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Buk 1/19 Atme! Und: Ton! Ton! – Teil II

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Bukumatula 1/2019

Atme! Und: Ton! Ton! – Teil II

Fortsetzung von Bukumatula 2/18
von
Markus Hohl:

Beschrieb der erste Teil die Darstellung der Methode, den Zweifel an dieser Methode und der Rolle des Therapeuten, gleichzeitig aber auch das erste Erleben des „losgelassenen“ Körpers, so geht es im folgenden zweiten Teil vorwiegend um den sich vom Panzer befreienden Körper. Und zwar nicht als rationales Erkennen, sondern als emotionaler Ausbruch sowie die unmittelbare und konkrete Erfahrung, dass zuerst Gefühle wie Wut und Freude zugelassen werden müssen, damit das „Verstehen“ als Vater-Geschichte, also die beginnende Heilung, folgen kann.

DIE WUT

Ich sage dir, kleiner Mann: Du hast den Sinn für das Beste in dir verloren. Du hast es erstickt, und du mordest es, wo immer du es in anderen entdeckst, in deinen Kindern, deiner Frau, deinem Mann, deinem Vater und deiner Mutter. Du bist klein und willst klein bleiben, kleiner Mann. (Wilhelm Reich, Rede an den kleinen Mann)

Die Doktorpraxis ist im zweiten Stock eines Altbaus, so plage ich mich über die Stiege hinauf, in kleinen Schritten von einer Stufe zur nächsten und läute dann, bis er aufmacht und mich begrüßt, indem er mein verspanntes Gesicht nachahmt: Obwohl ich glaube, ganz locker zu sein, weil ich ihn ja kenne, hält er mir seinen angespannten Unterkiefer entgegen und wiederholt aus den zusammengebissenen Zähnen meinen Gruß, um mir meine Begrüßungspanzerung zu zeigen, meine Gesichtsverzerrung gleich bei der Begrüßung entgegenzuhalten.

Obwohl einem anderen meine Anspannung wahrscheinlich gar nicht auffallen würde, erkennt der Doktor, wie es hinter dem lächelnden Gesicht aussieht, bemerkt er auf den ersten Blick den unechten Ausdruck und die darunter liegende Verhärtung und zeigt sie mir auch noch!

Sofort sieht er die Aggression und die Unsicherheit und macht sie mir deutlich, indem er mein Patientengesicht übertrieben nachmacht; anstatt mich freundlich zu empfangen, mit ein paar verbindlichen Sätzen vielleicht, schockiert er mich bereits beim Eintreten mit meinem eigenen Gesicht und hält mir meine eigene Schädelverzerrung vor die Nase!

Dabei habe ich mir gedacht, dass es kleine Fortschritte gibt, dass der Panzer nachgibt und ich auf seine Frage, ob sich etwas verändert habe, wenigstens hätte nicken können. Ja, den Mund bringe ich weiter auf, hätte ich gesagt, im wahrsten Sinn des Wortes kann ich das Maul weiter aufreißen, weil die Kiefergelenke weniger schmerzen, weil sich der Kieferblock etwas gelockert und die Entspannung im Gesicht begonnen hat. So aber zeigt er mir gleich beim Eintreten, dass ich mich nicht täuschen soll, weil er gerade da die Verhärtungen sieht, die Kopfentspannung also mehr eine Einbildung ist.

Auf der Matte schweige ich deshalb und bringe den Mund nicht mehr auf, weil ich über die Doktorbegrüßung nachgrübeln muss, schweigend nachdenke und ihm den Ärger nicht einmal mit den Augen zeigen kann.

Er wartet noch ein wenig und lässt mich atmen und tönen, wahrscheinlich um mich zu beruhigen und die Beine zum Schwingen zu bringen, bis er mir dann auf den Leib rückt und am Schädel herumzudrücken beginnt! Wahrscheinlich hat er mich nicht umsonst gleich beim Eintreten mit meinem Gesicht konfrontiert, weil er sich jetzt damit beschäftigt, das heißt, meinen Kopfpanzer näher in Augenschein nimmt. Auch da ist angeblich alles verhärtet, alle Gesichtsmuskeln, von denen ich bisher nichts gespürt habe, verspannt, eingefroren zu einer steinharten Maske, so wieder der Doktor.
Welche Maske denn, frage ich.

Die du dir selbst aufsetzt, mit der du glaubst, am besten durchs Leben zu kommen, weil dir dein wirkliches Gesicht nicht geeignet erscheint; vielleicht die Maske des abgeklärten älteren Herrn, ein bisschen arrogant und sehr ausgeglichen, sodass dir das Gesicht vor lauter Seriosität schon eingefroren ist, sagt der Doktor und beginnt ganz sanft an der Nasenwurzel zu streicheln, was ich unbewegt geschehen lasse.

Ein seriöses Herrengesicht wird schon stimmen, weil mir das wirkliche immer viel zu jung vorgekommen ist, sage ich mir. Ein viel zu junges Gesicht, vor dem niemand Respekt hat, das niemand ernst nimmt („Du schaust so jung aus“ früher immer als Vorwurf?), vor allem nicht meine Schüler, habe ich mir gedacht und wollte immer älter aussehen und war ganz stolz, wenn mich jemand älter geschätzt hat, als ich wirklich war.

Also versucht der Doktor jetzt wieder das junge Gesicht zum Vorschein zu bringen, indem er mich streichelt? Und dann doch mehr drückt als streichelt, am Oberkiefer herumdrückt, als ob er mir die Zähne zurechtrücken wollte, was ziemlich unangenehm wird, weil er offensichtlich noch ein anderes Gesicht hervordrücken will wie schon bei der Begrüßung: das des zornigen jungen Mannes, aber diesen Gefallen mache ich ihm nicht so schnell und bleibe ziemlich ruhig bei dieser Behandlung und drehe mich nur ein bisschen weg, auch wenn er sagt: Du steckst voller Wut, da ist unendlich viel Wut versteckt im freundlichen Gesicht und im scheinbar ruhigen Körper, Wut, der du aber nicht immer nur ausweichen und dich wegdrehen kannst, der du schon viel zu lange ausgewichen bist, die du so lange nicht herausgelassen hast, bis sie dir in den Knochen steckengeblieben ist und dich krank gemacht hat. Die Wut, ruft er, ja, als hätte er plötzlich etwas Wichtiges entdeckt, voller Wut ist der Bursche!

Der Bursche, sagt er, denke ich, der Bursche, als ob ich ein Achtzehnjähriger wäre, da könnte ich ihm schon eine in die Fresse hauen, so regt mich diese Anrede auf und erkenne dabei, dass der Doktor der Vater ist, wenn er sich über mich lustig machte und nicht ernst nahm, höchstens sagte: Du Milchgesicht!

Dann möchte er, dass ich mich nicht mehr nur ducke und ausweiche, sondern ihm ein wahres Gesicht zeige, nämlich das Wutgesicht. Aber so leicht ist das nicht, weil zuerst einmal der Panzer gelockert und das Beamtengesicht zum Abbröckeln gebracht werden muss, sagt er. Grimassen soll ich machen, damit ich das eigene Gesicht wieder spüre, möglichst schreckliche Grimassen.

So versuche ich ein paar Gesichter zu schneiden, auch wenn ich mir dabei blöd vorkomme und alles nur sehr schwer in Bewegung bringe, weil das Gesicht so verklemmt ist. Da knackt und kracht es in den Kiefergelenken wie bei einer lange still gestandenen Maschine, die nur langsam und zögernd wieder zu arbeiten beginnt. Offensichtlich aber sind die Grimassen nicht besonders eindrucksvoll oder erschreckend, weil der Doktor eher belustigt ist, ganz offen lacht, mich mehr auslacht als fürchtet.

Was ist denn so lustig, rufe ich, warum lachst du mich denn aus, du Idiot! traue ich mich sagen, und langsam gelingt mir auch die Augenwut, sodass er wieder ernst wird. Und ich merke dabei, dass hinter der knirschenden Gesichtsmaschine sich etwas entwickelt, aus dem ausgelüfteten Schädel und den kühlen Augenhöhlen etwas hervortritt, was mich zu einem neuen Laut bringt, Angst und Wut zum ersten Mal mit einen wahrhaftigen Ton aus dem aufgerissenen Mund hervorbringen.

Äähh! schreie ich und strecke dem Doktor die zitternde Zunge entgegen, und: äähh wie ein angstvoll zorniges Kind und merke, wie mir warm wird und gleichzeitig etwas in den Körper hineinströmt, das ihn zu einer einzigen Körpergrimasse zusammenkrampft und dann in einem langen Zittern wieder besänftigt.

Da wird der Doktor aufmerksam und gespannt, das gefällt ihm, da setzt er sofort nach und drückt mir seinen Daumen in die Rippengegend. Auch dort hat er wahrscheinlich den Panzer entdeckt und will testen, wie hart er ist. Dabei drückt er aber so fest, als ob er mich für die herausgestreckte Zunge bestrafen wollte, so weh tut das! Deshalb verstumme ich, liege nur still und versuche ihm wieder auszuweichen, jammere höchstens, anstatt loszubrüllen, stelle mich nicht dem Schmerz, sondern gebe ihm nach.

Nicht ich tu dir weh, sagt der Doktor, sondern die Panzerung schneidet dir ins Fleisch, also musst du sie beseitigen, musst dich dagegen wehren, indem du deine Gefühle zeigst, was dir aber nicht gelingen wird, wenn du nur ruhig liegen bleibst, also ein braves Kind bist.

Verdammtes Arschloch, er will mich nur erschrecken, der verdammte Idiot, denke ich und zeige ihm sofort ein ganz hässliches Gesicht und bemerke, dass sich dieses Schreckgesicht langsam in den Körper hinunterzieht und gegen den Panzer, gegen den Doktordruck anzukämpfen beginnt. Schon will ich seine Hand wegschlagen, um den Schmerz loszuwerden, aber er sagt, damit änderst du nichts, zuerst musst du die Gefühle zeigen, zuerst möchte ich einen Ausdruck sehen, nur so beseitigst du den Schmerz, also lass die Hände auf der Matte!

Aber ich kann es nicht, welches Gefühl denn, wo doch alles wie betäubt ist, rufe ich.
Spür endlich deine große Wut, die dir fast schon den Körper sprengt, antwortet er, lass sie heraus, sonst erstickst du daran! Und atme, mach endlich einen Ton beim Ausatmen!
Ton, Ton, du immer mit deinem Ton, rufe ich.
Und er: Hände auf die Matte!
Und ich: ja, ja!
Und er: Atme, Ton, Ton! Öffne die Kehle!
Und ich: öffne die Kehle, öffne die Kehle!
Und er: Ton, Ton!
Und ich: Scheiß Ton!
Und er: Ton, einen echten Ton möchte ich hören!
Und ich schreiend: Ich kann es nicht!
Und er: natürlich kannst du es, ich höre ihn ja schon!
Und dann kommt dieser wirkliche Ton tief aus dem Inneren hervor, ein anderer, noch nicht gehörter Ton, der mir fremd ist, und setzt die zähe Körpermasse aus dem Stillstand in Bewegung, dass sich nach den Beinen auch die Arme zu rühren und herumzufuchteln beginnen.

Schlag beim Ausatmen auf die Matte, ruft der Doktor, möglichst fest mit einem möglichst deutlichen Schrei!
Also beginne ich fest auf die Matte zu schlagen und zu schreien und spüre dabei, wie sich das Schreien verselbstständigt, wie es plötzlich automatisch hervorbricht, sehr laut und gefährlich und sich etwas aufschaukelt, das den Körper in eine schneller werdende Bewegung hineintreibt, bis sich auch das Becken und der Oberkörper heben und eine lange Welle in Gang setzen.

Auf die Matte, auf die Matte, ruft der Doktor, bleib auf der Matte, als ich mit den Füßen herumzutreten beginne. Lass die Füße aufgestellt, lass die Füße auf der Matte, fest auf der Matte!

Ich aber beginne mit den Füßen aufzustampfen, mit den geschwollenen und angeschlagenen Füßen in die Matte hineinzustampfen und gleichzeitig immer heftiger darauf einzuschlagen und merke, dass ich nicht mehr schreie, sondern den Doktor anbrülle aus einem wahrscheinlich hassverzerrten Gesicht heraus, weil er plötzlich zurückweicht; spüre die zuckende Welle, die mich mitreißt, bedrohlich und angenehm zugleich und schreie und schlage, schreie und stampfe, brülle wie ein Vieh und fühle ein Wutchaos heiß und drückend über den Körper gehen in einer einzigen Zornexplosion, die vor dem anfeuernden Doktor in die Luft geht, als ob etwas ausgetrieben würde, eine große schwarze Masse herausgetrieben würde! Ja, ja, ja, schreit es gegen den Doktor, der sich etwas zurückzieht, als ihn aus den weit aufgerissenen Augen die Wut trifft und: ahhhhhhhhhhhhhhh brüllt es, so laut und durchdringend, wie das Kind nie brüllen durfte.

So komme ich in eine keuchende Atemlosigkeit hinein mit Blitzen und Lichtpunkten im Gesichtsfeld, heiß und verwirrend, aber doch auch leicht und angenehm. Das ist gut, das ist gut, aber auch so bedrohlich, als ob eine fremde Kreatur wie eine sich windende Riesenschlange aus ihrer Haut hervorkriechen würde und sie mit aller Gewalt abstreifen müsste. Zum ersten Mal wehrt sich der Körper mit Macht gegen die jahrelange Einengung, gegen die eigene Zerquetschung, indem er sich wie verrückt herumwirft und dem Panzer so knirschend und schreiend langsam Risse zufügt, ihn hier und dort auch schon aufzulösen beginnt.

Er platzt auf, im Gesicht zum Beispiel platzt die Panzerung auseinander und lässt den Kopf schreien wie nie zuvor, aus dem aufplatzenden Kieferpanzer schreit es gegen die Zimmerdecke, in den aufgerissenen Augen stehen die Wut- und Angsttränen. „Platzen“ bedeutet im heimischen Dialekt einerseits schreien, andererseits aber auch weinen, so platze ich also vor dem Doktor auseinander.

Heraus kommt der nackte rohe Mensch, ein fremder Mensch windet sich da also auf einmal vor dem Doktor, wundere ich mich, ein sogenanntes böses, laut platzendes Kind, das ich doch angeblich immer gewesen bin: ein Schreihals schon als Baby!

Ich darf es sein, wird mir mit einem Mal klar, ich darf ja schlagen, stampfen und brüllen wie am Spieß, ohne dass von einem Stärkeren sofort zurückgeschrien oder geschlagen und damit alles niedergehalten wird. Jetzt aber hebt sich alles, die Beine, die Arme, der Kopf, und mit halb aufgerichtetem Oberkörper dresche ich auf die Matte ein, dass es eine Freude ist, während sich der Doktor schon außer Reichweite gebracht hat.

Ja, ruft er, der zum ersten Mal sehr zufrieden schaut, endlich rührt sich was, und nach einer langen Pause, in der ich mich langsam wieder beruhige, auf die Matte zurückfalle und zu Atem komme: Was spürst du?

Etwas Fremdes, aber Angenehmes, nämlich das vor Wut explodierende Kind, wollte ich sagen; doch das ist nur ein Gedanke; das aber spüre ich wirklich: das gehende Herz im sich auf- und abbewegenden Brustkorb, den ruhigen Schwanz auf den entspannten Hoden, die nachvibrierenden Beine, warme Handflächen, den heißen, verschwitzten Kopf, elastischere Rippen, ein leichtes Ziehen im Rücken und erst zum Schluss die schmerzenden Gelenke.

Auch eine neue Ruhe, die aus dem leergebrüllten Gehirn kommt, das wenigstens momentan nichts zu sinnieren hat, das Geschehene nicht interpretieren, keine Ordnungsbegriffe finden muss, sondern sich dem Nachzittern des Ausbruchs überlässt; kein schlechtes Gewissen und keine Sorge, sondern das Erstaunen über den Mut, sich bloßgestellt zu haben.

Eine Bloßstellung ist passiert, und sie war nicht peinlich, schon gar nicht schrecklich, auch keine Schande, als ich einen Teil meiner Wut gezeigt und herausgelassen habe, und niemand war enttäuscht von mir, hat sich abgewendet oder zurückgeschrien, im Gegenteil! Für einen Moment spüre ich, was der Doktor mit seiner dauernden Atmerei wirklich meinen könnte: mit einem anderen Atemrhythmus in einen anderen Lebensrhythmus kommen, mit dem geänderten Atem zu neuen Gedanken!

Das ist ja was: Der Neurotiker spürt wieder etwas und denkt nicht nur daran, ob er etwas falsch gemacht hat, freut sich der Doktor. Du beginnst wieder zu leben, sagt er.

Beim nächsten Mal dann die zweite Austreibung. Wieder auf der Matte; die Frage des Doktors, was sich geändert hat, worauf ich ihm erzähle, wie ich voriges Mal mit einem anderen Gefühl die Praxis verlassen habe, den anderen Menschen auf dem Weg zur Garage, wo das Auto abgestellt ist, meinen gelüfteten Körper präsentieren konnte. Zum ersten Mal war es ein Weg in einem frischeren Licht, in dem Entdeckungen möglich schienen, andere Menschen als sonst auftauchten, ein Weg, auf dem mich nicht mehr nur das eigene schlechte Gehen interessierte.

Auf einem Brunnen, der eine überdimensionale Hand darstellte, saßen Kinder und waren nicht sofort eine Belästigung, weil sie den Wasserstrahl gegeneinander abzulenken versuchten und dabei vielleicht Passanten trafen, also möglicherweise auch mich. Und schon schimpfte tatsächlich jemand, der getroffen wurde, die Kinder aber waren erstaunt, dass sich einer außerhalb ihres Spiels gemeint und angegriffen fühlte. Sie meinen es nicht so, dachte ich und war doch sonst einer – als Lehrer! – der sich ganz schnell angegriffen fühlte.

Tu dir nichts an, sagte ein Vorbeigehender zu seinem Nachbarn, der gerade angespritzt wurde, was mir jetzt als guter Vorsatz erschien, sich nicht immer so viel anzutun, sich nicht immer angegriffen zu fühlen, also gelassener zu werden. Tu dir nichts an, könnte ein Lebensvorsatz werden für mich. Ich werde mir nicht mehr so viel antun, sagte ich zu mir, ja, ich werde mir nicht mehr so viel antun, wiederholte ich. Schauten mich da die Entgegenkommenden nicht gleich mit anderen Augen an, wurde mir nicht zugelächelt oder war es doch nur der abweisende Blick für den Hinkenden? Oder schauten die vor einem Cafe im Freien Sitzenden so leer und posierend durch die Gegend wie immer?

Aber war es nicht viel wichtiger, wie ICH auf die anderen schaute, die mir als Darsteller in einem Film erschienen, der mir gefiel und ein gutes Gefühl gab! Und spürte ich nicht in den letzten Wochen, dass ich, mich aufrichtend, größer geworden bin und nicht mehr so leicht übersehen wurde? Schon seit längerer Zeit habe ich niemanden mehr überrascht sagen hören: Ah, da bist du ja, ich habe dich gar nicht bemerkt!, obwohl ich schon länger im Raum gewesen war; kein Herumschleichen mehr, sondern ein sogenanntes sicheres Auftreten?

Aus dem Schaufenster eines Blumengeschäfts nahm die Verkäuferin einen Strauß roter und blauer Blumen aus einer großen Vase und ließ dabei, sich bückend, ansatzweise ihre Brüste sehen. Auch der Obdachlose mit einem Pappschild, auf dem seine Leidensgeschichte zu lesen gewesen wäre, gehörte jetzt dazu, spielte mit in diesem Film. Die Bauarbeiter hinter einer Absperrung, die um eine Mischmaschine standen, erschienen mir nicht als arme Hunde, sondern mindestens als Darsteller in einem gelungenen Werbefilm, voll Energie und Kraft.

Eine blonde Frau in einem kurzen roten Rock – die ich doch kannte! – ging vorbei und war schon die Heldin eines Liebesfilms, in dem ich eine Rolle spielen könnte. Fast hätte ich sie angesprochen, wenn sie nicht zu schnell vorbei gewesen wäre und ich ihr hätte nachhinken können. Zwei Mal schon hatte ich sie in der Doktorpraxis gesehen, doch war ich mir nun unsicher, ob sie es war, da sie mir in der Doktorumgebung auch nur als Patientin vorgekommen war, nun aber strahlend schön erschien.

Und dann war aber doch wieder nur ein anderes blöd taxierendes Menschengesicht im Lift der Tiefgarage, viel zu nahe im Aufzug, ein von oben herabgrinsender Möchtegernschauspieler, der den Platz wie selbstverständlich beanspruchte, ein Gesicht, bei dem ich mich sofort fragen musste, was es sich über mich dachte, das mich in die Ecke drängte und klein machte.

Das aber will der Doktor nicht mehr hören, sondern wissen, warum ich denn die Frau, die er auch als seine Patientin erkannte, nicht angesprochen habe: Weil ich mich nicht getraut habe, sage ich.  Da haben wir ja immerhin so etwas wie ein Gefühl, sagt er – und: Atme! Wieder beginnt es also ganz ruhig; ruhiges Liegen auf der Matte, langsam einsetzendes Zittern der Beine, sachtes Aufschaukeln aus dem Stillstand mit dem Doktor daneben als Antreiber: Atme, mach einen Ton beim Ausatmen, atme möglichst lange aus!

Und wieder beginnt er mich im Gesicht zu drücken, zu malträtieren, zeigt mir selbst sein Gesicht in beachtlichen Grimassen: so soll es sein! Beginnt mich neuerlich zu nerven mit seinem dauernden: Atme und öffne die Kehle, einen lauten Ton möchte ich hören, einen Ausdruck sehen! Drückt auf die Wangen und den Oberkiefer, versucht die erstarrte Körpermasse in Bewegung zu bringen, indem er mir wehtut. Und schneller als beim letzten Mal spüre ich etwas, weil ich mir nicht so gesperrt vorkomme, spüre über den Schmerz hinaus den aufsteigenden Zorn und merke, dass ich Lust auf die Wut bekomme, dass ich sie auch zeigen kann ohne allzu schlechtes Gewissen.

Als er den Bauch zu bearbeiten und die scharfe Eingeweideklammer noch tiefer hineinzudrücken beginnt, fühle ich plötzlich, wie ungeheuer die Wut im Bauch ist, wie tief ich sie hineingefressen habe und wie schwer sie wieder herauszubringen ist! Auf die unbewegliche, glatte, abweisende Körpertube drückt der Doktor, um die Wut herauszuquetschen; damit sie durch den Körper durchgedrückt wird und oben herauskommt als Geschrei, sich befreit aus dem Rheumagefängnis und geäußert werden kann, bevor die Körpertube explodiert und der Inhalt endgültig zu verrotten beginnt!

Hör auf so fest zu drücken, rufe ich, es tut nämlich ziemlich weh, aber er verstärkt noch seinen Druck, sagt nur weiter: Zeig, was du spürst, zeig schon, was los ist, du wehleidiger Bursche! Du jammerst nur und bringst nicht einmal einen richtigen Ton heraus!

Da schweige ich wieder und atme vorerst nur, atme dem Doktor nur ins Gesicht und zeige ihm wahrscheinlich auch mit den Augen, was er für ein Kotzbrocken ist. Und atme mich in eine Wut hinein, die zwar noch zwischen Brust und Augen feststeckt, aber schon aus den Eingeweiden nach oben gerissen worden ist, schon fast herausgelassen werden kann, wenn nicht so viel Angst dabei wäre, so viel Hass und Angst und Wut im Körper festgefressen wären seit Jahrzehnten.

Zitternd sitzt die Wutangst aufsteigend aus dem Bauch jetzt in der Lunge, atmet schwer aus dem Rachen und will endlich herausgeschrien werden! Aber noch ist es nicht so weit, noch treiben fast nur die Beine den Körper an, noch ist die Welle nicht auf den Oberkörper, der ziemlich unbeweglich liegt, übergesprungen. Langsam schiebt sich etwas zur Seite, löst sich auf in kleinen Zuckungen, die durch die Schenkel fließen. Immer deutlicher spüre ich, wie sich dieser Strom aus den Beinen hochzieht in die Bauchhöhle und sich dort gegen den Doktorgriff wehrt, gegen den Druck durch die Doktorhand in den übrigen Körper springt und die Wut nach oben schiebt, hinter das steinharte Gesicht, wo das Herz im Schädel dröhnt und das Blut in den Ohren zu rauschen beginnt.

Einen Ton fordert der Doktor und erkennt vielleicht, dass nicht mehr viel bis zum Ausbruch fehlt und drückt deshalb jetzt auf den Schädel, als ob er die letzte Sperre beseitigen wollte, die Kopfsperre, die aber die stärkste ist. Alles bleibt im Kopf stecken und füllt ihn so mit dem Wut- und Angstgemisch, dass er ganz verstopft ist. Nach dem Körper muss endlich auch aus dem Kopf der Abfall heraus, dazu muss offensichtlich fest gedrückt werden an der Körpertube, so fest, vor allem am Hinterkopf, am Kleinhirn, dass mir der Schweiß ausbricht und wahrscheinlich zu dem hinter mir stehenden Doktor hinaufstinkt. Der Kopf so voll mit Angst – und Wutscheiße, dass es zum Himmel stinkt, sagt er nämlich plötzlich, du stinkst vor lauter Wut und Angst, mein Freund! Lass doch endlich los, zeig endlich deine beschissne Wut, lass sie endlich heraus!

Du Drecksau, rufe ich, was machst du denn, du zerdrückst mir ja den Kopf, und spüre plötzlich, wie sich alles verengt und ich wie festgenagelt bin auf der viel zu schmalen Matte, die sich um mich fest zu schließen beginnt wie die Last von mehreren schweren Tuchenten bei den Schwitzkuren in der Kinderzeit; oder wie sich bei den todernsten kindlichen Raufereien der Arm des stärkeren Gegners im sogenannten Schwitzkasten über mein Gesicht legte und die Panik, ersticken zu müssen, im Gehirn zu toben begann wie jetzt im Schwitzkasten des Doktors!

Das ungeheure Bedürfnis, sich zu befreien und Luft zu verschaffen (atme!) mit aller Gewalt, ist der einzige Gedanke im Aufschrei: Das lasse ich mir nicht mehr gefallen! Und merke in diesem Moment, wie der Atem mit einem Gebrüll aus dem Schädel hinausfährt und die Körperwelle den Oberkörper endgültig mitreißt, der Doktor gleichzeitig zu drücken aufhört und ruft: Endlich, ja gut, weiter so, während ich zu schlagen beginne, auf die Matte, auf die Matte, so der Doktor, und es mich in Zuckungen herumwirft.

Kindergebrüll, kein Erwachsenenschreien, sondern ein durchdringendes Kinderbrüllen entfährt mir, die Augen fast aus den Höhlen treibend, während nun auch der Schädel auf- und abzuhüpfen beginnt und die Füße auf die Matte trommeln. Dann drehe ich mich ein wenig zur Seite und schreie dem Doktor mitten ins Gesicht; während ich bisher immer nur knapp daneben auf den Plafond hinaufgeschrien habe, fixiere ich ihn jetzt und brülle ihm meine Wut in die Augen und merke, dass ich auch nicht mehr den Boden bearbeite, sondern in die Luft zu schlagen beginne, Richtung Doktor schlage und ihn auch schon mit einem rechten Schwinger am Körper treffe, bevor er sich außer Reichweite bringen kann (deshalb immer sein Ruf: auf die Matte, auf die Matte?!).

Nichts hält mich mehr in der Position des Liegenden, des Erduldenden, des Opfers und so flink wie nie mehr seit Jahren komme ich auf die Knie, immer noch um mich schlagend, da legt mir der Doktor einen großen Polster her, in den ich hineinschlagen soll, aber daran denke ich gar nicht, weil ich nicht den Polster, sondern den Doktor meine, der jetzt ohne Bedenken angegriffen wird. Da bricht etwas entzwei, da birst der Panzer auseinander, unter dem die nackte Wut herausschießt: Aufspringend schlage ich schreiend auf den zurückweichenden Doktor ein wie das außer sich geratende Kind ohne Zurückhaltung blind um sich schlägt, aber mit plötzlich aufbrechender Schnelligkeit und Kraft, die ich mir nicht zugetraut hätte; bis es mich zurückwirft auf die Matte.

Das zieht etwas durch den Raum, während ich keuchend liege, kaltes Erschrecken zieht über mich hinweg, vor dem ich mich unwillkürlich ducke, wie ich es immer gemacht habe in Erwartung der Schläge, denn wenn ein Unglück passiert, muss auch die Bestrafung stattfinden, wenn man sich wehgetan hat, muss auch noch eine Ohrfeige dazugegeben werden, so war es jedenfalls öfter.

Denn plötzlich ist eine Hand im Raum, über mir, die Vaterhand, die ich im Moment des Schlagens wirklich auf meinem Kopf spüre und ich mit allen Sinnen wieder das böse, schreiende, hilflos ausgelieferte geschlagene Kind bin. Die Tränen schießen mir in die Augen, seit Jahren zum ersten Mal, aber mit dem Gefühl der Verzweiflung ist auch jenes der Erleichterung mit der jetzt sanften Doktorstimme da: Das war gut, jetzt ist es vorbei.

Und schon drückt er wieder im Gesicht herum, bearbeitet die glatte Oberfläche, um das wahre Ehegesicht hervorzudrücken, das enttäuschte Ehegesicht, du bist ein Ehekrüppel, sagt er, und drückt mir fast die Kiefergelenke aus den Scharnieren. Versperrt ist der Sprechapparat noch immer, meint er, du verbietest dir selbst das Sprechen, weil du den Mund nicht aufbringst zu Hause, weil du schon seit Jahren unfähig bist, deinen Gefühlsnotstand zum Ausdruck zu bringen. Ein Schwächling bist du, ein Professor nach außen hin, in Wahrheit aber ein Bub, kein Mann! Du musst endlich das angstvolle Kind herauslassen, um ein Mann zu werden!

Ja, ja, schreie ich, wie denn, du Idiot, so ein Unsinn, wie soll ich denn das angstvolle Kind herauslassen, so vielleicht: Und brülle los wie der bitzelnde Schreihals, der ich einmal war, dass mir die Sinne vergehen und schneide ihm die hässlichste Grimasse, die ich mir vorstellen kann, strecke dem Doktor die Zunge heraus, beginne gleichzeitig zu weinen und auf ihn schreiend hinzuschlagen, zuerst mehr verzweifelt und ohne Nachdruck, mit der Zeit aber immer bestimmter und deutlicher, stehe dabei auch auf, während der Doktor sagt, ja genauso, gut, gut, es genügt aber, ins Leere zu schlagen, worauf ich unter seinen Anfeuerungsrufen durch den Raum galoppiere und das Selbstmitleid des geschlagenen Kindes hinausbrülle, grunzend gegen die Wand schlage und mich vor nichts schämen muss in diesem Veits- und Kriegstanz, der gleichzeitig ein Tanz der Besänftigung ist, und merke, dass ich ja auch auf den Boden stampfen kann, ohne vor Schmerzen aufzuschreien und zum ersten Mal nach Jahren wieder in die Luft springen kann, wenn auch nur unmerklich!

Die Wut kommt heraus, die Wut auf dieses ängstliche Kind in mir, das mir so viel vermiest hat, das jetzt endlich zum Verstummen gebracht werden wird. Sei still, sage ich zu ihm, während es mir immer noch einreden will, dass ich mich vor dem Doktor zum Narren mache, wenn ich so herumhüpfe; lächerlich machst du dich, und schämst du dich gar nicht! sagt das Kind. Wie du ausschaust, sagt es, wie krank und schwach du bist, da wird dich der Herr Doktor auslachen!

Hau ab, rufe ich, verschwinde endlich, lass mich in Ruhe, und boxe es langsam aus mir heraus, indem ich in die Luft haue, auch wenn es immer noch nicht ganz geschlagen ist. Ich bin nervös, sagt es, spür doch, wie kalt die Füße sind, kalte Füße bekommst du, weil du Angst hast, auch wenn du noch so viel herauskotzt!

Aber ich merke, dass sich das ängstliche Kind langsam einschüchtern, mit dem beweglicher werdenden Körper abschütteln lässt. Wenn man es nur bestimmt und deutlich genug anredet, verstummt es von selbst, rührt sich zum Schluss kaum mehr, probiert es nur noch einmal:

Vielleicht schadet dir die Behandlung in Wahrheit, sagt es, vielleicht wirst du noch verrückter, als du schon bist! Und: Vielleicht bist du in Wirklichkeit schwul, weil du so vor dem Doktor herumtanzt, denk einmal darüber nach! Da muss ich im Lauf der Behandlung zum ersten Mal lachen, muss das ängstliche Kind auslachen, was es offensichtlich nicht erwartet, weil es ganz klein wird bei meinem Lachen.

Nein, darüber denke ich nicht mehr nach, rufe ich, schau doch, ich kann den Doktor ja sogar umarmen – und umarme ihn dann auch wirklich – ohne dass es mir peinlich ist, ohne dass ich an ein mögliches Schwulsein denken muss. Du kannst mir nichts mehr antun, du stirbst, merkst du es nicht, ängstliches Kind, dass du in mir abstirbst wie ein abheilendes Geschwür!

Da bewegt sich was, wunderbar, ruft der Doktor, der wie ein Tierbändiger in der Mitte stehengeblieben ist, als ich mit den Armen herumrudere und undefinierbare Laute von mir gebe. Langsam wird alles leichter, klarer und bestimmter, die Körpersperre und das verkrallte Gehirn lösen sich, sodass ich auf einmal lachen und vor Verwunderung über mich selbst den Kopf schütteln muss.

Ein anderes Mal erzähle ich dem Doktor die Vatergeschichte: Zum ersten Mal nach Jahrzehnten ist mir der eigene Vater zum Menschen geworden, von der ständig gereizten Herrscherfigur der Kindheit über einen die ganze Welt beschimpfenden und vor sich hinstierenden Alkoholiker zum armen ausgelieferten Menschen wie ich auf der Matte. Er aber dagegen im Krankenhaus nach einem halben Schlaganfall, jedenfalls vorübergehend sprechbehindert und dadurch erst für mich wieder verständlich geworden.

Als ich ihn besuche, liegt er allein im trostlosen Zimmer hilflos im Krankenbett, der ehemalige Schuldirektor und Lokalpolitiker als Häufchen Elend. Habe ich ihn bisher fast nur in Posen und Rollen gesehen, zum Beispiel als strengen Lehrer, talentiert, aber vor allem stolz darauf, alles im Griff zu haben, die Schüler in Schach gehalten zu haben: Wieder einmal so laut in der Klasse geschrien, dass man es noch draußen auf der Straße gehört hat! So ist er jetzt auf einmal sehr still und hat gar nichts mehr im Griff, nicht einmal die eigenen Ausscheidungen. Immer war er vor allem der Erzieher, der anderen (mir) gesagt hat, was sie zu tun haben. Immer laut, streng und starr, oft ungerecht: die Vaterpose.

Meistens eine gereizte Stimmung im Haus, ein ständig aggressiver Umgangston von seiner Seite, jeden Tag mehrmals geschimpft. Als gereizte Figur ist er in Erinnerung, deren Überlegenheitsgetue ich ab einem bestimmten Alter ohnehin nur mehr belächelt habe. Scheinbar immer stark und allwissend nach außen hin, aber als Neurotiker ohne wahrhaftige Gefühle, einzige Zuflucht zunehmend im Alkohol, dann sentimental und wehleidig. Völlig unfähig zur alltäglichen Versorgung in den wenigen Tagen der Mutter-Abwesenheit.

Die Wut auf den Vater müsste schon lange herausgeschrien worden sein, denke ich, als ich ihn vor mir liegen sehe, schon lange müsste er zu spüren bekommen haben, was er seinen Kindern angetan hat: die Schläge mit dem Kochlöffel, die Schläge auf den Hinterkopf, die Demütigungen. Was in den Doktorstunden alles herausgeschrien wurde, müsste doch jetzt ihm hineingeschrien werden? Vor allem Angst hast du mir gemacht, du Angstmacher, könnte ich sagen, vom ersten Tag an Angst gemacht.

Weil ich so ein böses Kind war, das nur geschrien hat, ist von Anfang an dagegengeschrien worden von dir, also müsste jetzt endlich wieder zurückgeschrien werden! Aber jetzt gelingt mir das nicht angesichts dieses fremden Menschen, an dem alles herunterhängt, der nichts Lautes mehr an sich hat, nichts gespielt Überlegenes, zum ersten Mal seit vielen Jahren.

Als er mich bemerkt, setzt er sich im Bett auf, im Unterhemd, ein grotesk fremdes altes Kind mit herabfallenden Schultern und stammelt eine Begrüßung, deutet mit den Händen hilflos auf den Mund, kleine Satzfetzen hervorstoßend, panisch im Bewusstsein, vielleicht für immer die Sprache zu verlieren; kleine fahrige Handbewegungen zum Mund, vor Verzweiflung mit den Schultern zuckend, tatsächlich weinend, dass ihm die Tränen herunterrinnen. Ich kann nicht, ich kann nicht richtig reden, will er mir zeigen, versucht er herauszubringen, dabei wird mit einem Mal die völlige Hilflosigkeit in seinen Augen deutlich.

Zum ersten Mal sitzt mir ein wahrhaftiger, weich gewordener Vater gegenüber, und ich spüre Mitleid, das mich diesen Menschen in den Arm nehmen und an mich drücken lässt. Zum ersten Mal seit der Kindheit will ich ihn wirklich umarmen, nicht als Formalität, die einem eher peinlich ist, sondern als ehrlicher Ausdruck. Ich spüre dich, weich gewordener Vater, und spüre mich gleichzeitig selbst in der Umarmung, erkenne mich auch selbst in dir, in deiner Schwäche, weiß aber in diesem Moment auch, dass ich dich überwunden habe, stärker bin als du und dich deshalb jetzt an mich drücken kann!

Atme, atme, sagt der Doktor wieder, und: Ton, Ton, einen Ton möchte ich hören; wie am Anfang sagt er es, als ob ich nicht schon viel erlebt hätte in den zurückliegenden Monaten, als ob ich nicht schon ein anderer geworden wäre, noch immer und immer wieder: Atme und Ton!

Du glaubst doch nicht, schon gesund zu sein, sagt er, noch immer kommst du mehr wie ein alter Mann herein, schau dir doch zu, wie du auf der Matte zusammenbrichst, kraftlos und tonlos!

Für einen Moment zucke ich da zusammen, für einige Sekunden bin ich wirklich sprachlos, ist der Zweifel wieder da, ob er nicht recht hat, ob ich mir die Veränderungen vielleicht nur einbilde!

Nein, rufe ich, du hast unrecht, hör mir zu, rufe ich, und: Schau her! Ich springe auf, hüpfe im Raum herum, hüpfe dem Doktor etwas vor und beginne auch zu schreien. Wie die Schüler nach dem Stillsitzen während der Unterrichtsstunden in den kurzen Pausen dann auf den Gängen herumrasen- und schreien, um sich abzureagieren, laufe auch ich jetzt als Schulkind schreiend um den Doktor herum. Das still sitzende Kind bin ich nicht mehr, sondern das ausgelassene, das sich seiner Freiheit aber doch noch nicht ganz sicher ist, weil es aus den Augenwinkeln immer noch den Lehrer beobachtet?

Du übertreibst, sagt der Doktor auch prompt, warum übertreibst du denn?
Da lege ich mich gleich wieder auf die Matte, da erstirbt die Bewegung in der Doktorbeobachtung.
Sofort legst du dich hin, nicht wahr, sagt er, schon gibst du wieder auf!

Idiot, sage ich, du kriegst mich nicht mehr klein, bäume mich ein bisschen auf und beginne zu lachen, über mich und den Doktor muss ich lachen, aus dem locker gewordenen Körper und Gesicht lächelt und lacht es als eine neue Kraft, die für einen Moment auch dem Doktor unbekannt ist, bei der er sich nicht ganz auskennt, weil er sich vielleicht ausgelacht vorkommt? Aus dem Schreien wird das Lachen, das ist der neue Ton, das Lachen über die Fragen, die mir früher das Gehirn zermartert haben, was sich die anderen über mich denken, was nicht in Ordnung sein könnte, ob mir nicht irgendetwas schaden könnte. Darüber muss ich jetzt nicht mehr nachgrübeln, sondern schmunzeln: von der Starrheit des Sinnierens zur Lockerheit des Lachens!

Es schüttelt den Körper, im Lachen wird er sanft durchgerüttelt und beginnt sich zum ersten Mal auf der Matte wirklich wohlzufühlen. Ja, es verändert sich etwas, ja es wird besser, ja ich beginne zu leben, sage ich zum Doktor, während ein angenehmer Schauer über den Rücken bis zu den Beinen hinuntergeht.

Aber noch einmal probiert er es: Das bildest du dir nur ein, sagt er, das Lachen kann auch die Gefühlsunfähigkeit sein, schau dir doch den allgemeinen gesellschaftlichen Lachpanzer an, unter dem die Verzweiflung nicht gezeigt werden darf! Außerdem ist da noch etwas, das du nicht zeigst, nicht herauslässt, irgendetwas ist noch versteckt im Körper, noch immer sehe ich den Panzer und nicht das Leben; und drückt dabei wieder auf den Bauch, später auch auf den Schädel, drückt dabei aber mehr die Freude heraus als irgendetwas Verstecktes.

Er weiß, wie er mich anreden muss, denke ich, er muss nur von etwas Verstecktem reden, etwas Ungutem, einem nicht näher bestimmten Defekt, schon werde ich nervös, schon bin ich verunsichert. Er sagt nur, was ich selbst früher immer gedacht und befürchtet habe, mit einem einfachen nichtssagenden Satz könnte schon wieder das Chaos im Kopf beginnen!

Aber in Wirklichkeit spüre ich doch, dass sich der Chaosgedanke in den letzten Monaten aufgelöst hat und damit auch die Körpersperre. Die Rheumablockade verschwindet in der Auflösung der Kopfsperre. Ich behaupte nicht nur die neue Bestimmtheit, sondern spüre sie! Auch die Drückerei des Doktors macht mir nichts mehr, ich lasse sie geschehen, weil ich sie leicht aushalte!

Ich kenne dich mittlerweile, sage ich zu ihm, du willst mich provozieren, aber jetzt geht die Provokation ins Leere, ab jetzt trifft sie mich nicht mehr!

Da muss auch der Doktor lächeln und wird damit endgültig zum Verbündeten? Ja, sagt er, jetzt kommt nach der Wut das heraus, was auch und vor allem in dir steckt, nämlich die Lebensfreude, das Lachen als Lebenslust, jetzt zeigst du ein anderes wahres Gesicht, das entspannte und sympathische, weil du in Wahrheit ein lebendiger und herzlicher Mensch bist! Wie viel Freude in dir steckt, wie viel Anziehungskraft auf andere Menschen, weil du dich endlich aus der lebenslangen gebückten Haltung aufgerichtet, aus der selbstverordneten Panzerung gelöst hast, damit man dich überhaupt einmal richtig sehen kann, ruft der Doktor, den ich so gar nicht kenne.

Bin ich nicht wirklich größer geworden in der letzten Zeit, hat sich der eingeschrumpfte Körper nicht wieder gedehnt, nachdem sich die Panzerplatten gelockert haben und nun langsam abfallen? Es fehlen mir die Worte für die neue Körperdehnung, für die Freude unter der Haut, die Knochenfreude, die Eingeweidefreude, die Herzfreude, die Freudevibrationen insgesamt: staunende pure Daseinslust!

Ich sehe sie in deinen Augen, das genügt doch, sagt der Doktor, man sieht dir die Freude an, deshalb muss sie nicht mehr besprochen werden!

Die Schultern beginnen zu rollen, dass es mir Ströme über den Rücken treibt, lange gähnende Seufzer als Ton aus der offenen Kehle, das Liegen auf der Matte – sonst nichts – als Genuss, so ändert sich alles. Ruhig und entspannt, so sagt man, liege ich da und das heißt: Nicht darüber nachdenken müssen, ob auch alles gut genug funktioniert, ob auch die Entspannung perfekt genug ist, der Zustand des beginnenden Glücks möglichst einwandfrei ist, sondern: leicht betrunken in einer Art gelassener Gleichgültigkeit, gleichzeitig aber hellwach und ganz klar im Kopf, das ist das Schönste! Keine lästigen Gedanken, nur der Doktor stellt mir auf einmal diese Frage: Was ist dir am wichtigsten im Leben?

Die Liebe, sage ich, ohne lange überlegen zu müssen, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, sage ich, ohne dass es mir kitschig erscheint.
Und warum tust du nicht, was dir am wichtigsten ist?
Weil es nicht so einfach ist!
Doch, es ist einfach, sagt der Doktor, du machst dir nur selbst das Leben schwer!
Eine Phrase!
Aber eine richtige!
Es wird ja schon besser, rufe ich und atme.

DER ANDERE BLICK

Ganz in nächster Nähe existiert das lebendige Leben um einen herum in allen Dingen, die das Auge sehen, die das Ohr hören und die die Nase riechen kann … Die Schlüssel zum Ausgang sind in unserem eigenen Charakterpanzer und der mechanischen Steifheit unserer Körper und Seelen einbetoniert. (Wilhelm Reich, Christusmord)

Beim nächsten Mal öffnet mir nicht der Doktor die Tür, sondern eine Patientin, die Patientin, und sagt, dass es ihm nicht gut gehe, dass er die Therapiestunde nicht halten könne; und gleichzeitig sehe ich ihn im Hintergrund auf der Matte liegen, die Arme weit ausgestreckt. Er ist irgendwie zusammengebrochen, sagt die Patientin, die ruhiger ist als ich, da sie offensichtlich schon eine Stunde bei ihm ist und sich an den erschöpft wirkenden Doktor, der mich heranwinkt, gewöhnt hat.

Er begrüßt mich, kann aber seinen Zustand nicht erklären, eine sogenannte Kreislaufschwäche vielleicht, die Anstrengungen des Therapierens, aber heute könne er wahrscheinlich nicht mehr arbeiten, sagt er, heute müsse die Stunde ausfallen, und: Irgendwer soll mir auf den Schädel drücken.

Ich stehe eher unbeteiligt daneben und bin auf so etwas nicht gefasst, den zusammengebrochenen und auf der Matte liegenden Doktor konnte ich mir nicht vorstellen, ein kranker Arzt neben dem hilflosen Patienten! Dachte ich nicht immer, ihm selbst konnte es nur gut gehen, weil er ein „durchgearbeiteter Mensch“ (so nennt er die Gesunden) sein muss?

Zum ersten Mal möchte ich etwas über ihn wissen, zum ersten Mal spüre ich, dass er ein Freund ist und nicht nur ein kritischer Beobachter. Ist er nicht wie ich, frage ich mich, ihm gelingt auch nicht alles, so beängstigend gesund kann er nicht sein, wie er jetzt daliegt.

Wie reagiert er denn auf der Matte, atmet er auch richtig und welchen Ton bringt er eigentlich heraus? Die Versuchung ist da, selber den Doktor zu spielen, nachdem die erste Überraschung vorbei ist. Erstaunt schaue ich auf den liegenden Menschen, der seine Erschöpfung spürt und zeigt, zum Ausdruck bringt, indem er das Gesicht verzieht und ein wenig jammert, aber vor allem meint, froh zu sein, dass wir da sind.

Tatsächlich merke ich in diesem Moment, dass mir der Doktor in den letzten Monaten zu jemandem geworden ist, der einen wichtigen Platz in meinem Leben einnimmt: nein, mit Sicherheit kein Guru, aber – ja, ein Meister-Freund, mit dem ich jetzt mitleide, nicht nur erstaunt bin, dass ihm „so etwas passiert“.

Was können wir für dich tun, frage ich ihn, in der Mehrzahl frage ich, die Patientenkollegin neben mir einschließend, die jetzt versucht, wie von ihm verlangt, seinen Schädel zu bearbeiten, insbesondere am Hinterkopf soll fest hineingedrückt werden, am Hirnansatz, um die Energie wieder zum Fließen zu bringen.

Deshalb drückt sie unter den Anweisungen des Doktors auf dessen Hinterkopf, bis es ihm genügt, bis es ihm offensichtlich besser geht. Ins Nebenzimmer will er sich noch legen, sagt er, vielleicht kann er dann später auch wieder arbeiten.

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    Bukumatula 1/2019

    Nachruf auf Mary Boyd Higgins

    (13.10.1925 – 8.01.2019)
    von
    Robert Federhofer:

    Anfang dieses Jahres verstarb im Alter von 93 Jahren jene Frau, die seit beinahe 60 Jahren den Wilhelm Reich Infant Trust – die rechtliche Verwaltung des Erbes nach Wilhelm Reich – engagiert führte. Mary Boyd Higgins übernahm diese Tätigkeit 1959 von Reichs älterer Tochter Eva, die sie nach einem Jahr zurücklegte und sich einige Zeit lang niemand anderer dafür anbot.

    Die Aufgabe, das Erbe Wilhelm Reichs gemäß seinem letzten Willen zu erhalten, auch zu verteidigen, war zu keiner Zeit einfach und erforderte vor allem in den ersten Jahren einige rechtliche Auseinandersetzungen. Einerseits Rückforderungen von Archivmaterial von Aurora Karner, einer ehemaligen Mitarbeiterin Reichs, der er in der Zeit seiner Inhaftierung persönlich nahestand. Andererseits waren auch die Zensurentscheide aufgrund der FDA-Anschuldigungen gegen Reich aufrecht und es erfolgte nach der ersten Zeitschriften- und Bücherverbrennung noch zu Reichs Lebzeiten (1956), nun auch noch eine zweite in New York, da dort noch Zeitschriften und Bücher in einem Lagerhaus gefunden worden waren.

    Der Rechtsanwalt Leonard Kolleeny war über Jahrzehnte der Rechtsberater des WR-Infant-Trusts, fast ausschließlich unentgeltlich, waren doch die finanziellen Mittel chronisch beschränkt. 1960 wurde im ehemaligen Orgon-Energie-Observatorium auf dem Anwesen in Maine das Wilhelm Reich Museum eingerichtet und im selben Jahr mit dem Neudruck der Bücher Reichs durch den New Yorker Verleger Roger Straus (Farrar, Straus, Giroux) begonnen.

    Higgings entschiedenes Einstehen für Reichs Erbe über die lange Zeit hinweg ist beeindruckend. Sie kannte Reich nicht persönlich, hat aber dessen Gerichtsprozesse verfolgt und war entsetzt über das Spektakel der staatlich angeordneten Bücherverbrennung. In einem Interview mit Philip Bennett äußerte sie sich 2009 folgendermaßen: „Im Laufe meines Erwachsenwerdens wurde mir sehr und immer drohender bewusst, was mit ungewöhnlich kreativen Menschen passiert und wie diese üblicherweise zerstört werden.“ Diese Empathie des Kreativen mit dem Anderen und eine ordentliche Portion Mut und Hartnäckigkeit ließen diese Leistung über so lange Zeit entstehen.

    Mary Boyd Higgins wurde am 13. Oktober 1925 in Indianapolis in eine wohlhabende Familie hineingeboren; sie absolvierte das Vasser College mit einem Abschluss in Dramaturgie. Ab 1947 lebte sie in New York in Kontakt mit der Theater-Szene im Versuch, Schauspielerin zu werden und 1950 ein Jahr in Paris. Ihr Klavierlehrer überreichte ihr Reichs Buch „Die Funktion des Orgasmus“. Eine persönliche Therapie suchte und fand sie 1953-1956 in der Orgone Energy Clinic in NYC bei Dr. Chester Raphael, einem Schüler Reichs. Das Engagement von Higgins als Verwalterin des WR-Infant-Trusts zeigt große, aus der Ferne aber nicht immer gleich erkennbare Leistungen. Dass die gebannten und verbrannten Bücher wieder publiziert werden konnten, ist eine solche.

    Auch Übersetzungen ins Englische von ursprünglich deutschen Büchern (z.B. The Invasion of Compulsary Sex-Morality, The Bion Experiments, The Bioelectrical Investigation of Sexuality and Anxiety, Early Writings); Neuerscheinungen (z.B. Zeugnisse einer Freundschaft – Briefwechsel Reich-A.S. Neill, vier Bände Auswahl aus Tagebüchern und Briefen: Passion of Youth, Beyond Psychology, American Odyssey und Where’s the Truth), sowie ein Newsjournal, um Archivinhalte zu veröffentlichen (Orgonomic Functionalism). Ebensolche Leistungen sind die Erhaltung des Wilhelm Reich Museums in Rangeley und die Erstellung eines vollständigen Archivkatalogs.

    Anfang dieses Jahres erlitt Mary Boyd Higgins einen Schlaganfall und verstarb einige Tage darauf, begleitet von ihrem Neffen Will Higgins. Diese außergewöhnliche Frau wird fehlen.

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    Bukumatula 2/2019

    Erinnerungen an eine chaotische Welt.

    Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich
    Zur Entstehung von Lore Reich Rubins Buch
    Wolfram Ratz:

    Durch schriftlichen Kontakt mit Lore Reich Rubin war mir bekannt, dass sie ihre Biografie veröffentlichen wollte, sie aber über kein Netzwerk verfügte und sich kein englischsprachiger Verlag darum annehmen würde. Ich eröffnete dem WRI-Vorstand ihr Anliegen, und wir beschlossen – wie vom Psychosozial-Verlag gefordert – für die Übersetzungskosten in Höhe von € 3.000.- aufzukommen. Den Kontakt zum Verlag stellte Thomas Harms her, dessen Bücher dort veröffentlicht werden.

    Ich selbst hatte dabei keine Funktion, fühlte mich aber für das Gelingen verantwortlich. Im Laufe von zwei Jahren, die dieses Projekt in Anspruch nahm, habe ich sowohl der Übersetzerin, als auch den Verlagslektorinnen beim Recherchieren, Formulieren und Redigieren zur Seite gestanden. Da ich noch nie an so einem Buchprojekt beteiligt war, erlebte ich eine Reihe von achterbahnähnlichen Gefühlen bezüglich Verlagsvorgaben, der Einhaltung von Terminen und digitalen Herausforderungen. In diesen Phasen tauchte immer wieder Günter Reissert auf, der mir mit kreativen Ideen zu Hilfe kam.

    Ich weiß nicht, wie es Lore erging, meine aber, dass sie oft an die Grenzen ihrer Kapazitäten stieß. Lore ist zwar der deutschen Sprache mächtig, musste ihrerseits beim Korrekturlesen aber auch deutschsprachige Hilfe in Anspruch nehmen.

    In einigen Kapiteln des Buches finden sich etliche sinnstörende Fehler, die offenbar dem Zeitdruck des Erscheinens geschuldet sind. Ich freue mich jedenfalls, dass das Projekt einen guten Abschluss gefunden hat.

    Wenn Lore Reich Rubin mir in ihrem Buch für meine Unterstützung dankt, dann möchte ich an dieser Stelle meinen Dank an den WRI-Vorstand, insbesondere an Günter Reissert, an die Übersetzerin Lilith-Isa Samer, an Thomas Harms und Beatrix Teichmann-Wirth weitergeben. Und weitergeben möchte ich meinen Dank auch an die oft großzügigen unterstützenden Mitglieder, ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre.

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    Bukumatula 2/2019

    Das Einzige, was ich nicht empfand, war Pensineid….

    Buchesrezension von
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    „Erinnerungen an eine chaotische Zeit. Mein Leben als Tochter von Annie und Wilhelm Reich“
    von Lore Reich Rubin (Psychosozial-Verlag, Gießen, 2019)

    Oje, dachte ich, als ich das Buch durchsah, das ist eine Abrechnung mit meinem verehrten Wilhelm Reich. Und ja, mein inneres Bild von Reich, von dem ich ja bereits wusste, dass er als Mensch nicht gerade einfach war, hat ordentlich Schrammen abbekommen durch diese Autobiographie. Zwar wusste ich bereits von der Lektüre des „Traumvaters“ von Peter Reich, dass sich bei Reich die Konzepte über ein gesundes Aufwachsen von Kindern bisweilen gar nicht mit der tatsächlichen Realität seines Vaterseins deckten. Dass er jedoch immer wieder abgespalten von jeder Natürlichkeit im Umgang mit seinen Kindern war und dass es ihm – vegetative Identifikation hin oder her – derart an den Basics der Einfühlung in kindliche Bedürfnisse und Notwendigkeiten fehlte, überraschte mich dennoch.
    Das Buch berichtet von einer Kindheit und Jugend, in welcher das Alleinlassen und Überfordern der Kinder an der Tagesordnung zu sein schien. Die Erinnerung hat sich tief in die Seele und das Gedächtnis von Lore eingegraben, sodass sie sich auch an die kleinsten Details der vielen traumatischen Erlebnisse erinnern kann.
    Lore Reich Rubin beschreibt zwei Realitäten ihrer Kindheit. Zum einen waren es die Filme, die Wilhelm Reich über die Familie machte – hier erschien alles bunt, lustig, sonnig und die „Menschen spielen mit uns“ (S. 14) und die andere Wirklichkeit – ein grau getöntes Leben in Wien, in dem die Einsamkeit alles beherrschte, die Trostlosigkeit und das Alleingelassenwerden.

    Der Vater

    Es sind vor allem 3 Charakteristika ihres Vaters, unter welchen Lore Reich Rubin zu leiden hatte: – Reichs Unberechenbarkeit: Lore berichtet von einigen Wutanfällen nach geringsten Anlässen – zum Beispiel einmal, als Lore das Lied „Oh Tannenbaum“ und nicht die „Internationale“ sang. Selten war er bei guter Laune; das war dann, wie wenn der Schleier der Trostlosigkeit von der Familie weggezogen war.

    So berichtet Lore von einer ungewöhnlichen Entspannt- und Gelöstheit ihres Vaters im Urlaub in Dänemark 1934. „Er war freundlich, gut aufgelegt, elegant in seinen sommerlichen Segeltuchhosen und er war sehr interessiert an seinen Kindern.“ (S. 59) Ich kann nicht umhin, seine eigene Theorie von der Notwendigkeit der orgastischen Erfüllung im Hinblick auf die Ausgeglichenheit und psychische Gesundheit auf ihn anzuwenden.

    Zu dieser Zeit war er mit Elsa Lindenberg zusammen, mit welcher er offenbar ein befriedigendes Sexualleben hatte. Diese Verwandlung war jedoch nicht stabil und es genügte eine psychische Belastung wie etwa die Notwendigkeit eines Grenzübertritts oder die Reise nach Luzern Ende Juli 1934, Ereignisse, die für Reich eine große Belastung gewesen sein dürften, sodass er sich „erneut in den Vater verwandelte, den die Kinder aus Berlin kannten.“ (S. 63)

    Reichs Unberechenbarkeit zeigte sich auch in seinen Doppelbotschaften – auf der einen Seite verlangte er bedingungslose Offenheit und aufrichtige Antworten, auf der anderen Seite reagierte er auf ehrliche Antworten aber mit Wutausbrüchen, so zum Beispiel, als er Lore, damals 14-jährig, fragte, ob auch sie meine, dass er „verrückt“ sei und sie das bejahte: „Er schrie mich an, befahl mir dann, aus seinem Leben und seinem Haus zu verschwinden und rief, dass er mich nie wieder erblicken wolle.“ (S. 160)

    Die Beziehung zum Vater ist durch oftmalige Beziehungsabbrüche geprägt. Ohne irgendeine Art von Vermittlung verschwand Reich im Jahre 1934 aus ihrem Leben. „Natürlich hatte mir niemand erklärt, wohin oder warum er verschwand. Er war wie ausgelöscht, und es wurde auch nie über ihn gesprochen. Er verschwand aus meinem Bewusstsein in den Untergrund.“ (S. 80) Dann, im Jahre 1939 tauchte er in New York auf, „… dieser verrückte, eigentlich nicht existierende Fremde und bestand darauf, die Vater-Tochter-Beziehung mit uns dort fortzuführen, wo sie aufgehört hatte“.

    Da er „viel zu bieten hatte“ (Autos, einen üppigen Lebensstil), ließ sie sich auf eine neuerliche Beziehung ein. Auch widerfuhr ihr einige Male eine für sie unverständliche Ignoranz von Seiten des Vaters, zum Beispiel einmal in Amerika, als sie spontan beschloss, ihn zuhause aufzusuchen und er sie nicht einmalmal grüßte; Ilse Ollendorf-Reich zufolge deshalb, weil er sich gerade einer Zahnoperation unterzogen hatte und er sich seines Aussehens schämte.

    Übergriffigkeit: Die Szene, auf welche Lore Reich im oben genannten Zitat anspielt, zeugt von einer der vielen Verhaltensweisen von Wilhelm Reich, wo er, bar jeglicher Einfühlung und von Konzepten geleitet das Kind überforderte. Sie „ertappte“ die Eltern „in flagranti“ und während die Mutter sie aufforderte, das Badezimmer zu verlassen, meinte ihr Vater `nein, lass sie zuschauen´. „Und so sehe ich ihre ganz angeschwollenen Genitalien. Nun habe ich meine `Erklärung´ ohne jedoch vollständig aufgeklärt zu sein. Ich bin in Ehrfurcht…. Das Einzige, was ich nicht empfand, war Penisneid. Der Anblick des Geschlechtsteils meines Vaters war viel zu sonderbar.“ (S. 26)

    Auch machte er Fotos indem er ein Motiv aus der Kleinkindzeit der Töchter nachstellte, wo die bereits 6-jährige Lore nackt auf dem Schoß der 10-jährigen Schwester Eva sitzt – ein Bild, das er in seinem Zuhause in Maine im Gang hängen ließ, sodass es alle Besucher sehen konnten.

    Auch wenn ich nicht glaube, und so wie es klingt, auch Lore Reich Rubin nicht glaubt, dass er per se sexuell übergriffig war, so fehlte ihm, offenbar blind einem Ideal der sexuellen Offenheit folgend, jegliche Sensibilität für die Grenzen und die Schamgefühle von Kindern in Bezug auf die Sexualität. (S. 62)

    Ebenso versetzten die eingehenden, inquisitorisch anmutenden Fragen zum Sexualleben des Kindes/der Jugendlichen, von welchen auch Peter berichtete, Lore in große Scham und waren ebenso wie andere Erziehungsmaßnahmen von Konzepten gesteuert und nicht von einem natürlichen Empfinden im Umgang mit Kindern.

    – seine Orientierung an (idealistischen) Konzepten aus dem Kommunismus bzw. der Psychoanalyse: Reich war ein Rebell, ob bei den Psychoanalytikern oder den Kommunisten. Er lehnte die Institution der Kleinfamilie ab, und in diesem Sinne folgte er (und teilweise auch Annie) dem Ideal, dass es gut sei, dass die Kinder aus der Familie heraus in diverse Institutionen, wie Lore Reich Rubin sagt, „abgeschoben“ wurden.

    Im Gegensatz zu den „Kindern der Zukunft“, deren bedürfnisgerechtem Aufwachsen Wilhelm Reich sein spätes Werk widmete, waren die Kinder der Vergangenheit, man könnte es flapsig sagen, einfach nur vernachlässigt.

    Liest man Lore Reich Rubins Buch so scheint es, dass ihr Vater Wilhelm Reich bei ihr lebenslänglich keine Chance hatte. Neben Reichs unberechenbarem Verhalten, das tiefe Verunsicherung und Schmerz in ihr verursachte, dürfte auch der Umstand, dass Eva, die ältere Schwester, Reichs Liebkind gewesen sei, wie auch die „Interventionen“ einer Beziehung nicht eben förderlich gewesen sein.

    Auch seine Autoritätshörigkeit gegenüber der Psychoanalyse war einer verlässlichen väterlichen Verbindung zu den Töchtern abträglich. Er möge sich fernhalten von seinen Töchtern, damit die psychoanalytische Behandlung der Töchter nicht gestört würde, meinte Berta Bornstein zu ihm. (S. 79) Obwohl Lore eingesteht, dass ihre Mutter ihren Beitrag für die schlechte Beziehung zwischen Vater und Tochter leistete, hält sie immer wieder eher zu ihr als zu ihm. „Diese Auseinandersetzungen zeigten mir, dass dieser Mann unberechenbar und zornig, penetrant und schwierig sein konnte.“ (S. 151)

    „All diese Gefühle ihm gegenüber, die Scham ihm nachgegeben zu haben, die stille, tiefe Abneigung, das Misstrauen wegen seiner Stimmungsschwankungen und die Verachtung seiner Furcht, habe ich nie überwunden. Sie schwelten in mir und obwohl es später mehrere Versuche gab sich einander anzunähern und es auch Zeiten gab, in denen wir gut miteinander auskamen, war dies der Anfang einer immer größer werdenden Kluft in unserer Beziehung“ (S. 64)

    Sie beschreibt ihre Beziehung zu ihrem Vater als „Gerichtsverfahren, bei dem ich der Richter war“. (S. 152) Auch seine „tapferen Versuche“, ihr seine Arbeit näher zu bringen fruchteten nicht. Dass Lore Reich kein „echtes Interesse für die Dinge, an denen er arbeitete, aufbringen“ konnte, scheint auch neben all dem anderen Belastenden ein Grund dafür gewesen zu sein, dass die Beziehung immer nur „oberflächlich“ blieb und sich nie „vertiefen“ konnte. (S. 153) Für Reich – das wird in seinen Biographien, die ich anlässlich der Arbeit an der Rezension nochmals studierte, scheint die Arbeit immer im Zentrum gestanden zu haben. So forderte er immer auch ein intensives Interesse an den gerade aktuellen Forschungsschwerpunkten von seinen Frauen.

    Auch wenn ich Ansätze von Verständnis für die Spannungszustände ihres Vaters erkennen kann, mangelt es für mich an menschlichem Mitgefühl. Besonders deutlich wird das, als sie in einer Zeitungsnotiz von der Verhaftung ihres Vaters erfährt und nichts als Scham und Verlegenheit und eine Besorgnis darüber empfindet, was ihre Kollegen über sie, die Tochter von Wilhelm Reich, denken mochten. (S. 245) Man muss ihr zugestehen, dass sie sehr ehrlich über diesen Mangel an Mitgefühl und Würdigung spricht. Offenbar ist in deren Beziehung zu viel passiert, sodass keine wirkliche Aussöhnung stattfinden konnte.

    In meinen ergänzenden Recherchen über die Beziehung von Reich zu seinen beiden Töchtern konnte ich Interessantes finden, was bisweilen ein gänzlich anderes Bild zeigt: Vor allem in den autobiographischen Aufzeichnungen „Jenseits der Psychologie“ bedauert Reich an vielen Stellen den Verlust seiner Kinder durch die Trennung von Annie und seine eindeutige Priorität, die er auf sein Werk legte: „Ich leide sehr unter dem Fernsein von ihnen.“ (S. 46 und S. 283)

    Auch leidet er darunter, dass ihm der Zugang zu ihnen verwehrt wird und er keinen Einfluss auf die Erziehung haben darf. Mit seinem ihm eignen wissenschaftlichen Interesse bemerkt er schmerzlich deren Zurückhaltung und „Oberflächlichkeit“ und vor allem ihre Ängstlichkeit (vor ihm).

    In Reichs Aufzeichnungen finden sich wie auch in Lores Buch Hinweise, dass Annie Reich bestrebt war, den Kontakt des Vaters zu den Kindern zu unterbinden. So ließ sie Briefe und auch Geschenke verschwinden. Reich schreibt am 5. Oktober 1939: „Lore hier – Annie begrenzt ihre Zeit mit mir. Lore glaubt, dass die Mutter alle „Rechte über die Kinder hat, der Vater keine“. (S. 351)

    In den Briefen an Annie und Alfred Pink (Annies Vater) wird deutlich, dass Reich im Gegensatz zu Lores Wahrnehmung – wenn auch aus der Ferne, sehr wohl an deren Entwicklung interessiert war, und es wird auch sein Bemühen um einen Kontakt deutlich.

    Lore hat sich gegenüber Eva immer zurückgesetzt gefühlt, und der Start als unerwünschtes Kind, das eigentlich abgetrieben werden sollte, war ihrem Gefühl, eine geliebte Tochter zu sein, sicher nicht förderlich. Demgegenüber findet sich zu meinem und vielleicht auch ihrem Erstaunen eine kleine Notiz, wo Reich schreibt: „Lore ist ein entzückendes Mädel und mir ganz ähnlich. Sie liebt mich ganz offensichtlich.“ (S. 340)

    Ein Brief an sie hat mich besonders berührt, er stammt vom 24. September 1937. Reich bedankt sich darin, dass Lore ihm Fotos geschickt hat und bittet um weitere. Er drückt seine Freude über ihren Wunsch aus, Harmonika zu lernen und bekundet auch, dass er ihr ein Instrument schenken werde und dass sie sich einen wirklich guten Lehrer suchen möge. (S. 189)

    Um es neutral zu formulieren zeigen die Aufzeichnungen, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können. Hier der desinteressierte, ignorante, selbstbezogene Vater, da derjenige, der für den Kontakt zu seinen Kindern kämpft, ein waches Interesse an ihrer Entwicklung hat und seine Zärtlichkeit „Lorchen!“ gegenüber ausdrückt.

    Die Mutter

    Im Gegensatz zur Verständnislosigkeit und Geringschätzung ihrem Vater gegenüber, finden sich in der Beschreibung ihrer Mutter immer wieder Ansätze, sie aus ihrer Situation heraus zu verstehen, ihre Arbeit zu würdigen und eine Akzeptanz für das, was sie für die Kinder getan hat.

    Zum einen war Annie Pink eine „enthusiastische, sachkundige, kultivierte Intellektuelle, die mit beiden Beinen selbstsicher im Leben steht, und auf der anderen Seite eine deprimierte, zurückgezogene Frau, die im Sessel zusammensinkt.“ Diese Depression scheint mit der Trennung von Wilhelm Reich zusammenzuhängen. (S. 15)

    Es scheint, als ob die Mutter zu sehr mit der Existenzsicherung, dem oftmaligen Aufbau einer Praxis (Wien, Prag, Amerika) beschäftigt war, als dass sie sich wirklich um die Kinder kümmern konnte. Auch erlebte Lore ihre Mutter als ganz und gar nicht fürsorglich. „Ich habe keinerlei Erinnerung an ihre Fürsorge, wie mich baden, mich anziehen, mich füttern, oder sogar mich einfach in ihren Armen zu halten.“

    Verständlich, dass die Kinder sich in erster Linie als „Störung“ empfanden, mussten sie sich doch immer den Notwendigkeiten unterordnen. Auch wenn Lore Reich Rubin anerkennen kann, dass ihre Mutter ihr Bestes gab, z.B. indem sie dafür sorgte, dass „ich Spaß im Leben hatte… und am Nachmittag etwas zu tun hatte“. Und auch wenn sie ein Verständnis für die Situation der Mutter aufbringen kann und eine wirkliche Versöhnung zu Lebzeiten stattfinden konnte, so finden sich doch immer wieder Passagen, wo sie das, was ihre Mutter zu geben hatte, z.B. die Einladung zu gemeinsamen Urlauben, geringschätzig als „Bestechungsversuche“ bezeichnet.

    Dennoch: Anders als ihrem Vater gegenüber kann sie würdigen, welche große Anpassungsleistungen ihre Mutter zu vollbringen hatte und wie würdevoll sie doch durch all die Schwierigkeiten durchgegangen ist, auch wenn sie meint, dass ihre Mutter die wissenschaftlichen Arbeiten auf ihrem „jugendlichen Rücken schrieb“. (S. 174)

    Die Eltern

    Als Lore auf die Welt kam, war die Beziehung zwischen den Eltern bereits sehr belastet. Reich wollte kein weiteres Kind, und dies scheint ein weiterer Beitrag zur Zwietracht gewesen zu sein. Die Kinder wurden oftmals Zeuginnen von Streitereien, lauten Auseinandersetzungen, in welchen der Vater die Mutter anbrüllte und diese sich verzweifelt in sich zurückzog. Im Gegenzug zur väterlichen Gewalt übte ihre Mutter Macht aus, indem sie den Vater bei den Kindern schlecht machte, ihn als „verrückt“ bezeichnete, seine Briefe den Kindern vorenthielt, ihm über wichtige Schritte, wie die Auswanderung nach Amerika, keine Mitteilung machte und sich nur bedingt um eine vernünftige Regelung der Elternschaft bemühte.

    Reich begriff sich als Feminist und „glaubte daran, dass Frauen dem Manne gleichgestellt seien, Karriere machen und ihren Teil zur Ehe beitragen sollten. Der Feminismus meines Vaters war extrem und letzten Endes, obwohl seine Einstellung gut soziologisch begründet war, doch eigennützig. Er ging auf jeden Fall nie auch nur in die Nähe der Küche oder erledigte andere Haushaltsarbeiten.“

    Letztendlich blieb die Sorge um das kindliche Wohl und um die nötigen Mittel dafür, z.B. in Form von Dienstmädchen, ganz in den Händen der Frau, was für Annie Reich eine große Belastung zu sein schien. Der Anspruch auf Gleichstellung des Mannes und der Frau während der Arbeit und in Bezug auf das Einkommen, wirkte sich sehr zu Ungunsten von Annie Reich und den Kindern aus, da sie nicht über die gleichen Einkommensmöglichkeiten verfügte und die Familie daher oft in Armut leben musste.

    So erhielten Lore (und wahrscheinlich auch Eva) ein sehr widersprüchliches Bild der Beziehung zwischen Mann und Frau. Zum einen sollte die Frau auf eigenen Beinen stehen – die Ebenbürtigkeit in einer Beziehung war in kommunistischen, aber auch psychoanalytischen Kreisen ein hohes Gut, andererseits gab es nur wenig (finanzielle) Unterstützung von Seiten des Vaters. Die patriarchale Macht war spürbar. So „gönnte“ sich Reich – Ollendorf-Reich zufolge – in all seinen Beziehungen immer wieder teilweise auch längere Affären und Beziehungen zu anderen Frauen, war aber seinerseits sehr eifersüchtig, was sich in exekutiven Verhören ausdrückte.

    In den „persönlichen Aufzeichnungen“ finden sich auch Briefe von Reich an Annie aus den Jahren 1934-1939, als ihre Beziehung schon längst zerrüttet schien. Zu meinem Erstaunen zeugen diese Briefe von einem Interesse an Annie, und sie haben eine freundschaftliche Note. Auch drückt sich hier ein Bemühen um eine erwachsene, vernünftige Beziehung aus, die auch den anderen zu Gute kommt. Es verwundert fast, dass es Lore Reich Rubin mit einem derartigen Beziehungsvorbild möglich war, eine Beziehung mit ihrem Mann Julie Rubin aufzubauen, die auf Wertschätzung und gegenseitiger Achtung basierte.

    Die Schwester

    Eva, die ältere Schwester war angehalten, auf Lore aufzupassen – sei dies auf dem Schulweg in Berlin oder auch auf der langen Bahnfahrt von Berlin nach Wien, welche die Kinder allein zu bewältigen hatten. Auch wenn Eva „die einzige Konstante“ (S.87) in Lores Kindheit war und sie Trennungen von ihr als sehr schmerzlich empfand, war sie oftmaligen Quälereien durch sie ausgesetzt, indem sie ihr z.B. den Schlaf raubte oder andere Kinder gegen sie aufhetzte. Lore spricht von „zerstörerischer Eifersucht und Neid“ von Seiten der Schwester.

    Auch hier, wie schon in ihrem Verhältnis zur Mutter und zum Vater, kann Lore kein Verständnis für Evas Situation aufbringen, die sie zu derartigen Reaktionsweisen veranlasste, wie sie ihr auch keinerlei Eigenständigkeit in ihrem Interesse, das väterliche Werk weiterzuentwickeln, zugesteht. Für sie war sie seine „Sklavin“. (S. 237) Kein Wort über die große Bedeutung, die Eva in Bezug auf die natürliche Geburt und ein organismisches Aufwachsen von Kindern weltweit hatte.

    Alleingelassen, überfordert, abgeschoben

    Gerade die ersten Lebensjahre Lores waren von einem oftmaligen Wechsel des Wohnortes gekennzeichnet: zunächst in Wien, folgte eine Übersiedlung nach Berlin (1931-1933), dann erneut nach Wien ohne Eltern, dann nach Dänemark, um den Vater zu besuchen; dann erneut nach Wien in der Obhut von Grete Fried (1934-1936) und 1936 die Übersiedlung nach Prag, wo Annie gemeinsam mit dem neuen Mann an der Seite bis 1938 lebte und schließlich 1938 nach Amerika. Da war Lore erst 9 Jahre alt.

    Es ist schier unglaublich für mich zu lesen, wie unsensibel die Schwestern behandelt wurden und welchen ungeheuren Zumutungen sie ausgesetzt waren. Bereits in ihrer frühen Kindheit wurden sie der Obhut eines Kindermädchens überlassen, weil die Eltern „ihre Klienten betreuten“. Schon bald – bereits im Jahre 1929 wurden die einjährige Lore und die dreieinhalb Jahre ältere Eva – für vier Monate allein in der Obhut von `Mitzi´ gelassen, weil die Eltern die revolutionäre Bewegung in Russland studierten. Dieses Alleinlassen, man könnte es auch „Abschieben“ nennen, fand viele Male statt. Und es scheint, dass es keine Vorbereitung, keine Empathie dafür gegeben hat, was das für derart kleine Kinder bedeuten mag.

    Niemals waren die Kinder – so scheint es – Priorität. Die Aufmerksamkeit der Eltern galt ihrer intellektuellen Aktivität, der Analyse, wie auch der Mitarbeit an der gesellschaftlichen Revolution. Lebten sie zusammen mit den Eltern in einem Haushalt, so mussten sie in erster Linie still sein, um die Analysen der Eltern, die im Nebenzimmer stattfanden oder auch ihr wissenschaftliches Arbeiten nicht zu stören.

    Das steht natürlich in einem eklatanten Widerspruch zu Reichs Ansatz, wie wichtig die Ausdrucksfreiheit auf jeder Ebene für ein gesundes Heranwachsen von Kindern ist. Ideologisch begründet, wurden die Kinder immer wieder in kommunenähnliche Institutionen untergebracht, wie schon im Jahre 1931 kurz nach der Ankunft in Berlin, wo sie in eine kommunistisch geführte Kinderkommune „abgeschoben“ wurden – Lore war nur 3 Jahre, Eva grade einmal sieben Jahre alt.

    Ohne auch nur im geringsten auf die Bedürfnisse derart kleiner Kinder zu achten, wurden die Schwestern voneinander getrennt. Dies muss eine höchst traumatisierende und überfordernde Erfahrung gewesen sein. Nicht nur, dass Lore aufgrund von Unterernährung an Rachitis erkrankte, gruben sich diese Erfahrungen tief in ihre Seele ein. „Ich möchte an dieser Stelle die lang anhaltenden Folgen des Lebens in der Kinderkommune festhalten. Es war wie eine Bestätigung der Erfahrungen, die ich schon in Wien machen musste: Man kann sich nicht auf seine Familie verlassen, da diese jederzeit verschwinden kann und man stets bereit sein muss verlassen zu werden.“ (S. 22)

    Aus dieser Zeit stammt auch die mittlerweile legendäre, weil häufig kolportierte Erinnerung von Eva Reich, wonach der Vater sie zu ihrer großen Freude in der Kommune besuchte und dann aus einem eigenartigen Gerechtigkeitssinn über gemeinschaftliches Teilen heraus abzählte, wer mit ihm im Auto fahren durfte; und da war seine Tochter nicht dabei.
    Nicht viel später wurden die Kinder – als Rettungsmaßnahme vor dem aufkeimenden Nationalsozialismus – in einen Zug von Berlin nach Wien verfrachtet.

    Die achtjährige Eva und die nicht einmal fünfjährige Lore wurden ohne vorher aufgeklärt zu sein, einem Schaffner übergeben. Eindrücklich schildert Lore, wie sich der Horror dieses Erlebnisses in ihr Gedächtnis einbrannte. Welch eine Überforderung! In Wien angekommen erwartete sie das großelterliche Haus mit einem Übermaß an Sorge um das körperliche Wohl, was bei Lore eine sofortige Regression ins Säuglingsalter bewirkte. Dennoch wird diese Zeit von Lore als eine Zeit geschildert, in der ein Stück „Nachnährung“ stattfinden konnte.

    Die beständige Entwurzelung, das „Fortgeschickt werden“ und das Alleingelassen sein hatte langanhaltende Folgen in der jungen Seele, die in ihrer Symptomatik der einer posttraumatischen Belastungsstörung – Ängste, Depression, Schlaf- und Essstörungen, Zwangsverhalten, Dumpfheit, Erstarrung, ein Misstrauen anderen Menschen gegenüber – gleichen.

    Eine weitere, vielleicht die schlimmste Erfahrung in der frühen Kindheit von Lore war, dass sie ebenso wie zuvor in Berlin, einfach eines Tages im November des Jahres 1933 von der Großmutter in einem Park auf einem Spielplatz bei Grete Fried zurückgelassen wurde, was bedeutete, dass sie von nun an in deren „Kinderpension“ zu leben hatte, eine Einrichtung, die Kinder aus der ganzen Welt beherbergte, weil sich deren Eltern einbildeten, dass sie eine Psychoanalyse einer in Wien ansässigen Therapeutin bedürften.

    Auch wenn Lore die Kinder als einen durchaus „interessanten und freundlichen Haufen“ bezeichnet, war die Atmosphäre der Kälte und Gefühlsarmut – „ein Leben in der Eistruhe“ (S. 58), welche Grete Fried schuf, mehr als belastend; vor allem war es jedoch eine beständige Überforderung, die schon dabei anfing, dass sie sich – klein wie sie war, nicht selbst die Schnürsenkel zubinden konnte, und offenbar bereits ein gebranntes Kind, sich auch nicht mehr um Hilfe zu bitten getraute, sie also mit ihren Ängsten oder Wünschen komplett allein gelassen war. Ebenso wie die mangelnde Fürsorge und Empathie für die Bedürfnisse eines kleinen Kindes muss es eine große Überforderung gewesen sein, allein in die Schule und von dort zu Bornstein in die Therapie zu fahren.

    Die Eltern tauchten immer wieder – unangekündigt – auf, ohne dass auf ihre Besuche Verlass gewesen wäre. Entscheidungen wurden über die Köpfe der Kinder hinweg getroffen und ohne dass diese eingeweiht waren, vollzogen. Schon gar nicht wurde deren Lebensrealität (Einbindung in ein soziales System bzw. in einen Schulzusammenhang) berücksichtigt. Das Alleingelassen sein bei wesentlichen Unternehmungen wie beim ersten Schultag oder beim ersten Friseurbesuch in New York, wie auch das Aufnahmegespräch im College von Oberlin, schmerzt allein beim Lesen.

    Die Flucht/Auswanderung nach Amerika scheint eine besondere Herausforderung gewesen zu sein. Nicht nur, dass im Unterschied zu den anderen Übersiedelungen die Kinder der englischen Sprache nicht mächtig waren, hatten sie es, wie im Übrigen auch die Mutter mit den kulturellen Unterschieden zu tun, was eine große Anpassungsleistung erforderte. Lore Reich berichtet, dass ihre eigene (europäische) Ernsthaftigkeit mit der witzelnden Art der amerikanischen Jugend inkompatibel war.

    Ebenso befremdlich muss für sie die „Dating-Kultur“, der Puritanismus, der Wert der Jungfräulichkeit, die von den Frauen verlangte Zurückhaltung bei gleichzeitigem neckischem Spiel mit den weiblichen Reizen gewesen sein. „Für zwei Mädchen, die in einer radikalen europäischen Familie aufwuchsen und deren Vater Vorreiter in Sachen sexueller Emanzipation für Jugendliche war, waren diese amerikanischen Sitten natürlich vollkommen unverständlich.“ (S. 143)

    Die Praxis der Psychoanalyse

    Das Buch gibt einen Einblick in die damaligen, für mich teilweise bizarr anmutenden psychoanalytischen Gepflogenheiten.

    Ich bin äußerst erstaunt, dass es zur damaligen Zeit durchaus üblich war, dass sich die Psychoanalytikerinnen hinter dem Patienten sitzend mit Handarbeiten beschäftigten. So nähte Lores Mutter oder stickte, während die Kinderanalytikerin Berta Bornstein für die Kleinen Pullover strickte und Anna Freud die Erbsen für das Abendessen schälte. Männer hingegen rauchten, wie ja auch Sigmund Freud, teilweise exzessiv – alles heutzutage unvorstellbar.

    Es war offenbar üblich, Kinder, die man als neurotisch einschätzte, in Psychoanalyse zu schicken, was im Falle von Lore und Eva Reich bedeutete, dass sie in Wien, wo es renommierte Kinderanalytikerinnen gab, in der Kinderpension von Grete Fried untergebracht waren. Auch hier mangelt es meiner Ansicht nach an einem natürlichen Empfinden, was ein Kind wirklich braucht, um heil zu werden.

    Auch die heute unbedingt geforderte professionelle Abgrenzung des Analytikers wurde nicht berücksichtigt. Berta Bornstein, die Analytikerin, bei welcher Eva jahrelang in Analyse und Lore eine Zeit lang in Therapie war, teilte sich nach dem Auszug von Wilhelm Reich die Wiener Wohnung mit der Familie. Auch war von Abstinenz offenbar noch keine Rede: So berichtet Eva von Predigten Bornsteins gegen den verrückten Vater. Bornstein war ihrerseits in Supervision bei Anna Freud, welche ja federführend im Kampf gegen Wilhelm Reich und ganz auf der Seite der Mutter war. Die Therapie glich mehr einer „Gehirnwäsche“ als einer wirklichen therapeutischen Begleitung.

    Erheiternd finde ich die damalige für mich absurd anmutende psychoanalytische Deutungspraxis. Um ein Beispiel zu nennen: Steff Bornstein, Schwester von Berta Bornstein, bei welcher Lore in analytischer Therapie war, deutete ihre Ablehnung des vom Stiefvater Thomas hergerichteten Essens, (dünn geschnittene Fleischstücke und Pommes), dass diese „für mich dünn geschnittene Segmente seines Penis waren.“ (S. 103)

    Mit Lores immer wieder durchklingendem Humor beschreibt diese auch die Wortwahl ihrer sexuellen Aufklärung, „dass der Penis so hart wie ein Nagel werde, um die Vagina zu penetrierten, als sehr unglücklich.“ (S. 103)

    Darüber hinaus gibt das Buch Einblick in die Intrigen, die oftmals ausgehend von Anna Freud gegen Reich – sie war die treibende Kraft für seinen Ausschluss aus der Psychoanalytischen Vereinigung – oder andere vom rechten Weg Abgekommene wie Karen Horney, Sandor Rado u.a. gesponnen wurden.

    Ressourcen

    Im EMDR Prozess, einer traumatherapeutischen Therapiemethode, erstellt man nicht nur eine sogenannte Belastungs- sondern auch eine Ressourcenlandkarte. So will ich mich auf die Suche nach Unterstützendem, Freudigem, Bekräftigendem, Wärmendem, Sicherheitsspendendem machen.

    Man mag es vielleicht nicht glauben, dass sich in einem derart an Belastungen reichen Leben dennoch freudvolle, bekräftigende Elemente finden. Aber es gab sie, auch wenn oftmals nach dem Bericht über eine freudvolle Zeit, ein neuerliches Enttäuschungserlebnis folgt.

    Interessanterweise zählen die auf Annie folgenden Frauen von Wilhelm Reich zu den Ressourcen in Lores Leben. Elsa Lindenberg bereicherte ihr Leben mit ihrem Tanz, mit der Lockerheit in ihrem Wesen einen Sommer lang in Dänemark. Ilse Ollendorf-Reich bemühte sich beständig um Kontakt zwischen Reich und Lore und lud beide Töchter zu gemeinsamen Aktivitäten ein, für welche die Mutter zu beschäftigt war. Sie war es auch, die nach dem Tod von Wilhelm Reich und als die Mutter Annie bereits krank war, für einen Zusammenhalt der Familie sorgte und uns das Gefühl gab, eine Familieneinheit zu sein.“ (S. 250)

    Eine weitere „Wärmequelle“ war Nushi (Emma Plank), die Lehrerin in der Wiener Montessori Schule, welche es mit ihrem Mitgefühl und ihrem Interesse möglich machte „mich auszubreiten und mich wie zu Hause zu fühlen.“ (S. 55) Ihr konnte sie auch ihr Leid über die elterliche Trennung offenbaren. Auch die Montessori Schule selbst war eine Quelle der Inspiration, ebenso wie die öffentliche Schule in New York.

    Steff Bornstein, Schwester von Berta, Lores Analytikerin, war eine Ressource und Unterstützung. (S. 103)
    Und auch Thomas Rubinstein, der zweite Mann von Annie war, wenn auch ungeliebt – so doch durch seine Beständigkeit, seine Fürsorge in Form von Kochen eine haltgebende Person. Überhaupt wird die Zeit in Prag als eine glückliche beschrieben. (S. 108)

    Zu den freudvollen Erlebnissen zählen auch die Urlaube am Grundlsee und das gemeinsame Skifahren.
    Immer wieder fand sie in Gruppen das Erleben von Aufgehoben sein, Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit. Zunächst in der Montessori Schule, dann in der Richman High School und schließlich in der SWP, in der sozialistischen Jugend, wo sie sich endlich mit anderen in einer Idee vereint fühlte, wenngleich sie diese Vereinigung nach einer Zeit als eine Sekte erkennen musste.

    Wie schon erwähnt, ist es erstaunlich, dass Lore Reich mit einem derartigen elterlichen Vor-Bild einer Beziehung zwischen Mann und Frau in eine, so wie es scheint liebevolle, wertschätzende Beziehung eintreten konnte; und so zählt auch ihr Mann, Julius (Julie) Rubin, dem sie als 17-jährige begegnete, zu einer großen Ressource. „Endlich hatte ich jemanden getroffen, der sich gut ausdrücken konnte, Bücher las und intelligente Gespräche führen konnte.

    …. Und ich hatte jemanden gefunden, mit dem ich mich verbunden fühlte und mit dem ich ich selbst sein konnte.“ (S. 222) Die umsichtige Art, welche die beiden pflegten, wenn sie Konflikte hatten, kontrastiert stark zu den Erfahrungen, die sie bei elterlichen Auseinandersetzungen machte. Die Beschreibung ihrer Beziehung und vor allem der Hochzeit zählen zu den wenigen Abschnitten im Buch, die von Heiterkeit und Leichtigkeit durchtönt sind.

    Nicht zuletzt sind es Lores innere Ressourcen, welche ich erwähnen möchte – ihr offensichtlicher (Über-)Lebenswille, ihre intellektuelle Begabung, ihre Reflexionsfähigkeit und ihre Zähigkeit, die dieses Leben zu einem wertvollen machten.

    Schluss

    Das Buch gibt einen tiefen Einblick in die Lebensrealität von Lore Reich Rubin als Kind von Wilhelm und Annie Reich. Die Erinnerungen der mittlerweile 91-jährigen sind sehr lebendig und hautnah.

    Die Lektüre ist mir dennoch nicht leicht gefallen. Das hat damit zu tun, dass das Buch – zumindest was die Beziehung zu den Eltern und der Schwester betrifft, eine für mich unversöhnliche Note trägt. Zwar schreibt Lore am Schluss, dass das Niederschreiben ihr ermöglichte „negative Emotionen, die während der Kindheit entstanden sind“ und damit auch „die vollkommene Ablehnung der Eltern“ loszulassen, sodass das Niederschreiben „diese Gefühle im Nichts verschwinden lässt“; dies bleibt jedoch für mich nach 252 Seiten eine nicht erfüllte Absichtserklärung.

    Sieht man von den letzten Seiten des Buches ab, so kann ich über weite Strecken nicht erkennen, dass ein diesbezüglicher Prozess stattgefunden hat. Ich vermisse eine reflektierende Distanz, aus welcher heraus die Eltern und auch die Schwester in ihrem Schicksal, ihrer Geschichte und ihrem Geworden sein verstanden werden.

    Besonders krass ist dieses Unverständnis dem Vater, Wilhelm Reich, gegenüber. Man könnte sagen Lore Reich Rubin lässt kein gutes Haar an ihm. Reich ist der Verrückte, einer, dessen Interesse nur seiner Arbeit galt, der andere als VerehrerInnen und bedingungslose Gefolgsleute missbrauchte, einer, der unfähig war, mit anderen in einer liebevollen, respektvollen Beziehung zu sein, ein Narziss, dem es immer nur um seinen Vorteil, die Bewunderung und das Interesse an seinem Werk ging.

    Und ja, vielleicht war das in ihrer Wahrnehmung und einiger anderer auch so. Aber was bedeutet es, wenn jemand wie Lore Reich Rubin, selbst Psychoanalytikerin und von klein auf in analytischen Therapien, von den Personen und den Geschehnissen in einer Art berichtet, wie wenn sie, die beim Verfassen des Buches ja bereits eine reife Frau gewesen war, nach wie vor eine Jugendliche ist.

    Ich vermisse den Versuch auch nur ansatzweise dem ganzen Menschen Reich gerecht zu werden. Mit Ausnahme der Aufzählung der vielen Forschungsbereiche von Reich auf den letzten eineinhalb Seiten des Buches wird niemals auch nur eine Andeutung von Würdigung seines Werks deutlich. Vielmehr kann ich in dem Buch kein wirkliches Interesse für seine Arbeit erkennen. Und das nicht nur für seine spätere Forschungstätigkeit, was nicht verwunderlich wäre, konnten ihm da auch viele andere nicht mehr folgen, sondern auch im Hinblick auf seinen therapeutischen Ansatz.

    So bezeichnet Lore Reich Rubin diesen als „bioenergetische Körpertherapie“, ein Begriff, den Reich meines Wissens nie gebraucht hat und der den Ansatz von Alexander Lowen bezeichnet. In diesem Sinne finde ich die abschließende halbseitige Würdigung seines Werks mehr als unglaubwürdig, und es stimmt mich ärgerlich, wenn ich derart flapsige Sätze wie diesen lesen muss: „Seine bioenergetische Körpertherapie scheint Wirkung zu zeigen, auch wenn die ihr zugrunde liegende Theorie nicht ganz korrekt war.“ (S. 252)

    In all dem wird Lore Reich Rubin dem eigenen, am Schluss geäußerten Anspruch, wonach das Erwachsenwerden darin besteht „seine Eltern als Menschen mit guten und schlechten Seiten zu sehen und sie für die Menschen, die sie sind, zu würdigen“ in meinem Empfinden nicht gerecht.

    Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass die (durchaus schwierige) Persönlichkeit Wilhelm Reichs herangezogen wird, sein Werk als das eines Verrückten gering zu schätzen und sich darüber hinaus gar nicht damit zu beschäftigen. Ich hege die Befürchtung, dass dieses Buch ein weiterer Beitrag dazu sein mag – und die bislang vorliegenden Rezensionen lassen eine derartige Vermutung zu. So möchte ich mich Wolfram Ratz anschließen, der in seinem Vorwort schreibt, dass der Einblick in Reichs Persönlichkeit nicht dazu dienen möge „seine Errungenschaften, seinen großen Geist und sein Wirken in den Schatten zu stellen.“

    Dennoch – und das ist bei aller Kritik ehrlich gemeint: Das Buch ist ein wertvolles Zeitdokument, und ich habe vieles mir bisher Unbekanntes erfahren. Sei es über die Praxis der Psychoanalyse in ihren Anfängen, über die Lebensverhältnisse im damaligen Wien, der sozialistischen Bewegung wie auch der Lebenssituation in Amerika während des Krieges. In diesem Sinne ist die Lektüre für Menschen, welche am geschichtlichen Kontext der Psychoanalyse aber auch am allgemein-geschichtlichen Kontext interessiert sind, empfehlenswert.
    _______________________________________

    Lore Reich Rubin: „Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich“, 252 Seiten, Broschur (ISBN 978-3-8379-2793-1); Psychosozial-Verlag, Gießen, 2019; € 29,90

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    Bukumatula 2/2019

    Willi und Lore – Alicija und Martin und die Traumen der begabten Kinder

    von
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Im Zuge meiner Arbeit an der Rezension der Autobiografie von Lore Reich Rubin erinnerte ich mich an das sehr lesenswerte Buch „Das wahre `Drama des begabten Kindes´. Die Tragödie Alice Millers.“ Der Autor ist der Sohn der berühmten Psychoanalytikerin, die mit ihrem Ansatz wie auch Reich tausende Menschen wie auch mich, sehr berührt hat.

    Mich beeindruckte die Vielzahl von Parallelen, die ich sowohl in den Biographien der beiden – Wilhelm Reich und Alice Miller, wie auch in dem, wie sie mit ihren Kindern umgingen, finden konnte.

    Die in meinem Beitrag heraus gearbeiteten Parallelen beruhen – was Wilhelm Reich betrifft, auf den Biographien von Ilse Ollendorf-Reich, Myron Sharaf, David Boadella und seinen autobiographischen Aufzeichnungen. In Bezug auf Alice Miller beziehe ich mich auf die gründliche Recherche von Martin Miller, der mit Verwandten, Therapeuten und Zeitzeugen in Kontakt trat. Die Ausführungen erheben in diesem Sinne keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

    Was die Gemeinsamkeiten betrifft, so beeindruckte mich zu allererst, dass beide – Alice Miller und Wilhelm Reich – ihre Ansätze und Konzepte von einem förderlichen, heilsamen Einfluss der Eltern auf die Kinder in deren Beziehung zu den eigenen Kindern so überhaupt nicht verwirklichten. Im Gegenteil – sie wurden traumatisiert, vernachlässigt und überfordert. Ich weiß, das ist häufig der Fall, dennoch: diese Kluft zwischen Anspruch, dem theoretischen Ansatz und auch dem therapeutischen Wirken von Menschen und der enttäuschenden Wirklichkeit im Umgang mit den Nächsten, ist immer wieder schier unglaublich für mich.

    Beide – Alice Miller wie auch Wilhelm Reich, mussten schon früh – vor dem 18. Lebensjahr Verantwortungen übernehmen, die nicht altersgemäß waren. Reich hatte sich nach dem Selbstmord der Eltern um die Leitung des Gutshofes zu kümmern, ehe er bald danach in den Krieg eingezogen wurde. Alice Miller, 1923 in Polen geboren, verpflichtete sich bereits als 16-Jährige zur Rettung ihrer Familie aus dem Getto.

    Sowohl das Werk Alice Millers als auch das Wilhelm Reichs fußt auf zentralen Erfahrungen in deren Kindheit und Jugend. Reichs Mutter hatte ein Verhältnis mit einem Hauslehrer. Als Wilhelm dies seinem Vater verriet (die Details finden sich in einer verklausulierten Fallstudie wieder, über die Myron Sharaf in seiner Reich-Biographie berichtet), sah die Mutter keinen anderen Ausweg, um dem Terror des Ehemanns zu entkommen, als ihr Leben zu beenden. Der Vater seinerseits konnte den Tod seiner Frau nicht ertragen und beging einige Jahre später, einen, wenn auch getarnten Selbstmord.

    Wilhelm Reich kämpfte sein Leben lang für die sexuelle Freiheit und gegen das Korsett der Kleinfamilie. Alice Miller wiederum musste, um in Warschau zu überleben, zwischen dem achtzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahr tagtäglich ein Versteckspiel spielen, da sie als Jüdin nicht erkannt werden durfte – ein Versteckspiel, das tief in ihre Persönlichkeit eingriff.

    Martin Miller schreibt: „Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben. Die tragische Konsequenz dieser traumatischen Erfahrung war, dass Alice Miller bleibend zwei verschiedene Persönlichkeiten in sich trug. Einerseits die aufmüpfige und rebellische Alicija, die sich gegen Normen auflehnt und sich schon als Kind für das Existenzrecht menschlicher Originalität einsetzt, andererseits die quasi unsichtbare Alice, die dem Zwang zur Anpassung absolut gehorsam ist, um ihr Überleben zu sichern.

    Dazu kam die paradoxe Spannung, dass sie in der Verfolgungssituation mit einem jüdischen Selbst identifiziert wurde, das sie bis dahin immer abgelehnt hatte, das sie nun aber um jeden Preis verbergen musste.“ Bewegte sich bei Alice Miller das spätere Leben im Spannungsfeld dieser beiden Pole, so war es bei Reich einerseits der Anspruch auf ein freies sexuelles Leben auch in der Partnerschaft – er hatte den Biographien zufolge auch in seinen Ehen immer wieder Affären, die er als Beitrag zur Erhaltung seiner Gesundheit rechtfertigte, und andererseits war er extrem eifersüchtig in Bezug auf seine Frauen.

    Die Biographien zeigen auch, wie gravierend die Folgen von (früher) Traumatisierung sind: Beide haben sich über ihre traumatischen Erfahrungen nicht explizit öffentlich geäußert. Wie bei vielen Opfern von Gewalt und Überwältigung fand offenbar auch bei ihnen ein Verstummungsprozess statt. „Die Opfer sprechen nicht. Die Gründe des Schweigens sind verschieden.

    Die Opfer wissen, dass keiner wirklich ihre Erfahrungen verstehen kann, der nicht selbst im Lager war“, schreibt Leiser, zitiert nach Miller im Buch „Leben nach dem Überleben“. Ein weiteres Symptom von schwerer Traumatisierung ist das Switchen von einem in der Traumatherapie so benannten Ego-State in einen anderen. Gerade noch freundlich und entspannt, kann zum Beispiel ein individuell bedeutsamer Stress eine heftige Aggression auslösen. Beide waren in ihren Reaktionsweisen unberechenbar – bisweilen zugewandt, offen und kindgerecht, dann plötzlich bedrohlich, abwehrend und aggressiv.

    Beide hielten gesellschaftlichen Umgang nur schwer aus. Reich schreibt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen, dass er Kontakt, „außer mit guten Freunden“ oder wenn es um seine Arbeit ging, nicht ertragen kann. Und auch Alice Miller hielt Gesellschaften offenbar schlecht aus. Beide wurden zunehmend einsam, widmeten sich ganz ihrer Arbeit und suchten – auch ein Wesenszug von traumatisierten Menschen – Zuflucht in geistige Höhen.

    Beide zogen sich von menschlichen, auch therapeutischen Kontakten zurück. Reich widmete die letzten Lebensjahre vor allem seiner Forschungstätigkeit, Alice Miller zog sich in die Provence zurück, schrieb an ihren Büchern, die sie auf einsamen Spaziergängen entwickelte und kommunizierte vor allem über E-Mails mit anderen Menschen. Beide waren höchst sensibel gegenüber Kritik und verstanden diese oftmals als zentralen Angriff auf ihre Person.

    Beide entfernten sich von der Psychoanalyse im orthodoxen Sinne, weil sie sich weiterentwickelten und sich nicht mehr in ein enges Korsett zwängen konnten. Während diese Bewegung bei Reich jedoch in einem Ausschluss mündete, war es bei Miller ein eigener, nach einer schweren Krebserkrankung getroffener Entschluss, der zur Trennung von der psychoanalytischen Vereinigung führte. Beide zeigten paranoide Züge gegen Ende des Lebens – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Beide hatten eine missionarische Ader, ein Sendungsbewusstsein, ihre Ideen in die Welt zu bringen.

    Die Biographien zeigen eindrücklich, wie sehr eine Traumatisierung, so sie nicht geheilt ist, weitergegeben wird. Man gewinnt den Eindruck, dass beide keinen wirklichen Raum für ihre Kinder hatten, weshalb diese auch abgeschoben werden mussten – siehe die Rezension von Lore Reich Rubins Autobiographie. Auch Martin Miller wurde für 2 Jahre in ein Heim gesteckt. Beiden Kindern, Lore und Martin, wurde oftmals über Jahre hinweg der Kontakt entzogen. Und beide hatten es mit diversen Symptomen einer eigenen posttraumatischen Belastungsreaktion zu tun.

    Teilweise sind auch die Parallelen im Aufwachsen der Kinder der beiden berühmten Eltern schier unglaublich. Wenn Lore Reich Rubin erzählt, dass sie und Eva in erster Linie still zu sein hatten, wenn die Eltern analysierten oder ihre wissenschaftlichen Arbeiten verfassten, so findet sich im Buch von Martin Miller nahezu wortident eine Beschreibung seines Lebens als Kind: „Ich erinnere mich, wie meine Eltern in intensiver Konzentration am Esstisch saßen. Ich schaute ihnen zu. Schweigend. Stundenlang, so kommt es mir vor. Ich verstand nicht wirklich, was sie da taten, aber dass ich keinen Lärm machen durfte, das war klar. Es herrschte absolute Stille.“ (S. 113)

    Und auch folgende Sätze könnten von Lore Reich Rubin stammen: „Die beiden waren so damit beschäftigt, den Krieg zu vergessen und endlich wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, dass die Bedürfnisse eines Kindes schlicht sekundär waren.“ (S. 114) oder zum ersten Schultag: „Niemand hatte mich auf die Schule vorbereitet“ (S. 118), ebenso wie Lore Reich Rubin auf keine der wesentlichen Veränderungen – Wechsel der Wohnorte, Unterbringung in kommunistischen Lagern, bei Greta Fried, etc. – vorbereitet wurde.

    War es in den frühen Lebensjahren die Vernachlässigung, die die Beziehung von Alice Miller zu ihrem Sohn prägte, so intensivierte diese den Kontakt ab seinem 17. Lebensjahr „exzessiv“. Die Übergriffigkeit fand einen dramatischen Höhepunkt, als Alice Miller ihren damals bereits erwachsenen Sohn drängte, zu einer Schülerin von dem von ihr verehrten Primärtherapeuten Klaus Stettbacher in Therapie zu gehen. Als Martin Miller in eine schwere Krise geriet, beugte er sich dem beständigen Druck und nahm die Therapie auf.

    Es ist unfassbar, wie missbräuchlich das ablief: „Meine Therapeutin schickte die Tonaufnahmen unserer Sitzungen an Stettbacher, der berichtete meiner Mutter und sie wiederum versuchte in ihren Briefen auf mich in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen.“ (S. 121) In einer späteren Sichtung der Briefe wurde ihm klar, wie sehr er ein Opfer ihrer Gehirnwäsche war, indem sie „mir immer und immer wieder einhämmerte, dass ich das Opfer falscher Wahrnehmungen wäre …. und ich ein Monster und total gestört (wäre)“.

    Wie grotesk, dies von Alice Miller zu lesen, hat sie doch ihr Lebenswerk der Wahrnehmung und Bestätigung des eigenen wahren Selbst gewidmet. Alice Miller insistierte wie Reich – er interessierte sich besonders für die sexuellen Erfahrungen seiner Kinder – oftmals auf die Beantwortung von intimen Fragen – auch ein Zeichen von beschämender Übergriffigkeit.

    Auch neigten beide zu einer Parentifizierung der Kinder, wie dies Reich vor allem bei seinem Sohn Peter tat, indem er ihn als einzig verbliebenen „Soldaten“ (miss-)brauchte. Martin Miller wurde hingegen in der Jugend „oft geradezu verfolgt“. In beiden Fällen ging es nicht um die kindlichen Bedürfnisse und um eine Berücksichtigung der Generationenschranke, sondern allein um die Bedürfnisse der verlassenen Kinder Willi und Alicija.

    Aber es gab natürlich auch wesentliche Unterschiede: Alice Miller und ihrem Sohn Martin war eine viel längere gemeinsame Zeit gegönnt; Alice Miller starb mit 87 Jahren, da war ihr Sohn bereits 60 Jahre alt. Es konnten daher auch friedvolle Phasen mit seiner Mutter stattfinden. Auch tauschten sie sich auf einer fachlichen Ebene aus, und die Jahre in denen sie an ihren drei bedeutendsten Büchern arbeitete, war von lebhaftem Interesse geprägt, etwas was Wilhelm Reich zwar mit Eva, nicht jedoch mit Lore hatte. Alice Miller hat, im Unterschied zu Reich, einen Traumatherapeuten, Oliver Schubbe, aufgesucht, um ihr Trauma und die Triggerung durch ihren Sohn zu heilen.

    Martin Miller hat mit seinem tiefen Interesse für die Biographie seiner Mutter und seiner Bereitschaft, ihr Verhalten ihm gegenüber als Ausdruck ihrer Geschichte zu sehen, sicher einen wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Heilung geleistet. Er hat darüber hinaus ihr Werk gewürdigt und es war ihm, wie er am Schluss des Buches schreibt wichtig, dass sein Buch weder eine Abrechnung noch eine unkritische „Lobhudelei“ sei. Das, meine ich, ist ihm gelungen.
    ___________________________________

    Literatur:

    Miller, M. (2013). Das wahre `Drama des begabten Kindes´. Die Tragödie Alice Millers. Kreuz Verlag
    Ollendorf-Reich, I. (1975) Wilhelm Reich. Das Leben des großen Psychoanalytikers und Forschers, aufgezeichnet von seiner Frau und Mitarbeiterin.
    Reich, P. (1997). Der Traumvater. Simon & Leutner
    Reich, W. (1997). Jenseits der Psychologie, Briefe und Tagebücher 1934-1939. Kiepenheuer & Witsch
    Sharaf, M.: Fury on Earth. A Biography of Wilhelm Reich. St. Martin & Marek, New York

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    Bukumatula 2/2019

    Ein Selbst-Modell für Beziehungen

    von Will Davies
    Übersetzung aus dem Englischen: Margit Exel und Wolfram Ratz
    Margit Exel und Wolfram Ratz:

    „Das Bewusstsein, was auch immer das sein mag, ist eine Konstante in jedermanns Empfinden – und auf eine andere Art als wir vermuten, auch der Schöpfer einer Realität, in der wir leben, für die wir leben und auch oft genug darin sterben. Nichts ist von größerer Bedeutung für uns.“ (Robinson, 2010 S.1)

    Einleitung:

    Körperpsychotherapie spielt aufgrund unserer einzigartigen Sicht auf das Selbst eine besondere Rolle bei Beziehungsmustern. Wie das unlängst erschienene Curriculum der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie hervorstreicht, „begründet Körperselbsterfahrung den Kern des Selbstverständnisses der persönlichen Identität“. (S.1) Es wird angenommen, dass Beziehung auf diesem Körperselbst beruht und alle Beziehungen eine Interaktion von zwei oder mehreren in Körpern verankerten Identitäten sind.

    Neuere Forschungen deuten – mehr als zuvor angenommen – auf eine ganz frühe und grundlegende subjektive Wahrnehmungsfähigkeit hin, mit präkortikalen, unbewussten, körperbasierenden Erlebnissen am Ursprung der meisten unserer „emotionalen Erlebnisse, von Selbstbild, Entscheidungen und Beziehungen“. (Cozolino, 2006, S.130) Als Ergebnis wird die klassische Ansicht der prägenden Funktion, bzw. der Rolle von Anderen in der Entwicklung des Säuglings oder Kleinkindes jetzt als überbewertet angesehen.

    „Wir haben die Bedeutung der Eltern überschätzt – herzlich wenig in der Entwicklung des Kindes ist direkt den Eigenschaften der Eltern zuzuschreiben.“ (Fonagy, 2002, S.5) Es erscheint nun notwendig, die Entwicklungs- und Psychotherapietheorien mit einem größeren Fokus auf die Rolle der Subjektivität des Kleinkindes als die organisierende Kraft seiner eigenen Entwicklung neu zu formulieren. Entwicklung passiert mit anderen nicht durch andere. Die Wichtigkeit von anderen wird nicht bestritten, lediglich neu formuliert.

    Ein anderes Thema, das neu bewertet werden muss, ist die Überbeanspruchung der negativen entwicklungsgeschichtlichen (und psychotherapeutischen) Terminologie, die die Defizite des Kleinkindes hervorhebt: Tabula rasa, (leichter) Autismus, narzisstische, vor-reflektierte und bruchstückhafte halluzinatorische Verwirrtheit und die zugehörige Neubildung oder das Proto-Selbst, was Maslow (1968) als „Mangelpsychologie“ bezeichnet.

    Um die Entwicklung von Beziehungsmustern zu verstehen, ist es wesentlich, die Natur des gesunden Selbst zu beschreiben und nicht nur seine Mängel. Diese Abhandlung steht für ein Umdenken – weg von der Überbewertung von Mangel und Dysfunktion hin zu einem ressourcen-basierten Psychotherapiemodell, das die Fähigkeit des Kleinkindes zur Selbstorganisation und zur Erschaffung von Objekten und Beziehungen hervorstreicht.

    Das Endo-Selbst (Das Innere-Selbst)

    Demzufolge habe ich den Ausdruck des „Endo-Selbst“ kreiert, um eine frühe, selbst organisierte, verkörperte, zusammenhängende Wahrnehmung des Selbst zu beschreiben, deren einzigartige Qualität es ist, dass sie „a priori“ existiert, um Kontakt mit anderen aufzunehmen; ein eigenständiges Selbst, verwurzelt in Beziehung. Es gibt viel an Unterstützung für ein Endo-Selbst durch verschiedenste Lehrmeinungen: Maslows „Bestehende Beschaffenheiten“, Guntrips „Innerer Kern des Selbstseins“, Winnicotts „Incommunicado core“, Loewalds „Erste Erlebnisse werden am besten beschrieben als `Sein´“.

    Sie alle schlagen einen tieferen Sinn für Bewusstsein, Sein und Selbst vor. Jantsch (1979) kommt direkt auf den Punkt, wenn er meint, dass mit der Existenz Bewusstsein entsteht (S.10, S.40). Und Maturana und Varela definieren Erkenntnisvermögen als ein biologisches Phänomen, als die wahre Natur lebender Systeme. „Wenn du lebst, hast du Bewusstsein.“ (1972) Tatsächlich betont die Cambridge Conference on Consciousness (2012), dass „Systeme, die mit Affekten in Zusammenhang stehen in subkortikalen Regionen konzentriert sind“.

    Im Fötus gibt es Subjektivität schon vor der Entwicklung von kortikaler Aktivität – also vor Wahrnehmung und Sprache. Aufgrund dessen wird „die tatsächliche Darstellung des Selbst nicht mehr als von direkter sozialer Interaktion abhängig betrachtet“. (Pagis, 2009, S. 277) Dies berücksichtigend kann das folgendermaßen beschrieben werden: „Wenn wir in der Lage sind das zu sehen, ist das nicht alles; wir müssen mehr sein als das.“ (Shapiro, Carlson, Astin und Freemann, 2006, S.6) Aufbauend auf diesem multidisziplinären Unterbau ist es möglich, die Charakteristika des Endo-Selbst zu beschreiben.

    Charakteristika des Endo-Selbst

    Wie erwähnt, ist das Endo-Selbst ein vereinheitlichter Zustand von Körper und Bewußtsein – differenziert, aber untrennbar. Das Konzept einer „dualen Einheit“ kann anhand unseres Verständnisses von Eis, Dampf und Wasser dargestellt werden. Offensichtlich unterschiedlich, wissen wir, dass diese drei Formen auf molekularer Ebene vom Gleichen ausgehen: H2O.

    Je nach energetischem Zustand gibt es unterschiedliche Erscheinungsformen, aber allen drei gemeinsam ist die unveränderliche, einheitliche Quelle der molekularen Anordnung. Der Psychoanalytiker Loewald beschreibt diesen undifferenzierten Zustand als „Primärdichte“. (in Mitchell, 2000, S.39) Neuerdings verweisen Begriffe, die in der Sozial- und Erkenntnispsychologie verwendet werden, auf „verkörperte Erkenntnis“ (Schubert & Koole, 2009) und „körperliches Selbstbewusstsein“ (Pagis, 2009, S.268); in der Psychiatrie wird es „Wiederverkörperlichung von Erkenntnis“ genannt. (Fuchs, 2009, S.570)

    Dieser einheitliche Zustand des Endo-Selbst ist die Quelle von allen Trieben, Sehnsüchten, Träumen, Motivationen und Handlungen. Es ist der Ursprung aller Interaktionen mit der Außenwelt und ebenso der Interaktionen mit dem eigenen Selbst. Alle Impulse, innere wie äußere, haben ihren Ursprung in diesem einheitlichen Zustand von Körper und Bewußtsein, der in der Beziehung mit Anderen und dem Selbst entstanden ist.

    Das wichtigste Charakteristikum des Endo-Selbst ist die Beziehung zu sich selbst. Loevinger und Blasi (1991) beschreiben das Selbst als „etwas in erster Linie nur für sich selbst Zugängliches“ (S.150), oder wie Jantsch (1979) meint: Alle Systeme sind zuallererst auf sich selbst bezogen und beruhen auf den Grundfunktionen des Lebens von Anziehung und Abstoßung. Es ist ein Naturgesetz, dass sich das Individuum in der Interaktion mit seiner Umwelt stets neu bewertet. Die Gehirnforschung zeigt, dass das Meiste an Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart unbewusst (präkortikal) bleibt und dennoch unser Leben bestimmt.

    Die Geschwindigkeit, mit der die Amygdala Informationen verarbeitet, erzeugt eine physiologische Reaktion, bevor sie unser Bewusstsein wahrnehmen kann. (Cozolino, 2006 S.130) Klein (in Buckley, 1986) weist bezüglich Selbst-Bezogenheit darauf hin, dass die Welt des Säuglings nahezu „hermetisch“ abgeschlossen sei (S.17) und merkt an, dass Außenbeziehungen von sekundärer Bedeutung seien. Die Frage lautet: Sekundär in Bezug worauf? Es ist sekundär für die Selbst-Beziehung, die allerwichtigste Beziehung, die uns in Kontakt mit anderen gebracht hat.

    Die Biologen Maturana und Varela (1972) definieren lebende Systeme „als eigenständige Einheiten, die nur zu sich selbst in Bezug stehen“. Radikaler noch: Im Hinblick auf das System selbst, ist es „gänzlich selbstbezogen und hat kein `Außen´“. (S.5)

    Diese beständige, pulsierende Evaluation zwischen dem Selbst und der Umwelt führt uns zum nächsten wesentlichen Charakteristikum des Endo-Selbst: Es wird alles tun, um zu überleben. Selbsterhaltung ist nicht nur eine Dynamik lebender Systeme, sondern ein Naturgesetz. Es wurde in den leblosen Bereich durch Arbeiten des Physikers Eigen ausgedehnt (in Jantsch, 1979, Prigogine, 1977 und Voeikov, 1999).

    Wie es die Energiekonzepte Wilhelm Reichs einfordern und die Physik nun demonstriert, ist das Leben selbst – den 2. Hauptsatz der Thermodynamik missachtend – negativ entropisch. Es verdichtet sich spontan und wächst; es zieht Energie von seiner Umgebung an und verstärkt sie. „Feuer stirbt ab, aber ein lebendes System verbrennt selten zur Gänze das aus der Umgebung entnommene Material. Es baut eher seinen Energievorrat auf, um seine Existenz zu verlängern.“ (Voeikov, 1999, S.19)

    Das ist ein ideales `Beobachtungslernen´ einer Mutter-Kind-Beziehung. Etwas wird angeboten, das Kind nimmt es an und macht mehr daraus, als es bekommen hat. Wie Maturana betont, ist es nicht wichtig, was gegeben wird, sondern was mit dem Empfänger geschieht. Dies ist nicht nur eine perfekte Darstellung der Mutter-Kind-Beziehung und der Selbstbezogenheit, sondern auch von den autopoietischen, selbstorganisierenden Eigenschaften des Endo-Selbst. Es bezieht seine Erfahrung mit dem Gegenüber aus sich selbst heraus, was Stern (1998) „das Selbstempfinden, als ein primäres, entwicklungsgemäßes, ordnendes Prinzip“ beschreibt (S.26) und das in der dem Kinde innenliegenden subjektiven Erfahrung seinen Anfang hat.

    Die autopoietischen, selbst ordnenden und selbstbezüglichen Qualitäten bleiben das ganze Leben lang bestehen und sind eine „unaufhaltsame Entwicklung“. (Buckely, 1986) Kohut nannte es den „narzisstischen Strom“, darauf hinweisend, dass es „die Basis für alle späteren Beziehungen, von Kreativität, Selbstachtung, Weisheit und Liebe ist“. (2001) In jüngerer Zeit hat Schore diese Endo-Selbst-Qualitäten als „eingebettet“ in allem scheinbar negativen Verhalten eines Patienten – und gleichzeitig nach Erwiderung suchend, beschrieben. Trotz gegensätzlichen Benehmens durch Projektion, Widerstand, Übertragung, etc., „bittet darunter das Selbst noch immer um Hilfe, um sich entwickeln zu können“.

    Zurück zu Maslows Aussagen (1969): Innerhalb des Endo-Selbst gibt es immer eine Empfindung von Sicherheit und Wohlbefinden. Das Endo-Selbst existiert von vornherein und ist unberührt von Unruhe, Trauma, Mangel und Konflikten; es ist das, was Olaf Trapp als das „unversehrte Selbst“ bezeichnet (persönliche Korrespondenz, Juni 2013). Es ist möglich, „hinter“ die Abwehrhaltungen und „vor“ die Dysfunktion zu kommen, dazu, „dass alle Tatsachen freundlich sind“. (Rogers, 1972)

    Dieses Gefühl von Sicherheit ist in dem Phänomen verwurzelt, dass es sich immer vertraut anfühlt, sobald man in diesen Zustand zurückkehrt. Diese Qualität der Vertrautheit findet sich in drei verschiedenen Disziplinen beschrieben: In der Philosophie, in der Psychologie und in der Biologie. Merleau-Ponty (in Pagis, 2009) schreibt: „An der Wurzel unserer Erfahrungen finden wir ein Sein, welches sich selbst sofort erkennt.“ (S.267)

    Erfahrungen sind nicht sublimiert; sie entstehen „mit Zufriedenheit“. (Pagis, 2009) Syngg (1941) beschreibt dasselbe abweichend: „Ein phänomenologisches System ist anthropomorph. Seine Werte beziehen sich auf unmittelbare Erfahrung und erfordern keine Übersetzung, um es bedeutsam zu machen.“ (S.421) Für Maturana (1998) ist „Wissen die Funktion des Wissenden …. verwurzelt im Lebewesen als ein Ganzes“. (S.34) Eine meiner Patientinnen drückte dieses eindeutige Wissen einmal als „äußerste Anwesenheit in Abwesenheit von mir selbst“ aus. Das übliche Selbstkonzept wurde als Ablenkung erlebt und sobald sie diese überwunden hatte, erkannte sie ihr Selbst.

    Im Endo-Selbst gibt es kein Vergleichen und keine wertende Kognition – aber immer Analyse. „Das `Gipfelerlebnis´ ist nur gut und wünschenswert und wird niemals als böse oder unerwünscht erlebt.“ (Maslow, 1968, S.81) Dasselbe gilt für Ryan: „Bei wahrer Selbstbestimmung gibt es kein unveränderliches Konzept des Selbst, um zu schützen oder aufzuwerten.“ (2003, S.75) Eine Patientin sagte einmal: „Ich liebe mich weit über Gut und Böse hinaus.“ Es ist klar, dass sie sich innerhalb des Kontextes des sozialen Selbst sowohl als „gut“ als auch als „böse“ sieht. Sie gibt damit zu verstehen, wie tief – unbeeindruckt von Beurteilung, das Selbstempfinden im lebendigen Körper verankert ist.

    Was Shapiro (2006) „Achtsamkeit“ nennt und ich als einen Endo-Selbst-Zustand bezeichne, ist „einfach eine Fortsetzung des natürlich vorkommenden Entwicklungsprozesses, demzufolge jemand eine gesteigerte Fähigkeit für Objektivität bezüglich der eigenen inneren Erfahrung erlangt“. (Shapiro et al., S.6) Es herrscht ein ebenso inniger wie distanzierter Zustand zwischen dem Selbst und seinen Zweifeln. Es gibt kein Problem wegen des Problems. Ein Patient formulierte es einmal so: „Ich leide nicht an meinen Leiden.“

    Das Endo-Selbst kann verbal kontaktiert werden. Wichtig ist jedoch zu wissen, dass es sowohl prä-verbal, als auch non-verbal ist und dass es erlebt werden und dann formuliert werden kann. Laut Mitchell wenden die meisten Philosophen und Psychologen ein, dass es zwischen präverbalen und verbalen Entwicklungsphasen eine unüberbrückbare Kluft gibt (2000, S.5), und Stern behauptet, dass wir noch immer von der verbalen Schilderung abhängig sind. (Stern, 1998)

    Doch die Forschung hat anderes aufgezeigt: Schore zufolge (2000) wird die für Logik zuständige linke Gehirnhälfte bis zum Alter von etwa 18 Monaten nicht eingeschaltet und ist bis zum fünften Lebensjahr nicht von Bedeutung. Schore begründet das damit, dass im Erwachsenenstadium die Steuerung der emotional-unbewussten rechten Gehirnhälfte signifikantere Spuren hinterlässt, als bewusste logische Entscheidungen.

    Eine Studie von deCasper und Fifer (in Mitchell, 2000) zeigt, dass Babys lieber Tonaufnahmen von Geschichten hörten, die ihnen ihre Mutter bereits im Uterus vorgelesen hatte, als aufgezeichnete Geschichten des gleichen Autors, die ihnen erst nach der Geburt vorgelesen wurden und „dass Babys in der Lage sind Intonation, Frequenz, Variation und phonetische Bestandteile der Sprache zu unterscheiden“. (Beebe, et al., in Mitchell, 2000, S.8)

    Hinzuzufügen und augenscheinlich ist, dass sich das Ungeborene am Klang der Stimme seiner Mutter orientiert (Cozolino, 2002, S.88) und dass kognitive Änderungen im Uterus stattfinden; der Fötus ist im Stande zu lernen. (Hepner, 2002) Mitchell fordert uns dann auf, diese erstaunliche Erkenntnis zu betrachten. Worte sind in den Erfahrungen der Babys eine herausragende Besonderheit, nicht nach der Geburt, sondern im Uterus. (2000, S.8) Diese Untersuchung unterstützt zwei Punkte: Erstens die Wichtigkeit von frühen, präverbalen Erlebnissen und zweitens, dass jemand diese „Worte“ auch erkennt.

    Das letzte Thema zum Endo-Selbst, das erörtert werden muss, ist die „Zeit“. Psychotherapeuten richten ihre Aufmerksamkeit auf die Geschichte des Patienten. Sie behandeln die Vergangenheit und die Gegenwart bezogen auf Übertragung, Gegenübertragung, Projektion, Regression, etc. Auch das Gespür des Patienten für seine Zukunft ist ein guter diagnostischer Indikator seines gegenwärtigen Zustandes sowie des Forstschritts und der Prognose der Therapie. Ungeachtet dessen ist es eine einzigartige Qualität des Endo-Selbst, dass „Zeit“ nicht von Relevanz ist.

    Loewald beschreibt den primären Prozess als „unabhängig von Zeit“ (zitiert in Mitchell, 2000). Für Maslows „Daseinszustand“ ist es, „als hätten sie einen Platz in einer anderen Welt, in der die Zeit stillsteht und gleichzeitig rasend schnell vergeht“. (1968, S.80) In der Osteopathie wird das „Still Point“ genannt, und in der Funktionalen Analyse erleben sich Patienten während des `Instrokes´ in einem langsam dahintreibenden Dämmerzustand.

    Die Gehirnforschung zeigt uns nun, dass traumatische Ereignisse in den primitiveren Regionen des Stammhirns und des limbischen Systems unter geringer Mitwirkung der Hirnrinde in der linken Hirnhälfte gespeichert sind, was die Abwesenheit des Kurzzeitgedächtnisses zur Folge hat. Cozolino (2002) schließt daraus, dass „Rückblenden immer in der Gegenwart stattfinden und Erlebnisse des gesamten Systems sind“ (S.272-273), was auch für positive, lebensunterstützende Erfahrungen gilt (Schore, 1999) und den Standpunkt der Cambridge-Deklaration reflektiert: „Die neuronale Grundlage von Emotionen ist daher unzeitgemäß“. (2012)

    In den 1940er Jahren schrieb Reich (1967): Es gibt keine Antithese zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Die ganze experimentelle Welt der Vergangenheit ist in der dargebotenen Form der Charakterhaltung lebendig. Was eine Person ausmacht, ist die funktionale Gesamtheit aller ihrer bisherigen Erfahrungen. (S.121)

    Regression ist lediglich ein psychologischer Begriff, der die aktuelle, heutige Wirksamkeit bestimmter historischer Ereignisse beschreibt. Wir haben es hier mit aktuellen, gegenwärtigen Funktionen des Organismus zu tun und nicht mit historischen Ereignissen. (S.492)

    Zusammenfassung:

    Es ist unerlässlich, dass die Rolle der „Anderen“ in der Entwicklungstheorie und in der Therapie neu durchdacht werden muss. Ich habe für ein frühes Stadium der Subjektivität argumentiert und dass es ein schlüssiges, manchmal erkennendes Selbstempfinden noch vor der Beziehung zu anderen gibt. Autopoietisch entstanden ist es dieses Selbst, das in Beziehungen eingebracht wird und wiederum zu einer kontinuierlichen Entwicklung innerhalb der Beziehung führt.

    Das Endo-Selbst ist die Quelle aller Antriebe und Sehnsüchte, sowohl äußerlich als auch innerlich. Es ist ebenso der Ursprung aller späteren unteilbaren, aber differenzierten psychischen und physischen Strukturen, die allen Beziehungen im späteren Leben zugrunde liegen. Das Endo-Selbst ist selbst-startend, selbst-ordnend und selbst-regulierend. Die Ressource, die Kompetenzorientierung dieses Denkansatzes begehrt „zu sehen, wie der Verstand sich selbst beschreibt“. (Robinson, 2011, S.16)
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    Quellenangaben:

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    Cambridge Declaration on Consciousness was written by Philip Low and edited by Jaak Panksepp, Diana Reiss, David Edelman, Bruno Van Swinderen, Philip Low and Christof Koch. The Declaration It was publicly proclaimed in Cambridge, UK, on July 7, 2012, at the Francis Crick Memorial Conference on Consciousness in Human and non-Human Animals, at Churchill College, University of Cambridge, by Low, Edelman and Koch. The Declaration was signed by the conference participants, in the presence of Stephen Hawking.
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    Originalpublikation: The Body in Relationship – Self, Other, Society. Edited by Courtenay Young; Body Psychotherapy Publications, Scotland.

    Ein erweiterter Beitrag zu diesem Thema ist auf der Homepage von Will Davis nachzulesen: http://www.functionalanalysis.org

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