18 Aug
Bukumatula 1/2009
Interviewpartner: Martin, Anais und Jakob
Robert Federhofer:
Es gibt in Wien ein aktuelles Projekt des Zusammenlebens in der Wohnform einer „Wagenburg“. Eine Gruppe von Menschen setzt hier seit drei Jahren gegen äußere Widrigkeiten auf eine Entwicklung der Selbstverwaltung und Selbstorganisation. Ein Gespräch mit Beteiligten über ihren unkonventionellen Alltag:
Meinem Interviewtermin mit Martin, Anais und Jakob nähere ich mich über enger werdende Gassen in Simmering, einmündend in die Strassen zwischen den Folientunneln der Gärtner und schließlich durch den Morast zwischen den Wohn- und Bauwägen. Eine junge Frau weist mich ins Zentrum der Wagenstellgruppe, an diesem Abend mit offener Feuerstelle und einem Sofa daneben. Zwei Männer sind hier gerade, einer bäckt Pizzas.
Auf meine Frage nach Martin weisen sie mich zu seinem Wagen unmittelbar daneben, wo mich dessen beiden Hunde zur Begrüßung pflichteifrig verbellen. Einer von Ihnen trägt Verbände, ich wusste, dass er vor einigen Tagen Opfer einer Kollision mit einem Kotflügel geworden war, aber bereits auf dem Weg der Genesung. Ich leiste den Hunden Gesellschaft, die ruhiger werden, mich aber vorerst noch reserviert umkreisen. Martin stößt alsbald aus einem anderen Lagerteil zu uns und lädt mich ein in den Wagen zu klettern, wo wir uns im vorderen Teil mit Blick durch die offene Tür auf das Lagerfeuer um einen kleinen Tisch am Wagenboden auf Hockern und Pölstern niederlassen.
Anais kommt kurz darauf und wir essen Pizza, die uns hereingereicht wird. Etwas später klettert Jakob begleitet von seinen beiden Kindern, einem Madchen von etwa sechs Jahren, und einem Buben von etwa vier zu uns herein. Die Ankömmlinge begrüßen alle einzeln und wenden sich ebenfalls den Pizzastücken zu. Nachdem die Kinder satt sind, werden sie zu Jakobs Wagen schlafen geschickt, und er verspricht ihnen noch für später eine Gutenachtgeschichte.
Robert: Also ihr seid Teil einer Gruppe, die seit 2006, also seit drei Jahren in Wohnwägen, Lastkraftwägen und alten Bauwägen wohnt; derzeit im 11. Wiener Gemeindebezirk, in Simmering. Ich bitte euch kurz zu sagen, was das für euch bedeutet, was euch wichtig ist und wie ihr das Projekt von eurer Warte aus seht.
Martin: Ich heiße Martin und bin vor fünf Jahren zum Studium der Psychologie nach Wien gezogen. Ich kam damals mit einem Wohn-LKW angereist; in Wien gab es jedoch noch keinen Stellplatz. Und so bin ich erst einmal in eine Wohnung gezogen. Vor drei Jahren aber habe ich Partner gefunden, mit denen ich dann einen „Wagenplatz“ gründete. Ich habe meine Wohnung wieder aufgelöst und bin zurück in meinen Wohnwagen gezogen.
R: Aha, du bist eigentlich schon mit der Vorstellung dieser Wohnform nach Wien gekommen. Hattest du schon so gewohnt?
M: Also, ich war auf Reisen; zwei Mal für ein Jahr in Westafrika, mit einem VW-Bus. Da habe ich das Unterwegssein und das Im-Wagen-Leben eigentlich kennen gelernt. Unterwegs traf ich auch andere Menschen, die in größeren Wägen wohnten. – In Berlin gibt es ja Wagenplätze und in Köln gibt es auch einen. Die habe ich kennen gelernt, war von diesem Leben fasziniert und bin aus der damaligen Wohnung in meinen ‚Großen’ umgezogen – also in einen größeren LKW, den ich mir mit ein bisschen Komfort ausgebaut habe; hatte damals eigentlich vor eine Weltreise zu machen. Nun, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
R: Das Wohnen in einem umgebauten LKW war also eine Qualitätsverbesserung gegenüber der Wohnung, wenn ich das richtig verstehe?
M: Voll. Diese Art des Unterwegsseins, auf Reisen zu sein, hat mich wirklich fasziniert. Immer wenn ich nach Deutschland zurückgekommen bin, habe ich mich in meiner Wohnung nicht mehr so richtig wohl gefühlt.
R: Was ist der Vorteil des Wagenplatzes?
M: Hier bekomme ich eine ganz andere Stimulation als in einer Wohnung, und die Grenze zwischen Draußen und Drinnen verschwimmt. Ich fühle mich anders, selbst wenn ich im Wagen bin. Ich bekomm’ den Regen mit, der auf das Dach prasselt, oder den Wind, der den Wagen schüttelt. An einem Tag wie heute ist die Tür offen – ich bin ganz einfach in viel stärkerem Kontakt mit meiner Umwelt.
R: Jakob, ich bitte dich auch um eine kurze Selbstdarstellung. Was ist an dem Projekt für dich das Wesentliche?
Jakob: Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, habe zwei Kinder und bin am Wagenplatz, solange es ihn gibt. Ich arbeite als Selbständiger. Der Wagenplatz ist für mich ein Wohnprojekt und eine Wohnform, die sehr viele Vorteile bringt. Seit ich so wohne, bin ich damit zufrieden und kann es mir eigentlich gar nicht anders vorstellen.
R: Kannst du dich noch erinnern, wie die Idee bei dir aufgetaucht ist? Hast du da etwas gehört, gelesen oder Vorbilder gehabt?
J: Mein erstes Auto war ein Bus. Ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, den zum Wohnen zu verwenden. Bei mir hat es sich so ergeben, dass ich damals den Joschi kennengelernt hab’, der mir einen LKW abgekauft hat. Und als er begonnen hat, ihn vor unserer Werkstatt umzubauen und innen auszubauen, ein Arbeitsprozess, der drei Monate gedauert hat, da ist mir klar geworden, dass das die bessere Alternative ist, und ich habe meine Wohnung gekündigt.
R: Du bist also ‚eingestiegen’, klingst auch nach wie vor zufrieden. Was sind die Vorteile, die du siehst?
J: Na, ja – das Eine ist dieses Leben nahe am Draussen, wie du das Wetter mitkriegst. In der Wohnung bekommst du viel weniger mit was der Wind macht, wie warm es ist, ob es regnet oder die Sonne scheint. Es ist irrsinnig angenehm, dem ausgesetzt zu sein. Ich fühle mich weniger als Fremdkörper, mehr als Teil von einem Ganzen, wenn ich im Wagen wohn’. Das ist diese eine Ebene, und das Andere ist das Gemeinschaftsleben.
Eine gute Mischung: Auf der einen Seite ist das Ganze wie eine große Familie, auf der anderen Seite hast du aber auch den eigenen Wagen als Rückzugsort, wo du gar nichts mitzukriegen brauchst von den Anderen. Und wenn du wieder Lust auf Gemeinschaft hast, gehst du einfach vor den Wagen, wo sich vor allem im Sommer viel abspielt, du legst dich vielleicht auch hinaus schlafen und lässt tagsüber die Tür offen. Ich glaub’, dass das eine sehr gute Mischung ist.
R: Wie viele Leute sind denn jetzt am Wagenplatz?
M: Es gibt eine Kerngruppe von zehn bis fünfzehn Leuten; und es kommen und gehen immer wieder Leute.
R: Kommen und gehen die mit eigenen Wägen?
M: Es gibt viele, die einfach auf der Durchreise sind. Manchmal haben wir auch `Rucksacktouristen´ hier, die irgendwie von uns gehört haben. Jetzt wohnen z.B. gerade einige nebenan im Gästewagen; die haben hier einige Nächte geschlafen und haben sich jetzt entschlossen, die restlichen drei Wochen ihrer Europatour hier zu bleiben.
R: Wie ähnlich oder verschieden sind die Leute, die hier leben?
J: Im Prinzip sind das schon unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Charaktere. Klar ist aber auch, dass Leute, die längerfristig so ein Projekt durchziehen, eher Individualisten sind.
R: Anais, sag’ du vielleicht etwas über dich.
Anais: Also ich wohne ja eigentlich gar nicht da.
M: Die halbe Woche bist du schon da…
A: Ja, meistens. Ich finde den Wechsel zwischen Wohnung und Wagen für mich sehr angenehm. Wenn ich derzeit nicht so eine schöne Wohnung hätte, gäbe ich sie auch auf. Ich kann mir gut vorstellen auch einmal auf dem Wagenplatz zu wohnen.
R: Gibt es noch andere, die Wohnungen haben und nur zeitweise hier leben?
M: Die meisten wohnen fix hier. Im Winter ist es einigen dann doch zu kalt. Die kommen dann bei Freundinnen und Freunden unter.
R: Da kommen wir dann sozusagen zu den Nachteilen, in diesem Fall den härteren Wetterbedingungen im Winter. Wie geht ihr damit um?
M: Die meisten von uns haben Holzöfen in den Wägen, die grundsätzlich gut heizen. Du siehst ja, das hier ist ein relativ kleiner Raum und wenn ich meinen Ofen anwerfe, dann ist es innerhalb weniger Minuten richtig angenehm warm hier drinnen. Aber es fordert ein bisschen.
Man muss sich Holz organisieren, dazu sehen, dass genügend vorrätig ist.- Mein Wagen ist zum Beispiel nicht so gut isoliert und so ist es manchmal schon sehr kalt, wenn ich morgens aufstehe. Wenn man ein paar Tage nicht am Wagen ist, dann ist auch klar, dass das Trinkwasser, das man in den Kanistern lagert, eingefroren ist.
R: Euren Nutzwasser-Brunnen, könnt ihr wegen der Nitrate nicht zum Trinken brauchen. Woher nehmt ihr euer Trinkwasser?
M: Das holen wir in Kanistern von einem öffentlichen Stadtbrunnen. Auf dem neuen Platz wollen wir auch einen Brunnen graben und hoffen auf Trinkwasserqualität.
R: Manche Leute kennen ähnliche Wohnbedingungen vom Urlaub her.
M: Dazu möchte ich ganz deutlich sagen: Das ist kein ein, zwei Wochen dauerndes „Camping“, wo man zum Abschied den Sand aus den Schlafsäcken herausschüttelt und wieder froh ist, in der eigenen Wohnung zu sein. Ausgerichtet auf Dauer muss man sich schon anders einrichten, damit es nicht zu Energie raubend ist.
R: Was meinst du damit?
M: Zum Beispiel gehe ich ja auch nebenher arbeiten; und weil wir hier mit Holz heizen, nimmt die Kleidung im Winter auch den Geruch von Rauch auf, und im Sommer sind die Schuhe leicht einmal `gatschig´.
R: Was arbeitest du denn, was nicht gut mit rauchgeschwängerten Sachen einhergeht?
M: Im Augenblick mache ich Praktikum auf der Psychiatrie und ich bin auf der Uni, weil ich ja noch studiere. Da wäre es mir in den Arbeitsgruppen unangenehm nach Rauch zu stinken, oder verschlammte Schuhe zu haben. Ich habe Gummistiefel, mit denen ich bis vorne zur Grundstücksgrenze gehe; dort habe ich Schuhe zum Wechseln.
R: Dass du „Aussen“ nicht zu sehr auffällst…
M: Genau, ich habe das Bild eines Afrikaners vor mir, der aus seiner Hütte mit Anzug und weißem Hemd kommt. Das erfordert eine gute Organisation und ist einigermaßen anstrengend.
R: Was vielen Leuten vielleicht zu eurem Projekt als Frage einfallen wird: Wie schaut es mit den Kosten aus?
M: Wir zahlen für das Grundstück 1000.- € im Monat. Wir haben vereinbart, dass jeder von uns, der hier fix wohnt 35.- € für sich als Person zahlt, ebensoviel für jeden Wagen. Ich habe hier meinen Wohnwagen, nebenan das ‚Büro’, so zahle ich für die zwei Wägen und mich 105.- €. Da ist alles mit dabei. Wenn mein Wagen derzeit auch angemeldet wäre, dann kämen halt die Autoversicherung und Diesel dazu, beim Reisen noch Autobahngebühren und Reparaturen die anfallen.
R: Du hast eure Vereinbarung, die ihr in der Gruppe getroffen habt, angesprochen. Wie macht ihr das aus, wie gebt ihr euch eure Regeln?
M: Einmal in der Woche haben wir Plenum, gewöhnlich Sonntag abends und besprechen, was alles ansteht. Da können auch Leute vorbeikommen, die dazuziehen wollen. Dinge, die stören werden besprochen; aber auch über Aktionen oder Demonstrationen bei denen wir mitmachen.
Aber es ist dann doch auch oft sehr locker; grundsätzlich gehen wir basisdemokratisch vor, aber (lacht) bei uns ist es so, dass viele Beschlüsse dann doch auch wieder nicht eingehalten werden. Wenn man Sachen anspricht die einen stören, sensibilisiert man die anderen vielleicht ein bisschen darauf, hofft, dass es danach etwas anders wird. Oft muß man es dann eben noch einmal ansprechen. Du siehst, wir versuchen jedem seine Freiheiten zu lassen.
R: Basisdemokratisch heißt, dass jeder seine persönliche Stimme hat.Erfolgen Beschlüsse per Mehrheitsabstimmung, oder wird das ausdiskutiert, bis alle einig sind – wie macht ihr das konkret?
M: Ja, wir sprechen darüber. Wir treffen uns im lockeren Kreis, wer kommt ist da, es gibt auch keine Anwesenheitspflicht. Wir besprechen die Anliegen und überlegen uns, wie sie umzusetzen sind.
R: Es gibt in jeder Gruppe eine Hierarchie, wie kommt die bei euch zustande? Wird darüber gesprochen? Oder ist das eure spontane persönliche Hierarchie, die sich ergibt? Bei fünfzehn Leuten ist das noch möglich, da kennen sich ja alle.
M: Hierarchie gibt es hier ganz wenig, verglichen mit den anderen Vereinen, in denen ich auch Mitglied bin. Es kann jeder, auch wenn er ganz neu hier ist, im Plenum Vorschläge machen. Natürlich können die Leute, die schon länger dabei sind und sich besser kennen, ihre Gedanken einander leichter verständlich machen.
R: Also, du kennst bei anderen Vereinen stärkere, vielleicht auch klarer formulierte und konsequenter eingehaltene Hierarchien.
M: Ja.
A: Klar formulierte Hierarchien gibt’s hier grundsätzlich nicht. Es wird auch darauf geschaut, dass es keine gibt. Es soll keine geben. Die Vereine, in denen wir sind, definieren sich als hierarchiefreier Raum. Es ist nur so, dass natürlich trotzdem Hierarchien entstehen.
M: Es ist hier anders als in der ‚i:da’ (Anmerkung: ‚idee direkte aktion’, www.ideedirekteaktion.at), da gibt es die, die die Schlüssel haben…
R: Ihr erwähnt da jetzt einen anderen Verein?
M: Ja, das ist ein Kulturverein, in dem wir auch dabei sind, dort ist jeden Donnerstag Plenum, für die Leute, die etwas machen wollen. Da gibt es schon eher eine Hierarchie – einerseits jene, die schon lange dabei sind und viel organisieren etc. und andererseits die ‚Neuen’, die ihre Anfragen an erstere richten. Man kann sagen das ist eine Chef/Chefin-Position.
R: Also die Position derer, die die Umsetzung hauptsächlich tragen?
M: Ja, die den genauen Ablaufplan im Kopf haben: Wann wollt ihr da sein, wann sperren wir auf, was braucht ihr für ein Equipment an dem Abend? Weil dann oft relativ schnell entschieden werden muß – etwa für ein Fest eine Woche später…
R: Nun, das ist ein Beispiel für eine gewisse Art von Fachkompetenz.
M: Genau. Dadurch entsteht dann ein hierarchisches Gefälle. – Das ist bei uns am Wagenplatz anders, weil wir zusammen hier wohnen und viel Zeit miteinander verbringen. Daher ist es hier gar nicht so nötig eine Hierarchie entstehen zu lassen.
R: Wie trefft ihr die notwendigen Entscheidungen als Gruppe?
J: Manchmal ist es ganz einfach, weil alle einer Meinung sind, aber meistens ist es natürlich nicht so. Das sind dann sehr komplizierte Prozesse, weil unsere Entscheidungsfindung eigentlich auf einem Konsensprinzip aufbaut und nie ausdiskutiert wurde, wie genau das jetzt funktionieren soll.
Es gab ein paar Mal schon den Fall von Veto durch Einzelpersonen, obwohl überhaupt nicht besprochen ist, ob es so etwas überhaupt bei uns gibt (lacht). Ich bin da eigentlich ziemlich kritisch. Es passiert ja schon, dass Diskussionen über Probleme ausarten und z.B. hundert Stunden über etwas gesprochen wird.
R: Wie geht ihr dann mit Konflikten in der Gruppe um?
J: Es gibt schon auch persönliche Konflikte am Platz. Das haben wir dann häufig so gelöst, dass wir weniger miteinander zu tun haben. Der Platz ist ja eine größere, lang gezogene Fläche, da müssen die Wägen ja nicht nebeneinander stehen.
R: Was ist der Grundkonsens, was muss gegeben sein, besonders bei neuen Leuten. Gibt es Entscheidungen wie: Du nicht, oder nicht so?
J: Ja, es gab so etwas bei Leuten, die neu dazugekommen waren, aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir das dann entscheiden mussten.
M: Das hat sich damals von selbst erledigt. Wenn jemand kommt, und man sagt zu ihM: „Komm zum Plenum und stell dich vor.“ – und er dann zu betrunken ist, um sich selbst zu vertreten, dann hat sich das eben von selbst erledigt.
J: Ja, dann hat er schlechte Karten. Solche Projekte ziehen natürlich auch schwierige Leute an. Wenn du dich in der Gesellschaft nicht zurechtfindest, dann ist es vielleicht logisch, dass du nach einer Parallelgesellschaft suchst. Ich finde es richtig, dass man sozial schwierige Leute auch integriert.
Ich halte nichts davon, nur Leute hierher zu lassen, die entweder grundsätzlich angepasst sind, oder ‚unangepaßt‘ in dem Sinne, dass sie herkommen, weil es z.B. gerade ‚modisch’ist. So eine Wohngemeinschaft hält ein oder zwei schwierige Leute aus. Wenn es zu viele sind, belastet es die ganze Gruppe so stark, dass wir dann diskutieren, bis klar ist: Das geht jetzt nicht mehr.
R: Du hast vorhin den Ausdruck Parallelgesellschaft verwendet, siehst du den Wagenplatz als Teil einer solchen?
J: Ja, klar, wir sind schon manchmal ein kleines eigenes Universum (lacht). Es hat ja auch keinen Sinn, wenn man über Sachen, die in unserer Gesellschaft passieren, ständig raunzt, oder daran verzweifelt und zerbricht, das bringt ja überhaupt nichts. Ändern kann man in erster Linie sich selbst und nur ganz langsam danach das Umfeld. Großartig ‚die Welt verändern’, kann man nicht von heut’ auf morgen.
Das Klügste, was man machen kann, ist in seinem eigenen Bereich selbst Strukturen aufzubauen; wie zum Beispiel am Wagenplatz, oder im ‚i:da’. Ich halte das auf jeden Fall für den besten Weg, der sich auch beliebig erweitern lässt, denn du kannst immer wieder neue Strukturen aufbauen – das ist sehr wichtig. Bei mir ist es momentan ein bisschen so, dass ich merke, dass ich mich in die linksradikalen autonomen Strukturen zurückgezogen habe. So fällt mir auf, dass es mir etwas schwer fällt, in ‚normale Lokale’ zu gehen, weil mir dort das Verhalten der Leute zum Teil zuwider ist. Gerade, wenn ich das Frau-Mann-Machtverhalten in der ‚normalen Welt’ sehe, merke ich, dass ich mich daran gewöhnt habe, dass das hier so nicht, oder weniger vorkommt.
Ich tu’ mir dann schon sehr schwer und neige dazu, mich in solche Strukturen wie diese hier zu verkriechen. Ich kenne auch viele Leute, die das ebenso machen. Optimal ist das nicht und ich hoffe, dass sich das auch wieder ändert. Auf jeden Fall ist es aber sehr schön, dass es solche Strukturen gibt, dass man sich in ihnen ein bisschen freier bewegen kann und dass man manchen Sachen nicht so ausgesetzt ist.
M: Wenn Leute fragen, ob sie hierher kommen können, dann sagt man: „Ist in Ordnung.“ Dann erklärt man ihnen vielleicht, wie die Dusche funktioniert – mehr ist da erstmal nicht nötig. Und dann sind sie einfach da.
R: Das klingt so, als ob es sehr einfach wäre hierher zu kommen, wenn man das will.: Sich einen Wagen organisieren, euch fragen, und schauen ob ein Platz frei ist.
A: Grundsätzlich ja.
R: Und wie macht ihr nun eure Regeln?
J: Es gibt eigentlich sehr wenige Regeln, auch gibt es immer wieder Vereinbarungen in den Plenumssitzungen, die dann nicht eingehalten werden. Oder es kommt vor, dass wir nach einigen Monaten über die selben Fragen diskutieren, weil eine Entscheidung wieder in Vergessenheit geraten ist. Bei diesen Prozessen gibt es noch viel zu verbessern. Unzufrieden bin ich zum Beispiel mit dem Küchenwagen, einen Bauwagen, den wir seit dem ersten Wagenplatz haben.
Dort war immer ‚Chaos und Desaster’, und jetzt ist er halb stillgelegt und wird wenig benützt. Mittlerweile betrifft das auch den Sanitärwagen. Ich kann mich bei solchen Sachen sehr lang engagieren, aber irgendwann ziehe ich mich dann verärgert zurück. So sind die Projekte ‚Küchenwagen’ beziehungsweise ‚Sanitärwagen‘ für mich mittlerweile ‚gestorben’. Hier ist noch nicht der Punkt erreicht, wo man sagen kann: Das ist das ‚Non-plus-ultra’.
R: Gibt es Aufnahmerituale, wenn jemand hierher kommt?
J: Wir nehmen eigentlich so ziemlich Jeden und Jede auf, erstmal so „zum Schauen, was sich so ergibt“. Seit Kurzem haben wir uns aber entschlossen, keine Leute ohne Fahrzeug aufzunehmen, weil’s meistens sehr mühsam ist.
R: Aber ihr macht keinen „Check“: Wer ist das, was hat er für einen Leumund, und so?
M: Minimal. Oft ist es ja so, dass Leute z.B. schreiben, dass sie gerade unterwegs nach Wien sind und nächste Woche vorbeikommen würden:
„Können wir uns zu euch stellen?“ Dann mailt man: „Ja, kommt halt vorbei.“- Und dann bleiben sie vielleicht ein paar Wochen oder ein paar Monate, solange es eben mit der Gruppe irgendwie passt. Es gab bisher erst wenige Probleme.
R: Wenige – aber schon Probleme; keine aber, die große Lösungsschwierigkeiten machten?
M: Ja. Ganz am Anfang haben wir auch einmal zugesagt bei Leuten die anfragten, ob wir einen Wagen für sie hätten, damit sie hier wohnen könnten, weil sie ihre Wohnung verloren haben – also nur aus finanziellen Gründen. Seit damals haben wir bei solchen Anfragen aber abgesagt. Es gehört schon ein bisschen mehr dazu.
J: Gründe um auf den Wagenplatz zu ziehen, gibt es viele; billig zu leben, das sollte nicht der Hauptgrund sein, das ist der falsche Zugang.
R: Wie werden die gemeinsamen Bereiche auf dem Wagenplatz von den Bewohnern ‚besetzt’?
J: Es ist viel einfacher als anderswo. Wenn du einen Platz bzw. eine Gemeinschaft schaffst, wo die Regeln von ausserhalb nicht gelten, dann hast du nur noch die, die du selbst aufstellst. Bei uns sind da ein paar Sachen relativ ‚aufgeladen’, z.B. bezüglich Gewalt. Aber weil doch alle hier so halbwegs politisch übereinstimmen, brauchen wir nicht viel darüber sprechen, dass man andere nicht gewaltsam unterdrückt.
Das ist ohnehin allen klar. Aber es ist auch so: Wenn du die Regeln von ‚Draußen’ abstößt, geht’s danach sehr um Eigenverantwortung. Das ist dann das Relevanteste überhaupt – die Eigenverantwortung. Häufig fehlt es noch an dem Bewusstsein, dass du andauernd reflektieren und dein Verhalten unausgesetzt anpassen und überdenken musst. Das ist nicht einfach. Häufig begegnest du Leuten die ‚Phrasen dreschen’. Z.B.: „Alles für alle“ odeR: “Bleiberecht für alle“.
Das zu sagen ist noch recht einfach, eine ganz andere Geschichte ist es aber, solches dann umzusetzen. Dabei sind wir noch nicht so konseqent und fortgeschritten. Es würde irrsinnig viel Kraft, Zeit und Energie verschlingen, alles in Diskussionen zu optimieren. Daher trifft man sich oft auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Aber der kleinste gemeinsame Nenner am Wagenplatz ist für mich persönlich noch immer besser als der kleinste gemeinsame Nenner im Gemeindebau.
M: Die Personen, die hier sind, sind ja auch mit verschiedenen Emotionen hier. Ganz ruhige Personen, die sich einen harmonischen, idyllischen Platz wünschen, und andere, denen ganz anderes wichtig ist. Wir beide haben jetzt gesagt, dass uns das ‚Draussen-Sein’ unheimlich wichtig ist, aber auch die Gemeinschaft – dass also für uns beides zutrifft.
Andere die vorbeikommen, sind nur wegen der Gemeinschaft hier. Es wird selten ausgesprochen, was jeder Einzelne genau möchte. Man merkt es, wenn man mit den Leuten zusammen ist. Vermutlich bekommt keiner hundert Prozent von dem was er will. Jeder muß sich ja mit den anderen arrangieren und sie respektieren. Die einen würden am liebsten das ‚Am-Auto- Rumgeschraube’ abschaffen, die anderen den Alkoholkonsum, jemand anderer wieder anderes.
A: Es gibt bestimmte Dinge, die klar sein sollten: Es gibt den Anspruch auf hierarchiefreien Raum, keinen Sexismus, keine Ideologien, die andere Leute ausschließen, das nenn’ ich schon eine gewisse Grundhaltung.
R: Aber wird das ausgesprochen? A: Ja, das wird klar gesagt. Oder?
M: Nein. Wir haben das nicht so klar ausgesprochen, wie in anderen Vereinen. Ein respektvoller Umgang miteinander ist hier schon sehr selbstverständlich.
R: Es könnte natürlich passieren, dass sich jemand zu euch stellt, der diesen Konsens nicht mit trägt, aber offensichtlich war es bisher noch nicht der Fall, dass ihr euch abgrenzen musstet?
M: Nein. Oft werden auch am Lagerfeuer ‚Nebensachen‘ besprochen, wozu man kein Plenum braucht. Dass jemand herumsitzt und sexistische oder schwulenfeindliche Sprüche loslässt, das gibt’s hier eh’ nicht.
A: Ja, das ist für uns klar. Es ist schon eine bestimmte Art von Leuten, die wir anziehen. Die Leute hier kenne ich hauptsächlich aus der linken Szene. Da gibt es sowieso gewisse Grundsätze und eine bestimmte Art der Kommunikation. Leute, denen das vollkommen neu und fremd ist, kenne ich kaum.
M: Ich glaub’, die Wohnform an sich, die sortiert schon ordentlich aus, ist gewissermaßen ein Filter. Wir hatten einmal ein Pärchen da, die waren schon in Rente, also schon ein bisschen älter. Sie kamen mit ihrem Wohnmobil, waren echt nett und voll gut d’rauf. Aber die Frau hat uns dann sehr „bemuttert“, hat z.B. angefangen die Gemeinschaftsküche mehrmals täglich zu putzen.
Egal wann man in die Küche gekommen ist, hat man alles von ihr nachgetragen bekommen. Ich hab’ sofort einen Kaffe angeboten bekommen, und wenn der leer war, hat sie gleich gefragt, ob ich noch einen haben will. Das ist sehr schlecht angekommen bei den meisten Leuten. Viele konnten damit gar nicht umgehen, die wollten dann gar nicht mehr in die Küche kommen. Wir haben schon den Anspruch, uns um uns selbst zu kümmern. Einerseits ist da die Gemeinschaft, andererseits wollen wir auch selbst entscheiden können.
R: Das ist jetzt ein Beispiel für – sozusagen – ein Generationsproblem. In welchem Alter sind denn die Leute, die sich hier niederlassen, oder niederlassen wollen?
A: Ungefähr zwischen 25–35 Jahren.
M: Dann haben wir Kinder hier, das Jüngste ist zwei Jahre alt.- Das war aber damals nicht wirklich ein Generationskonflikt. Denn eigentlich hat’s mit denen gut gepasst. Der Mann war aber herzkrank, es war ihm dann ein bisschen zu viel. Grundsätzlich hätte es schon gepasst. Wir haben auch darüber gesprochen und haben gesagt, dass sie uns nicht so bemuttern soll. Da hätte es noch Möglichkeiten gegeben.
R: Kannst du dir den Wagenplatz als langfristige Wohnform vorstellen?
M: Ich kenne Wagenplätze, die seit 30 Jahren existieren, wo Erwachsene verschiedenen Alters mit ihren Kindern und Familien leben. Unser derzeitiger Platz ist ja noch ein Übergang. Wir haben in Wien noch nicht unseren fixen Platz gefunden, wo wir wissen, dass wir länger bleiben können.
R: Okay, ihr habt mit den Leuten, die hier am Platz sind, die Möglichkeit einen gemeinsamen Nenner zu finden – was aber Gespräche erfordert, Zeit, Aufwand. Was unterscheidet das jetzt vom Zusammenleben im Gemeindebau?
M: Der Unterschied ist, dass wir unsere Belange selbst einbringen und verteidigen müssen und keine Hausverwaltung über uns haben, bei der wir uns beschweren können. Die Polizei können wir auch nicht rufen, das müssen wir alles selbstorganisiert regeln.
R: Die Polizei könnt ihr auch nicht rufen…. ? M: Nein, also…
R: Ist das ein Konsens? M: Ja, also….(lacht)
R: Die Möglichkeit existiert für euch wohl einfach nicht? – Welche Rolle spielen die persönlichen Beziehungen, intimen Beziehungen, Freundschaften? Wie beeinflussen sie Entscheidungen?
M: Es gibt natürlich immer Bezugsgruppen. Ich hab’ damit aber am Wagenplatz noch nie Schwierigkeiten gehabt. Wenn es Leute gibt, die mich persönlich nicht interessieren, oder mit denen ich nichts anfangen kann, dann habe ich hier keinen Grund, das unter den Tisch zu wischen. Meine Auffassung von Gemeinschaft beinhaltet, dass nicht Jeder mit Jedem ‚können’ muss; so wird die Gemeinschaft dann schon ein Ort, wo jeder sein ‚individuelles Ding’ durchziehen kann.
Da heißt es dann halt auch: “Leben und leben lassen.“. Auch deshalb, weil das bisher der einzige Wagenplatz in Wien ist, da muss es eben eine gewisse Toleranz geben. Klar, es verändert sich auch: Zuerst versteht man sich mit manchen Leuten besser, mit anderen weniger, und manche kann man überhaupt nicht ausstehen. Und dann findet man einen ‚Schalter’, und es geht wieder weiter. Ich finde das eher spannend als problematisch.
A: Theoretisch sollte persönliche Beziehung keine Voraussetzung sein, sollte keinen Einfluss haben, hat aber dann doch eine bestimmte Auswirkung.
M: Also wir sind um die 20 Personen, mit 10-15 in der Kerngruppe, die wie es aussieht, auch auf den nächsten Platz umsiedeln wird .- Die Beziehungen zu meinen Mitmenschen sind mir sehr, sehr wichtig, aber was ich so schätze, ist, dass ich diese Kontakte nicht zwingend brauche um hier akzeptiert zu sein. Wir haben zeitweise auch sehr kontaktscheue Personen hier gehabt, die man nie gesehen hat. Die wohnen in Ihren Wägen und haben mit dem Gemeinschaftlichen nur minimal zu tun.
R: Ihr lebt jetzt schon seit drei Jahren in dieser Form und Hierarchie ist bei euch sozusagen nur eine ‚Persönlichkeiten-Hierarchie‘mit geringen Strukturen.
J: Ich finde bei solchen Projekten eher problematisch, wenn sie zu offen sind: Dass jemand, wenn er neu zuzieht, de facto vom ersten Tag an dasselbe Mitspracherecht hat, wie jemand der schon lang da wohnt, bzw. vorhat länger da zu wohnen. Es kommen ja auch Leute für ein paar Wochen oder ein paar Monate, ohne zu wissen wie lang sie bleiben. In diesem Zusammenhang finde ich es dann eher problematisch, dass es keine Hierarchien gibt.
R: Du wünschst dir also mehr hierarchische Struktur im Sinne von z.B. so einem ‚Gast-Status’ im Gegensatz zum Status eines Dauerwohnenden?
J: Ich glaube, der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme im Leben liegt darin, dass Entscheidungen immer von den Leuten getroffen werden sollen, die es auch direkt betrifft. Wenn hier jemand seit drei Jahren wohnt und vorhat, die nächsten Jahre hier zu wohnen, dann betrifft ihn was hier geschieht mehr.
R: Gut, das wäre ein Prinzip der Selbstorganisation.Ich habe gehört, dass ihr jetzt Aussicht auf einen ständigen Platz habt. Bisher seid ihr ja praktisch jedes Jahr umgezogen.
J: Es ist wichtig zu wissen, wie lange wir bleiben können. Hier sind wir jetzt schon relativ lange, aber besonders auf dem letzten Platz war es immer ungewiß, ob wir länger bleiben können. Jetzt entwickelt sich gerade etwas wie ein Wagenleben in Wien. Es gibt mittlerweile zwei weitere Gruppen, die einen Platz suchen.
Tochter (quer über den Platz): Papa!!
Vater Jakob: Ich komm’ bald!
T: Wann?
Vater Jakob: Gleich!
J: Ich glaube es hat sich etwas aufgebaut – eine ‚Bewegung‘ und ich bin froh, dass sie wächst.
R: Was sind eure aktuellen Aussichten nach den bisherigen Erfahrungen?
M: Am ersten Platz waren wir im Einvernehmen mit dem Mieter, der das Grundstück aber verlassen musste. Dann haben wir intensiv drei Monate lang gesucht und kein Grundstück gefunden, weil viele Besitzer doch große Vorbehalte hatten, wenn sie gehört haben, dass wir in Wägen wohnen. Sie haben ein bisschen Angst bekommen, konnten sich das nicht vorstellen. Auch Angst bekommen, berechtigterweise muss man sagen, vor Problemen mit Behörden. Nur als Parkplätze wären Grundstücke zu finden gewesen.
Dann haben wir uns einfach auf einen Platz am Stadtrand gestellt, das Grundstück quasi ‚besetzt‘. Da haben wir drei Monate gestanden. Daraufhin gab es ein paar Zeitungsberichte über uns. Auf einen Artikel im Bezirksblatt hin, hat sich dann eine Privatperson gemeldet: Sie kaufe gerade ein Grundstück, will damit nicht groß was machen und dass es vielleicht das Richtige für uns wäre. Das haben wir angesehen und gleich gemietet. Einem der Nachbarn war das nicht recht und er hat uns die Baupolizei auf den Hals gehetzt.
Das hatte ein Verfahren wegen fehlender Baugenehmigung zur Folge. Weil die Wägen hier stehen wie ein relativ fixes Bauwerk, bräuchten wir eine Baugenehmigung, wurde begründet. Gegen die Räumungsklage haben wir dann Einspruch erhoben und auch Recht bekommen.
Aus diesen ganzen Disskussionen – wir haben ja auch viel Pressearbeit gemacht und dafür demonstriert – kam dann ein Mediationsversuch mit der Stadt heraus. Wir hoffen jetzt ein Grundstück von der Stadt vermietet zu bekommen. Bis dato hat das eineinhalb Jahre gedauert; wir sind in der letzten Phase, hoffen auf einen Mietvertrag in den nächsten 1-2 Wochen, so dass wir im Juni oder Juli den neuen Platz beziehen können.
R: Dann halte ich euch die Daumen, dass das gut funktioniert. M: Danke.
R: Welche Bedeutung hat Mobilität für dich?
M: Momentan überhaupt nicht. Der LKW fährt grundsätzlich, aber ich würde ihn sofort gegen einen großen Bauwagen tauschen, weil der besser isoliert ist. Da ich noch fünf bis zehn Jahre fix in Wien bin, spielt Mobilität für mich momentan keine Rolle.
R: Du hast auch zwei Hunde.
M: Für die ist es natürlich auch ideal; die sind einfach mit den anderen Hunden zusammen, wenn ich arbeiten bin.
R: Wie viele habt ihr denn?
M: Acht, und ab morgen zwei Katzen. A: Echt?
M: Ja, Lena hat sich zwei Katzen bestellt.
R: Anais, du hast vorhin gesagt, dass eigentlich alle hier aus der ‚linken Szene’ sind. Also aus einer politischen Kultur. Eure ‚web-Seite’ habe ich mir angeschaut, dort wird das auch klar angesprochen, und ich sehe da auch Vokabel und Zitate aus dem Anarchismus. Ist politisches Bewusstsein bei euch ein wichtiges Thema? Wohnen im Freien, in naturnahen Behausungen ist sicher etwas, das mit einer politischen Haltung vereinbar ist, das könnte aber natürlich auch eine andere politische Haltung sein.
A: Politik ist ständig ein Thema. Wir müssen ja die ganze Zeit mit der Stadt um den Platz verhandeln – das ist Politik; auch die Zusammenarbeit mit anderen Vereinen, auch im täglichen Leben…
M: Ich hab’ jetzt kurz überlegt; was wir machen, ist eigentlich nicht Politik. Wenn du willst, kannst du es aber ‚gelebte Politik’ nennen, auch ‚gelebten Anarchismus’.
R: Da müssten wir jetzt darüber sprechen was Anarchismus ist, denn ich bin keineswegs sicher, dass alle wissen, was du meinst.
M: Leben heißt für mich nicht in irgendwelchen Gremien zu sitzen und irgendwelche mühselige Verhandlungen zu führen. Leben ist gemeinsam sein, sich gegenseitig helfen und trotzdem nicht sich selbst vergessen. Und gelebter Anarchismus ist das Leben hier auch, weil wenig fixe Strukturen vorgegeben sind und man sich relativ frei ausleben kann.
A: Und auch die Selbstorganisation bzw. die Unabhängigkeit von Institutionen und Staat.
R: Ist das ein Thema für euch?
M: JA: Voll, dauernd! Selbstorganisation beginnt ja schon bei den Wägen. Die meisten sind ja selber gebaut.
A: Einfach die Freiheit sein Leben selbst zu organisieren, je nach dem, welche Bedürfnisse man hat.
R: Ich kann mir vorstellen, dass viele in eurer Vorgangsweise keinen Gewinn sehen, das Selbstorganisieren für eigene Bedürfnisse lieber der Arbeitsteilung unserer Gesellschaft überlassen und sich stattdessen darauf beschränken, das notwendige Geld aufzutreiben.
A: Das ist ja auch in Ordnung, dass es Leute gibt, die ein anderes Leben angenehmer empfinden. Es sollte halt ein Nebeneinander sein, und eine Akzeptanz da sein für Menschen, die anders leben wollen.
M: Der Begriff ‚Anarchismus’ wird ja meiner Meinung nach auch oft falsch verwendet. Es ist ein inzwischen sehr negativ besetztes Wort. Wenn irgendwo ein Bürgerkrieg ausbricht, und wenn Leute mit Waffengewalt Supermärkte plündern, wird fälschlicherweise von ‚Anarchismus’ gesprochen. Das hat aber gar nichts mit Anarchismus zu tun, weil da das ‚Gesetz des Stärkeren’ und das Machtprinzip herrschen. Das Prinzip des ‚Keine Macht über einander’ ist hier am Wagenplatz hingegen sehr gut verwirklicht, eben weil es keine Hausordnung gibt.
Es gibt einige Regeln, ja – aber sehr wenige, und es bleibt mir in den Details überlassen, wie ich mich organisiere: Wo ich meinen Müll sammle, wann ich meine Musik höre, etc. -, und wenn es andere stört, so gibt es eben andere Möglichkeiten als die Polizei zu rufen, oder eine Beschwerde an eine Hausverwaltung zu schreiben. Wir suchen andere Lösungen. Jedes Problem wird ohne vorgegebene Linie angegangen. Wenn ich z.B. angeschnauzt werde: „Mach jetzt sofort die Musik leiser!“, kann ich sagen: „Nee, ich bin grad gut drauf, ich muss jetzt gerade Musik hören“. Und dann würde man halt darüber diskutieren und eine Lösung über das Gespräch finden.
R: Es gibt einen gewissen Widerhall über euer Projekt in Zeitungsberichten. Zum Teil habe ich sie gelesen und hatte den Eindruck eines oberflächlich-neutralen Tones, aber im Bereich des lokalen rechtspopulistischen Lagers wurdet ihr zuletzt als Störfaktor entdeckt und habt von dort her Gegenpresse.
M: Einerseits empfinde ich es als Kompliment, dass sich jetzt die FPÖ (Anm.: ‚Freiheitliche Partei Österreichs‘) gegen uns stellt und uns nicht haben will, andererseits kennen sie uns überhaupt nicht. Was sie über uns behaupten ist verleumderisch und zeigt mit welchen Methoden sie arbeiten. Die Schlagworte, die sie dazu erfunden haben, passen einfach nicht, stimmen nicht. Wahrscheinlich haben sie einmal mit den Nachbarn gesprochen und den Rest dazugedichtet.
R: Also mit Nachbarn gab es schon Probleme?
A: Es gibt immer Probleme mit Leuten, die nicht verstehen, dass wir so leben können. Die glauben, das kann nicht sein, das darf nicht sein, so darf man nicht leben.
M: Das ist lächerlich. Gerade dieser Nachbar hat daneben auch Wohnwägen stehen, in denen er seine rumänischen Erntehelfer, die er um € 3,50 pro Stunde anstellt, wohnen lässt. So ist das nicht zu erklären.
A: Leute, die sich angegriffen fühlen.
M: Vielleicht Menschen, die sich nicht gefragt haben, wie sie eigentlich leben wollen…..
R: Wie stellt ihr euch die weitere Entwicklung eures Projekts vor?
J: Ich stelle mir in den nächsten Jahren schon ein Wagenleben vor und daß der Wagenplatz funkionieren wird. So wie es momentan ausschaut, werden wir einen Platz haben, der zumindest für die nächsten Jahre gesichert ist.
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KURIER vom 19.6.2009: Wagenplatz: Camper orten Ludwig-Umfaller:
Das Wagendorf in Simmering muss wegen einer Grundstückswidmung umziehen. Die Stadt Wien sagte den Mietern Hilfe bei der Suche nach einem neuen Standort zu. Die Miete für den neuen Wagenplatz in der Lobau wäre jedoch mit 22.000€ doppelt so hoch wie bisher, was die Camper zu einer Spontankundgebung gegen den „Umfaller“ des zuständigen Wohnbaustadtrats Ludwig veranlasst.
Die Bewohner des Wagenplatzes haben in einer unangemeldeten Demonstration am 18. Juni mit fünf Wägen und einem Traktor vom Schwarzenbergplatz über den Ring ihr Anliegen wieder im Rathaus vorgebracht. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses ist die Weiterentwicklung unklaR: Einigung mit der Stadt Wien, anderer Standort, Aufteilung auf mehrere Standorte, neuerliche Besetzung eines Grundstückes,…..
18 Aug
Bukumatula 1/2009
Gespräch mit Wolfram Ratz anlässlich seines Ausscheidens als Sekretär des Wiener Wilhelm Reich- Instituts
Beatrix Teichmann-Wirth:
Regina: Wolfram, wie bist Du zum Wilhelm Reich-Institut (WRI) gestoßen?
Wolfram: Zum WRI, das 1982 gegründet wurde, stieß ich über Dr. Peter Bolen, dem eigentlichen Initiator des Instituts, der schon vorher und dann in diesem Rahmen Ausbildungsgruppen in Körperarbeit nach Wilhelm Reich angeboten hat. Mich hat das vom Inhalt her außerordentlich interessiert, und ich begann mich für diverse Tätigkeiten zu engagieren – auch für die AIKE anlässlich der Wilhelm Reich-Tage 1982 und viele Jahre später für die AABP.
Zurückblickend war es für mich die Zeit einer aufregenden humanistischen Aufbruchsstimmung. Mit zunehmenden WRI-Aktivitäten wurde auch die Organisationsarbeit immer mehr. 1986 hat die damalige Obfrau, Renate Grossauer-Schnee, vorgeschlagen, mich als „Sekretär“ anzustellen, was ich mit großer Freude angenommen habe.
R: Wolfram, du hast einmal erzählt, dass es immer ein Traum von dir war, eine eigene Zeitung herauszugeben. Kannst du das näher erläutern?
W: In mir gab es immer schon eine Liebe zur Sprache. Ich habe vieles für mich zusammengeschrieben, wobei mir klar war, dass das literarisch nicht von Wesentlichkeit war. Dann bin ich aber einmal im Falter auf ein Interview mit einem französischen Autor gestoßen, in welchem er meinte: „Ich gehe nie in eine Buchhandlung. Wenn ich ein Buch lesen will, schreibe ich es mir selber.“
Dieser Satz hat mein Leben verändert. Unmittelbar darauf, das war 1987, habe ich eine eigene Zeitschrift herausgegeben, eine „Leserzeitschrift“ mit dem Titel „Gustl“, die für ein Jahr konzipiert war und in der die Leser die Beiträge selbst verfasst haben. Verwandte, Freunde und Bekannte haben dabei mitgemacht. Das war für mich von der Idee bis zur Ausführung ein großes Projekt – und hat mich schon mit der ersten von sechs Ausgaben, nicht nur finanziell, auf den Boden gebracht: Zu einem von mir durchaus geschätzten homöopathisch-pornografischen Artikel von Peter Stöckl, meinte meine Mutter damals: „Ich schäme mich, dass du mein Sohn bist“, was mich aber in meinen Ambitionen als „Zeitungsmacher“ nicht aufhalten konnte.
Zum Entschluss, eine WRI-Zeitschrift herauszugeben, möchte ich voranstellen, dass es zu jener Zeit bereits regelmäßig Info-Briefe an die Mitglieder gab, in denen über Vorträge, Seminare, etc. berichtet wurde. Und so entstand in mir die Idee einer Zeitschrift, die auch von den damaligen Vorstandsmitgliedern aufgegriffen wurde. Ich kann mich noch gut an das Treffen bei Monika Bammer-Gürtler erinnern – bei der wir über viele Jahre hinweg unsere Vorstandssitzungen abgehalten haben und für deren Gastfreundschaft und Engagement ich heute noch Dank sage -, bei dem wir die Namensgebung in Form eines „Brainstormings“ erarbeitet haben.
Von mehr als fünfzig Ideen wurde der Vorschlag von Alfred Preindl, der heute als Psychiater tätig ist, angenommen. Und der hieß eben: „Bukumatula“ – das „Ledigenhaus“. Der Bezug dazu entspringt den Forschungen des Ethnologen Bronislaw Malinowskis auf den Trobrianderinseln, die Reich in sein Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ einfließen ließ.
Das PC-Zeitalter hatte damals noch keinen Einzug in den Alltag gefunden und die Herstellung einer Zeitschrift auf privater Ebene war dementsprechend mühsam. Zu dieser Zeit war eine IBM-Schreibmaschine, die drei Zeilen zurück korrigieren konnte, schon ein technisches Wunderwerk. Wenn dann irgendwo mitten in der Seite etwas falsch war, dann hat man das ausschneiden und wieder zusammenkleben, bzw. überhaupt neu schreiben müssen.
R: Aber Wolfram, kannst du sagen, wie es dazu gekommen ist, dass du ausgerechnet für das WRI Sekretär geworden bist und dir den „Traum“ einer Zeitschrift erfüllt hast – was hat es mit Wilhelm Reich auf sich?
W: Es war schon so, dass das, was ich von und über Wilhelm Reich gelesen habe, mein Weltbild sehr verändert hat. Mein Wissen, das ich von Eltern, Lehrern und Pfarrern vermittelt bekommen habe, habe ich damit massiv infrage gestellt. Ich habe mich nach und nach mit dem Werk Reichs auseinandergesetzt; vieles kenne ich gar nicht, die wesentlichen Eckpunkte zumindest seiner psychoanalytischen Zeit sind mir aber vertraut.
Ich meine, dass das ein Wissen ist, nach dem viele Menschen dieser Welt hungern. Warum ich mich gerade für Reich so eingesetzt habe, weiß ich nicht. Vielleicht hat das mit seiner Außenseiterrolle zu tun. Ich selbst fühle mich als „Suchender“ ebenso oft verloren wie herausgefordert. Außenseiter bringen jedenfalls oft Erstaunliches zustande.
R: Kannst du dich noch an die Bukumatuala-„Nullnummer“ erinnern?
W: Anlässlich der Wiederkehr von Wilhelm Reichs neunzigstem Geburtstag gab es 1987 europaweit Veranstaltungen – etwa in Berlin, die ich besucht habe, in Neapel, bei der ich einen Vortrag gehalten habe und in Wien, die ich organisiert habe. Und damit gab es eine Menge an „Material“.
Die erste Bukumatula-Ausgabe erschien im Herbst 1988. Die Journalistin Nadine Hauer hatte einen Artikel über Reich verfasst, der mich sehr beeindruckt hat und den sie uns zur Verfügung stellte. Das war der Hauptartikel der ersten Ausgabe und aus meiner Sicht ein sehr schöner Beginn.
R: Was würdest du als „Highlight“ in deiner Zeit als Sekretär sehen?
W: Meiner Meinung nach lagen die „Goldenen Jahre“ des Reich-Instituts zwischen 1986 und 1991, in denen ich mich auch persönlich besonders engagiert habe. Ursprünglich als Ausbildungsinstitut gegründet, gab es das Bestreben, die besten Therapeuten und Therapeutinnen auf diesem Gebiet nach Wien zu holen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen war ich von Anfang an von der Wirksamkeit der Vegetotherapie überzeugt. Und es kamen – manche in Jahresabständen – Al Bauman, Emily Derr, Myron Sharaf, Eva Reich, Jürgen Christian, David Boadella und einige mehr.
Zum Teil haben sie bei mir gewohnt, und so konnte ich sie auch persönlich näher kennen lernen. Gestoppt wurden diese goldenen Jahre, durch eine Steuerprüfung im Jahr 1991. Aus irgendeinem Grund wurde die Finanzbehörde auf uns aufmerksam, und wir wurden darauf hingewiesen, dass wir nach Paragraf so und so, die begrenzte Einkommensteuer für ausländische Therapeuten nicht abgeführt haben. Das war der Beginn einer „Depression“, was ich im Nachhinein – und noch heute darüber zerknirscht – als „Pulsationsbewegung“ zur Kenntnis genommen habe. Zu dieser Zeit habe ich einen großen Teil der Verantwortung für das WRI auf mich bezogen gefühlt und war wirklich verzweifelt.
Es ging damals immerhin um eine Nachzahlung in Höhe von mehr als 100.000,- Schilling. Das war für unseren kleinen Verein unfassbar viel. Aufgrund der außerordentlich komplizierten und dazu unklaren Rechtslage haben wir Udo Stalzers Steuerberatungskanzlei eingeschaltet, die gegen den Finanzamtsbescheid wiederholt Einspruch erhoben hat, was sich über neun Jahre hingezogen hat. Insgesamt haben wir schließlich an die 90.000,- Schilling für Finanzamt und Steuerberater aufwenden müssen.
Ich bin sowohl Beatrix Teichmann-Wirth und Günter Hebenstreit, die in dieser schwierigen Zeit das WRI-Ruder übernommen haben, als auch den anderen damaligen Vorstandsmitgliedern und insbesondere den Bukumatula-Lesern und Leserinnen dankbar, dass sie durch ihre, zum Teil sehr großzügige finanzielle Unterstützung, zum Überleben des WRI beigetragen haben.
Aus Anlass der Steuerprüfung sind ab 1991 sämtliche Aktivitäten – mit Ausnahme eines SKAN-Ausbildungslehrgangs mit Loil Neidhöfer und Petra Mathes, der großen Anklang fand – über viele Jahre hinweg eingestellt worden.- Nach Abschluss der Steueraffäre haben sich im Jahr 2000 Günter Hebenstreit als Obmann und der Vorstand für eine Wiederbelebung der Aktivitäten eingesetzt. Wir haben Toni Stejskal als Organisationsberater engagiert und 2001 bei Heiko Lassek angefragt, wieder frischen Wind in die Reich-Szene zu bringen, was mit seinen vielen nachfolgenden Vortragsreisen nach Wien und seinen Ausbildungslehrgängen in „Orgontherapie“ sehr erfolgreich war.
R: Wolfram, würdest du zu den goldenen WRI-Zeiten auch den EABP- Kongress – anlässlich der Wiederkehr Reichs 100. Geburtstags, 1997 – in Pamhagen dazuzählen – und welche Rolle spielte das WRI zu diesem Zeitpunkt?
W: Den EABP-Kongress in Wien und Pamhagen habe ich insofern in bleibender Erinnerung, als damals die Finanzierung einer Gedenktafel für Wilhelm Reich anstand, die von Hildegund Berghold gestal-tet wurde und die 45.000.- Schilling gekostet hat. (Anmerkung: Die vom WRI initiierte Gedenktafel in der Blindengasse 46a wurde am 30. November 1997 bei strömenden Regen und düsterkalter Abendstimmung in Anwesenheit des Bezirkvorstehers, einiger Polizisten und einer kleinen Reich- Gemeinde mit einer Ansprache von Beatrix Teichmann-Wirth enthüllt.)
Auch dafür habe ich mir selbst große Verantwortung auferlegt, das Geld dafür aufzutreiben, was mir persönlich ja überhaupt nicht liegt. Ich bin damals zur Symposiumseröffnung im Palais Ferstl mit einem Korb herumgegangen und habe um Spenden gebeten. Und in Pamhagen habe ich auch immer wieder einen Spendenkorb aufgestellt – und am Abend das Geld gezählt.
Auf diese Weise habe ich Kontakte mit so manchen Teilnehmern knüpfen können; auf den Inhalt der Tagung habe ich mich aber nicht konzentrieren können.- In Pamhagen habe ich noch einmal Myron Sharaf getroffen, dem ich mich sehr nahe fühlte, nicht ahnend, dass er ein paar Tage später sterben würde. Das WRI hat zu dieser Tagung nicht wirklich etwas beigetragen; ich persönlich habe aber als damaliges Vorstandsmitglied der AABP an den Vorbereitungen mitgearbeitet.
R: Wenn du von der Zeit der „Depression“ sprichst: Was hat dich daran gehindert dieses sinkende Schiff zu verlassen?
W: Der Grund, das Schiff nicht zu verlassen, lag für mich in erster Linie darin, dass ich mich dem Werk Reichs vom Herzen her wirklich verbun- den fühle und dass auch alle Vorstandsmitglieder mit an Bord geblieben sind. Mir war von Anfang an klar, dass ich mit meinem Engagement einen Außenseiterweg beschreite. Aber es tauchten immer wieder für mich faszinierende Leute auf, die mich zum Weitergehen veranlasst haben.
Es war meine Hoffnung, dass aufgrund der Bedürftigkeit der Menschen nach einem glücklicheren Leben Wilhelm Reichs Gedankengut irgendwann Fuß fassen könnte; offenbar waren fünfzig Jahre zu wenig. Für mich hat das Werk Wilhelm Reichs, insbesondere auch sein Lebensweg, mit einem heftigen Anstoß zu kreativem Tun und lebenslangem Lernen zu tun – das Leben zu erlernen – und mein Anliegen ist es, das auch anderen Menschen weiterzugeben: Dass man ein Leben lang lernen darf, lernen soll, lernen muss, um in Frieden sterben zu können. So meine ich das. Wenn es einen Sinn im Leben gibt, dann soll man lernen Abschied zu nehmen.
R: Wenn du jetzt noch einmal mit all deinen bisherigen Erfahrungen mit Bukumatula von vorne anfangen würdest: Was würdest du anders machen?
W: Nach zwanzig Jahren der Herausgeberschaft mit etwa einhundert Ausgaben möchte ich zunächst – und das ist mir ein großes Anliegen, allen Autoren und Autorinnen meinen Dank aussprechen, dass sie so viele gute, manchmal hervorragende Beiträge beigesteuert haben. Insbesondere möchte ich Beatrix Teichmann-Wirth und Heiko Lassek danken, die mir stets mit Rat und Tat, also mit Beiträgen ausgeholfen haben, wenn es zu Redaktionsschluss keine gab.
Bukumatula ist aus meiner Sicht im Laufe der Zeit irgendwann `stehen´ geblieben. Formal betrifft das etwa das Layout – und vom Inhalt her – und das ist für mich von größerer Bedeutung, habe ich mich als Herausgeber fast ausschließlich dem „frühen“ Reich gewidmet. Ich meine, dass es an der Zeit ist – insbesondere auch durch die Öffnung des Reich-Archivs – das Risiko einzugehen, sich auf den „späten“ Reich einzulassen, auch wenn das in einer Sackgasse enden sollte. Ich finde diesen Weg spannend und möchte sowohl die Redaktion als auch den WRI-Vorstand geradezu auffordern, ihn zu beschreiten.
R: Was würdest du dir für Bukumatula wünschen, und was würdest du dir für das WRI wünschen?
W: Für Bukumatula wünsche ich mir, dass es am Leben bleibt, auch wenn künftig vielleicht weniger Ausgaben im Jahr, die aber regelmäßig, erscheinen sollten. Dem neuen Chefredakteur, Robert Federhofer, wünsche ich, dass er seine eigene Kreativität einbringt und er seine Persönlichkeit auch über diese Ebene zu entwickeln versteht. Ich möchte ihm raten ein Redaktionsteam zur Erleichterung seiner Arbeit zusammenzustellen, dass er Kontakte zu Autoren pflegt und Interviewpartner für Beiträge findet. Es gibt ja genug interessante Menschen, mit denen es sich lohnt, Kontakt aufzunehmen. Ich werde ihn in der Anfangsphase gerne unterstützen.
Es war immer mein Anliegen – und das habe ich auch geschafft -, dass in Bukumatula fast ausschließlich Originalbeiträge erschienen sind. Es soll eine „Originalzeitung“ bleiben, auch mit dem Risiko, weniger gute Beiträge zusammenzubringen; zumindest bleibt sie damit authentisch. – Inwieweit Printmedien im Zeitalter des Internets Bestand haben, wird man sehen. Aber eine Zeitschrift, die man sinnlich wahrnehmen kann, die man fühlen und riechen kann, wird immer etwas Besonderes bleiben – und sie ist auch eine Art „Visitenkarte“ des Vereins.
Für das WRI wünsche ich mir, dass es eine Drehscheibe für das Werk Wilhelm Reichs bleibt und dass es sich, die Fußballersprache zu Hilfe nehmend, für eine „Nachwuchsmannschaft“ verantwortlich fühlt. Durch mein Ausscheiden als Sekretär und die damit freigewordene finanzielle Verbindlichkeit, meine ich, dass sich eine Schleuse geöffnet hat, womit sich ganz neue Möglichkeiten für Ideen bzw. Aktivitäten auftun. Längerfristig lohnt es bestimmt, sich den Arbeiten und „Visionen“ Wilhelm Reichs weiterhin anzunehmen, was ich mit meinem Lieblingszitat unterstreichen möchte: „Die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“ Übrigens:
Neben meiner geliebten Tätigkeit als Psychotherapeut werde ich mich künftighin haltlos meiner neu erworbenen italienischen Knopfharmonika hingeben. Und: Dieses Interview widme ich Dr. Peter Bolen, der mir aus einer tiefen Lebenskrise geholfen und mir als Mentor einen ganz neuen und spannenden Lebensweg eröffnet hat.
R: Lieber Wolfram, ich wünsche dir viel Freude beim Musizieren und bedanke mich im Namen aller für deine Ausdauer gerade in den finanziell schwierigen WRI-Zeiten. Ich hoffe, dass dich die Erinnerung an die kreativen Zeiten immer wieder erheitern und beflügeln kann und du auch in Zukunft unbelastet im „Weisenrat“ dein hütendes und wohlwollendes Auge auf die „Jugend“ richtest.
18 Aug
Bukumatula 1/2009
Nationale Vereinigung der „European Association for Body- Psychotherapy“ (EABP)
Regina Hochmair:
Liebe Freunde des Wilhelm Reich Instituts,
es freut mich über die Aktivitäten der AABP (Österreichische Vereinigung für Körperpsychotherapie) zu berichten. Die AABP wurde 1995 als österreichischer Verein der EABP (Europäische Vereinigung für Körperpsychotherapie) gegründet. Die EABP ist als köperpsychotherapeutische Vereinigung in der Dachorganisation EAP (Europäische Vereinigung für Psychotherapie) anerkannt.
Vor zwei Jahren hat die AABP einen dritten Anlauf genommen, um die Körperpsychotherapie (KPT) in Österreich zur Anerkennung zu bringen. Deshalb wurde im nächsten Schritt ein Weiterbildungscurriculum entworfen, das den Fort- und Weiterbildungsrichtlinien für PsychotherapeutInnen des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen entspricht und vom ÖBVP (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie) als Weiterbildung zertifiziert wurde.
Da sich die verschiedenen Richtungen innerhalb der EABP auf Wilhelm Reich zurückführen lassen, ist die Zusammenarbeit auch für das WRI bedeutsam. Viele Schulen haben sich aus der Folgegeneration Reichs entwickelt und sind in der KPT vereint. Die Schulendiskurse der 80er und 90er Jahre sind nach Rückzug bzw. Ableben der neoreichianischen Schulenbegründer (z.B. Chuck Kelley) weitgehend verebbt.
Somit geht es nicht mehr darum, wer Recht hat, sondern darum, die Stärken in den unterschiedlichen Verfahren zu sehen und einen gemeinsamen Nenner zu finden. Als Vorsitzende des WRI sehe ich mich dafür verantwortlich, dass dabei auf Reich nicht wieder vergessen wird und habe in den letzten Jahren mein Engagement in die Entwicklung dieses Programms gesetzt.
Die Weiterbildung startet im September 2009 und dauert zwei Jahre. Themen der Workshops sind u.a.: Einführung in die Theorie und Praxis der KPT; Atmung – therapeutische und diagnostische Aspekte; Kontakt – Beziehung – Berührung; Reichianische Grundprinzipien; Vegetotherapie; Diagnostik und Psychosomatik in der KPT.
In diesem Zusammenhang freut es mich auch anzukündigen, dass die AABP bzw. EABP einen Körperpsychotherapiekongress zum Thema „Body-Mind-Relation“ vom 29. Oktober bis 1. November 2010 im AKH in Wien veranstalten wird. Näheres dazu könnt Ihr auf der Website der EABP finden (https://www.eabp.org).
Ich wünsche Euch allen einen erholsamen Sommer
Regina Hochmair