilung von Krankheiten und zum Erhalt unserer Gesundheit beizutragen. Ferner ermöglicht Neurofeedback, dass z.B. Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose wieder mit der Umwelt in Kontakt treten können. Ergänzt wird das Werk durch diagnostische Interviews, Therapieleitfäden und Selbstbeobachtungsbögen.

    Die Methodik des Biofeedback erinnert frappant an Wilhelm Reichs Osloer Labor-Versuche, mit seiner Total-Verkabelung von Probanden mit Elektroden an den Körperoberflächen – sogar erogenen Zonen – zur Messung deren Hautpotentials bei Impulsen von Lust und Unlust. So erscheint mir Wilhelm Reich als Pionier und Vorläufer des Biofeedbacks. Schon allein deshalb ist das Studium dieses Buches für uns Reichianer eine methodische Pflichtübung.

    Ein Buch für die Praxis:

    Das Buch schließt für den deutschen Sprachraum erstmals die Lücke zwischen psychophysiologischem Grundlagenwissen und angewandten verhaltensmedizinisch-psychotherapeutischen Verfahren. Es vermittelt dem interessierten Leser – nach kurzen theoretischen Einführungen – praktische „Handanweisungen“ für das therapeutische Arbeiten mit Biofeedback. Die Autoren sind erfahrene Biofeedbacktherapeuten, die sich seit Jahren mit den von ihnen beschriebenen Krankheitsbildern in der Praxis befassen. Die einzelnen Kapitel beschreiben u.a. Biofeedbackverfahren in der Behandlung von:

    • chronischen Rückenschmerzen
    • Inkontinenz und Obstipation
    • essentieller Hypertonie
    • Somatisierungsstörungen
    • Angsterkrankungen · chronischem Tinnitus
    • Spannungskopfschmerz und Migräne
    • Lähmungen und anderen neurologischen Erkrankungen
    • epileptischen Anfällen

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