1959 wurde Mary Higgins, eine ehemalige Patientin von Chester Raphael, die Reich zwar nicht persönlich gekannt hat, an seiner Arbeit aber großes Interesse hatte, von Eva Reich zur Nachlassverwalterin eingesetzt. Higgins stellte dem Treuhandfonds auch einen größeren Geldbetrag zur Verfügung, um Orgonon in einen besseren Zustand zu bringen, da es nach Reichs Tod, 1957, zu verfallen begann. Die Treuhänderschaft von Higgins blieb nicht ohne Widerspruch. Reich hatte in seinem Testament festgehalten, dass die Originale seiner Arbeiten fünfzig Jahre lang, also bis zum Jahr 2007 so zu verwahren wären, dass sie inhaltlich nicht verfälscht werden könnten. Higgins interpretierte das Testament so, dass Reichs Schriften – es handelt sich dabei vorwiegend um seine späteren Arbeiten – bis dahin überhaupt nicht zugänglich gemacht werden sollten, was zur Mystifizierung Reichs beigetragen hat. Eine gerichtliche Anfechtung durch Eva Reich blieb erfolglos. 1968 erschien dennoch die erste Publikation aus dem Nachlass – das Protokoll eines Interviews des Psychoanalytikers Kurt R. Eissler mit Reich („Reich Speaks of Freud“). Und nach vielen weiteren Jahren erfolgte ein Wandel der editorischen Politik der Treuhänderin, der 1997 auch im deutschsprachigen Raum einen Höhepunkt erreichte.
Aus Anlass der Wiederkehr des einhundertsten Geburtstags von Wilhelm Reich haben sich etliche Verlage, vornehmlich der Verlag Zweitausendeins, zur Publikation von bisher unveröffentlichten bzw. seit längerer Zeit vergriffenen Titeln entschlossen. Fast das gesamte Werk Wilhelm Reichs, einschließlich der späten Schriften, waren damit in deutscher Sprache veröffentlicht. Auch zum Gedenken seines fünzigsten Todestags, 2007, gab es eine Reihe von Neuauflagen. Viele Bücher sind aber in der Zwischenzeit wieder vergriffen. Beim Besuch einer Wiener Innenstadtbuchhandlung im Mai 2010 waren laut VLB gerade sieben Bücher von Wilhelm Reich lieferbar (Hinweise für den Erwerb von vergriffenen Büchern: siehe Internet unter: www.abebooks.com, www.zvab.com oder www.bookfinder.com.). Das gesamte bisher bekannte Schaffen Reichs ist jedoch in Form von Filmrollen im Sonderleseraum der Wiener Universitätsbibliothek einzusehen.
Anlässlich der Öffnung des Reich-Nachlasses ist von Higgins und dem Co-Direktor, Kevin Hinchey, zu erwarten, dass es eine Reihe von Neuveröffentlichungen geben wird, zumindest in Englisch, da sich Reich ab 1948 ausschließlich dieser Sprache bediente. Das Reich-Archiv, das sich in der Harvard Medical School befindet, umfasst mehr als 2,5 Kubikmeter an Material; allein das Inhaltsverzeichnis ist 141 Seiten lang. Die Aufarbeitung ist mit großem persönlichen und finanziellen Aufwand verbunden und wird noch etliche Jahre in Anspruch nehmen.
(von Wolfram Ratz)