19 Aug
Bukumatula 1/13
Interview mit Antonin Svoboda Regisseur und Produzent des Spielfilms
„Der Fall Wilhelm Reich“
Beatrix Teichmann-Wirth:
Beatrix: Wie viele Interviews hast Du denn in letzter Zeit schon gegeben?
Antonin: Viele. Für Rundfunk, Zeitungen, Internet, etc; alle wollen etwas anderes wissen.
B: Du hast Dich viel mit Wilhelm Reich beschäftigt. Nach Deinem Dokumentarfilm „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“ hast Du jetzt den Spielfilm „Der Fall Wilhelm Reich“ herausgebracht. Was hat Dich zu diesen Aktivitäten angeregt?
A: Heiko Lassek. Im Anschluss an seinen Vortrag über „Chi und Orgon“ im Neuen Institutsgebäude der Universität Wien im Herbst 2002, haben wir uns in einem Gasthaus persönlich kennengelernt. Orgonenergie nach Reich und Chi im Daoismus haben mich vom Thema her interessiert, und ich habe mein Wissen dann über Jahre hinweg vertieft, auch über Selbsterfahrung in Heikos Aus- bzw. Fortbildungsgruppen.
An einen Film habe ich damals überhaupt nicht gedacht. Über unsere Freundschaft, die sich über die Jahre entwickelt hat, haben wir uns über die Person Reich und über sein Schicksal immer wieder Gedanken gemacht, sozusagen darüber zu `spinnen´ begonnen. Ich hatte den Eindruck, dass Reich eine sehr exemplarische Persönlichkeit der damaligen Zeit war. Ein Mensch, der nach dem Zweiten Weltkrieg – in einer Zeit gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Weichenstellungen – zu Problemen Ruf- und Fragezeichen gesetzt hat, mit denen wir uns heute noch herumschlagen, bzw. erst jetzt die Rechnung präsentiert bekommen.
Er hat sehr früh begonnen auf Umweltbelastungen hinzuweisen. Was ist der Preis, den wir dafür zahlen, wenn man sich für Atomspaltung interessiert und daraus Gewinn zieht. Was ist der Preis, wenn man eine Gesellschaft, auch wenn sie scheinbar demokratisch ist, mit allen möglichen Manipulationsmechanismen unterwandert. Was ist der Preis, wenn man die Pharmaindustrie diktieren lässt, was heilsam ist. Deshalb fand ich es interessant, das heute nochmals zu thematisieren.
B: Ich habe den Film zwei Mal gesehen. Das zweite Mal mit amerikanischen Freunden, die von Reich überhaupt nichts wussten. Die haben gemeint, dass es in den USA ja nach wie vor so ist und waren ganz hellhörig, als ich sagte, dass ich früher Kommunistin war; es ist offenbar in den USA sogar heikel zu sagen, dass man Sozialist ist, das kommt dort einem Schimpfwort gleich.- Warum hast Du gerade diesen Lebensabschnitt aus Reichs Leben gewählt und nicht seine Wiener oder Berliner Zeit?
A: Es wäre natürlich naheliegend gewesen, Reichs Wiener Zeit, sozusagen vor Ort, zu drehen. Man hat alles zur Verfügung. Die Häuser stehen noch, man könnte relativ schnell in diese Zeit abtauchen. Aber dann wäre der Hauptdarsteller nicht Klaus Maria Brandauer gewesen – einen Dreißigjährigen nimmt man ihm nicht mehr ab. In langen Diskussionen mit Heiko kamen wir überein, dass das nicht die Zeit des großen Raunens, des großen Missverstehens, des großen Stigmatisierens war.
Dies wird in gewisser Weise nach dem Zweiten Weltkrieg, in seinen amerikanischen Jahren viel deutlicher, wo ihm kaum jemand mehr folgen konnte oder wollte, wo viele ihn leichtfertig als verrückt bezeichneten, paranoid, größenwahnsinnig, ohne zu wissen, was eigentlich wirklich los war. Dieses Phänomen finde ich in gewisser Weise lebensbedrohlich: Dass wir uns angelernt haben, unsere Beschränktheit aggressiv mit Vorurteilen und Verurteilungen zu schützen, anstatt zu sagen, hoppla, ich weiß vielleicht doch nicht alles, es gibt mehr als ich mir vorstellen kann.
B: In Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich in Myron Sharafs Reich- Biografie den Prozessbericht nachgelesen. Darin schreibt er auch über Reichs `Anhänger´: „Wir wussten wenigstens von unserer eigenen Kleinheit und Schäbigkeit, unseren Widerständen, unseren Ängsten, unserer Besserwisserei, unserer Trägheit oder Gleichgültigkeit oder unserem Sich-Verkriechen, was immer es im einzelnen Fall gewesen sein mag.“ Eigentlich ist Reich genau das widerfahren, was er im „Christusmord“ beschreibt.
Dass er etwas berührt hat, was extreme Ängste unbewusster Art ausgelöst hat und dann wirklich „tödlich“ darauf reagiert wurde. Er wurde als paranoid, größenwahnsinnig abgetan, in’s schizophrene Eck gestellt. Wie Sharaf Wilhelm Reich beschreibt – und das ist auch im Film für mich so herübergekommen, ist er ein durchgängig rationaler Mensch gewesen, selbst in dieser Phase der extremen Belastungen. Im Gegensatz dazu schreibt David Boadella in seiner Reich-Biografie, dass er zum Schluss wirklich in den paranoiden Wahn abgeglitten und nicht mehr Herr seiner Sinne war.
A: Gut, aber Boadella hört ja auch vor dem „späten“ Reich auf; er schreibt nichts mehr über Cloudbusting, etc.
B: Im Kapitel „Das letzte Jahr“ schreibt Boadella, dass Reich eine Zeit lang die Belastungen durchgehalten hat, jedoch am Schluss wie von einem Krebs aufgefressen worden ist, und er spricht in diesem Zusammenhang von paranoidem Wahn. Gab es Hinweise von Zeitzeugen zu einer Erkrankung in diesem Sinne?
A: Das ist nicht mehr feststellbar. Was man weiß, seit mit dem `Act of Freedom´ in den späten 70er Jahren in die Akten der FDA Einsicht genommen werden konnte, ist, dass die Verfolgung Reichs über eine Million Dollar gekostet hat – für einen Gegenwert einer Strafe von etwa 12.000.- Dollar, da meine ich, dass das ein schlechtes Geschäft für die FDA war. Über neun, zehn Jahre hinweg wurde Reich beschattet und bespitzelt. Da kann man nicht von Paranoia reden. Das hätte Boadella auch wissen können, wenn er es wollen hätte.
Aber wir wollen anscheinend immer nur das wissen, was unserem eigenen Weltbild gut tut. Mein Vorteil ist, dass ich kein `Reichianer´ bin. Ich schaue mir das Ganze weltzusammenhängend an. Und Reich ist ja nur einer von vielen, die mundtot gemacht wurden. Sobald es um das Naschen vom Baum der Erkenntnis geht, wird das sehr schnell und radikal instrumentalisiert, mystifiziert und abgetötet. Wenn es um Macht geht, muss sie in den Händen sein, die die Kapital- und Waffenvorherrschaft haben; dort kann und darf es elaboriert werden, aber es darf sicherlich nicht frei zirkulieren.
Wie gesagt, ich bin kein Reichianer, ich bin kein Körpertherapeut, ich muss mich da nirgendwo einfinden, ich bin frei in meiner Betrachtungsweise.- „Der Fall Wilhelm Reich“ ist deshalb kein realistischer Film, weil es mir nicht um einen Personenkult oder um eine Wiedergutmachung geht, sondern um meine eigene Vision und mein Gefühl, das ich habe, wenn ich mich mit Reich beschäftige. Ich möchte in meinem Film seinen Traum durchschillern lassen, und dieser Traum soll das Publikum erreichen. Es sollte nicht ein verstörter, exaltierter und jähzorniger alter Mann gezeigt werden. Natürlich kann man ihn auch so darstellen, aber nur dann, wenn man wirklich seine ganzen sechzig Lebensjahre zeigt; dann ist das nachvollziehbar.
Wenn ich nur einen Ausschnitt zeige und man nicht weiß, dass er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens über den ganzen Globus verfolgt und in Grund und Boden geschrieben wurde, dann bleibt halt ein `Verrückter´ über. Das war nicht meine Absicht. Ich musste das dosieren und habe dazu mit Brandauer ausgiebig Überlegungen angestellt: Was wollen wir und was wollen wir nicht zeigen? Dementsprechend habe ich eine subjektive Wahl getroffen.
B: Was meinst Du mit `Deiner Vision´? Womit wolltest Du das Publikum erreichen – es ist ja Deine eigene Begeisterung.
A: Na ja, meine Vision – damit meine ich natürlich, was ich als Reichs Vision erkenne. Ich wollte einen Ist-Zustand der damaligen Zeit zeigen. Da geht es um die Faktoren, die rundherum wirksam waren und nicht um eine Retrospektive oder eine obergescheite Draufsicht von heute auf damals. Ich wollte zeigen, wie das alles in Nonsens, Uninformiertheit etc. eingebettet war und wie wenig reicht, dass man verurteilt wird. Das eine ist also der zeithistorische Moment, und das andere hat mit meinen persönlichen Erfahrungen zu tun, die ich in der Ausbildungsgruppe und in Einzelsitzungen erlebt habe – und das hat sehr viel mit Liebe zu tun.
Wenn sich Menschen ihrer Fähigkeiten wieder bewusst werden, bzw. in Zustände kommen, wo sie sich auch wieder selber spüren können und nicht nur Opfer ihrer Umwelt sind, beginnt sich etwas zu bewegen. Das kann man auch in der politischen Haltung und in der therapeutischen Haltung Reichs sehen und erleben. Mit der Überwindung der Psychoanalyse und der Hinwendung zur energetischen Arbeit, die er in der Therapie mehr und mehr forciert hat, geht es darum, den Intellekt, das gesellschaftlich Geprägte zu überwinden, um wieder auf das Existenzielle im Menschsein in einer universellen und energetischen Form zu kommen.
Das kann dann jedem nur gut tun, nämlich so wie er es selber braucht, also die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Langsam scheint das auch bei unseren Krankenkassen anzukommen. Das ist eine Vision und eine Wahrheit, die Reich sehr kämpferisch verteidigt bzw. gefordert hat. Ich wollte sichtbar machen, dass er eigentlich ein Menschenfreund, ein Menschenliebhaber war – im Sinne von Mensch-Sein, nicht auf einer psychischen Ebene, sondern auf einer phänomenalen Ebene.
B: Ich finde, das kommt wunderbar heraus. Es ist sehr viel Zärtlichkeit spürbar, eine unermessliche Zärtlichkeit. Zum Beispiel, wie er mit dem jungen Mann therapeutisch arbeitet, oder auch in Bezugnahme zu seinem Sohn und zu seiner Tochter. Was mich zusätzlich sehr stark berührt hat: Für mich ist der Film ein radikaler Aufruf, in dem Sinne, wie er beispielsweise zu seiner Tochter sagt: „Wir können uns nicht darum kümmern, was die anderen Leute sagen.“
Also irgendwie die Entschiedenheit zu: „Worum geht es eigentlich in meinem Leben?“ Ich habe den Film sehr inspirierend gefunden; auch um aus dieser Kleingeistigkeit herauszutreten, in der wir so gefangen sind, vor allem in letzter Zeit durch die Sorgen um unsere Existenz und dass da einer dran bleibt bis zum Schluss.- Heiko Lassek hat ja wohl viel mit Dir an den Dialogen gearbeitet….
A: Nein. Wir haben lange über Szenen usw. gesprochen. Aber Heiko war drei, vier Jahre vor Drehbeginn das letzte Mal involviert. Die Dialoge habe ich mit Brandauer bearbeitet und das Drehbuch von 110 Seiten auf 70 Seiten reduziert. Wir haben lange an den Dialogen gefeilt, weil Brandauer eher sein Umfeld sprechen lassen wollte, als dass er ständig selber propagiert, um was es ihm, also Reich, geht; das ist immer die schwächste Position, wenn man alles selber erklären muss.
Daher ist sehr viel verändert worden. Es gab zwei, drei Stellen, wo ich Heiko gebeten habe, z.B. zum Thema Krebs, von seiner Erfahrung und seiner Arbeitsweise her, Ratschläge zu geben. Die Dialoge mussten extrem zugefeilt werden, damit sie auch dramaturgisch zwischen den Figuren funktionieren. Mit Heiko habe ich vierzehn, fünfzehn Drehbuchfassungen entworfen, die mit dem jetzigen Film gar nichts mehr zu tun haben.
Aufgrund der Budgetvorgaben mussten wir den Aufwand möglichst schlank halten. Uns war klar, dass wir nicht so viele Schauplätze nachbauen können und haben Prioritäten setzen müssen. See und Wüste waren zwei Prämissen. In Österreich haben wir im Waldviertel, am Ottensteiner Stausee, gedreht. Die Wüstenszenen, die Amerika suggerieren, wurden in Spanien gedreht.
B: Was Authentizität versus filmdramaturgische Aufbereitung betrifft: Es wird ja angedeutet, dass es ein Verhältnis zwischen Reich und Aurora Karrer gegeben hat – und dann wird Aurora als Agentin dargestellt. Diese Annahme habe ich in der Literatur nirgendwo gefunden.
A: Ich glaube schon, dass es dazu Annahmen gibt. Peter Reich hat sie lange gesucht und 1998 in einem Irrenhaus aufgestöbert. Und dann soll er noch Unterlagen am Dachboden ihrer Mutter entdeckt haben. Es ist sehr fraglich, ob sie das gestohlen oder aus Eigeninteresse gesammelt hat. Man weiß aber, dass Akten weggekommen sind, man weiß, dass der Orgonmotor gestohlen wurde.
Aurora steht letztlich und exemplarisch auch nur für all diese Momente, weil man in einem Film nicht die Möglichkeit hat, so viele Figuren unterzubringen. Reich hat ihr halt vertraut, so wie er seinen Mitarbeitern immer vertraut hat oder vertrauen wollte und damit oftmals schlechte Erfahrungen gemacht hat. Bis zum Schluss. In einer früheren Sequenz, die nicht mehr im Film vorkommt, gab es eine Szene, in der Reich im Zuge der Gerichtsverhandlung, als die Geschworenen sich beraten haben, seine Mitarbeiter herbeiholt, um mit ihnen seinen Nachlass zu besprechen.
Zu dem einem sagte er: „Du bist mir zu fahrig und kannst die Körpertherapie nicht weiterführen, du übernimmst aber die administrativen Angelegenheiten“, zu einem anderen meinte er: „Du kannst die Körpertherapie von mir autorisiert weiterführen.“ Er schien schon das Gefühl gehabt zu haben, dass seine Arbeit dadurch weiterleben kann und hat sich letztlich dann auch so anvertraut.
B: Was ich nicht ganz verstanden habe: Der Gerichtspsychiater sucht Hamilton, den Erst-Richter, am Golfplatz auf, der im weiteren Verfahren nicht mehr Richter war. Einerseits steht im Raum, dass er abberufen, in Frühpension geschickt wurde, aber seinerseits sagt er, dass seine Frau todkrank gewesen sei.
A: Das ist ein Moment, um in gewisser Weise auch Ambivalenz zuzulassen, um das Ganze nicht zu eindimensional zu erzählen. Jetzt bin ich in Frühpension geschickt worden, obwohl ich diesen Fall behandle, warum passiert das? Und da gibt es einen möglichen Grund – aber es gibt eben auch andere Gründe.
Und welchen Gründen folgt man dann? Man ist ja selten mit einer Klarheit von Ursache und Wirkung konfrontiert. Und wenn er meint, das ist halt Schicksal, dann stellt sich die Frage, ob Schicksal vielleicht auch unsere Bestimmung ist. Darum dreht sich für mich vieles, was auch letztlich Wilhelm Reich betrifft.
B: Und es bleibt damit auch in dieser Spannung und geht nicht in die Eindimensionalität hinein, so dass es nicht nur Propaganda ist.
A: Ich meine, dass es ohnehin ein Propaganda-Film ist. Trotzdem gibt es aber immer noch ein Netz an Möglichkeiten, sich objektiver diesem Thema zu nähern. Deshalb steht im Nachspann des Films, dass keine Autopsie gemacht wurde. Tatsächlich wurde Reich aber obduziert, und laut FBI-Akten wurde sehr wohl Gift – Formaldehyd – in seinem Magen gefunden, was dann eher auf eine Vergiftung hinweist.
B: Das ist aus den FBI-Akten kundig geworden. Ich habe in der Reich- Biografie von Bernd Laska nachgelesen: Reich wurde obduziert, es konnte aber kein Gift nachgewiesen werden.
A: Wann ist dieses Buch erschienen? B: 1981….
A: Den `Freedom of Information-Act´ gibt es seit etwa 1978; damals wurde sukzessive mit der Veröffentlichung begonnen. Da hatte Laska offenbar noch nicht diese Informationen. Der Forderung von Reichs Familie nach Obduktion wurde vorerst nicht stattgegeben, und dass man damit leben muss ist für mich viel unheimlicher, als dass er vergiftet worden wäre.
Das ist etwas, mit dem wir ständig konfrontiert sind. Aus unerfindlichen Gründen passieren Dinge, und wir bekommen darüber keine Aufklärung. Ich finde diese Ohnmacht bedrückender als schuldig- nichtschuldig, als die „Klarheit“ über Gut oder Böse. Die Ohnmacht ist das eigentliche Übel.
B: Ich habe noch ein paar Fragen zum Film: Haben die Schauspieler, insbesondere Brandauer, Reich-Sitzungen zur Vorbereitung gehabt?
A: Nein. Aber ich war einmal mit Heiko bei Brandauer in Altaussee. Mit dabei waren auch Jeanette Hain, Julia Jentsch und Jamie Sives, der Hamilton spielt. Wir haben zwei Tage lang über Reich geredet, wir haben uns das Filminterview mit Myron Sharaf angesehen, in dem er über seine Beziehung zu Reich spricht, wir haben eine Behandlung zur Demonstration an einer Regieassistentin gesehen und haben Bücher aufgelegt. Und wir haben von Heiko viel Hintergrundrauschen über Reichs Arbeit gehört. Ich wollte einfach diesen Kosmos den Schauspielern öffnen und für sie greifbar machen.
B: Weiß man etwas über Besucherzahlen?
A: Da bin ich zufrieden. Vier Wochen nach Spielbeginn haben den Film etwa neunzehntausend Personen gesehen. Das ist knapp ein bisschen weniger als der neue Ulrich Seidl-Film „Paradies Hoffnung“. Da muss man sich nicht verstecken. Es ist ja auch ein „Art-House-Film“ mit einem Special-Interest-Thema. Mit den guten Zahlen haben wir auch einen deutschen Verleiher neugierig gemacht, der den Film Anfang September in Deutschland starten wird.
B: In welchen weiteren Ländern wird der Film zu sehen sein?
A: In der Schweiz und im Sommer auf einem Festival in San Francisco, mehr weiß ich noch nicht.
B: Die Schauspieler, auch die österreichischen und deutschen, sprechen Englisch. Haben die sich selbst synchronisiert?
A: Die deutschsprachigen SchauspielerInnen haben sich selbst synchronisiert, und für die anderen haben wir professionelle Sprecher und Sprecherinnen eingesetzt.
B: Und wie viel hat der Film gekostet?
A: Knapp über drei Millionen Euro. Das ist für so einen Film, einen historischen Film, mit so vielen Schauspielern und der auch noch in Amerika spielt, nicht viel. Man muss ja Bauten errichten, Häuser und Grundstücke anmieten und Ersatzstücke von weiß Gott woher bringen, zum Beispiel die Autos aus USA. Wir mussten uns am knapp bemessenen Budget orientieren; was ist möglich auch mit Bedacht, damit es nicht merkbar `dünn und billig´ erscheint.
Man mag den Film mögen oder nicht, aber die Reaktionen zeigen, dass er vom Setting und von der Atmosphäre her sehr dicht ist. Niemand zweifelt daran, dass die Handlung im Amerika der fünfziger Jahre spielt. Das ist schon sehr schön, denn dazu gab es dem Projekt gegenüber am Anfang doch einiges an Skepsis.
B: Ihr habt Euch doch sehr vertieft in Reich und all dem, was er in die Welt gebracht hat. Auf welche Art haben die Filmarbeiten die Schauspieler geprägt? Hat es da einen bestimmten `Geist´ gegeben?
A: Ein Filmdreh ist einfach harte Arbeit. Das Projekt ist unter einem extrem guten Stern gestanden. Wir hatten zum Beispiel großes Glück mit dem Wetter. Anfang Oktober haben wir im Waldviertel gedreht und haben dort noch Sommer vorgefunden. Das geht in Wahrheit gar nicht, dass man zu dieser Jahreszeit am Ottensteiner Stausee solches Wetter hat und dass Julia Jentsch dann noch schwimmen gehen kann. In der Früh haben wir die Herbstnebel aufgenommen, und zu Mittag haben wir im Sonnenschein gedreht.
Erstaunlich war, dass auch die englischsprachigen Kollegen, wie z.B. David Rasche, der in Amerika doch immer wieder in großen Hollywoodproduktionen mitspielt, sehr angetan waren und sich gefreut haben bei diesem Filmprojekt mit zu machen. Und es ist ja auch etwas Spezielles, wenn man das Gefühl hat, dass es da einiges an Dankbarkeit auf dem Set gibt. Insofern war schon bei allen spürbar, dass es hier nicht bloß um eine Geschichte geht, sondern dass etwas Besonderes im Raum steht.
B: Welche Rolle hat Heiko Lassek in diesem Projekt gespielt?
A: Heiko war von Beginn an ein ganz wichtiger Begleiter des Projekts. Wir haben über viele Jahre hinweg gemeinsam recherchiert. Wir waren zwei Mal gemeinsam in den USA, und er hat mir den Zugang zu Peter Reich, Eva Reich und anderen ermöglicht. Mit Mary Higgins und Kevin Hinchey hatten wir auch Frustrationserlebnisse. Ich würde Heiko als wissenschaftlichen Berater oder auch als `Head of Research´ bezeichnen.
Und natürlich war er auch derjenige, der mir gewissermaßen die Rechte, die Autorisierung, Reich als Film zu erzählen, gegeben hat, die er wiederum von Eva Reich erhalten hat. Das war eine ganz wichtige Autorisierung. Ob wir für den Film in den USA einen Verleih finden werden, ist sowieso noch eine große Frage. Zumindest ist das Match klar zwischen dem `Trust Fund´ und Eva Reich und Heiko. Amerika ist Amerika, Europa ist Heikos Angelegenheit.
B: Gibt es noch eine Frage, die Du gerne gestellt bekommen hättest?
A: Nein. Erstaunlich finde ich aber schon, dass sich nichts verändert hat, wenn man sich die Rezeption in den Medien ansieht. Wenn man sich auf etwas einlässt, in gewisser Weise offen ist, dann kann einen der Film berühren und dann wird er auch zu einem Erlebnis. Wenn man nur mit dem Kopf dabei ist und aus dem westlich-weltlichen Schuh-Karton noch nie hinausgedacht hat, dann bleibt alles so wie vor fünfzig Jahren.
Dann ist der Reich-Kosmos eine Spinnerei, dann ist alles Propaganda, etc. Ich habe nicht erwartet, dass es doch eine Anzahl von Leuten gibt, die von ihren Vorurteilen so geprägt und schnell verurteilen und keine Fragestellung, keine Selbst-Infragestellung zulassen. Das finde ich erstaunlich.
B: Das war ja auch in diesem ZEIT-Artikel zu lesen. Der Autor hatte z.B. auch Gelegenheit, den Reichschen Therapieansatz bei Tina Lindemann persönlich kennenzulernen und schien auch durchaus beeindruckt. Und dann liest man da von „Orgasmusguru“, etc. Ich habe einen Leserbrief an die Redaktion geschickt mit der Retourantwort, dass für die Österreich- Beilage keine Leserbriefe veröffentlicht werden. Ich bin richtig erschrocken, wie da zugeschlagen wird.
A: Ich glaube, es ist schwierig, einen Journalisten damit zu konfrontieren. Auf privater Ebene öffnet sich vielleicht ein kleines Fenster, aber gleichzeitig spürt er auch, wie schwer es ist da durchzugehen. Da besteht die Gefahr, dass es zu einem Boomerang-Effekt kommt. Der Chefredakteur soll das Ganze noch einmal verschärft haben. Der wollte kantigere, polarisierende, provozierende Dinge drinnen stehen haben. Aber so funktioniert halt das Zeitungsgeschäft.
B: Hast Du auch andere Erfahrungen gemacht?
A: Ja, von Menschen, die sich nicht bemüßigt gefühlt haben, intellektuell darüber zu sprechen, Menschen die den Film angesehen haben und ihn einfach als Erlebnis und als Erfahrung mitgenommen haben. Das war sehr positiv.
B: In der Presse überwog die Tendenz eher zur kritischen, teilweise abwertenden Distanz….
A: Nicht nur. Es war z.B auch zu lesen: „Ein Filmdenkmal, ganz aus Film“. Es gibt durchaus auch sehr positive Kritiken. Aber ehrlich gesagt ist mir das bei diesem Thema auch nicht so wichtig. Ich habe ihn nicht als Autorenfilm angelegt, ich habe mich nicht mit meiner Autoren- Kunsthandschrift in den Vordergrund stellen wollen. Der Film ist kein Aufreger, eher eine Provokation durch seine Langsamkeit und Stille.
B: Ich finde den Film sehr `innerlich´, also mit einer Bewegung eher nach Innen. Es gibt für mich eine einzige Szene, und zwar die, in der Reich die Orgonakkumulatoren zerstören musste, in der wirklich ein heftiger Ausdruck zu spüren ist. Ich finde die Bewegung der Verdichtung nach innen sehr schön.
Das ist auch im energetischen Sinn stark spürbar, und damit steht dieser Film für mich auch sehr konsequent für das Werk Wilhelm Reichs. Es geht ja nicht darum, dass die Leute außer sich geraten, sondern dass sie zu sich kommen und die Intensität des Erlebens stärker spürbar wird. Ich finde, dass das sehr schön herauskommt. Danke Antonin, eine sehr beglückende Erfahrung für mich!
19 Aug
Bukumatula 1/2013
Eine Film–Nachlese
von
Beatrix Teichmann-Wirth:
Der Film „The Strange Case of Wilhelm Reich“ von Antonin Svoboda hat mich eindrücklich berührt. Es berührte mich Reichs tragische Geschichte seiner letzten Jahre in Amerika, es berührte mich die authentische Darstellung von Klaus Maria Brandauer als Wilhelm Reich, vor allem berührte mich die für mich zentralste Botschaft des Films – dass es da einen Menschen gab – Wilhelm Reich – der trotz aller Widernisse und Störungen, Ungerechtigkeit, Verfolgung, Ausgeliefertsein und Ohnmacht, das tut, was er zu tun hat – weiter forschen, weiter arbeiten, weiter für die Wahrheit einstehen, weiter für die Menschen, die ihm anvertraut sind, da sein. Das ist wahrlich ein großer Aufruf auch an mich selbst.
Angeregt durch den Film habe ich mich neuerlich für die Geschehnisse dieser Zeit interessiert und mich darangemacht, anhand der Reich-Biographie Myron Sharafs „Der heilige Zorn des Lebendigen“ diese Zeit nachzuzeichnen. Der folgende Text ist ein von mir persönlich gefärbtes Transkript der letzten amerikanischen Jahre, jener Zeit also, die im Film dargestellt wurde.
Ich konnte erkennen, dass Vieles im Film sehr nahe an den Tatsachen ist. Das Lesen all der Grausamkeiten und der Gnadenlosigkeit ergriff mich jedoch fast noch mehr. Es ist unfassbar, was da geschehen ist, und es ist unermesslich traurig – eine Hatz in derart mörderischem Ausmaß, gnadenlos und völlig unangemessen dem Anlass gegenüber. Handschellen wie bei einem Mörder, eine unbedingte Gefängnisstrafe wie bei einem Gewaltdelikt, wo Gefahr im Verzug ist, erfolglose Berufung, keine vorzeitige Entlassung, Ermordung? Jedenfalls Bedingungen, die Reich offenbar das Herz gebrochen haben. Oft ist in mir beim Lesen der Satz entstanden, dass das wie ein schlechter Film ist.
Vieles, was in der Biographie beschrieben ist, hat Antonin dankenswerterweise aus dem Film herausgehalten, etwa Reichs Paranoia, seine Irrationalismen, wie die Vorstellung, dass er von der US Air Force beschützt wird, seine überbordende Eifersucht und Wut, die meiner Ansicht nach teilweise höchst problematischen Aspekte in der Beziehung zu seinem Sohn Peter (nachzulesen in Peter Reichs Biographie „Der Traumvater“). Antonin hat demgegenüber den rationalen, zärtlichen, ermutigenden, klaren Reich zur Darstellung gebracht, was ein wertvoller Beitrag für die schon längst überfällige Anerkennung Reichs ist. Er hat damit eine Möglichkeit geschaffen, die Größe des Mannes und seines Werkes erkennen zu können. Dafür danke.
Alone. Wilhelm Reich 1950-57 in Amerika
„Was mich im Nachhinein an dem Mann am meisten beeindruckte, war seine Einsamkeit.“
Das sagte der Gefängniskaplan Frederick Silber über Wilhelm Reich. Das Alleingelassen-Sein begann nach dem Oranur-Experiment in Orgonon, das schwere Folgen für die Familienmitglieder und MitarbeiterInnen hatte. Diese Wirkungen zeigten sich auf unterschiedlichsten Ebenen; es verstärkte nicht nur die latenten körperlichen Schwächen, sondern auch verborgene emotionale Probleme. Körperlich betraf es Ilse Ollendorf-Reich, sie erkrankte an Gebärmutterkrebs, Eva Reich, die eine Leukämie bekam und Helen Tropp, welche auch an Krebs erkrankte.
Reich selbst litt an Herzbeschwerden und hatte im Oktober 1951 einen schweren Herzanfall, dessen Ursache er in Oranur sah. Die Erkrankung zwang ihn zu einer vierwöchigen Bettlägrigkeit, aufgrund derer sich seine Depressionen und Ängste verschlimmerten. Ilse schreibt in einem Brief an Elsworth Baker, dass Reichs Empfindsamkeit gegenüber jeder Form der Irrationalität massiv gesteigert war und er „zwischen Sterben-Wollen, Nicht Sterben-Wollen und sich vor dem Sterben fürchten“ schwankte. Er begann sich der Malerei zu widmen und schrieb in einem Brief an A.S. Neill: „Wenn Kunst eine Krankheit ist, dann hat Oranur den Maler in mir ausbrechen lassen.“ S. 470.
Was die Emotionalität betrifft trieb es Reich – so Sharaf – mit der Heftigkeit seiner Reaktionen auf die Spitze, vor allem dann, wenn sich Menschen ihm gegenüber ambivalent oder nicht ganz offen verhielten. So befahl er etwa Eva nach einem heftigen Streit – Eva hatte nur zögerlich auf sein Geschenk, ein Mikroskop reagiert – Orgonon zu verlassen, was sie auch tat. Auch nach ihrer Rückkehr, 1951, setzten sich deren Spannungen fort. Reich fühlte sich durch Evas zeitweilig verwirrte und zerstreute Charakterzüge provoziert, bzw. durch ihre mystischen Neigungen irritiert.
Ilse Ollendorf-Reich verließ Orgonon für 6 Wochen wegen ihrer Uterusoperation. Paradoxerweise drängte Reich in dieser Zeit auf die Einleitung des Scheidungsverfahrens, mit der Vorstellung, dass die Beziehung ohne Heiratsurkunde mehr Chancen auf ein Überleben hätte. Letztlich dauerte deren Beziehung, die laut Ollendorfs Biografie durch Reichs Eifersuchtssausbrüche, seine Beharrlichkeit auf ein bedingungsloses Interesse für seine Ideen und seiner Wut geprägt war, bis 1954.
Sharaf merkt hier Ollendorfs mangelnde Kritikfähigkeit ihren eigenen irrationalen Mechanismen gegenüber an, die Reichs Zorn provozierten. Im Film geht Ilses Trennung fast unscheinbar vonstatten. Auch waren mir die eigentlichen Motive unklar. Sharaf schreibt dazu: „…sie habe Reich letztendlich verlassen, weil sie solche Überzeugungen, daß der rote Faschismus hinter diesem oder jenem Angriff stecke, oder daß er machtvolle Freunde in hohen Regierungsstellen habe, nicht mehr nachvollziehen konnte.“ S. 486
Oranur markierte einen Ausbruch und einen neuen Anfang, der jedoch nicht wie in all den vorhergehenden Neuanfängen (Wien-Berlin-Skandinavien) von interessierten und aufnahmebereiten Gefährten begleitet war. Es fand auch auf einer intellektuellen Ebene zunehmend eine Isolierung statt. Baker und andere orgnonomische Ärzte waren zwar unterstützend, konnten sich jedoch nicht an der wissenschaftlichen Forschung zur Orgonenergie beteiligen. Theo Wolfe, ein langjähriger Mitarbeiter zog sich – u.a. weil er der Übersetzertätigkeit leid war, zurück.
Simeon Tropp war Berater und Freund Reichs und einer der wenigen Kollegen, mit welchem Reich auch seine Freizeit verbrachte. Beide, Simeon und Helen Tropp waren offenbar von Oranur schwer in Mitleidenschaft gezogen. Helen starb 42jährig an einem Krebsleiden. Zum engeren Kreis zählte bis zuletzt Bill Moise, Evas späterer Ehemann, der mit seinem warmherzigen, ruhigen Charakter und seiner Loyalität einen besänftigenden Einluss auf die bisweilen emotional hochaufgeladene Atmosphäre hatte.
Auch Tom Ross, der Hausmeister, dem Reich sehr nahe stand, harrte bis zuletzt auf dem Gelände aus, ebenso wie ein erst im Jahre 1953 eingestiegener Assistent, Robert McCullough. Er war Reich gegenüber loyal und voller Anerkennung und Würdigung, trotz seiner Skepsis der Orgonenergie gegenüber. Und Reich war ihm ein freundschaftlicher und hilfsbereiter Lehrer. Und natürlich A.S. Neill, mit dem Reich über 40 Jahre in regelmäßiger, freundschaftlicher Korrespondenz stand (s. dazu das Buch “Zeugnisse einer Freundschaft“).
Aber auch diese Beziehung war nicht spannungsfrei. Neill äußerte sich beispielsweise sehr kritisch über Reichs Einfluss auf seinen Sohn Peter, der zunehmend im Bann seines Vaters zu stehen schien und ebenso wie er an die Gefahren des roten Faschismus glaubte und sich mehr und mehr als `Soldat´ im Kampf gegen feindliche Mächte verstand. Zu seinem Sohn hatte Reich in diesen Jahren eine sehr innige Beziehung. Er war einer der wenigen Menschen, denen sich Reich gegenüber in seinen Gefühlen ausdrückte und der ihn auch aus heftigen Zuständen herausbringen konnte. Wenn man das Buch „Der Traumvater“ liest, kann man jedoch nicht umhin, Neill´s Bedenken zu teilen.
Was die Beziehung zu Frauen betrifft war es Lois Wyvell, mit der Reich von 1951-53 eine sexuelle Beziehung verband, sowie Grethe Hoff, die Frau Myron Sharafs, mit welcher Reich ab Herbst 1954 – zum Leidwesen Sharafs (deren Sohn war erst 1 Jahr alt), eine intime Beziehung einging. Diese Beziehung dauerte bis Juni 1955 und ging zu Ende – so Sharaf – weil Grethe Reichs Ideen zunehmend kritisch gegenüber stand und auch, weil sie ein Bedürfnis nach einer „normalen Existenz“ hatte.
Die Trennung war für Reich sehr schmerzlich; er schrieb sie, wie so oft, ihrem „Willen zur Kleinheit“ zu und dem Umstand, dass sie vor sich selbst davonlaufe. Und Reich war allein, da er niemanden fand, der mit dem nötigen Überblick ihm kritisch zur Seite stehen konnte. Sharaf schreibt dazu: „Reich konnte zu niemandem gehen, wenn er nicht fühlte, daß diese Person wußte, wo er richtig und wo er falsch lag. Es gab keine solchen Personen, obwohl Reich sich nach jemandem sehnte, zu dem er voller Offenheit hätte sprechen können.“ S. 488
Sharaf gesteht in seiner ihm eigenen Offenheit zu, dass Reich zwar auf ängstliche Zurückhaltung oder gar geheime Feindseligkeit mit heftigen Emotionen reagierte, „daß er die Kritik jedoch viel bereitwilliger aufgenommen hätte, wenn ich mich Reich gegenüber offener und mutiger verhalten hätte, mit einem tieferen Bewusstsein dessen, wer er wirklich war.“ Und weiter: „Niemand in seiner Umgebung hat diese Haltung eingenommen. Grundsätzlich machten die Leute einfach mit, oder sie gingen.“ S. 489
Die FDA-Untersuchung
Die FDA (Food and Drug Administration) nahm im August 1951 ihre Untersuchungen wieder auf. Reich argumentierte zunächst, dass die Orgonenergie ja gar nicht in deren Zuständigkeit falle, da es sich weder um ein Arznei- noch um ein Nahrungsmittel handle. Dieses Argument stand allerdings auf wackligen Beinen, sprach Reich doch im Zusammenhang mit den Akkumulatoren von deren präventiver und sogar heilender Wirkung. Die Wilhelm Reich Foundation vermietete seit geraumer Zeit die Akkumulatoren, und die daraus bezogenen Gelder waren eine wichtige Einnahmequelle, nicht zuletzt für Forschungszwecke.
Nach einer Zeit der vermeintlichen Ruhe, drangen drei FDA-Beamte unangemeldet in das Gelände von Orgonon ein, was natürlich eine heftige Reaktion hervorrief. Reich sah die Kampagne – Sharaf zufolge – in irrationaler Weise zu allererst als Ausdruck einer „Verschwörung des roten Faschismus“. Demgegenüber blieb Reichs Glaube an die amerikanische Regierung ungebrochen, obwohl die McCarthy Ära in einer Atmosphäre von Furcht und Verdächtigung derartige Angriffe wie die gegen Reich, ja überhaupt erst möglich machten.
Dieser (Irr-)Glaube an die beschützenden USA wurde schließlich durch die Wahl von Eisenhower zum Präsidenten im November 1952 unterstützt, dem Reich in idealisierender Weise „die Einfachheit, die Offenheit und die Kontaktfähigkeit genitaler Charaktere“ zuschrieb. S. 497 Reich hegte die Phantasie, dass Eisenhower sein persönlicher Freund sei und dass ihm auch andere Freunde gegen die Attacken der FDA helfen würden – auch von Seiten der psychoanalytisch-psychiatrischen Vereinigungen.
Auch seine Annahme, dass ihm in fliegenden Untertassen, welche zu dieser Zeit vermehrt gesichtet wurden – sogenannte CORE(Cosmic Orgone Engineering)-Wesen Beistand leisten wollten, drückt sein verzweifeltes Verlangen nach Unterstützung aus, was bei all der Grausamkeit und dem Ausmaß an Angriffen, denen er ausgesetzt war, wahrlich nicht verwundert. Das Verbot des Vertriebs der Akkumulatoren war dabei nur ein Anlass, vielmehr wurde Reichs gesamtes Spätwerk verleumdet.
Da es der FDA nicht möglich war, unzufriedene Akkumulator-Benutzer zu finden, wurden als ein weiterer Schritt der FDA-Kampagne eigene Akkumulatortests durchgeführt. Allerdings waren diese Tests – was die Untersuchungsbedingungen betrifft, höchst unzulänglich. Um die Ergebnisse der Originaluntersuchungen zu verifizieren, hätte es einer genauen Wiederherstellung der experimentellen Bedingungen gebraucht. Die Prüfer hätten sich überdies mit den Schriften Reichs vertraut machen müssen, um ein gutes Fundament für die Durchführung der Tests zu haben. Aber dies geschah nicht. Vor allem jedoch fußten diese Tests auf der von vornherein verfestigten Überzeugung der Untersucher über die Unwirksamkeit der Akkumulatoren.
Am 10. Februar 1954 erfolgte, wie Sharaf schreibt, „Der Schlag“: Auf Antrag der FDA wurde von der US-Staatsanwaltschaft für den Staat Maine Klage gegen Wilhelm Reich, Ilse Ollendorf und die Wilhelm Reich Foundation eingereicht, fußend auf den Untersuchungsergebnissen, „die die Nichtexistenz der Orgonenergie bewiesen und daher alle Akkumulatoren aufgrund des Gesetzes über Nahrung, Medikamente und Kosmetika wegen falscher und irreführender Behauptungen zu zerstören seien.“ S. 504. Das 27-seitige Dokument schloss mit der Behauptung, dass Reich „aus menschlichem Leid propheziehe.“ S. 504
Darüber hinaus wurden alle seine in Amerika erschienenen Schriften als `Werbematerial´ deklariert, darunter auch Werke, die vor der Entdeckung der Orgonenergie erschienen sind, wie die „Charakteranalyse“,
„Die sexuelle Revolution“ und „Massenpsychologie des Faschismus“. Weiters wurde beantragt, dass den Angeklagten „und jeder Person in aktivem Einvernehmen oder in Teilhaberschaft mit irgendeinem von ihnen lebenslang untersagt wird, direkt oder indirekt irgendeine Handlung in Bezug auf den Orgonenergie-Akkumulator vorzunehmen, ob mündlich, schriftlich oder in anderer Weise.“ S. 505
Das heißt genau betrachtet, dass es nicht nur um ein Verbot des Vertriebs der Akkus ging, sondern um eine Unterbindung jeglicher orgonomischer Forschung. Unterzeichnet wurde die Klage von Peter Mills, jenem Anwalt, der mehrere Jahre lang für die Wilhelm Reich Foundation gearbeitet hat. Reich entschied sich, seine Verteidigung selbst zu übernehmen. Indem er sich von vornherein entschied, keine formal-juristische Winkelzüge zu unternehmen, verfolgte er eine gänzlich andere Linie als es üblicherweise Anwälte getan hätten.
Nach einem Gespräch u.a. mit Baker, Raphael und Silvert, entschied Reich – wohl weil er nicht noch mehr „Dreck ins Gesicht bekommen wollte“, dass er nicht vor Gericht erscheinen würde. Anstelle dessen entwarf er eine Erwiderung, die er im Februar 1954 zusammen mit einem kurzen Begleitbrief unter Auflistung seiner Veröffentlichungen an den Richter John Clifford des US Bezirksgerichts Maine schickte. S. 509
Die Grundposition der Erwiderung war Reichs Argument, dass es unzulässig sei, „sowohl moralisch als auch juristisch oder sachlich, den Naturwissenschaftler zu zwingen, seine wissenschaftlichen Ergebnisse und Methoden der Grundlagenforschung vor Gericht zu vertreten.“ In dieser Erwiderung ging Reich in keiner Weise auf die tatsächlichen Anklagepunkte ein, da „die Klägerin bereits durch die bloße Anklage ihre Ignoranz in Bezug auf die Naturwissenschaften gezeigt habe.“ S. 510
Hier zeigte sich ein Phänomen, das den ganzen Prozess bestimmen sollte. Und zwar das der `Counter-Truth´. Ganz im Gegensatz zu früheren Erkenntnissen zu dem Phänomen der Gegen-Wahrheit, wonach Diskussionen, welche auf verschiedenen Funktionsebenen geführt werden, schlicht nicht möglich sind, war er dennoch in der naiven Hoffnung, dass der Richter erkennen würde, dass er „ein rechtschaffener Wissenschaftler und nicht ein Quacksalber sei.“ S. 510
Leider war dies ganz und gar nicht der Fall. Richter Clifford – an sich Reich gegenüber wohlwollend, aber ganz dem Rechtssystem verpflichtet, merkte an, dass dieses Schreiben keine juristische Bedeutung für die Verhandlung hätte. Reichs Nichterscheinen geriet der FDA zum triumphalen Sieg, insofern, als die endgültige Verfügung noch weiter ging als der Antrag, indem sie auch die Literatur betraf. Die Verfügung ordnete nämlich an, dass alle Exemplare der Broschüren Reichs, die noch auf Lager waren, inklusive dem „International Journal of Sex-Economy and Orgone-Research“, dem „Orgone Energy Bulletin“ und „The Oranur Experiment“ vernichtet werden sollen.
Aber auch alle Bücher, in welchen auch nur nebensächlich von `Orgonenergie´ die Rede war, waren davon betroffen. Dieser Teil der Verfügung war eindeutig verfassungswidrig – es widersprach der verfassungsmäßig verankerten Rede- und Pressefreiheit. Nach einer ersten Erstarrungsreaktion und nachfolgender Wut, verlieh Reich dieser seinen Ausdruck durch eine `Regenmacher-Aktion´. Er schickte eine diesbezügliche Ankündigung an staatliche Stellen, dass sie durch das Erzeugen von Gewittern, die nicht vorhergesagt wurden, die Existenz der Orgonenergie erkennen könnten. Die Aktion führte tatsächlich zu nicht vorhergesagten Schneefällen und Regen, was jedoch als Zufallsbefund interpretiert wurde.
In einem weiteren Schritt legte Reich die Verantwortung für die Akkumulatoren in die Hände der Orgonomisten, die sie verschrieben, worauf fünfzehn orgonomische Ärzte begannen, im „Fall der Regierung gegen Reich“ zu intervenieren. Die Klage ging durch alle Instanzen, wobei Richter Clifford in erster Instanz festlegte, dass „die Vernichtung der Veröffentlichungen und der Akkumulatoren zurückgestellt werde, bis zur endgültigen Entscheidung über die Berufung, oder… bis zu weiteren Anordnungen dieses Gerichts“. Höchst erstaunlich war, dass keine Reaktionen, keinerlei Auflehnung oder Empörung seitens der Öffentlichkeit aufkam.
Das Gegenteil war der Fall: Die Berufsvereinigungen zollten der FDA Dank. Dr. Daniel Blain, der medizinische Direktor der `American Psychiatric Association´ sprach sogar „tiefempfundenen Dank aus“, und auch vom Sekretär der `Psychoanalytic Association´, Richard L. Frank, wurde das Vorgehen der FDA gelobt. Er schrieb: „Dr. Reich und seine Mitarbeiter sind keine Mitglieder der Psychoanalytic Association und ihre Theorien und Aktivitäten sind allen unseren Praktiken fremd. … Unglücklicherweise waren wir nie in der Position, seine Aktivitäten in irgendeiner Form zu überwachen oder kontrollieren zu können.“ S. 515 Der Boden der McCarthy Ära machte die Generation der fünfziger Jahre zu einer schweigenden.
Sharaf vermerkt jedoch eindrücklich, dass auch in den folgenden dreißig Jahren, bis zum Verfassen seiner Reich-Biographie, sich die Empörung über eine derartig extreme Tat einer Bücherverbrennung in Grenzen gehalten hat. Er schreibt, in Heranziehung einer Erklärung Reichs: „Die Angst der Menschen vor spontaner Bewegung verhindert nicht nur das ernsthafte Studium eines neuen Paradigmas, sie blockiert auch die Wut über diejenigen, die Schritte unternehmen, die Beweise für die Konzepte zu zerstören.“ S. 517
Veröffentlichungen
Schon im Film fand ich einen Aspekt der letzten Lebensjahre Reichs äußerst bemerkenswert: Dass er trotz allen Unbills und aller Schwierigkeiten in seinem näheren Umfeld wie auch durch die FDA-Klagen bis zuletzt derart arbeitsfähig war. Er bereitete einige größere Veröffentlichungen vor: das `Orgone Energy Bulletin´ erschien weiterhin, und das Buch „Christusmord“ wurde auf der Höhe der Oranur Reaktion 1951 verfasst. Er versuchte darin, seine Version der Legende Christus zu erfassen, nicht ohne alle wichtigen Bücher, die über Jesus Christus verfügbar waren, zu studieren. Für Reich war Christus „das höchste Beispiel für ungepanzertes Leben“. Sein Christus ist einer, der Kinder liebt, Sündern vergibt und Heilkräfte hat. Christus kann heilen, weil er ein starkes Energiefeld hat und fähig ist, die trägen,`toten´ Energiesysteme des Elenden anzuregen.“ S. 477
Und es ist – Reichs Auffassung zufolge, ein Christus, der Frauen körperlich liebt, was wohl die strittigste Aussage im Buch sein mag. Ein wesentlicher Aspekt ist – wie auch der Titel sagt – der Christusmord. Die jedem Kind und auch kreativen Erwachsenen innewohnende Kraft der Lebendigkeit und Spontanität wird in der Antwort von gepanzerten Menschen zur Lebensgefahr. Für Reich bleibt Christus „das klarste Beispiel für den Mord am Lebendigen“, und er findet eine Vielzahl von Menschen, wie beispielsweise Giordano Bruno, die dieses Schicksal ereilte. Reich sieht sich selbst in diese Reihe gestellt. Die Verfolgung durch die FDA, das Missverstanden werden von den engsten Vertrauten ließen ihn, wie Sharaf meint, ahnen, „dass er seinem eigenen Gethsemane entgegenging“. S. 478
Auch „Cosmic Superimposition“ wurde in der dichten Zeit 1951 veröffentlicht. Reich widmet sich darin den Naturphänomenen, der vielschichtigen Beziehung zwischen Energie und Masse, letztlich entwirft er darin eine neue Theorie der Panzerung, der zufolge der Ursprung der Panzerung in der Denkfähigkeit, im Selbstbewusstsein des Menschen liegt, in dem Sinne, „daß die Anwendung des Denkens auf sich selbst die erste emotionale Blockade im Menschen auslöste.“ S. 481
Er zeigt darin insofern aber auch einen Ausweg aus der Blockade auf, als der Mensch sein Denken nützen könne, um besseren Kontakt mit seiner Tiefe, seinen Gefühlen und seiner Lust herzustellen. Für mich ist er damit ein Vorreiter der Humanistischen Therapieansätze, die das Gewahrsein über inneres Erleben ins Zentrum der Veränderungsarbeit stellt. Und er sichtete sein Gesamtwerk. Da er von einer tiefgreifenden Furcht beherrscht war, dass „sein Werk und sein Name nicht nur aktuell, sondern auch im Nachhinein irgendwie verleumdet und diffamiert werden könnten“, wollte er in einer Reihe von Veröffentlichungen Material aus allen Lebensphasen sammeln und in ihrer Einheitlichkeit präsentieren. Er machte sich – gemeinsam mit Sharaf, Ende 1951 ans Werk und war in dieser Arbeit ein „gewissenhafter und sorgfältiger Archivar“. Diese Unternehmung brachte die „sanfte, sinnende Seite in ihm hervor.“ S. 474-475
Er tat dies auch mit durchaus kritischem Geist, lehnte beispielsweise einige Schriften aus seiner marxistischen Periode ab, ohne diese jedoch den Emotionen opfern zu wollen, weshalb er eine Rubrik „Stiller Beobachter“ einrichtete, die Raum gab für aktuelle Bemerkungen zum Material. Auch das legendäre Interview mit Kurt Eissler (siehe „bukumatula“ 2/94) fand in dieser Zeit, 1952, statt. Reich ging in dem Gespräch nicht nur auf seine Beziehung zu Freud ein – meinem Empfinden nach in einer sehr liebevollen, anerkennenden Weise, sondern formulierte grundsätzliche, sich von der Psychoanalyse unterscheidende Auffassungen über die Aktualneurose, kindliche Sexualität und Widerstand.
Und er sprach auch über die Vorgänge rund um seinen Ausschluss aus der Psychoanalytischen Vereinigung. Beim Lesen des Interviews gewann ich den Eindruck, dass Reich mit seiner insistierenden Art das „Heft in der Hand hielt“. Demgegenüber schreibt Sharaf, dass Eissler innerlich über Reichs Aussagen lachte und er dieses Gespräch als einen neuerlichen Beweis seiner Geisteskrankheit sah.
Das Wüstenexperiment und die Vorverhandlungen 1954-55
Die Arizona-Expedition fand 1954/55 statt. Dieser Expedition schlossen sich neben Reich, Eva, Bill Moise, Bob McCullogh und der 11-jährige Peter an. Sie war mit enormen Kosten verbunden. Reich nutzte die Reise vor allem auch, um detaillierte Beschreibungen der Landschaft zu verfassen. Wie in den früheren Beobachtungen an Patienten und von Naturphänomenen ging es ihm dabei um den „emotionalen Geschmack“, und er betonte, dass es auch hier Zeit, Geduld und vor allem keine Voreingenommenheit, kein „Alles-bereits-Wissen“ geben dürfe, das dem Lernen entgegenstehe.
Silvert hielt einstweilen die Stellung in Orgonon, ließ aber eine große Lastwagenladung mit Akkumulatoren und Literatur zu seiner Privatadresse in New York City bringen. Er tat dies – wie später von ihm und Reich behauptet, in eigener Verantwortung, was jedoch offenbar wenig glaubwürdig war, weshalb er schließlich ebenso wie Reich wegen Missachtung der Verfügung angeklagt wurde. S. 522
Für den 26. Juli 1955 erging von Richter Clifford eine neuerliche Ladung an Reich, Silvert und die Stiftung; sie sollten argumentieren, warum keine weiteren strafrechtlichen Maßnahmen gegen sie eingeleitet werden sollten. Reich stellte sich hierfür einen juristischen Berater zur Seite, Charles Haydon, der es als einziger „fertigbrachte mit Reich, diesem recht unbequemen Klienten, eine Vertrauensbeziehung von einer gewissen Festigkeit und Dauer aufzubauen.“ S. 526
Dennoch war es offenbar schwierig, eine gemeinsame Linie zu finden, vor allem weil es galt, das von Reich an sich richtige Argument, dass ein Gericht nicht berechtigt sei, über wissenschaftliche Aussagen zu urteilen, in dem Sinne zu relativieren, dass dies juristisch nicht durchsetzbar sei. Reich wollte dieses Spiel um formaljuristische Spitzfindigkeiten nicht mitspielen. Dennoch profitierte Haydon aus dem Kontakt mit Reich, u.a. durch Reichs Lektion, dass Menschen nicht lügen können, weil das in ihren Gesichtszügen und ihrer Gestik zu erkennen sei. Das war in weiterer Folge für Haydon in seiner Tätigkeit als Anwalt sehr nützlich.
Trotz des guten Kontakts entschied sich Reich einen anderen Anwalt als persönliche Vertretung heranzuziehen – Frederick Fisher. Vor der Anhörung gab es eine Vorbesprechung mit den Ärzten Baker, Raphael, Duval und Silvert, Eva und den Anwälten. Reich plädierte dafür, dass die Anwälte die Fakten in den Mittelpunkt stellen sollten und meinte damit die Tatsache der Verschwörung gegen ihn, die emotionale Pest, gegen die er zu kämpfen hätte und die Tatsache der Orgonenergie. Das war eine Argumentationslinie die diametral der Klägerseite gegenüberstand – hier ging es einzig und allein darum, dass die Angeklagten die Verfügung – die Zerstörung der Akkumulatoren und der Literatur- erfüllen.
In seinem Abschlussstatement versuchte Reich zu erklären, weshalb es unmöglich wäre, der Verfügung nachzukommen, da die Literatur weltweit veröffentlicht war und die Akkumulatoren weltweit vertriebenen wurden. Zudem betonte er nochmals, dass die Grundlagenwissenschaften jenseits der Rechtsprechung bleiben müssen, und dass es nicht anginge, dass wissenschaftliche Fragen juristisch beantwortet werden.
Da die grundsätzliche Ausrichtung der Verhandlungsführung zwischen Reich und Fisher, der pragmatisch einen Vergleich erzielen wollte – nämlich, dass Reich alles erlaubt wäre, außer die Akkumulatoren in den zwischenstaatlichen Handel zu bringen, derart unvereinbar war, vertrat Reich sich bei der nächsten Vorverhandlung im November 1955 selbst. Er beantragte hier die Einrichtung eines Ausschusses, der den Fall auf einer nicht juristischen Basis untersuchen sollte. Die ihn auszeichnende Naivität ließ ihn glauben, dass in ruhiger Atmosphäre Fachleute der Orgonomie mit klassisch orientierten Wissenschaftlern zusammen sitzen und die FDA letztlich aufgeklärt werden könnte.
Trotz der Niederlage bei dieser Verhandlung – keiner seiner Anträge wurde angenommen und Reich außerdem veranlasst, der FDA Einsicht in relevante Akten zu gewähren – war es Reich möglich, im Herbst 1955 seine wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen, indem er sich z.B. intensiv dem DOR-Buster widmete. Er hielt auch ein Seminar zu diesem Thema und zeigte auf, wie sich DOR als dunkle Färbung am Körper oder im Gesicht eines Menschen zeigt. Er unterschied hierbei zwischen der DOR- und der ORANUR Krankheit, die er als eine Reaktion auf den experimentellen Gebrauch von Radium in der Atmosphäre, die mit Orgonenergie hoch geladen war, verstand.
Die DOR Krankheit stammt hingegen von einer Vielzahl von Reizungen oder Umweltgiften, welche die Orgonenergie in eine todbringende Kraft verwandelt. DOR weckt latente und spezifische emotionale Verwundbarkeiten im Menschen und wird durch Panzerung aufgebaut. Reich zog Parallelen zu den von Umweltgiften angegriffenen Wüstenlandschaften und der emotionalen Wüste im Menschen. Der Sommer 1955 schien von besonderer Einsamkeit und Enttäuschung gekennzeichnet gewesen zu sein. Ilse Ollendorf schreibt über diese Zeit, dass Reich erneut Herzbeschwerden hatte und „ernstlich anfing, eine Stelle für sein Grab oder Mausoleum auf Orgonon vorzubereiten … und an einer bestimmten Stelle ein Grab von Tom Ross ausheben ließ.“ S. 533
Tröstlich war die Begegnung mit der damals 31-jährigen Aurora Karrer, zu welcher sich alsbald eine intensive Beziehung entwickelte. Er überlegte sogar – wider seiner festverankerten Überzeugung im Hinblick auf die Ehe, Auroras Wunsch nachzukommen und sie zu heiraten, nicht jedoch ohne zuvor einen Ehevertrag aufzusetzen. Reich verfügte in all der Zeit über, wie Sharaf es ausdrückt – verschiedene „Selbste“, die nebeneinander bis zum Schluss existierten. So bewahrte er sich bis zuletzt ein „nüchternes Streben nach Wahrheit“ und konnte sich immer wieder neben seine heftigsten Wut-Reaktionen stellen.
Der Prozess
Die Hauptverhandlung war für den 1. Dezember 1955 angesetzt und wurde von Richter Sweeney anstelle von Clifford, dessen Frau erkrankt war, geführt. Da das Schreiben nur vom Gerichtssekretär unterschrieben war, erschien Reich nicht, worauf er und Silvert in Handschellen abgeführt und ins Gefängnis gebracht wurden. Am 3. Mai 1956 fand dann schließlich die Verhandlung statt. Reich vertrat sich, Silvert und die Stiftung selbst. Er plädierte nach einer langen Rede, in welcher er darlegte, dass er die Verfügung verletzen musste, da sie verfassungswidrig sei – auf unschuldig.
Für Richter Sweeney kam die Aussage einem Schuldeingeständnis gleich, und er sah als einzigen Ausweg für Reich ein psychiatrisches Gutachten, wonach Reich geistig krank sei. In seinem Schlussplädoyer an die Geschworenen legte Reich in rührender eise dar, wie sehr er den Eindruck habe, dass alles, was er tue, falsch sei, dass er sich diesem Prozess aber dennoch ausgesetzt habe, weil es „seine Methode sei, das, womit er sich beschäftigte, aus erster Hand zu erfahren.“ Sharaf schreibt, dass über all dem „eine Atmosphäre von Golgatha lag, in der Reich während des ganzen Alptraums allein war“, vor allem in seinem Ansinnen, „die verschwörerische `Mißachtung des Lebens durch die emotionale Pest´ auf die Anklagebank zu bringen“.
Sharaf schließt in den letzten Absätzen seinen Prozessbericht: „Was immer jetzt sein wird, er wird im Grunde allein sein. Wenn er stirbt, wird er allein sterben. … Und falls er es schafft, irgendwie, irgendwo mit der Ausarbeitung der Gesetzmäßigkeiten der Orgonenergie und des tödlichen Orgon weiterzumachen, mit seiner unendlichen Güte, Tiefe und Harmonie, wird er auch dabei allein sein, geduldig wartend, daß Strukturen heranwachsen, die sich ihm bei dieser hochfliegenden, aber realistischen, alles in Frage stellenden, aber disziplinierten Suche an die Seite stellen könnten.“ S. 545-547
Das schließlich am 25. Mai 1956 getroffene Urteil sah zwei Jahre Gefängnis für Reich und ein Jahr für Silvert und eine Geldstrafte von 10.000 Dollar für die Stiftung vor. Dies war ein unangemessen hartes Urteil für Reich. Zuletzt wurde Reichs Stellungnahme vorgelesen, in der er nochmals betonte, „dass die Wahrheit und die Quellen des neuen Wissens auf meiner Seite sind.“ S. 549
Zerstörung der Orgonakkumulatoren und Verbrennung der Veröffentlichungen 1956/57
Auch das Berufungsgericht bestätigte das Urteil, und Reich setzte seine ganzen Hoffnungen auf den Obersten Gerichtshof. Schon während der Berufungszeit begann die Vernichtung der Akkumulatoren und der Literatur. Am 5. Juni 1956 trafen zwei Beamte der FDA in Begleitung eines Bundespolizisten in Orgonon ein. Eine besondere Grausamkeit stellte der Umstand dar, dass die Zerstörung der Akkus durch die Beschuldigten zu geschehen hatte, was schließlich – anders als im Film – nicht durch Reich selbst, sondern durch Bill Moise und Tom Ross durchgeführt wurde.
In Peter Reichs Buch findet sich eine herzzerreißende Beschreibung dieser Szene. Am 26. Juni 1956 fand sodann die erste Bücherverbrennung statt. 251 Exemplare wurden laut FDA an diesem Tag verbrannt. Reich äußerte sich fassungslos darüber, dass neuerlich eine Bücherverbrennung seiner Werke – nach der im Nazi-Deutschland – stattfand. Eine Initiative einer empörten Bürgerrechtsgruppe wurde totgeschwiegen, ebenso wie diesbezügliche Reaktionen in England. Die Zerstörung von Akkumulatoren, diesmal von 50 Stück, die Silvert aus New York zurückbringen musste, sowie eine weitere Bücherverbrennung – 6!!!Tonnen Literatur im Wert von 15.000 Dollar – fanden bis Ende August statt.
Im November 1956 verließ Reich Orgonon. Er sollte es nicht mehr sehen. In Erahnung, dass er den Gefängnisaufenthalt nicht überleben würde, verfasste Reich im Winter 1956/57 seinen Letzten Willen. In dieser Zeit fand auch das letzte Treffen mit den orgonomischen Ärzten statt. Es entsprang Reichs Wunsch, geordnete Verhältnisse zu hinterlassen, und er widmete sich therapeutischen Fragen wie auch persönlichen Anliegen der Ärzte. Er strahlte – so Baker – eine Ruhe aus, wiewohl er vermittelte, dass „dies das Ende sei“.
Reich bat Baker die Verantwortung für die Orgonomie zu übernehmen, was dieser zusagte. Was die Testamentsvollstreckung betraf, hinterließ Reich große Unklarheit. Es wurde nie ein Testament, das vor seiner Inhaftierung verfasst wurde, gefunden. Im Gefängnis äußerte Reich seiner Tochter Eva gegenüber sein Misstrauen, was die Treuhänderschaft betraf und war geneigt Aurora Karrer als Treuhänderin einzusetzen. Dies und Evas depressive Stimmung nach dem Tod ihres Vaters, ließ sie zustimmen, dass Mary Higgins, eine ehemalige und vermögende Patientin Dr. Raphaels die Treuhänderschaft 1959 zugesprochen wurde.
Nachdem auch der Oberste Gerichtshof gegen eine Wiederaufnahme des Verfahrens entschied und auch der Antrag auf Haftverschonung zurückgewiesen wurde, wurden Reich und Silvert am 12. März 1957 ins Gefängnis nach Danbury, Connecticut, gefahren. Jener Hilfsmarshal, der den Transport begleitete, berichtete: „Hinten im Auto saßen Reich und Silvert in Handschellen und unterhielten sich über die Wetterbedingungen und beobachteten den Zustand der Vegetation, durch die sie fuhren.“ S. 565
Reich hatte in Danbury eine erste psychiatrische Untersuchung durch Richard C. Hubbard, der ein großer Bewunderer Reichs war. Hubbard diagnostizierte Paranoia, die sich sowohl in Größenals auch in Verfolgungswahn äußerte, wobei er aber einräumte, dass „der größere Teil der Persönlichkeit Reichs relativ intakt sei.“ Er schließt mit der Beurteilung, dass „der Patient geisteskrank sei“ und deshalb nicht als kriminell zu verurteilen ist. Aufgrund dieses Gutachtens wurde Reich in die Bundesstrafanstalt in Lewisburg verlegt, weil es dort bessere Behandlungsmöglichkeiten gab.
Die nochmals vorgenommene psychiatrische Untersuchung hatte zum Ergebnis, dass es keine konkreten Belege dafür gibt, dass Reich als unzurechnungsfähig einzustufen sei und dass seine Persönlichkeit im Großen und Ganzen intakt sei, wenn auch von einer Möglichkeit, psychotisch zu werden, auszugehen sei. Sharaf interpretiert dieses Ergebnis als ein Gefälligkeitsgutachten für die FDA, da im anderen Fall der Prozess neu aufzurollen gewesen wäre.
Laut Gefängnisbericht war Reich ein Insasse, der die Regeln stets einhielt und keinerlei außerordentliche Wünsche hegte – sieht man von Bedürfnissen wegen seiner Hautkrankheit ab. Er arbeitete in der Gefängnisbibliothek, was ihm sehr entgegen kam. Intensiven Kontakt hatte er zum Gefängniskaplan, Frederick Silber, mit dem er über Orgonenergie, Sexualtheorie, vor allem aber über die menschliche Natur sprach. Emotional war Reich aber vor allem mit Aurora Karrer beschäftigt. Silber spricht von einer „Abhängigkeit von der jungen Frau. Wenn er von ihr redete, sprühte er geradezu vor Lebendigkeit.“ S. 573
In Briefen an seinen Sohn Peter schreibt Reich über die Notwendigkeit von „…Häfen für das Leben, Kirchen für das Leben, heilige Zufluchtsorte für das Leben“ und erwähnte auch, dass er viel weine, und dass auch Peter sein Weinen nicht zurückhalten solle, „da Weinen der beste `Weichmacher´ sei.“ S. 578
Das Manuskript für ein Buch mit dem Titel „Creation“, an dem Reich während seines Gefängnisaufenthaltes geschrieben haben soll, wurde nie gefunden. Er reichte ein Gnadengesuch an Präsident Eisenhower ein und als dies ohne Reaktion blieb, verfasste er ein Dokument mit dem Titel „Meine ungesetzliche Gefängnishaft“, das er an den Bewährungsausschuss schrieb. Es finden sich darin sowohl rationale als auch irrationale Passagen, in denen Reich beispielsweise von seinem Vertrauen in „meine Freunde in der US-Regierung“ spricht.
Reich betonte auch, dass er nicht – zweimal unterstrichen – vorhabe, „die Organisationen, die die Akkumulatoren vertrieben hatten, wieder aufzubauen.“ Seine ungebrochene „Hingabe an die Wahrheit“ bekundete er allerdings, indem er klarstellte, dass er weiterhin im Hinblick auf die Orgonenergie forschen und lehren wolle. Seinen 60. Geburtstag erlebte Reich allein im Gefängnis. Er war voller Zuversicht, dass seine frühzeitige Entlassung, nachdem er ein Drittel seiner Haft verbüßt hatte, am 10. Novem- ber 1957 bevorstünde. Er bat seinem Sohn Peter ein gutes Hotel – ohne Chlorwasser – zu finden.
Am 22. Oktober 1957 fühlte sich Reich krank, wollte es aber aus Angst, dass dies den Bewährungstermin verschieben könnte, nicht dem Gefängnispersonal mitteilen. Am 3. November 1957 um 7 Uhr morgens wurde Wilhelm Reich tot in seiner Zelle aufgefunden. Es wurde ein plötzlicher Herztod in Verbindung mit Arteriosklerose und Sklerose der Koronargefäße diagnostiziert. Myron Sharafs Reich-Biographie endet mit dem Satz: „Er starb an gebrochenem Herzen.“
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Literatur:
Myron Sharaf, „Der heilige Zorn des Lebendigen“; Simon+Leutner Verlag, Berlin 1994
Ilse Ollendorf-Reich, „Wilhelm Reich“; Kindler Vlg., München 1975
Peter Reich, „Der Traumvater“, Bertelsmann Verlag,München 1973
19 Aug
Bukumatula 2/2013
Die Anfänge der Eltern–Säugling–Körperpsychotherapie sind eng mit der Geschichte der modernen Körperpsychotherapie verwoben. Obwohl bisher kaum von der heutigen modernen Säuglingsforschung zur Kenntnis genommen, finden sich wichtige Pionierarbeiten der heutigen Eltern–Säugling–Körperpsychotherapie in den psychosomatischen und neurosenpräventiven Forschungen des Arztes und Naturforschers Wilhelm Reich (1897-1957).
Zu einer Zeit, als René Spitz, John Bowlby und andere psychoanalytisch orientierte Forscher begannen, die folgenschweren Auswirkungen des Entzugs der Mutterliebe auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu untersuchen, beschäftigte sich Reich bereits mit den Grunderfordernissen dessen, was Mutterliebe ausmacht: Guter Körperkontakt und die Fähigkeit der Mutter, mit den Bedürfnissen des Kindes mitzuempfinden. (Boadella, 2008; Bowlby, 2010)
Nachdem Reich in den 30er und 40er Jahren wichtige Beiträge zur Entwicklung einer körperorientierten Psychotherapie eingebracht hatte, begann er sich ab Mitte der 40er Jahre – ausgelöst durch die Geburt seines Sohnes Peter – für die Erforschung der natürlichen Ausdruckssprache der Babys, die Entwicklungsbedingungen von emotionalen Panzerungen in der Säuglingszeit, sowie Möglichkeiten des Einsatzes von vegetotherapeutischen Techniken an Säuglingen und Kleinkindern, verstärkt zu interessieren.
Im Dezember 1949 gründete Reich in New York, gemeinsam mit 40 Fachkollegen aus den Feldern der Medizin, Geburtshilfe und Sozialarbeit das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Kinder der Zukunft“, mit dem Ziel, die selbstregulatorischen Entwicklungsprozesse und Voraussetzungen für den Erhalt der primären Gesundheit bei Säuglingen und älteren Kindern langfristig zu studieren.
Folgende vier Punkte standen dabei im Zentrum dieses umfassenden Forschungsprojekts:
Im Rahmen dieser Forschungsarbeiten beschreibt Wilhelm Reich den Fall eines fünf Wochen alten Säuglings, in dem er den behutsamen Einsatz von vegetotherapeutischen Techniken darstellt, um erste Anzeichen einer beginnenden emotionalen Rückzugsreaktion des Säuglings zu lösen.
„Our infant was pale, its upper chest was „quiet“. The breathing was noisy, and the chest did not seem to move properly with respiration. The expiration was shallow. Bronchial noises could be heard on auscultation. Generally the infant appeared uncomfortable. Instead of crying loudly, it whimpered. It moved little and looked ill. (…)On examination of the chest, the intercostal muscles felt hard. The child seemed oversensitive to touch in this region. The chest as a whole had not hardened, but it was held in inspiration with the upper part bulging forward. (…) Upon slight stimulation of the intercostal muscles the chest softened but did not yield fully when pressed down. The infant immediately started to move vigorously. The breathing cleared up appreciably, and the child began to sneeze (bursts of sudden expiration), smiled, then coughed several times vigorously, and finally urinated. The relaxation increased visible; the back, formerly arched, curved forward and the cheeks reddened. The noisy breathing stopped.“ (Reich, 1987)
In diesen ersten Erfahrungen bioenergetisch fundierter Säuglingstherapie werden – neben Spiegelungen der kindlichen Ausdrucks- und Körpersprache, vor allem zarte Körperberührungen spielerisch eingesetzt, um verspannte Muskel- und Gewebeblockierungen zu lösen und die ursprüngliche Ausdrucksfähigkeit des Säuglings wieder zu eröffnen. Die Wiederherstellung der natürlichen Pulsations- und Beziehungsfähigkeit des Kindes ist in diesen ersten Fallbeschreibungen mit Säuglingen und Kindern der wichtigste Bezugspunkt therapeutischen Handelns. (Reich, 1985)
Die Ärztin und Geburtshelferin Eva Reich (1924–2008) setzte diese Traditionslinie der bioenergetischen Säuglings- und Kleinkindforschungen ihres Vaters fort. (Reich, 1993, 2006; Overly, 2005) In der von ihr entwickelten Schmetterlings-Babymassage wurden wichtige Elemente vegetotherapeutischer Arbeit zu einem festen Behandlungsablauf systematisiert und neurosenpräventiv in der Arbeit mit Schwangeren, werdenden Eltern und Neugeborenen eingesetzt. (Reich, 1993; Deyringer, 2008) Im skandinavischen Raum war es die norwegische Reich-Schülerin Nic Waal, die Reichs Konzepte der somatischen Psychotherapie im Feld der Kinder- und Jugendpsychotherapie – und hier besonders für Behandlung autistischer Kinder – weiter entwickelte und bekannt machte. (Waal, 1970)
Unter dem Einfluss der neueren Säuglings- und Bindungsforschungen ab Anfang der 80er Jahre, wurden erste integrative Modelle der Eltern–Säugling–Psychotherapie entwickelt, die bindungstheoretische, pränatale, tiefenpsychologische und achtsamkeitsorientierte Ansätze mit Konzepten der körperorientierten Psychotherapie verbanden. (Diederichs, 2009; Downing, 2003; Harms, 2008, 2013; Schindler, 2010; Trautmann-Voigt, 2011)
Körper und Bindung
Alle modernen Ansätze der Eltern–Säugling–Psychotherapie haben zum Ziel, die Regulations- und Bindungsfähigkeit von Eltern und Säuglingen zu verbessern. Einzig die Wege dorthin sind sehr unterschiedlich. Eine Besonderheit der körperpsychotherapeutischen Ansätze in der Arbeit mit Eltern und Babys liegt in der Betrachtung der neurovegetativen Grundlagen der frühen Beziehungs- und Bindungsprozesse zwischen Eltern und Säuglingen.
Bereits Wilhelm Reich sah die elterliche und kindliche Kontaktfähigkeit fest verwoben in den Regulationen des Autonomen Nervensystems (ANS). (Reich, 2000) Hierbei lassen sich die beiden grundlegenden Äste des ANS, der Parasympathikus und Sympathikus, grundlegenden Verhaltensstrategien zuordnen.
Der Stress- und Alarmmodus einer jungen, verunsicherten Mutter äußert sich in ihrer Hypererregung, motorischer Unruhe, einer ausgeprägten Hypervigilanz (Hab-Acht-Stellung) und ihrer dauerhaften Zentrierung der Aufmerksamkeit auf das Kind. Inneres Unlust- und Bedrohungserleben im Kontakt mit dem Kind sind weitere Phänomene des Stress- und Alarmastes des ANS.
Demgegenüber zeigt sich in sicheren Bindungsbeziehungen zwischen Eltern und Säuglingen ein Überwiegen von körperlicher Entspannung, eine erweiterte Wahrnehmungs- und Feinfühligkeitsfähigkeit, sowie eine erhöhte Aufnahme- und Kontaktbereitschaft gegenüber dem Kind. Ein wesentlicher Fokus der körperorientierten Eltern–Säugling–Psychotherapie besteht darin, durch die Nutzung von körperbasierten Zugängen direkt auf die vegetative Reaktionslage und die damit verbundene Öffnungsbereitschaft bei Eltern und Säugling Einfluss zu nehmen. (Harms, 2013)
Kontinuum der Bindung
In der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Eltern und Säuglingen zeigt sich eine Abfolge von aufeinander aufbauenden Regulations- und Bindungszuständen bei Eltern und Kind. Dabei reicht dieses Kontinuum von gelingenden Momenten der Entspannung und Verbundenheit zwischen Eltern und Kind bis hin zum Erleben von überwältigenden Bedrohungs-, Ohnmachts- und Entfremdungsgefühlen in Phasen des Abrisses der Eltern–Kind–Bindung. Nachfolgend sollen die einzelnen Stadien des elterlichen Bindungserlebens phänomenologisch umrissen werden. Was erlebt eine junge Mutter, wenn sie sich mit ihrem Säugling verbunden und nah fühlt? Und was geschieht körperlich und emotional, wenn in Phasen erhöhter Stressbelastung der „Draht“ zum Kind schwächer wird oder ganz abreißt?
Zustand der Bindungsstärkung
Ist die Bindungs- und Regulationsfähigkeit gut entwickelt, können die Bezugspersonen des Säuglings zwischen Kontaktphasen mit dem Kind und Momenten des Selbstkontaktes frei hin und her schwingen. Sowohl die Fähigkeit der Ab- und Einstimmung auf die Verhaltenssignale und Bedürfnisse des Kindes, als auch die Wahrnehmung der inneren Körperzustände ist hinreichend entwickelt. Physiologisch kann die Mutter in den Phasen des ruhigen Kontaktes mit dem Kind – zum Beispiel den Stillzeiten – körperlich entspannen und loslassen.
Die Atmung ist fließend, tief und verbindend. Diese Fähigkeit des „Durchatmens“ ist eine direkte Folge der Zwerchfellentspannung, die wiederum eine Funktion des allgemeinen Öffnungs- und Entspannungsprozesses des Organismus ist. Das subjektive Erleben im Kontakt mit dem Kind wird von den Eltern häufig mit den Worten „Sicherheit“, „Geborgenheit“ und „Wohlbefinden“ beschrieben. Obwohl die Mutter innig mit dem Kind verbunden ist, ruht ihre Aufmerksamkeit sehr im eigenen Körper. Es ist ein gleichzeitiges Spüren von sich Selbst und dem Anderen. Diese vorhandene Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung erlaubt es der Mutter, innerlich zu überprüfen, ob ihre Interaktionsangebote zum Kind als „stimmig“ erlebt werden.
Harms (2008) spricht in diesem Zusammenhang von einer elterlichen Fähigkeit der „Selbstanbindung“. Diese Selbstanbindung beinhaltet die Fähigkeit der Ko-Regulatoren, eine achtsame Verbindung mit dem inneren Strom der Körper- und Innenempfindungen herzustellen und aufrecht zu erhalten. Den im bindungstheoretischen Kontext beschriebenen Bindungsmustern stehen in diesem Verständnis vergleichbare Muster der sicheren, vermeidenden oder ambivalenten Selbstanbindung gegenüber.
Somit sind der Aufbau des inneren wie auch des äußeren Beziehungsfadens zwei funktionell identische Prozesse einer stabilen und hinreichend sicheren Bindungsbereitschaft der Eltern.
Zustand der Bindungsschwächung
Im Zustand der geschwächten Bindungs- und Kontaktfähigkeit dominiert in den Begleitern oft ein Erleben der Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Unverbundenheit im Kontakt zum Kind. Häufig werden diese Zustände verstärkt, wenn die Beruhigungsversuche der Eltern bei den Schrei- und Unruhephasen des Säuglings ohne Erfolg bleiben.
Wichtige Kennzeichen der sich aufbauenden Stress- und Angstspirale sind auf Seiten der Eltern eine erhöhte Muskelspannung, Atemverflachung, Ansteigen des Herzpulses, sowie eine Steigerung der körperlichen Unruhe. Der Fokus der elterlichen Aufmerksamkeit verlagert sich in diesen Belastungsphasen vermehrt auf das schreiende Kind. Häufig gelingt es den Eltern nicht mehr, ihre Aufmerksamkeit auf das Innenempfinden des Körpers zu verlagern – selbst dann nicht, wenn der Säugling in einer guten und entspannten Verfassung ist.
Eltern, die sich im Stress- und Alarmmodus befinden, sind in ihrer wichtigen Funktion als notwendige Ko-Regulatoren des Kindes eingeschränkt. Auf der Basis der allgemeinen Stressdominanz gelingt es den betroffenen Eltern immer weniger, die emotionalen Äußerungen des Kindes hinreichend zu erfassen und zu begleiten. Schnell erfolgt jetzt ein Prozess der „negativen Gegenseitigkeit“: Die Babys spüren den spannungsbedingten Verlust der elterlichen Feinfühligkeit und reagieren daraufhin mit vermehrter Unruhe und Schreien (Papousek, 2004).
Und dies wiederum steigert die Verunsicherung und körperliche Anspannung der Eltern. Unabhängig von den konkreten Hintergründen und Ursachen der Regulations- und Beziehungsproblematik, ist es das Hauptziel körperpsychotherapeutischer Interventionen, diesen schwächenden Kreislauf zügig zu durchbrechen und zu einem Prozess „ansteckender Gesundheit“ zurückzukehren.
In dem bisher beschriebenen Stress- und Alarmmodus verfügen die Eltern noch über eine – wenn auch eingeschränkte – Fähigkeit, den „Draht“ nach innen und außen aufrecht zu erhalten. Obwohl die Betroffenen sich in einem Zustand der Verunsicherung und Anspannung erfahren, wird das „reale Kind“ mit seinen Bedürfnissen noch wahrgenommen. Ebenso können die Eltern in diesem Regulationszustand in der therapeutischen Arbeit noch konkrete Angaben zu ihrem inneren Körper- und Gefühlserleben machen. So sind sie in der Lage, Gefühls- und Körperzustände zu identifizieren, zu beschreiben und auch zu lokalisieren. („Immer wenn der Kleine schreit, spüre ich den Kloß in meinem Hals.“)
Zustand des Bindungsabbruchs
Die dritte Regulationsstufe elterlicher Bindungsbereitschaft setzt ein, wenn im Kontakt mit dem Säugling unverarbeitete Traumaanteile der Eltern durch das stressauslösende Verhalten des Säuglings (z.B. massive Schreiattacken oder chronische Blickkontaktvermeidung) reaktiviert werden. Das Stress- und Erregungsaufkommen ist in diesen Phasen überwältigend und führt bei den Eltern zu einem kompletten Zusammenbruch ihrer emotionalen Verbindung zum Kind.
Die freigesetzten Erregungsmengen können nicht mehr in gezielten Aktivitäten des Muskel- und Denkapparates umgesetzt werden. Die Betroffenen erleben sich selbst in einem verzweifelten Zustand der Denk-, Fühl- und Handlungsunfähigkeit gefangen. Während das Baby schreiend in den Armen der Mutter liegt, bricht die Verbindung zum inneren Strom der Körperempfindungen zusammen. Dieser Verlust der Selbstanbindung wird von Eltern als Gefühl der Taubheit, Lähmung und Benommenheit beschrieben.
Im Zuge dieser dissoziativen Episoden reißt somit der Faden in doppelter Weise: Zum einen büßen die Betroffenen ihre Fähigkeit zur Innenschau und Selbstwahrnehmung ein. Andererseits verlieren sie auch den Beziehungsfaden und das Gefühl der Verbundenheit zum realen Kind. Die Angst zu sterben, sowie Gefühle der Verzweiflung und Ausweglosigkeit sind fast immer anzutreffen, wenn die Eltern diese halt- und bodenlosen Episoden des Kontaktabrisses zum Kind durchleben.
Bindungsabbruch, Verlust der Fähigkeit zur Emotionsregulation, sowie der Einbruch der körperlichen Selbstwahrnehmung sind in dieser Phase des Bindungskontinuums untrennbar miteinander verwoben. Aus Sicht des Kindes bricht mit der beginnenden Dissoziation das elterliche Haltesystem zusammen. Das Kind fällt ins Bodenlose, hinein ins Nichts. Die von Wilhelm Reich beschriebenen Fallangst-Reaktionen der Säuglinge (Reich, 1985) haben in diesen plötzlichen und schockbedingten Zusammenbrüchen des Bindungsfeldes ihren Hintergrund.
Polyvagale Betrachtungen der Bindung
Nachdem die einzelnen Regulationszustände elterlicher Bindungs- und Kontaktbereitschaft bereits phänomenologisch erfasst wurden, soll jetzt ein Blick auf die neurovegetativen Hintergründe der Prozesse gerichtet werden. Hier kommen wir nun zu den bereits erwähnten Forschungen des amerikanischen Psychiaters und Psychophysiologen Stephen Porges. Die Polyvagale Theorie von Porges bietet einen umfassenden Erklärungsansatz, um die beschriebenen Phasen des Bindungskontinuums physiologisch zu untermauern. (Porges, 2010, 2005, 1998) Der Kern der polyvagalen Betrachtungen konzentriert sich auf die These, dass das Autonome Nervensystem (ANS) – anders als die herkömmliche Sichtweise der Schulmedizin – drei neuronale Regelkreise umfasst, die unterschiedliche Funktionen übernehmen.
Aus klassischer Sicht stehen sich im ANS der Sympathikus und der Parasympathikus als zwei Äste polar gegenüber. Gesamtorganismisch sind sie für die Regulation einer Fülle von inneren Organfunktionen zuständig, die der unmittelbaren Willkürkontrolle entzogen sind. Dabei stellt der Parasympathikus den „Ruhe-Zweig“ des ANS dar. Gesamtorganismisch sorgt er für Regeneration, Verdauung und Innenwendung der Aufmerksamkeit und Auffüllen der Energieressourcen.
Der Sympathikus ist in der klassischen Sichtweise der Zweig, welcher die Lebenskräfte freisetzt, um eine gezielte Gefahren- und Unlustabwehr zu realisieren. So aktiviert das sympathische Nervensystem den Muskel- und Bewegungsapparat („Fight and Flight“), die Ausdrucksorgane („Schreien“), sowie den Denkapparat (angestrengtes Suchen nach Lösungen). Im sympathikotonen Stress- und Alarmmodus sind wir hochgespannt, und die Aufmerksamkeit richtet sich in Richtung zur Außenwelt. (Ruegg, 2007; Reich, 2000; Sunderland, 2006)
Die polyvagale Betrachtung unterscheidet sich insofern von der klassischen Sichtweise, als Porges von einem zweigeteilten Vagus (deshalb poly-vagal) ausgeht. Hierbei wird ein jüngerer Ast des vagalen Systems (der ventrale Vagus) von einem stammesgeschichtlich älteren Teil des Vagus (dem dorsalen Vagus) unterschieden. Der ventrale Ast des Vagus ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste Bereich des ANS.
Er tritt in Funktion, wenn wir uns sicher, aufgehoben und geborgen im Zusammensein mit anderen Menschen fühlen. Die Aktivierung des ventralen Vagus steuert im Zustand der Sicherheit die soziale Hinwendung und Kommunikation mit unseren wichtigsten Bindungspartnern. (Odgen, 2010)
Hirnphysiologisch entspringt der ventrale Vagus im Nucleus Ambiguus des Hirnstamms. Von hier aus verzweigen sich einzelne Nervenstränge und stellen die neurophysiologische Grundlage für eine Reihe von Funktionen, die speziell für den sozialen Austausch von fundamentaler Bedeutung sind. (Porges, 2010) Wichtige Funktionen im Zusammenhang mit dem ventralen Vagus sind:
Diese Dominanz des ventralen Vagussystems lässt sich eindrücklich in einer gelingenden Interaktion von Mutter und Säugling darstellen. Die Mutter sucht die Blickverbindung zum Kind, sie lächelt es an und hebt regelmäßig auffordernd den Kopf zur Grußreaktion. In der Ansprache des Kindes ist die Stimme leicht erhöht (Babytalk) und an die Hörneigungen des Säuglings angepasst. Der Gesichtsausdruck der Mutter ist dabei lebhaft und offen. Subjektiv dominiert in der Begegnung mit dem Kind das Erleben von Sicherheit, Vertrautheit und Wohlbefinden.
Evolutionsbiogisch ist das Baby darauf vorbereitet, direkt nach der Geburt mit seinen wichtigsten Bezugspersonen in Austausch zu treten. Erlebt der Säugling sein Gegenüber wiederkehrend als emotional verfügbar, tritt das ventrale Vagussystem des Säuglings in Funktion. Die Vagus-Dominanz wird somit zur neurovegetativen Entsprechung des psychischen Erlebens der Sicherheit, die das Kind in der Bindung zu seinen erwachsenen Begleitern erfährt.
In Porges‘ Modell bleibt das sympathische Nervensystem die Struktur, die durch Mobilisierung des Muskel- und Bewegungssystems eine gezielte Gefahrenabwehr ermöglicht. In der Kriseninterventionsarbeit mit Eltern und ihren Säuglingen zeigt sich die sympathikotone Dominanz vor allem in der vermehrten Motorik der Eltern (aufgeregtes Herumlaufen, nicht Stillsitzen-Können, etc.), der erhöhten Aufmerksamkeitsspannung, sowie der gesteigerten Denkaktivität (Zwangsgrübeln).
Subjektiv erlebt die gestresste Mutter vermehrt Angst- und Unlustempfindungen. Es ist wichtig zu betonen, dass der Sympathikus nicht mit negativem Unlusterleben gleichzusetzen ist. Vielmehr ist die moderate Aktivierung des sympathischen Nervensystems ein essentieller Teil des lebendigen Funktionierens. So sind Aufregung und hohe Anspannung bei einem wichtigen Fußballspiel durchaus gewollte und positive Begleiterscheinungen der sympathischen Innervation.
Diese lustvolle Dimension des Spannungs- und Erregungsaufbaus (Spannungslust) scheint immer dann gegeben, wenn eine realistische Aussicht auf spätere Entspannung besteht – und, wenn die betroffene Person die Fähigkeit besitzt, nach Abschluss des aufregenden Ereignisses den Spannungszustand wieder zu verlassen.
Entwicklungsgeschichtlich älter ist der dritte Regelkreis, den Porges in seinem polyvagalen Modell beschreibt: Der dorsale Vagus. Der dorsale Vagus versorgt absteigend die inneren Organe, vor allem das Herz, die Lunge und die Eingeweide. Das dorsale Vagussystem betritt die Bühne, wenn – wie in dem vorangegangenen Kapitel beschrieben – das Stressaufkommen überwältigend wird und ein Zustand der Lebensbedrohung einsetzt.
Physiologisch entspricht dieser Regulationszustand einem Herunterfahren des Gesamtsystems in einen Standby-Modus. Nur mehr die inneren Organe werden versorgt, während die Peripherie des Organismus weitestgehend von der Versorgung abgehängt wird. In besonders deutlicher Weise sehen wir dies in der Schocklähmung nach Unfällen, wo die Beine ihren Dienst versagen, die Haut blutleer und fahl wird und kein klarer Gedanke mehr gefasst werden kann.
Porges beschreibt in seinem Polyvagal-Modell eine hierarchische Ordnung der beschriebenen neuronalen Regelkreise. Das Sicherheitserleben erlaubt uns, die Nähe, den sozialen Austausch und die Verbindung mit anderen Menschen einzugehen. Diese Suche nach Bindung entspricht der evolutionsbiologischen Grundausrüstung, die wir als menschliche Wesen mitbringen. Kann das Sicherheitserleben in der Bindung nicht etabliert werden, übernimmt das sympathische Stress- und Alarmsystem die Führung.
Erst wenn die verschiedenen Strategien der Gefahrenabwehr erfolglos bleiben, tritt der entwicklungsgeschichtlich älteste Regelkreis des dorsalen Vagus mit seinem „Abschalt-Automatismus“ auf den Plan. Je nach Ausmaß der Gefahren- und Bedrohungssituation müssen grundlegendere und ältere Systeme in Kraft treten, um die Selbsterhaltung des Systems zu garantieren. Während das System des ventralen Vagus noch komplexe Kommunikationsstrategien unterstützt (Sprechen und Kontaktaufnahme mit dem Aggressor in einer Konfliktsituation), reagiert das sympathische Nervensystem bereits weniger differenziert auf die Gefahrensituation (Flüchten, Schreien, Kämpfen).
Im Verhältnis dazu ist jedoch die Immobilsierungs-Strategie des dorsalen Vagus (Lähmung und Erstarrung) in ihrer Bandbreite noch eingeschränkter. Wichtige psychische Funktionen des Wahrnehmungs- und Denkapparates werden hierbei abgeschaltet, um die verbleibende Energie zu zentralisieren und den grundlegenden Körper- und Organfunktionen zuzuführen. (Levine, 2010)
Mit dem polyvagalen Verständnis sprechen wir nicht von einem „guten“ ventralen Vagus und einem „bösen“ Sympathikus. Vielmehr haben wir es mit einem neuronalen Kontinuum zu tun. Je nach äußerer Situation und Herausforderung können die einzelnen Regelkreise temporär die Führung übernehmen. Ein psychisch wie somatisch gesunder Mensch ist fähig, je nach Notwendigkeit, frei zwischen den einzelnen Regulationszuständen hin und her zu schwingen.
So ist es vorerst unbedenklich, wenn eine junge, unerfahrene Mutter schnell mit Unsicherheit und dem Gefühl der Bedrohung auf die Schreiphasen ihres Säuglings antwortet. Problematisch wird es jedoch, wenn sich die Mutter weiterhin bedroht fühlt, selbst dann, wenn das Kind längst friedlich in ihren Armen eingeschlafen ist. Aus einer neurovegetativen Perspektive ist dieses elterliche Verhalten Ausdruck eines „Feststeckens“ im Gefahrenast des Autonomen Nervensystems. Aus psychologischer Sicht ist es ein Hinweis auf das subjektive Bedrohungs- und Unsicherheitserleben der Mutter.
Elterliche Feinfühligkeit und optimierte Toleranzfenster
Aus den modernen Säuglings- und Bindungsforschungen wissen wir, dass gelingende Bindungsbeziehungen von einer feinfühligen Abstimmung der Hauptbezugspersonen mit den Bedürfnissen und Verhaltensreaktionen des Säuglings abhängig sind. (Downing, 2006; Siegel, 2010) Aus körperpsychotherapeutischer Perspektive ließe sich hinzufügen, dass diese feinfühlige Kompetenz der Eltern einen entspannungsfähigen Organismus voraussetzt. Dadurch, dass die erwachsenen Begleiter hinreichend häufig in einen Zustand der Aufnahme- und Öffnungsbereitschaft gelangen, sind sie innerlich dazu in der Lage, sich mit den nonverbalen Mitteilungen des Säuglings zu verbinden und diese adäquat zu beantworten.
Wie beschrieben, ist dieser bindungsbereite Modus der Eltern durch das Überwiegen der ventralen Vagusfunktionen physiologisch fundiert. Auf dieser Basis ist es den Begleitpersonen möglich, auf die verschiedenen Verhaltensmodi des Kindes mit einer Haltung innerer Gelassenheit und Ruhe zu reagieren. Und wie beschrieben, hemmt die gelingende Bindungserfahrung und die damit verbundene Funktion des ventralen Vagus die Auslösung von sympathischen Stress- und Alarmreaktionen, bzw. von dissoziativen Traumareaktionen.
Anders formuliert: Die Erfahrung der Bindungssicherheit beruhigt das Herz, die Atmung und das Toben der Gedanken der Eltern. Bleibt das Sicherheitserleben auf der Basis der ventral-vagischen Regulation erhalten, bleiben „negative Ansteckungsreaktionen“, wie sie sonst häufig zwischen Eltern und Säuglingen beobachtbar sind, aus. In gewisser Weise wirken die Eltern in diesem öffnungsbereiten Funktionszustand wie „Blitzableiter“ für die Stressreaktionen des Säuglings. Heftige Schrei- und Unruhephasen in der Nacht sind zwar anstrengend und ermüdend, aber die in Krisenkontexten häufig beobachtbaren Begleitphänomene der Hypererregung und Bedrohung bleiben aus.
Indem die Eltern in einem öffnungs- und bindungsbereiten Zustand verbleiben, erlebt das Kind während seiner belastenden Schrei- und Unruhephasen ein verfügbares Gegenüber. Die Eltern übernehmen hier eine spezifische „Leuchtturm-Funktion“ für das Kind. Solange die Selbstanbindung der Eltern vorhanden ist, wirken sie dabei als wichtige Hilfssysteme, um die Affekt- und Erregungszustände des Kindes zu modulieren
. Wird der elterliche Begleiter jedoch selbst von emotionalen Erfahrungen überschwemmt, verlässt dieser schnell das enge Toleranzfenster seiner optimalen Aufmerksamkeit für den Säugling. In diesem Augenblick verliert das Kind seinen Ko-Regulator. Das Schreien bleibt unerhört und die zugrunde liegenden Bedürfnis- und Affektzustände finden nicht mehr jene Antwort, die sie benötigen. Das Schreien wird in der Folge in seiner Qualität verzweifelter und haltloser. Gelingt es den Begleitern auch hier nicht, eine Brücke zum Säugling aufzubauen, wird der Stress- und Alarmzustand des Säuglings durch einen Resignations- und Erstarrungsmodus abgelöst. Das Kind gibt auf und gerät in einen paralysierten Zustand.
In dieser neurovegetativen Betrachtung der Bindungsvorgänge zwischen Eltern und ihren neugeborenen Kindern sind alle Formen der Mischung denkbar. Eine gelassene, zugewandte Mutter begleitet ein hochgespanntes, alarmiert schreiendes Baby. Ein haltlos und wütend schreiendes Baby hat eine dissoziierte Begleitperson an seiner Seite, oder ein entspannter und bindungsbereiter Säugling trifft auf eine erwachsene Bezugsperson, die emotional verunsichert und unnahbar ist.
Für die körperpsychotherapeutische Praxis mit Eltern und Säuglingen bieten die neurovegetativen Konzepte ein wichtiges diagnostisches Werkzeug. Konkret kann in der Eltern–Baby–Körperpsychotherapie über die Wahrnehmung der Körperzeichen von Eltern und Säuglingen vom Therapeuten frühzeitig erkannt werden, ob die Betroffenen den schmalen Korridor der Bindungs- und Aufnahmebereitschaft verlassen.
Wenn etwa die junge Mutter in einer kurzen Interaktions- und Beobachtungsphase plötzlich gebannt ihren Säugling fixiert, nur noch flach atmet und sich in ihrer gesamten Körperhaltung versteift, dann sind dies Hinweise darauf, dass die Mutter in der Verbindung mit dem Säugling das Gefühl der Sicherheit verliert und in einen sympathischen Stressmodus wechselt. In der therapeutischen Prozessarbeit könnte dieser Moment ein erster Marker sein, dem eine genauere Exploration des Stresserlebens der Mutter folgt. (Dieser Punkt wird im zweiten Abschnitt des Artikels, in dem die Behandlungstechnik entwickelt wird, noch genauer vorgestellt.)
Was muss nun geschehen, damit die Eltern diesen optimierten Aufmerksamkeits- und Toleranzbereich im Zusammensein nicht dauerhaft verlassen? Wie kann eine körperpsychotherapeutische Vorgehensweise Eltern in Krisenzeiten darin unterstützen, diesen engen Korridor der Bindungsbereitschaft zu bewahren, bzw. wieder aufzubauen?
Im zweiten Abschnitt des Artikels (erscheint in Bukumatula 1/14) sollen behandlungstechnische Prinzipien verdeutlicht werden, wie im Rahmen einer Eltern–Baby–Körperpsychotherapie die Öffnungs- und Bindungsbereitschaft von extrem belasteten Eltern und Kindern gezielt aufgebaut und unterstützt werden kann.
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Literatur:
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Weitere Informationen zu Aus- und Weiterbildungen in Emotioneller Erster Hilfe und Präventiver Körperpsychotherapie finden Sie unter:
www.zepp-bremen.de
oder telefonisch im Sekretariat des
Zentrums für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie (ZEPP):
Tel. 0049 –(0)421 – 349 12 36
Fortsetzung in BUKUMATULA 1/14
19 Aug
Bukumatula 2/2013
Neues aus den Reich-Archiven
von
Thomas Harms:
Unter dem Titel „Wilhelm Reich reloaded – Neues aus den Reich-Archiven“ fand vom 31. Mai bis 2. Juni 2013 in Berlin in Kooperation von DGK und Wilhelm Reich Gesellschaft eine Fachtagung zu den Inhalten des 2007 geöffneten Wilhelm Reich-Archivs in Boston statt.
Rund 100 Gäste aus dem In- und Ausland waren gekommen, um von den Referenten zu hören, was in Reichs wissenschaftlichem Nachlass an neuen Erkenntnissen zu finden ist. Über mehrere Jahrzehnte nach Reichs Tod war immer wieder die Vermutung geäußert worden, dass in den Archiven noch eine große Menge unveröffentlichter persönlicher und wissenschaftlicher Schriften zu finden wären.
In seinem ersten Referat sprach der amerikanische Reich-Experte Philipp Benett über seine Archivforschungen, die sich mit Reichs soziologischem Konzept der Arbeitsdemokratie auseinandersetzen. In einem zweiten Beitrag untersuchte Bennett die persönlichen und wissenschaftlichen Folgen der Inhaftierung Wilhelm Reichs als illegaler Ausländer in den USA.
Der Berliner Psychoanalytiker Andreas Peglau sprach über seine jahrelangen Archivforschungen zu Reichs sexualpolitischen Aktivitäten in der Zeit des aufstrebenden Nationalsozialismus. Andreas Peglau konnte aufzeigen, dass die sexualpolitische Bewegung der 30er Jahre eine deutlich größere Verbreitung hatte, als dies aus den Schriften Reichs selbst hervorgeht.
Der Körperpsychotherapeut Manfred Thielen zeigte in seinem Referat auf, wo Reichs Anfänge in der Entwicklung der körperorientierten Psychotherapie waren. Interessanterweise ließen sich keine Patientenberichte in den Archiven finden. Zudem fehlen Reichs Tagebücher aus seiner skandinavischen Zeit. Bis heute ist ungeklärt, wo die Schriften verblieben sind. Besonders aufschlussreich ist der Briefwechsel mit seiner damaligen Partnerin Elsa Lindenberg, die Reichs starke Beeinflussung durch die praktizierende Gindler-Schülerin aufzeigen.
Insofern, so das Fazit von Manfred Thielen, gibt es zwar eine Reihe von interessanten Dokumenten, aber kaum grundsätzlich neue Erkenntnisse zur Geschichte der Körperpsychotherapie, die sich in den Bostoner Reich-Archiven finden ließen.
Thomas Harms sprach in seinem Vortrag über „Wilhelm Reich und das Zentrum für Orgonomische Säuglingsforschung“ (OIRC). In seinen Ausführungen beschrieb er – auf Basis der Archivdokumente – die genaue Struktur, die konkreten Arbeitsschwerpunkte und den Umfang von Reichs Engagement im Bereich der Säuglingsforschungen. Thomas Harms versuchte genauer zu erklären, warum das OIRC ab 1951 nicht fortgeführt wurde. Dabei erwähnte er, dass Reich vor allem von der fachlichen Qualität seiner Mitarbeiter/innen enttäuscht war und ihnen nicht zutraute, eigenständig die Forschungen mit den Säuglingen und Eltern fortzuführen.
Das Programm wurde vervollständigt durch Prof. Bernd Senf, der am Freitagabend in das Gesamtwerk von Reich einführte. Phil Bennett beschäftigte sich am Sonntag in einem Workshop mit den „Entwicklungen der Orgonomie in den USA“.
Besonderes Highlight der rundum gelungenen Tagung war die deutsche Erstaufführung des Reich-Spielfilms „Der Fall Wilhelm Reich“ im Beisein des Regisseurs Antonin Svoboda.
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Alle Audiomitschnitte und Folien der Tagung finden sich auf der Homepage der Wilhelm Reich Gesellschaft unter:
www.wilhelm-reich-gesellschaft.de unter „Aktuelles“.